Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Meyerbeer-Rarität szenisch

 

Unter Opernfreunden ist das Festival della Valle d’Itria im apulischen Martina Franca bekannt für seine innovativen und ausgefallenen Programme. Immer wieder zeigt es Werke, die lange auf ihre Wiederentdeckung warten mussten und dann im Palazzo Ducale als Erstaufführungen in moderner Zeit gezeigt werden. So auch 2017 bei der 43. Ausgabe des Festivals, als dort Meyerbeers Margherita d’Anjou, die vierte von seinen italienischen Opern auf ein Libretto von Felice Romani, zur Aufführung kam. Nach der Uraufführung 1820 in der Mailänder Scala wurde sie bis Mitte des 19. Jahrhunderts vielerorts gespielt, aber danach vergessen. 2002 gab es in London konzertante Aufführungen in Verbindung mit einer CD-Veröffentlichung bei Opera Rara. An der Oper Leipzig sollte es im Jahre 2005 zu einer Inszenierung kommen, die aber nicht realisiert und nur in konzertanter Form gezeigt wurde. Dem italienischen Festival fällt also das Verdienst einer szenischen Wiederentdeckung zu und Dynamic das der Dokumentation auf DVD (37802, 2 DVD, und als 2 CD-Ableger 37802-2).

Das Melodramma semiserio handelt in der Zeit der englischen Rosenkriege Mitte des 15. Jahrhunderts und erzählt die Geschichte der Witwe Heinrich VI.,  Margherita, die nach Frankreich geflohen war und nun an der Spitze eines französischen Heeres nach Schottland zieht, um gegen ihren ärgsten Feind, den Herzog von Gloucester, zu kämpfen. Davon ist in der Inszenierung von Alessandro Talevi und der Ausstattung von Madeleine Boyd nichts zu sehen. Auf der Bühne sieht man vor einer Baumgruppe einen erhöhten Catwalk für eine Modenschau, davor Kleiderständer mit den Kostümen und die Models, die sich umziehen und an die  Maskenbildner letzte Hand anlegen. Sie zeigen Kreationen, die man nur als wüste Fetzen bezeichnen kann, und bewegen sich in der Choreografie von Riccardo Olivier in exaltierten Posen oder den Haltungen von Degen-Fechtern in Turnieren.

Vor der Bühne sitzt das Orchestra Internazionale d’Italia, das unter Leitung von Fabio Luisi in der einleitenden Sinfonia Militare für martialischen Schmiss sorgt und bis zum Schluss die Farben und Affekte der Komposition effektvoll aufzeigt. In der Titelrolle lässt Giulia De Blasis einen angenehmen Sopran von schöner Rundung und gebührender Flexibilität für die Verzierungen hören. In ihrer Auftrittsarie („Miei fedeli queste prove“) bedankt sich Margherita bei ihren Getreuen für die Unterstützung. Ihr ehemaliger General Carlo Belmonte, der ins feindliche Lager übergewechselt ist, gesellt sich unerkannt zu den Männern. In fuchsroter Irokesenfrisur und großkarierter Hose muss Laurence Meikle einen poppigen Comic-Typ abgeben. Und er singt zunächst mit etwas dumpfem, später aber jugendlich-beweglichem Bariton. Noch verzeichneter wirkt der französische Arzt Michele Gamautte, den Marco Filippo Romano als effeminierten Vertreter einer Vorstadt-Buffa mit grüner Haartolle und großem Fächer tuntet. Sein vokaler Duktus steht ganz in der Tradition Rossinis, und der Sänger setzt das mit Eloquenz, munterer Emission und witzigem Ausdruck um. Margherita geht ihrem französischen Heerführer, Duca di Lavarenne, entgegen, während dessen Frau Isaura verkleidet unter dem Namen Eugenio ihren Gatten, der sie wegen der Königin verlassen hatte, zurückgewinnen will. Gaia Petrone ist allzu neckisches Gehabe verordnet, aber die Altistin weiß mit dunklem Ton und reicher Stimmfülle zu gefallen. Margherita ernennt Eugenio zu ihrem Pagen und vertraut ihm ihren Sohn Eduardo an.

Die Modenschau wird offenbar auch von musikalischer Unterhaltung begleitet, denn Anton Rositskiy singt Lavarennes Auftrittsarie ins Mikrofon wie einen Rocksong. Der Tenor lässt nicht nur ein angenehmes Timbre hören, sondern verfügt auch souverän über die Noten in der Extremlage. In einem Duett mit Eugenio bittet er ihn, der Königin ein Schreiben zu überbringen, in welchem er ihr gesteht, dass er verheiratet ist, während er ihn bittet, an seiner Seite in der Schlacht kämpfen zu dürfen. Währenddessen ist Margherita mit ihrem Sohn auf der Flucht und wird von schottischen Bergbewohnern bedroht, was Carlo in widerstreitende Gefühle bringt – soll er Rache nehmen oder ihr helfen… Aus der Ferne kündigt kriegerische Musik die Ankunft des Herzogs von Gloucester an. Das führt in ein chaotisches Finale mit rockenden Irokesen.

Zu Beginn des 2. Aktes sieht man Margherita als Bäuerin verkleidet, die sich in den Frieden des schlichten Landlebens hineinträumt. In dieser Inszenierung sitzt sie allerdings mit Sonnenbrille im weißen Bademantel am Pool und gibt sich eher mondän denn ländlich-schlicht. Ihre Arie „Che mai giova il serto“ singt De Blasis mit lyrischer Delikatesse, die Cabaletta „Incerto palpito“ mit erregter Stimmgebung und bravouröser Attacke. Isaura erscheint und gibt sich als Lavarennes Frau zu erkennen. Margherita verzichtet auf ihre Liebe zu ihm und schickt Isaura zu ihrem Mann, während Lavarenne, im Zwiespalt zwischen den beiden Frauen, sich für Isaura entscheidet. Das Andantino seiner Arie „Tu, che le vie segrete“ singt Rositskiy schmachtend, das Allegretto „D’un tal piacer“ mit emphatischer Verve. Das Finale der Oper fällt nicht der Titelheldin zu, sondern Isaura, die mit Lavrenne wieder vereint ist, mit einer ausgedehnten Scena, aria e rondo con variazioni („O ciel“/„Mio pianto“/„Ah! sposo adorabaile“), was Petrone noch einmal Gelegenheit gibt, in der Arie mit starker Empfindung zu berühren und im Rondo, für das sie wenigstens den Bademantel ablegen und ein hübsches weißes Kleid tragen darf, mit munteren Koloraturläufen zu brillieren.

Musikalisch ist die Aufführung durchaus zu genießen, optisch ist sie allerdings einer jener modischen up date-Versuche, was auch hier zu profanen und billigen Lösungen führt. Schade um die verpasste Gelegenheit für eine angemessene szenische Präsentierung (dazu aiuch der Bericht vom Festival 2017)Bernd Hoppe

Wirkungsvolle Kontraste

 

Die Sinfonia, die nahtlos in den Chor der Soldaten und Bevölkerung in der nubischen Hauptstadt Dongala mündet, ist von dunklem Ernst und instrumentaler Lieblichkeit im Solo der Flöte, feierlich und pompös, mit sanften Melodien, starken Akzenten und Finesse und einem wirkungsvollen Kontrast aus Orchesterspiel und Bühnenmusik. José Miguel Pérez-Sierra dirigiert die Szene in Rossinis  Ricciardo e Zoraide, die wirkungsvoll in das Geschehen blendet, mit eindringlicher Bildhaftigkeit, wobei ihm die Virtuosi Brunensis als williges Instrument dienen. Wir befinden quasi inmitten einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem nubischen König Agorante und dem asiatischen Fürsten Ircano, der Agorantes Zorn vor allem dadurch entfacht, dass er ihm die Hand seiner Tochter Zoraide verweigerte. Im folgenden Kampfgetümmel trifft Zoraide auf den christlichen Ritter Ricciardo, beide verlieben sich, sie folgt ihm. Der enttäuschte Vater macht sich auf die Suche nach der Tochter, die Agorante inzwischen samt ihrem Liebhaber festgesetzt hat. Das alles erzählt Agorante in der sich anschließenden Szene, die weniger einen Kriegsherrn als Liebenden zeigt, der Zoraide zu erringen hofft.

In der konzertanten Aufführung bei Rossini in Wildbad im Juli 2013 (und jetzt erst bei Naxos herausgegeben, warum hat es mit dem SWR-Band so lange gedauert?) erscheint Randall Bills als neuer Name auf dem Feld des draufgängerisch geschmetterten, verzierten Schöngesangs, der sich hier vor allem als Liebender mit einer in der Höhe strahlenden Sicherheit und ebenmäßigen Tonqualität zeigt. Das ist ein feuriger vokaler Auftakt, der zeigt, dass die fünfte der neun für Neapel geschriebenen Opern Rossinis möglicherweise mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Pesaro hat Ricciardo e Zoraide immerhin 1990 und 1996 gespielt, ohne große Folgen allerdings, und wird die Kreuzfahrergeschichte in diesem Sommer wiederholen. Mit den Aufnahmen aus Pesaro sowie mit der Opera Rara-Einspielung muss die Wildbader-Aufführung konkurrieren (Naxos 3 CD 8.660419-21), was ihr in großen Zügen recht gut gelingt. Die ungnädig scharfstimmigen Vertrauten der Zoraide muss man überhören. An die soubrettige Zoraide der Alessandra Marianelli muss man sich erst gewöhnen. Sie dunkelt ihren leichten Sopran ein und macht ihn schwer und bleibt als Objekt der Begierde recht unbedeutend, so im wunderbaren, sich zur Stretta steigernden Terzett „Cruda sorte“, in dem Agorante seiner Gattin Zomira klar macht, dass sie sich mit Zoraide als Nebenfrau abzufinden habe, wie im ersten Finale, aus dem sie mit nadelspitzer Schärfe hervorsticht, bis sie im Duett mit Ricciardo im zweiten Akt mit Nachdruck agiert und in ihrer Gran Scena im zweiten Finale Anzeichen primadonnenhaften Glanzes zeigt.  Den Ricciardo kreierte Giovanni David, der an fünf von Rossinis neapolitanischen Uraufführungen mitwirkte im Gegensatz zu dem an allen neun Neapel-Opern beteiligten Andrea Nozzari, der den Agorante gab. Maxim Mironov singt den Ricciardo, dem Artavaszd Sargsyan ein sympathischer Begleiter Ernesto ist, mit federleichter Beweglichkeit und verführerischer Verzierungen, etwas blass im Timbre und in den näselnd verengten Höhen nicht sehr vorteilhaft, aber in der Cavatina „Qual sarà mai la gioja“ mit lustvoller Eleganz. Im attraktiven, aber nicht wirklich zündenden Duett „Come potrò reprimere“ mit Agorante, der dem verkleideten Ricciardo, seine Liebe zu Zoraide gesteht, vermischt sich Mironovs hell trompetender mit Bills’ satterem Tenor zu lieblicher Wirkung. Silvia Beltrami als abservierte Zomira in „Più mi sente quest’ alma dolente“ und Nahuel Di Pierro als Zoraides Vater Ircano im Quartett sind solide Stützen der Aufführung.

Rossinis „Ricciardo e Zoraide“ in Wildbad 2013/ mit Dank an Bernd Helbig, der dieses Foto schoss und damit seinen Bericht im Schwarzwälder Boten illustrierte

Ricciardo ist so etwas wie der kleinere, nicht weniger edle Bruder des edlen Kreuzritters Rinaldo, den es in wirrenreiche Ereignisse um andere Kreuzritter, heidnische Zauberinnen und Magier, entführte Prinzessinnen und unversöhnliche Konkurrentinnen verschlug, wie es ab Beginn des 16. Jahrhundert Ariost in seinem Orlando furioso und ein halbes Jahrhundert später Tasso in seinem Befreiten Jerusalem in kunstvoll verschachtelten und verschlungenen Erzählungen vorgaben. Diese Form der italienischen Helden- und Ritterepen fand erst mit dem 1738 erschienenen heroisch-komischer Ricciardetto des im Vergleich mit seinen Vorgängern kaum noch bekannten Niccolò Forteguerri ein Ende. Die mit einem gewissen Beharrungsvermögen ausgestattete Oper sagte den ritterlichen Stoffen allerdings erst im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts Ade. Rossinis Ricciardo e Zoraide von 1818 ist solch ein solcher Abgesang auf die Opernschablonen und die Stoffe des vorigen Jahrhunderts, wenngleich er sich von den zwei Gesängen, die ihm sein Otello-Librettist Marchese Berio di Salsa aus dem Ricciardetto kompiliert hatte, nur bedingt inspirieren ließ: fast noch barock in der stereotypen Beharrung auf die dreiteiligen Formen, meisterhaft in der Beherrschung des Handwerks, weiträumig, kunstvoll, aber keineswegs wagemutig und neuartig und durchaus in den lange Rezitative ein wenig langweilig. Ricciardo e Zoraide, so der große Rossini-Apologet Philip Gossett zurückhaltend, „ is not among his best“. Die Aufnahme aus Bad Wildbad versucht die in der Zeit nach Karl dem Großen spielende Liebeszwist zwischen dem afrikanischen König Agorante und dem christlichen Paladin Ricciardo, die zu den Waffen greifen, um die Hand der asiatischen Fürstentochter Zoraide zu erringen, die großen Gefühle und das Minimum an Handlung griffig umzusetzen. Rossini und sein Librettist haben das in nur vier Arien, zuzüglich dreier Duette, einem Quartett sowie einigen Ensembles und den großen Choraktionen abgehandelt, wofür Rossini einen eigenen, pompösen, festlich offiziellen Ton von müdem Glanz findet, der gleich in der Ouvertüre in der aparten Wechselwirkung mit der von ihm erstmals benutzen „Banda di palco“, also der Bühnenmusik, anklingt. Gerade diese plastischen Raumwirkungen erscheinen in Opera Rara-Aufnahme vorteilhafter gelöst, den großen Chortableaux, sei im ersten Finale oder in der Gran Scena e Finale secondo, fehlt es an Aplomb, doch die beiden Tenöre machen den Ricciardo hörenswert.  Rolf Fath

 

Rossinis „Ricciardo et Zoraide“ Pesaro 1996/ Szene/ Archivio ROF / Foto Studio Amati Bacciardi

Vielleicht noch ein Wort zu weiteren Dokumenten: Leider verlief der Versuch Riccardo Chaillis, diese Oper in Pesaro in der glanzvollen Pizzi-Produktion mit Bruce Ford, Gloria Scalchi und anderen für die Decca 1990 aufzunehmen im Sande, nur ein RAI-Mitschnitt erinnert an die wirklich gelungene Aufführung, auch wenn man sich über die Mitwirkung von June Anderson streiten mag. Aber es ist ein  Jammer, dass der RAI-Film nicht kommerzialisiert wurde. Immerhin wurde er vor kurzem wieder bei RAI 5 gezeigt und bestätigte die guten Erinnerungen, die man an ein glanzvolles Pesaro jener Jahre hatte. Auch die Alternative der zweiten Besetzung in Pesaro 1996 mit Charles Workman und Rita Taliento neben Marianna Pentchava war trotz David Parry beachtenswert. Die Opera-Rara-Aufnahme von 1996 leidet unter eben Parrys lastenschwere Hand, die nichts vom Boden hochkommen lässt. Und William Matteuzzi ist nicht mehr in  bester Form, Nelly Miricioiu zu viel hochindividuelle Diva und zu wenig Ensemblemitglied. Selbst Kunde klingt in Pesaro sechs Jahre zuvor freier. Wer also kann, sollte sich um die TV-Aufnahme aus Pesaro kümmern, trotz der mauligen June Anderson. Chailly versieht das etwas spröde Stück mit magischem Glanz. G. H.

Giacomo Meyerbeers „Prophète“

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Erstaunlicher Weise hat es vierzig Jahre gedauert, bis eine zweite (Fast-Studio)-Aufnahme von Meyerbeers Oper Le Prophète erschienen ist. Die gruselige CBS-Einspielung mit dem indiskutablen James McCracken und der nicht mehr so durchschlagenden Marilyn Horne stammt von 1977 und verwendet natürlich die  alte Brandus-Fassung. Denn erst vor kurzem (2007) war die neue, ultimative Ricordi-Bärenreiter-Ausgabe offiziell erschienen, der weder Toulouse 2017 noch Berlin 2017 (trotz der Beteuerungen) wirklich gefolgt sind, Münster 2004 aber ja. Karlsruhe 2015 ist fassungsmäßig außer Konkurrenz. Die nun bei Oehms vorliegende Aufnahme aus Essen 2017 aber bietet diese (mit ganz kleinen Strichen/ 3 CDs, OC 971). „Trotz Beteuerungen“ verwendete die Deutsche Oper, deren Aufführungen mir so sehr im Ohr sind (namentlich die vorletzte mit anderer und tränen-bewegender Besetzung),  eine „revidierte Fassung der historisch-kritischen Ausgabe von 2014“, und auf den Ankündigungs-Plakaten stand so etwas wie „nach der gängigen Aufführungspraxis“ (pardon, ich fand den genauen Wortlaut nicht mehr). Das heißt etwa – im Gegensatz zur Neuaufnahme aus Essen – ohne die vom Saxophon(!!!) begleitete Todesszene der Berthe im letzten Akt und ohne manches andere (s. nachstehend). Da war man eben doch halbherzig –  denn allein diese paar Minuten mit diesem wunderbaren, und erstmalig in einer Oper verwendeten, Instrument, das nur wenige Jahre vor der Premiere des Prophéte von Adolphe Sax in Paris entwickelt wurde (1846),  sind die Anschaffung der Oehms-Ausgabe wert. Was war doch Meyerbeer für ein moderner, an Neuerungen interessierter Mann. Wie man ja auch von den Erfindungen und Bühnenbedingungen für seine Opern weiß.

Auch manches andere ist bei der Oehms-Aufnahme erfreulich. Mut wie Tatkraft des Essener Aalto-Theaters sind nicht genug zu loben, dieses Projekt vom April/Mai 2017 zu stemmen. Die drei Aufnahmedaten der CDs zeigen, dass offenbar auch „kalt“ aufgenommen wurde. Es ist jeglicher Beifall herausgefiltert, was mehr als ärgerlich ist, weil man wieder – bei Oehms üblich – weder Fisch noch Fleisch hat: Ist dies nun eine Live-Aufnahme oder nicht? Wie bei den kürzlichen Troyens (bei Erato aus Straßburg) wirken nun manche Momente eigentümlich steif, matt, uninspiriert (so die Akte 1 und 2), aber dann wieder – Akt 3 und 5 – prall, voll, leidenschaftlich. Dirigent Giuliano Carella bevorzugt langsame Tempi, und manche Szenen wirken wie ein Kammerspiel. Das kommt seinen Solisten entgegen, die eher kleinstimmiger angelegt sind – anders als in Berlin unter Enrique Mazzola, der fast zu martialische Dynamiken bevorzugte, oder Clauspeter Flohr in Toulouse im selben Jahr, der eher ein beschwingtes, Belcanto-nahes Klangbild bot. Carella bleibt mir zu unentschlossen, kann aber mit den Chormassen (Jens Bingert) voluminös und packend auffahren. Die Essener Philharmonie zeigt sich von ihrer besten Seite. Aber ich vermisse die sonore Tiefe des Klanges wie in der Deutschen Oper (wie das DLR-Radioband der 3. Aufführung belegt).

Solistisch liegt das Exzellente beim weniger Wunderbaren beieinander. Bezaubernd ist die Berthe von Lynette Tapia, die sehr jung klingt, viel Charme hat und sowohl die Power für ihre Soloszenen wie für die Aktschlüsse zeigen kann. Eine fast kindliche Sopranstimme mit enormer Durchschlagskraft und bestem Französisch (Nicole Haslet in Berlin und auch Sofia Fomina in Toulouse nicht unähnlich, Inga Schlingensiepen in Karlsruhe 2015 ist mir zu grell), ganz eindrucksvoll. Und sie hat eben diesen – hier nun erstmals zu hörenden – Selbstmordschluss mit Saxophon im letzten Akt, extrem bewegend in der durch eben dieses Instrument evozierten, melancholischen Stimmung. Das muss man einfach gehört haben.

Wir haben dazu den erhellenden Artikel von Matthias Brzoska aus dem Booklet der Neuaufnahme nachstehend übernommen. Herr Brzoska wies mich auch auf das Meyerbeer-Konzert 2007 an der Folkwangschule in Essen hin, dessen Umschnitt  ich – natürlich!!! falsch abgelegt – dann ebenfalls in meinem bescheidenen Archiv fand: Dort gab es unter David de Villers am Pult der Kräfte der Folkwang Hochschule Essen (verstärkt durch Bundeswehreinsatz) nicht nur den 5. Akt des Prophète komplett in der Urfassung, sondern auch weitere morceaux precieux. Nämlich die originale Ouvertüre von rund 20 Minuten in der Erstedition der kritischen Neuausgabe, die Auftrittcavatine der Berthe in C-Dur, Scene et Duo Berthe – Fidès mit vollständiger Orchesterfassung im 4. Akt, einen Marche du Sacre aus dem 4. Akt in der Urfassung und manches mehr. Gloria Scalchi, Victoria Loukianetz, Benjamin Bruns und andere sangen. Dies alles bereits 2007! Haben die anderen Häuser in den Aufführungen danach nichts davon gewusst? Nachhörbar war´s ja…Und jeder Meyerbeer-Fan sollte es haben.

Meyerbeer: „Le Prophéte“/ John Osborn als Jean/ Foto wie auch oben aus dem Booklet der Aufnahme bei Oehms Classics und der Essener Aufführung von Matthias Jung

Das ganz große Plus der Essener Aufnahme ist auch John Osborne als Prophet Jean (für ihn, Jean, weist Brzoska auf die von Meyerbeer selbst vorgenommenen Limitierungen der Partie durch den originalen Sänger der Uraufführung hin). Osborn ist in der von ihm mehrfach – wie in Toulouse – gesungenen Rolle nicht unangefochten, manche Höhen, vor allem im dramatischen Bereich, führen ihn hörbar an seine Grenzen. Und mir will besonders zu Beginn (in seiner Pastorale Akt 2) die Stimme etwas gaumig-quallig scheinen, später in den oberen Bereichen ebenfalls in sich unruhig (der Preis dafür, seine eigentlich recht lyrische Stimme zu weit zu führen? Er ist nicht der Kollege Spyres mit der robusteren Grundierung.). Aber das wäre alles etwas mäkelig, denn er macht einen wunderbaren Job, singt sich furchtlos durch die Ensembles und die lange Oper hindurch und ist ein sehr differenzierter, eben eher lyrisch angelegter Held im Wandel seiner Existenz. Ich habe aber noch – und der Vergleich sei gestattet, weil die Oehms-Aufnahme ja auch fast eine Live-Aufnahme ist – Bruce Sledge als Jean in Berlin im Ohr – eine vergleichbare, aber schlankere, lyrische Tenorstimme mit schönen Kopfnoten und elegant-kraftvoller Stimmführung, meinem Ideal Gedda ähnlicher.

Meine eigentlichen Bedenken gelten Marianne Cornetti als Fidès. Sie mag – wie mir rundum versichert wird – im Saal wahnsinig  und rasend und exorbitant bewegend gewesen sein. Ihrer zweifellosen Bühnenpräsenz beraubt, wirkt sie für mich rein akustisch stimmlich dünn, im oberen Register recht begrenzt, zu sopranig,  nicht dunkel genug und einfach zu klein für die Partie. Sie ist eine Donizetti-Elisabetta oder charaktervolle Amneris, keine Fidès mit machtvoller Tiefe und einer furchtlosen 3-Oktaven-Höhe. Ich (nur ich! sag ich mal, und des Zorns der vielen Fans bewusst) finde auch die Qualität der Stimme nicht besonders, eher sauer und ältlich. Da hatte selbst Kate Aldrich in Toulouse mehr Peng, von den beiden Berliner Damen ganz zu schweigen. Fidès als ruhender Felsen in dieser turbulenten Oper, wie ich Ronnita Miller erleben durfte, fehlt mir in dem Essener Mitschnitt. Und Ewa Wollack in der vielgerühmten Kratzer-Inszenierung in Karlsruhe ließ mit ihrem sensationell geführten Alt 2015 das Karlsruher Haus erbeben. Nachhörbar!

Die übrigen sind absolut zufriedenstellend, wenn auch nicht immer so ganz im scharfen Profil der Rollen. Karel Martin Ludvik ist ein präsenter Oberthal.  Albrecht Kludszuweit, Pierre Doyen und Tijl Faveyts sind das allgegenwärtige, bedrohliche Trio der Wiedertäufer. In Neben-Rollen hört man die Solisten des Theaters, und wie im Theater freut man sich über die „lieben Kleinen“ im letzten Akt. Im ganzen also Daumen hoch für eine neue, erste Aufnahme dieser unglaublichen Oper Meyerbeers in der neuen kritischen Ausgabe von 2004, Saxophon einschließlich. Martin Brzoska hätte sich zudem die ursprüngliche Auftrittscavatine der Berthe C-Dur (und nicht die nachkomponierte B Dur) und die ungekürzte Urfassung der Pastoralarie des Jean im 2. Akt (und nicht die für den Uraufführungs-Tenor Roger eingekürzte Fassung) gewünscht.

Am 6. November 1814 wurde der Belgier Adolphe Sax geboren, der Erfinder des Saxophons. Am 21. März 1846 erhielt Sax in Frankreich ein Patent. Sax baute nun das Saxophon in seiner Produktionsstätte in Paris in acht verschiedenen Größen (Sopranino, Sopran, Alt, Tenor, Bariton, Bass, Kontrabass, Subkontrabass). Seine Instrumente wurden besonders in der französischen Militärmusik eingeführt. Doch auch die Komponisten wurden auf den besonderen Klang aufmerksam. (Mit Dank an „moderato“ vom Tamino Klassik-Forum)

Und dennoch komme ich noch einmal auf die Bemühungen der Deutschen Oper Berlin in Sachen Meyerbeer zurück. Man mag sich über die zum Teil wirklich ärgerliche Optik der drei bisherigen Opern-Produktionen streiten (von Vasco will ich erst gar nicht anfangen, und der Himmel bescherte mir eine statische Bühne für den letzten Propheten). Ich habe mich zum ersten Mal in meinem langen Kritikerleben deswegen so richtig mit Meyerbeer beschäftigt. Da gab es das hochspannende Symposium in der DOB und vier Opern zu erleben (mit der konzertanten Dinorah fing alles an): Meyerbeer satt möchte man sagen. Bis dahin hatte ich ihn „nur“ als so eine Art etwas schwierig zu hörenden Belcanto-Komponisten betrachtet, als Steinbruch für Verdi und die Nachfolger, einschließlich Wagner. Nicht als intellektuellen, hochpolitischen Neuerer. Spätestens der Prophète zeigte mir, wie sehr Meyerbeer seine Zeit und deren Strömungen, die politische Umwälzungen in seinen Opern behandelt, konservativ zwar (die Revolution muss scheitern, weil sie aus dem Ruder läuft, aber notwendig ist sie gewiss), aber einsichtig. Die Spannungen und Diskriminierungen religiöser Gruppen gegeneinander, die Verfolgung Andersdenkender, die Ausbeutung der Kolonien, der Tanz auf dem gesellschaftlichen Vulkan, die Fatalität von scheinbar sicheren Fluchtpunkten – all dies ging mir im Laufe der Beschäftigung als Resultat der drei bislang gezeigten Hauptwerke auf. Und dafür meine Verbeugung vor der DOB. Eine große Leistung und ein großer Kraftakt.

Dennoch – ohne den alten und immer noch fabelhaften Prophéte-Mitschnitt aus Rom 1970 möchte ich auch nicht sein, alte Fassung hin oder her. Nicolai Gedda ist auch nach Osborn, Heller/Karlsruhe und Sledge unerreicht: höhensicherst, lyrisch, zerrissen und absolut – für mich – der aufregendste Jean weit und breit, pardon Messieurs. Die junge Marilyn Horne sucht als Fidés immer noch ihresgleichen, selbst wenn Ewa Wollack in Karlsruhe und Ronnita Miller in Berlin sich fabelhaft gegen sie behaupten. Und ich liebe auch Margerita Rinaldi als Berthe! In Stereo.

Live gab´s den Prophète erstaunlich oft. In meiner kleinen, unvollständigen Sammlung finde ich natürlich die (optisch wirklich grausliche) Wiener Aufführung mit einer die Partie verkennenden Agnes Baltsa neben einem Plácido Domingo in zerquältem Allgemein-Modus 1988; Stockholm gab das Werk 1999 mit einem bemerkenswerten Jean-Pierre Furlan neben Ingrid Tobiasson unter Gunnar Stearn. 1977 dirigierten Richard Lewis und 1979 Charles Mackerras die Oper mit Horne und McCracken an der Met. 2004 gab´s den ersten „modernen“ Prophéte nach der neuen Meyerbeer-Edition in Münster. Dann kam Karlsruhe 2015 mit besagter Ewa Wollack und Marc Heller in der vielgelobten Kratzer-Produktion (allerdings stark gekürzt), danach Toulouse 2017, Essen 2017 und Berlin 2017 (nachdem am selben Haus das Werk 1966 wahre Buhorkane ausgelöst hatte: Das Ehepaar Warfield-McCracken bestritt neben Annabelle Bernard den Abend, ich erinnere mich an den Skandal). Ganz sicher habe ich einige andere nicht erwähnt. Man möge mir verzeihen. Geerd Heinsen

Auch die Bildchen in Liebigs Fleischextrakt-Packungen sorgten für Verbreitung Meyerbeers/Finale aus der Oper „Le Prophète“/OBA

Und nun Matthias Brzoska: Zur Ersteinspielung der Neuedition von Meyerbeers Grand Opéra Le Prophéte. Die vorliegende CD ist die erste Aufnahme von Meyerbeers Hauptwerk, die auf der Basis der kritischen Neuausgabe der Oper aufgenommen wurde. Diese Ausgabe berücksichtigt nicht nur den Notentext der im 19. Jahrhundert bekannten Version, die bei dem Verleger Brandus erschien, sondern sie bietet auch die Fassung des Werkes, die Meyerbeer für die definitive Besetzung ausgearbeitet hatte und in Paris ab Dezember 1848 einstudieren ließ. Sie wird deshalb als Urfassung bezeichnet.

Die bekannte Brandus-Fassung unterscheidet sich von der Urfassung durch umfangreiche Striche, die durch Überleitungstakte ersetzt wurden, welche im Anhang der Neuausgabe abgedruckt sind. Dass viele dieser Striche gegen die ursprüngliche Intenti­on des Komponisten erfolgten, berichtet Meyerbeers Sekretär Johannes Weber. Ein Teil der Striche geht auf die Überforderung des Uraufführungstenors Gustave Roger zurück. Über die Unfähigkeit des Tenors hat sich Johannes Weber wesentlich dras­tischer geäußert als der stets diplomatische Mey­erbeer. Allerdings kannte Weber Roger wesentlich besser, denn Meyerbeer hatte seinen Sekretär schon im Vorfeld der Produktion zur Begleitung der priva­ten Probenarbeit seines Sorgenkindes entsandt. Das Bild, das Weber von diesen Proben zeichnet, die in der Wohnung des Tenors stattfanden, ist nahezu eine Karikatur. Offenkundig hatte die Ehefrau des Tenors für die Gestaltung der Titelpartie das letz­te Wort: „Jean tritt erst im zweiten Akt auf, dieser Akt ging ohne Widerstände durch, aber im dritten begann das Massaker. Madame Roger wohnte den Proben unvermeidlich bei, sie war weder Künstlerin noch Musikerin; sie umgab ihren Mann mit beständi­ger mütterlicher Fürsorge und ertrug keinen Wider­spruch. Roger hatte im zweiten Akt viel zu singen; Madame Roger fand, dass er im dritten wenig zu singen haben müsste. Sicher war die Rolle, so wie sie geschrieben war, zu schwer für Roger. Generell lag das Repertoire der Opera ein wenig über seinen Kräften. Er war ein Tenor der Opera comique oder demi-caractere, nicht dramatischer Tenor. Mit ihm kamen die süßen und charmanten Wirkungen sehr schön heraus, aber nicht die mächtigen und kräftigen Wirkungen. […] Es gab im dritten Akt eine sehr originelle und ausdrucksstarke Arie des Jean. Kaum war sie ausprobiert, fand Madame Roger, dass sie zu viel sei und man sie streichen müsse. Roger wollte das erst nicht, die Arie gefiel ihm, aber Widerstand war unmöglich, und am nächsten Morgen sagte er mir, dass die Arie gestrichen sei.“

Der Starkomponist Giacomo Meyerbeer/OBA.

Die komplett gestrichene Arie ist die Prière No. 18 (B) am Ende des dritten Aktes, die in der vor­liegenden Aufnahme erstmals zu hören ist. Jedoch wurde die Tenorpartie auch an anderen Stellen ein­gekürzt. Diese Striche wurden in der vorliegenden Aufnahme ebenfalls teilweise geöffnet und sind so­mit Ersteinspielungen.

Die meisten Striche entstanden jedoch aus rei­nen Zeitgründen noch kurz vor der Premiere. Am 1.4.1849 schreibt Meyerbeer in sein Tagebuch: „Generalprobe von allen 5 Akten. Sie dauerte mit den Entreakten, welche 1 Stunde 20 Minuten währ­ten, von 1/2 8 bis 1 Uhr, also 4 Stunden 16 Minuten Musik. Ich muss also 40 Minuten Musik wenigstens schneiden: eine harte und schwierige Aufgabe.“

Bedauerlicherweise fiel diesen Strichen in letz­ter Minute eine der bedeutendsten und schönsten Nummern der Partitur zum Opfer: der Selbstmord-Monolog der Berthe. Er ist auch von allgemeiner musikgeschichtlicher Bedeutung, denn es hätte sich um die erstmalige Verwendung des neu erfundenen Saxophons in der Operngeschichte gehandelt. Mög­licherweise wäre die Geschichte dieses Instrumen­tes, das dann hauptsächlich im Jazz Verwendung fand, anders verlaufen, wenn es in der bedeutends­ten Oper des meistgespielten Komponisten des 19. Jahrhunderts als ausdrucksstarkes Orchesterin­strument bekannt geworden wäre.

Im Februar 1848 hatte Meyerbeer den Einfall, Berthes Selbstmord durch ein Trio (No. 28 (B)) zu mo­tivieren, das mit einem ausdrucksstarken Monolog endet, der auch stilistisch auf die spätere, deklama­torischer konzipierte Gattung des drame lyrique vor­ausweist. Meyerbeer komponierte mit großem Enga­gement an dieser wichtigen Szene: Zunächst schrieb er Berthes Monolog mit Cello-Begleitung. Noch zwei Wochen vor der Generalprobe, am 16. März 1849, probierte er mit dem Oboisten Louis Verroux das neu erfundene Altsaxophon (in Es) aus und trans­ponierte nicht nur die Begleitung desTodes-Monologes der Berthe für dieses Instrument, sondern auch das Erinnerungsmotiv der Pastorale im 3. Akt (Scene nach No. 16).

Der Autor: Matthias Brzoska studierte Musikwissenschaft in Marburg und Berlin bei Reinhold Brinkmann, Sieghart Döhring und Carl Dahlhaus sowie Französische Philologie bei Hermann Hofer.
1981 bis 1986 war er Lehrbeauftragter an der Hochschule der Künste in Berlin, promoviert wurde er 1986 an der Technischen Universität Berlin mit einer Dissertation über Franz Schreker. Von 1987 bis 1990 war er in Paris in einem Forschungsprojekt tätig, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurde. 1992 wurde er an der Universität Bayreuth mit einer Studie über die Idee eines Gesamtkunstwerks habilitiert.
Anschließend wurde er Professor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Oper, Musik und intertextuelle Beziehungen zwischen Musik und anderen Künsten. Verschiedene Forschungsarbeiten unternahm er gemeinsam mit seiner Frau, der Musikwissenschaftlerin Elisabeth Schmierer/ Quelle Wikipedia

Dadurch hätte sich auch ein klanglicher Bezug  zwischen dem Pastorale und dem Todesmonolog hergestellt, der die motivische und charakterliche Beziehung zwischen der Pastoralarie und dem Mit­telsatz des Trios pointiert hätte. Denn das Anfangs­motiv dieses Pastoralsatzes des Trios ist als Umkeh­rungsvariante aus der Pastoralarie abgeleitet.

Johannes Weber berichtet in seinen Memoiren, auf welch lakonische Weise der Regisseur schließlich sowohl Berthe als auch ihren Todesmonolog erledigte: „Eines Morgens teilte er [Meyerbeer] mir mit, dass die Szene gestrichen wurde. Berthe erdolcht sich, fällt in die Kulissen, und alles ist gesagt; das Saxo­phon verschwand.“

Auch diese zentrale Nummer der Oper hat die Es­sener Produktion zur Uraufführung gebracht, selbst­verständlich auch mit den korrespondierenden Saxophon-Stellen im dritten Akt. Matthias Brzoska

Deshalb hier im Anschluss noch einmal der Hinweis auf das wichtige Konzert in der Essener Folkwang Hochschule 2007 (Essen, Zeche Zollverein, Salzlager der Kokerei, 16. Mai 2007). Mit dem Chor, namhaften Solisten und dem Orchester der Folkwang Hochschule dirigierte David de Villiers nicht nur den 5. Akt des Prophéte in der ungestrichenen Erstaufführung der Neuedition: Entracte et Scène (No 25); Scène, Cavatine et Air (Fides) (No 26); Scène et Grand Duo (Fidès, Jean) ( No 27); Scène, Trio et Récitatif : (Berthe, Fidès,Jean) (No 28) (Todesmonolog mit Saxophon); Finale : Bacchanale (No 29 A); Couplets Bachiques (No 29 B) – Uraufführung.

Sondern auch Ausschnitte aus den vorhergehenden vier Akten: Ouverture: Die im 19. Jahrhundert verschollene Ouverture in der Erstedition der kritischen Neuausgabe; Auftrittscavatine der Berthe C-Dur (I. Akt, No. 1bisA), Uraufführung  der Urfassung; Complainte de la Mendiante (Arie Fidès), (IV. Akt, No 21); Scène et Duo, Berthe / Fidès, (No 22), mit der vollständigen Orchesterfassung sowie den Marche du Sacre (IV. Akt, No 23)  Uraufführung der Urfassung.

Es sangen Gloria Scalchi, Victoria Loukianetz, Benjamin Bruns, Sung-Rae Kim, Tobias Hänschke und Mohsen Rashidkhan neben den bereits genannten Kräften.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin am 4. 1. 2018: Ronnita Miller als Fidès/ Foto Bettina Stöss

Und zuvor: der lange Weg des Propheten. Das Internationale Meyerbeer-Institut  gab in Zusammenarbeit mit der Univ.-GH Paderborn und dem Forschungsinstitut für Musiktheater Thurnau eine kritische Ausgabe der Bühnenwerke Giacomo Meyerbeers heraus. Die Oper Le Prophète (Abt. 1 Bühnenwerke, Bd. 12, Le Prophète, Partitur und Anhang, 5 Bde, Kritischer Bericht, Libretto und Klavierauszug) wurde von Matthias Brzoska ediert. Die Ausgabe ist bei Ricordi München erschienen. Die in dieser Ausgabe edierte Urfassung des Werkes wurde erstmals am 25. September 2004 an den Städtischen Bühnen Münster aufgeführt. Die Regie übernahm Wolfgang Quetes, die musikalische Leitung hatte Ivan Törsz. Die Hauptrollen wurden von Daniel Magdal (Jean), Suzanne McLeod (Fidès), Carmen Acosta (Berthe), Anton Keremidtchiev (Oberthal), Plamen Hidjov (Zacharie), Radoslaw Wielgus (Mathisen) und James Mc Lean (Jonas) interpretiert. Die neu aufgefundene Ouverture wurde in einem Konzert der Bochumer Symphoniker am 27.11.98 unter der Leitung von Stephen Sloane zur Uraufführung gebracht. In einem Gesprächskonzert der Folkwang Universität der Künste waren am 30.11.1997 folgende Teile der neu edierten Urfassung erstmals aufgeführt worden. (s. o.)

Im Zeitraum 3.-6.6.1999 fand in Stockholm eine weitere Inszenierung des Werkes statt, die neben den o.g. Werkteilen weitere Teile der Urfassung in einer Bearbeitung für kleines Orchester erstmals vorstellte. Insbesondere interpretierte Ingrid Tobiasson die Partie der Fidès ungekürzt nach der Urfassung. (Konzeption: Mathias Clason und Sofia Nyblom, Musikalische Ltg.: Gunnar Stern, Fidès: Ingrid Tobiasson, Berthe: Christina Knochenhauer, Jean: Jean-Pierre Furlan, Zacharie: Stig Tysklind, Mathisen: Frederic Zetterström, Jonas: Torbjörn Lilliequist, Oberthal: Tord Wallström) (Quelle http://www.brzoska.de/meyerbeerwerkausgabe.html). G. H.

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..Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

Goldene Zeiten

 

Für Verwirrung und meistens auch Enttäuschung sorgte in den Achtzigern der Name Herbert von Karajan auf den Spielplänen der Deutschen Oper Berlin, denn wenn der von Vorfreude erfüllte Besucher von Verdis  ll Trovatore nicht den Stardirigenten, sondern einen weniger bekannten ans Pult eilen sah, musste er zur Kenntnis nehmen, dass Ersterer gemeinsam mit Theo Otto (Bühnenbild) und Georges Wakhewitsch (Kostüme) nur für die Optik verantwortlich war, dass es sich bei der Berliner Produktion um die Übernahme aus Wien bzw. Salzburg handelte. In Salzburg war sie 1962 zum ersten Mal zu sehen, kam danach nach Wien und war später an beiden Bühnen die Grundlage für Wiederaufnahmen.

Bekanntlich braucht der Trovatore für eine erfolgreiche Aufführung „nur“ die vier, in Wahrheit die fünf besten Sänger der Welt. An der Wiener Staatsoper waren sie 1978, als die bei Arthaus primastered wiederaufgelegte Aufnahme entstand, tatsächlich versammelt. Franco Bonisolli, berühmter Manrico, hatte sich da allerdings mit seiner Weigerung, die Stretta nach ausgebuhtem „Ah,si, mio ben“ zu singen bei der Generalprobe bereits um seinen Auftritt bei der Eurovisionssendung gebracht. An seiner Stelle singt der junge Plácido Domingo.

Bereits im ersten Bild hält man den Atem an ob der glänzenden Leistung von José van Dam als Ferrando mit so profundem wie exakt konturiertem Bass, mit perfektem Brio und wunderbarer Phrasierung. Nur selten bemerkt man wie hier, was die Partie von dem Sänger an Finessen verlangt, da er sie lückenlos zu Gehör bringt. Es war nur gerecht, dass er nach dem Aufzug einen Solovorhang bekam.

Als Einziger aus der Salzburger Aufführung von 1962 ist noch Piero Cappuccilli als Luna im Ensemble und lässt nicht nur mit seinem Rezitativ zu „Il balen del suo sorriso“ mit seinem bora-gestählten Bariton die Kirchenfenster in ihren Fugen erzittern. Er ist einfach der vom Material her allergrößte Verdi-Bariton, singt schier endlose Phrasen mit einer Stimme aus einem Guss, von schönster Farbe und mühelos von der machtvollen „tempesta“ ins Decrescendo des „ del mio cor“ überwechselnd.

Von fiebriger Eindringlichkeit ist das „mi vendica“ der Azucena, die von Fiorenza Cossotto, kontrolliert auch in den leidenschaftlichsten Ausbrüchen, gesungen und hingebungsvoll gespielt wird. Die Stimme verliert sich nie in unangenehme Brustigkeit, selten hört man eine Sängerin so ausdrucksstark singen, ohne dass jemals die Gesanglinie verletzt wird. Cossotto ist eine Meisterin der sfumature, die das Getriebensein der Figur wunderbar wiedergeben.

Nicht das gesegnete Material ihrer Kollegen hat Raina Kabaivanska für die Leonora, die nie ihre beste Partie war, da sie erst in den veristischen Frauengestalten wie Francesca oder Adriana ihre cavalli di battaglia fand. Aber was ihr an vokalen Voraussetzungen fehlt, macht sie mehr als wett durch die Raffinesse ihres Singens: durch schwebende Piani, eine federleichte Cabaletta im zweiten Bild, einen schönen Jubelton und die feinen Gespinste der Rezitative. Ein sanfter Tonansatz, fein ausgeformte Bögen und eine Superkadenz tun das Übrige, dazu noch die elegante Optik, dass sie mitverantwortlich wird für den Erfolg der Produktion.

Über Plácido Domingos acuti, insbesondere in der Stretta des Manrico, ist viel spekuliert worden. Er ist einfach sein in sich ruhendes Selbst, lässt seinen bronzefarbenen Tenor für sich sprechen, fermatenreich, gut phrasierend und damals noch mit durchaus lyrischen Zügen.

Von Karajan lässt die Opulenz der Wiener Philharmoniker durchaus zu ihrem Recht kommen, ist aber als Begleiter unübertreffbar feinfühlig und rücksichtsvoll und hat sich den Riesenrosenstrauß, für die Säger gibt es nur kleine, sicherlich verdient. Der Regisseur Karajan aber hat nicht weniger umsichtig für die Solisten die besten Bedingungen dafür geschaffen, dass sie Optimales leisten können (Arthaus  109 334). Ingrid Wanja    

Weltpremiere

 

Die Präsenz des Countertenors Max Emanuel Cencic hat erneut eine veritable Rarität für Decca ermöglicht, denn Nicola Antonio Porporas Dramma per musica Germanico in Germania, das 1732 in Rom uraufgeführt wurde, galt bis 2015 als vergessen, als Alessandro De Marchi es erstmals in Innsbruck beim Festival der Alten Musik aufführte (dort war die britische Mezzosopranistin Patricia Bardon die Titelheldin und der australische Counter David Hansen der Gegenspieler Arminio). Max Cencic sang den Germanico erstmals im März 2017 im Theater an der Wien neben gleicher Besetzung wie nun bei Decca. Das Stück behandelt die Feindschaft zwischen dem Feldherren der römischen Legionen in Germanien, Germanico, und dem germanischen Stammesfürsten und Feind der Römer Arminio. In den Konflikt verwickelt sind Arminios Gattin Rosmonda, ihre Schwester Erminda und ihr Vater Segeste, der die Stadt Germania an die Römer verraten hat. In einer Schlacht zwischen den Armeen von Rom und Germania wird Arminio geschlagen, gefangen genommen und von Germanico zum Tode verurteilt. Dessen Abschied von Rosmonda und seinem Sohn bewegt Germanico so sehr, dass er den Feind begnadigt. Dieser wiederum entschließt sich, den alten Streit zu begraben, was die Vereinigung von Rhein und Tiber voraus nimmt.

In der Premiere standen – entsprechend des päpstlichen Edikts – nur männliche Sänger auf der Bühne des Teatro Capranica. Und es war in der Tat eine spektakuläre Besetzung, die da versammelt war – der Altkastrat Domenico Annibali in der Titelrolle und der Star Caffarelli als Arminio. Letztere Partie vertraute Cencic, der auch als Produzent der Aufnahme bei seiner Firma Parnassus Arts wirkte und selbst den Titelhelden wählte, leider keinem Kollegen seiner Stimmgattung (beispielsweise Franco Fagioli) an, sondern der griechischen Mezzosopranistin Mary-Ellen Nesi. Auch der römische Hauptmann Cecina ist mit einer Sängerin, Hasnaa Bennani, en travestie besetzt. In der (allzu?) gängigen Aufführungspraxis unserer Zeit sind das eher ungewöhnliche Entscheidungen. Gleichwohl ist an den beiden Sängerinnen technisch und interpretatorisch nichts zu tadeln. Nesis Stimme mit herbem Timbre, entschlossenem Einsatz und flexibler Stimmführung kann sogar durchaus einen männlichen Charakter suggerieren. Die Arie „A lei, che il mondo adora“ von aufgewühltem Duktus singt sie mit strenger Tonfärbung und fast hysterischem Ausdruck. „Empi, se mai disciolgo“ zu Beginn des 2. Aktes ertönt mit heroischer Energie und Spitzentönen von vehementer Durchschlagskraft. Die Androhung, Zerstörung, Terror und Flammen ins Kapitol zu bringen, bringt die Interpretin nahe der Raserei. Arminio fällt auch die längste  Arie der Oper zu – „Parto, ti lasco“ im 2. Akt mit über zehn Minuten Dauer. Es ist ein getragenes, fast stockendes Lamento voller Wehmut und Abschiedsschmerz, das die Sängerin mit starker Intensität und bohrendem Ton vorträgt. Bei Bennani, ein reiner Sopran, ist ein römischer Hauptmann freilich nur schwer vorstellbar. In Timbre, Stimmcharakter und virtuosem Vermögen ähnelt sie Julia Lezhneva, die in der Aufnahme mit der Ersinda besetzt ist. Pompös wird von den Bläsern Cecinas Arie im 2. Akt, „Se dopo ria procella“, eingeleitet, in welcher die Sängerin ihre tiefe Lage vorteilhaft einsetzt und hier weniger feminin klingt als in „Serbami la tua fede“ oder dem in wiegendem siciliano-Rhythmus bezaubernden„Serbare amore“ im 3. Akt.

Nicola Antonio Porpora/ Wikipedia

Die bereits erwähnte ukrainische Sopranistin Julia Lezhneva ist ein Ereignis in der Besetzung und bietet als Ersinda ein Glanzstück vokaler Kunstfertigkeit. Schon in ihrer ersten Arie, „Al sole i lumi“, fällt sie auf mit ihrem individuellen, mädchenhaft-lieblichen Timbre und der betörenden Art ihres Singens. Und sogleich bietet sie eine Demonstration ihrer stupenden Gesangskunst mit bezaubernden Trillern und lieblichen Koloraturketten. Mit gleichfalls höchster Virtuosität singt sie „Se sposa d’un Romano“, übertrifft das noch mit „Veder vicino il suo contento“ im 2. Akt – eine tour de force von mirakulöser Bravour in atemberaubendem Tempo. Die Capella Cracoviensis als begleitendes Orchester, der Dirigent Jan Tomasz Adamus und die Solistin beflügeln sich hier gegenseitig zu einer Sternstunde des Gesangs. Nicht weniger spektakulär ist Ersindas aufgewühlte Gleichnisarie „Sorge dall’onde “, welche die aus den Wellen aufsteigende Aurora schildert. Dass die Sängerin häufig für einen Mezzosopran gehalten wird, ist hier nachhörbar, denn die Stimme klingt reizvoll dunkel und verschattet. Schließlich bietet der 3. Akt mit „Se possono i tuoi rai“ ein weiteres Bravourstück mit Trillern, staccati und Koloraturgirlanden. Wenn man an der Ausnahmeleistung der Sängerin eine kritische Anmerkung machen könnte, wären  es zwei, drei steife Spitzentöne in der exponierten Lage – aber das sind marginale Momente, die den grandiosen Gesamteindruck nicht trüben.

Cencic als Produzent hat hier nicht nur eine Ausnahmebesetzung gefunden, sondern liefert in der Titelpartie auch eine seiner besten Leistungen der letzten Jahre. Mit der Arie „Questo è il valor“, vom Orchester mit düster grollenden Figuren untermalt, führt sich Germanico energisch ein. Die Stimme klingt wie von einem Weichzeichner überzogen, sinnlich, voluminös und gänzlich ohne die bei ihm bekannten hysterisch-schrillen Spitzentöne. Mühelos bewältigt der Counter das virtuose Zierwerk. Mit pulsierender Dramatik führt das Orchester in die Arie „Qual turbine“ ein, Cencic nimmt diese Vorgabe auf, singt mit erregter, aufgewühlter Tongebung. Seine erste Arie im 2. Akt. „Nasce da valle impura“,  wird von einem pompösen Marsch eingeleitet, ist aber von getragenem Charakter und stellt die Schönheit der Stimme ins beste Licht.

Ein noch unbekannter Name ist der von Dilyara Idrisova, die die Rosmonda mit bravourösem Sopran von schöner Substanz singt. Sie beendet den 1. Akt mit einem dramatischen Recitativo accompagnato, das die Figur im Zwiespalt zwischen Vater und Gatten zeigt, und der Arie „Son qual misero naviglio“, welche die gespannte Situation widerspiegelt, aber auch die enorme Virtuosität der Russin zur Schau stellt. Ähnlich aufgewühlt sind ihre Arien im 2. und 3. Akt, was sich in langen Koloraturgirlanden äußert.

Als Segeste lässt Juan Sancho einen Tenor von angenehmem, jungmännlichen Timbre hören. Sein erstes Solo, eine Gleichnisarie von Sturm und Wellen („Nocchier, che mai non vide“), singt er  mit vibrierender Erregung, fein getippten staccati und bravourösen Läufen. Seine herrisch auftrumpfende Arie am Ende des 2. Aktes, „Scoglio alpestre“, begleitet das Orchester mit pochenden und stampfenden Rhythmen. Im 3. Akt fällt ihm mit „Saggio è il cultor“ das letzte Solo zu, denn die Oper endet mit einem Chor („Si verrà l’amico giorno“), der den glücklichen Ausgang des Geschehens preist. Jedem Barockfreund ist diese sorgfältige Einspielung mit ihrer ausgewogenen, hochkarätigen Besetzung zu empfehlen. Auch die Capella Cracoviensis, die schon in der einleitenden Sinfonia fulminant aufspielt, nimmt bis zum Ende des langen Werkes von 220 Minuten Spieldauer mit ihrem Spiel von pulsierender Verve für sich ein (Decca 3 CDs 483 1523). Bernd Hoppe

 

Devia la Grande

 

In die stürmische Sinfonia ist „God Save the Queen“ eingewoben, doch ansonsten hält sich Gaetano Donizetti im Ende Oktober 1837 in Neapel uraufgeführten Roberto Devereux nicht unnötig mit orchestraler Stimmungsmalerei und atmosphärischen Schilderungen auf.  Der dritte Teil seiner sogenannten Tudor-Trilogie nach Anna Bolena und Maria Stuarda kommt schnell auf den Punkt, wie wenn den vier Personen angesichts der drohenden Hinrichtung des Roberto Devereux, Earl of Essex, keine Zeit bleibt. Keine unnötigen Ausflüchte in der Musik. Kein Zierrat auf der Bühne. Im Teatro Real ist Salvatore Cammaranos auf einer französischen Tragödie basierender Dreiakter in einem schwarzer Saal angesiedelt, hinter dessen rückwärtiger Fensterwand die Schatten der Staatsaktionen in Westminster zu ahnen sind, mehr Werkhalle der Industrialisierung als Herrschersitz, in dem Elisabetta wie eine Zuchtmeisterin auftritt, gar nicht nett anzusehen in ihrer altersdünn aufgetürmten roten Haarpracht, den mit einer breiten schwarzen Ledertaille insektenhaft eingeschnürten roten Samtwallungen, den silbernen Krallenkuppen und rot umränderten Augen. Im Gegensatz zur artigen Sara ist sie keine Nette, wirft bei ihrer Cavatina eine weiße Maus ins Spinnenterrarium oder was immer der Kasten ist, den Madeleine Boyd für Alessandro Talevi konstruiert hat, der übereifrig darum bemüht ist, der sängerischen Aktion ein bisschen szenisches Augenfutter entgegenzusetzen und Elisabetta als Spinne in einem von ihr gesponnenen Netz von Macht und Intrigen zu zeichnen, was zu grotesken Installationen auf der Bühne führt (DVD BelAir Classics BAC 130). Das scheint verlorne Liebesmüh, denn Mariella Devia und Gregory Kunde richten die Sache.

Im Oktober 2015 war Devia 67 Jahre, Kunde 61. Man darf das erwähnen. Nachdem die fade Silvia Tro Santafé die Romanze der Sara über Fair Rosamond mit festem Mezzosopran gesungen hat, kommt Devia und zeigt, dass sie nicht nur das spektakulärere Kostüm trägt, sondern in jeder Hinsicht die Königin des Abends ist, ihre Cavatina „L’ amor suo mi fe beata“ besitzt Ausdruck und ungemeine Autorität, in der Begegnung mit dem des Hochverrats angeklagten Devereux ist nicht nur von Blitzen die Rede, hier stieben tatsächlich die Funken, denn der fast baritonal klingende und die hell intensive Devia steigern sich in der Gran Scena zu herrlicher Dramatik. Da sind zwei Wissende am Werk, die ihre Linien wie Bildhauer meißeln, mit klarer Diktion, Leidenschaft und kluger Beherrschung singen.

Roberto Devereux ist eine fast abgezirkelte Vierecksgeschichte. Roberto und Sara lieben sich. Auf Geheiß der Königin musste Sara nach dem Tod ihres Vaters Robertos besten Freund Nottingham heiraten. Sie wirft ihm die Liebe zur Königin vor, er ihr den angeblichen Treuebruch. Es gibt zwei Liebes- bzw. Treupfänder, den Ring der Königin, der Roberto Sicherheit verspricht, sowie den blauen Schal, den ihm Sara schenkt und der Nottingham den Treuebruch seiner Frau verrät, weshalb Nottingham seine Frau festhält und sie der Königin nicht der Ring überbringen kann, mit der Roberto Elisabetta an ihr gegebenes Versprechen erinnern will. Zu spät. Roberto wird hingerichtet. Die Königin bricht zusammen und dankt ab. Das Finale, in dem Donizetti den Typ der virtuosen Schlussarie zu einer großartigen musikdramatischen Szene vom „Vivi, ingrato“-Lamento über ariose und rezitativische Passagen zur leidenschaftlichen Cabaletta „Quel sangue versato“ steigert, ist der Höhepunkt einer an intensiven und leidenschaftlichen Zweierszenen reichen Oper, in der der Chor, Lord Cecil und Sir Raleigh nur Randfiguren bleiben.

In Madrid sang Devia, die Anfang der 1970er Jahre als Lucia begann und sich im dritten Kapitel ihrer langen Karriere Partien wie der Norma (Debüt im Alter von 65) und den Tudor-Königinnen zuwendet, die Elisabetta erstmals auf der Bühne. Es ist eine großartige Lektion, die Devia erteilt. Eine Masterclass. Im Grunde hat ihr Sopran immer noch die fragile Leichtigkeit der frühen Jahre, fehlt es an Gewicht in der Tiefe und Mittellage, die sie gleichwohl geschickt eindunkelt. Das Timbre, die Farbe der fast stählern hellen Stimme waren nie ausgesprochen individuell, gewinnen aber im Lauf der Aufführung an Dringlichkeit. Devia überwältigte immer durch die Kunst ihres Vortrags, mit der sie Donizettis Formeln und die Muster der Epoche zum Leben erweckt, das Gespür für Rhythmus, Text, Deklamation, Verzierungen und die gestochene Präzision im Finale, wo sie natürlich nicht mit der Pranke – samt den furiosen Glotisschlägen – eines Bühnentiers wie der Gencer singt, aber als eminente Stilistin mit einer unendlichen Palette an melancholischen Tönen in Erinnerung bleibt. Kunde kennt sich in diesem Repertoire fast ebenso gut aus, doch sein Tenor ist grobkörniger geworden, sein Gesang weniger elegant und auslaboriert, die Mittellage etwas ausgerungen und er rettet sich in ein uniformes Draufgängertum, das in anderen Partien sicher vorteilhafter wirkt, aber in der Gefängnisszene des dritten Aktes ziemlich nervt. Ähnlich draufgängerisch, mit schönem Klang, aber wenig entspannt singt Mario Caria den Nottingham, mit ausgeglichenem dunklem Mezzo Silvia Tro Santafé die Sara. Alessandro Fantoni, Matteo Armanino und Loris Purpura stützen kompetent in den kleinen Rollen. it viel Verständnis und Gefühl für diese Musik dirigiert Bruno Campanella, ohne dass ihm das Orchester des Teatro Real immer entsprechend sorgfältig folgte.       Rolf Fath

Neu-Entdeckung des Vertrauten

 

Es herrscht kein Mangel an CDs mit Barock-Arien und besonders Händel stellt einen Mittelpunkt dieses Universums dar, um den Sänger regelmäßig kreisen. Auch Franco Fagioli gesellt sich nun hinzu. Seine neue CD heißt Handel Arias (ohne Umlaut). Die Auswahl mag manche aufgrund ihrer Vorhersehbarkeit überraschen, zu hören sind zwöf Arien aus neun Opern, darunter viele bekannte und quasi kanonische Stücke, die bereits vielfach eingespielt wurden und eine gewisse Bekanntheit bzw. sogar hohe Wiedererkennbarkeit besitzen. Arien u.a. aus Rinaldo, Julius Cäsar, Ariodante und Serse findet man in der Hitparade des Händel-Repertoires auf den vorderen Plätzen der Popularität – eine gewisse Skepsis scheint beim Programm also angebracht. Diese Zusammenstellung hat allerdings ihre Ursache jenseits von Beliebtheit und Beliebigkeit. Fagioli beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesen Werken, er hat sie auf der Bühne gesungen und dargestellt und nach eigener Aussage eine enge Beziehung zu Händels Musik – es ging ihm um Arien, mit denen er „persönliche Gänsehaut-Erlebnisse verbinde“. Diese Zusammenstellung funktioniert, weil Fagioli einen langjährigen persönlichen Zugang zu dieser Musik hat und sie hochemotional und in seiner ganz eigenen Manier interpretiert. Fagioli kann sich das leisten, er hat 2013/14 zwei herausragende und maßstabsetzende Ariensammlungen beim Label Naïve eingespielt. Die Arien für Caffarelli und die CD mit Arien von Il maestro Porpora konzentrierten sich auf Raritäten, an die sich wenige wagen, sein Rossini-Album bei DG war ebenfalls ein Wagnis. Nun einen vordergründig routinierten Hitparadenquerschnitt zu präsentieren, ist eine ergänzende Positionsbestimmung – Händel war fällig.

Ob man Fagiolis Stimmfarbe mag, ist eine persönliche Vorliebe, sein ganz eigenes viril-gutturales Timbre hat in den vergangenen Jahren in der Tiefe an Fundament hinzu gewonnen, die Höhe hat er gehalten – sein Stimmumfang ist eines seiner Markenzeichen, den er auch hier zum Einsatz bringt, bspw. in der Wutarie „Crude furie degli orridi abissi“ aus Serse, in der Fagioli z.B. die männliche Tiefenlage seiner Stimme einsetzt. Unverwechselbar ist Fagiolis Koloratur- und Verzierungstechnik, die ihn zu einem Live-Erlebnis macht. Wer – wie der Verfasser dieser Zeilen – Fagioli über ein Jahrzehnt lang in verschiedenen Opern und bei verschiedenen Konzerten live erlebt hat, der kennt die unglaubliche Rasanz und Stimmartistik, mit der der Argentinier bravourös und vor allem nahtlos fließend durch die schwierigsten Tonkaskaden manövriert und beim Zuhörer Glücksschwindel auslöst. Die Bravourarie „Agitato da fiere tempeste“ stammt aus Riccardo Primo (1727, gesungen von Senesino) und wurde im Pasticcio Oreste  (1734, dargeboten von Carestini) mit einer neuen zweiten Strophe wiederverwertet. Fagioli entschied sich für die zweite Version. Für diese Arie kann man beispielhaft Vergleiche heranziehen und sich ein Bild von dem machen, das Fagioli stimmlich aktuell von anderen Countertenören unterscheidet: Philippe Jarrousky präsentierte die erste Fassung auf seiner gerade erst im Herbst 2017 erschienen CD The Händel Album (mit Umlaut), Bejun Mehta bspw. 2010 auf seiner CD Ombra cara – beide singen die Arie beeindruckend gut, doch beide wirken stimmlich weniger breitbrüstig als der Argentinier. Weitere gelungene Beispiele von Fagiolis Fähigkeiten sind „Venti, turbini, prestate“ aus Rinaldo und „Sento brillar nel sen“ aus Il Pastor Fido und „Dopo notte, altra e funesta“ aus Ariodante. Bei Händel kann Fagioli nun noch eine andere Stärke ausspielen: den emotionalen Ausdruck, die Verinnerlichung, die er selbst dort erzeugt, wo andere nur mechanisch Koloratur produzieren. Bestes Beispiel dafür sind die fast schon abgedroschen wirkenden „Cara sposa, amante cara“ aus Rinaldo und „Ombra mai fu“ aus Serse oder auch „Pompe vane di morte … Dove sei amato bene“ aus Rodelinda sowie aus Imeneo „Se potessero i sospir‘ miei“ (auch diese Arie hat Jaroussky auf seiner letzten CD eingespielt) und „Se in fiorito ameno prato“ aus Giulio Cesare. Fagioli gelingt es, dass man Vorbehalte schnell aufgibt. Wie er den Ausdruck modelliert, weiche und weite Legatobögen erklingen lässt, Nuancen vermittelt und den Klang zum Schweben bringt, das ist große Stimmkunst. Der Abschluss der CD ist kein Bravourstück. Arsaces „Ch’io parta?“ (aus Partenope, eine Oper, die Fagioli noch nicht auf der Bühne sang) lässt die CD voller Wehmut in einen Abschied münden. Auf das Wiedersehen und -hören darf man sich freuen. Begleitet wird Fagioli von Il pomo d’oro, das von der Konzertmeisterin Zefira Valova an der Violine geleitet wird, wobei Fagioli  auf dieser CD auch selber dirigiert hat, wie ein Foto im Booklet zeigt. In einem Interview erklärte Fagioli: „Ich sehe mich als Musiker, der im Moment Sänger ist“. Es scheint, also wollte Fagioli sich breiter aufstellen. Der Klang der 18 Musiker ist streicherlastig, dem Continuo hätte eine Theorbe gut getan, die Holzbläser fallen kaum auf, das Orchesterspiel klingt ein wenig zu eindimensional. Das berühmte „Scherza infida“ aus Ariodante – Anne Sofie von Otter sang sie in der legendären Minkowski-Interpretation von Traurigkeit glühend und zu Tränen rührend über 13 Minuten – findet hier eine ähnlich intensive Präsentation durch den Countertenor, die aufnahmetechnisch nicht zufriedenstellend ist und im Vergleich hörbar verliert, weil das Fagott als wichtige Stimme kaum hervor sticht. (Deutsche Grammophon 0289 479 7541 0 ) Marcus Budwitius

Parasitenkunst

 

Wenige Tage vor Weihnachten 2017 erschien das neue Buch von Ileana Cotrubas und ihres Mannes  Manfred Ramin mit dem Titel „Die manipulierte Oper“ über die Unarten des Regietheaters, in dem die Verfasser vorschlagen, Oper lieber ganz ohne Bühnenbild als mit die Stücke entstellenden aufzuführen. An Heiligabend  wurde die Bühne der Deutschen Oper Berlin durch die Sprinkleranlage unter Wasser gesetzt, was bis heute dazu führt, dass nur noch halbszenische Aufführungen mit eingeschränkten Bühnenbildern stattfinden können. Das soll zum Beispiel bei Meyerbeers Propheten zu einer bedeutenden Verschönerung der Produktion geführt haben, so dass sich die Frage aufdrängt: Zufall oder Absicht? Erhebt die Konterrevolution gegen das „Regisseurstheater“, wie die Verfasser das Phänomen benennen möchten, das Haupt? Und kann es ein Zufall sein, das nach den von den Autoren gerühmten Brook mit seiner Carmen-Version und Meese mit seiner Parsifal-Oper nun auch die Neuköllner Oper zur bekannten Musik von Humperdincks Hänsel und Gretel ein Musikwerk aufführen wird, das Wolfskinder heißt und sich mit dem Schicksal der deutschen Kindern befasst, die nach dem 2. Weltkrieg, aus Königsberg und dem restlichen Ostpreußen stammend, in den Wäldern umherirrten und die Flucht über die Memel versuchten?

Ileana Cotrubas: „Die manipulierte Oper“ im Apfel Verlag Wien

Ileana Cotrubas ist nicht eine nur schriftlich bekennende Feindin des Regietheaters, sondern hat sich bereits in ihrer aktiven Sängerinnenzeit gegen Zumutungen in einer Bohéme, Don Carlos oder Traviata zur Wehr gesetzt. Das Buch beginnt mit vielen Fragen u.a. nach der Schuld, die die einzelnen Berufsgruppen, die mit Oper zu tun haben, an deren Entstellung durch die Regie haben, und begnügt sich nicht damit, mit dem Finger auf die Regisseure allein zu zeigen, sondern sieht Operndirektoren, das Feuilleton und Kulturpolitiker ebenfalls auf der Anklagebank, streift nur relativ kurz die Dirigenten, die ihre Entmachtung bei der Entscheidung über die Optik einer Inszenierung mit fadenscheinigen Ausflüchten geradezu zu genießen scheinen. Den Sängern wird verziehen, dass sie jeden Blödsinn mitmachen, denn nur eine Anna Netrebko wie unlängst bei der Manon in München unter Neuenfels kann es sich leisten, sich Regisseurswillen zu widersetzen. Am Werdegang einer fiktiven Mimi-Sängerin machen die Autoren deutlich, dass jeder Widerstand ein frühzeitiges Ende der Karriere bedeuten würde. Das Publikum hingegen wird nach Meinung der Verfasser gar nicht erst befragt, sondern darf höchstens bei der Premiere seinen Unmut äußern. Das Erscheinen des jeweiligen Abendspielleiters in den Folgevorstellungen mit einem Schild, auf dem die Namen von Regisseur, Bühnenbildner und Kostümbildner deutlich zu lesen sind, könnte der Stimme des größtenteils Regieeskapaden müde gewordenen Auditoriums mehr Gewicht verleihen.

Die Rechtfertigung der Regie für Eingriffe in die Optik der Stücke, insbesondere für ihre Aktualisierung, werden von den Verfassern zurückgewiesen, so die Behauptung, dadurch würden sie für die heutige Generation besser verständlich und zudem attraktiver. Stattdessen führen sie Beispiele dafür auf, wie lächerlich manche Verhaltensweisen der Opernfiguren erscheinen, wenn man diese in die moderne Zeit versetzt (2. Akt, 1. Szene Traviata). Auch dem jungen Zuschauer, der im Kino willig jede Art von Zeitreisen unternimmt, könne man einiges an Phantasie und Denkvermögen zusprechen.

Die Verfasser haben fleißig Beispiele für lächerliche Einfälle von Regisseuren gesammelt und geben den Dirigenten, die diese duldeten, eine Mitschuld an der Umsetzung auf der Bühne, beschreiben aber auch Eingriffe von Dirigenten wie die von Harnoncourt in die Partitur durch eine nicht nachvollziehbare Aufführungspraxis. Die Hauptzielscheibe bleiben jedoch, und da gibt es einiges an Wiederholungen, das Feuilleton und die Regisseure. Ersteres hat durch die skurrilen Ideen der Regie viel Stoff zum Schreiben, kann sich auch als auf der Höhe der Zeit stehend begreifen und ist so bereit, in jedem Unsinn einen Sinn zu erkennen.

Ileana Citrobas und Martin Ramin/ mit Dank an den Neuen Merker

Nach Meinung von Cotrubas-Ramin wird das „Regisseurstheater“ zunehmend vom Regietheater light abgelöst, in dem nur noch einzelne Überbleibsel wie das Volleyballspiel in Fidelio oder Drogenspritzen und Koffer wenig verstören können. Das unterscheide sich von dem Wirken der „Konzept“-Regisseure, dem zum Beispiel die Münchner Rusalka mit ihrer Anlehnung an ein aktuelles Verbrechen zugerechnet wird. Da aber ohne die Musik diese Aufführungen auf keinerlei Interesse stoßen würden, bezeichnen die Autoren sie als „Parasitenkunst“.

Cotrubas und Ramin weisen es weit von sich, zu alten Aufführungspraktiken wie vor den Reformen durch Wieland Wagner zurückkehren zu wollen, lehnen Pracht und Prunk auf der Bühne ab und verlangen lediglich, dass die Intentionen, die in der Partitur stehen, nicht buchstäblich, aber sinngemäß realisiert werden. Zu Recht ergießt sich ihr Hohn und Spott über Inszenierungen, die seitenlang in Programmheften und Interviews erläutert werden müssen, über den übermäßigen Einsatz von Videoprojektionen, von pantomimischen Spielchen zur Ouvertüre und dem Hinzuerfinden weiteren Personals, so der Verdoppelung von Personen.  Da wäre dann der richtige Zeitpunkt gekommen, um ein Werk als „Szenisch manipulierte Aufführung der Oper“ anzukündigen.

Zu bezweifeln ist, dass der Vorschlag, Bühnenbildwettbewerbe auszuschreiben, eine Zukunft hat,  ebenso bleibt wohl Utopie, dass man Verträge mit dem Zusatz „Die Partitur mit allen Anweisungen ist Bestandteil dieses Vertrages“ mit Regisseuren abschließen wird, und so wird es wohl bei der traurigen Erkenntnis bleiben:“Intellekt hält die Oper umklammert.“

Der größte Vorzug des Buches ist die Leidenschaft, mit der für die Gattung Oper gekämpft wird, sein größter Nachteil, dass dies in humorfreier und oft sich wiederholender Form geschieht. Aber: Die Musik ist so stark, dass sie jede Regie überleben wird!  (Wien 2017, Verlag Der Apfel; ISBN 978 3 85450 118 3). Ingrid Wanja    

Was will das Publikum?

 

„Was aber will das Publikum?“ fragt der ehemalige Soziologie-Professor der Düsseldorfer Uni Karl-Heinz Reuband, der sich in einem der zwölf Beiträge des von ihm herausgegebenen Sammelbands Oper, Publikum und Gesellschaft unter dem Thema „Erneuerung der Oper aus dem Geist der Moderne“ speziell mit den Begriffen Regietheater und Werktreue auseinandersetzt (Springer VS, 392 Seiten). Diese und andere Fragen zur Zusammensetzung und Altersstruktur des Publikums, das, wir haben es geahnt, überaltert ist, zu zukunftsträchtigen Formen und Erwartungen auch hinsichtlich der Regieformen beantwortet der nicht ganz günstige Band auf oftmals unerwartete Weise. Die oftmals trockenen und mühsam zu lesenden, von fleißigen Studenten zusammengetragenen Tabellen und Auswertungen kann man dabei getrost überblättern. Verkörpert das Regietheater, wobei sich die Befragungen vor allem auf die Verlagerung der Handlung in die Gegenwart konzentrierte, die Moderne, erfüllt es die ästhetisch-kulturellen Bedürfnis der Zuschauer und zieht es, wie vielfach behauptet, tatsächlich ein jüngeres Publikum an? Das Ergebnis ist, so zufällig die Vorgehensweise und fehlerhaft die über einen langen Zeitraum und in unterschiedlichen Städten getroffenen Auswertungen auch hinsichtlich des Stellenwerts, den die Besucher der Inszenierung am Gesamteindruck beimessen, auch sein mag, ist einigermaßen überraschend – oder auch nicht. Selbst lange Erziehungsprozesse, wie beispielsweise seit der Liebermann-Ära in Hamburg, haben nicht „notwendigerweise zu einer breiteren Akzeptanz“ des Regietheaters geführt. „Der Gegenwartsbezug begründet nicht per se ein Interesse an einer Aufführung“. Das Regietheater hat das Opernpublikum weder geöffnet noch verjüngt, sondern es vergrößert eher „die soziale Spaltung des Opernpublikums“ als dass es sie verringert, „Es bewirkt genau das Gegenteil von dem, was es proklamiert oder ihm als Eigenschaft zugeschrieben wird: Der Opernbesuch könnte in manchen Zuschauererkreisen sogar durch das Regietheater geradezu an sozialem Distinktionspotenzial gewonnen haben: … wegen der komplexen Narration auf der Ebene der Inszenierung, welche Dechiffrierungsleistungen und Sinnzuschreibungen erfordert“. Im Gegensatz oder in Ergänzung dazu hält Udo Bermbach („Politik, Gesellschaft und Oper im 20. Jahrhundert“) dagegen, „In solcher Vielfalt der Aufführungsstile spiegelt sich die Vielfalt der Gesellschaft und ihrer potenziellen Bedürfnisse wider. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Kapital der Oper auch für die Zukunft, das allerdings auch Verpflichtungen“ hinsichtlich der Pluralität der Stile, der Regisseure und des Spielplans mit sich bringt. Inhalte müssen vermittelt werden, „welche die sinkenden Wissensvoraussetzungen des heutigen Opernpublikums kompensieren können, durch vielfache technische wie inhaltliche Hilfestellungen ….“.

Soziale Distinktion spielte bereits in den „Saalschlachten in Oper und Konzert in Großbritannien des 19. Jahrhunderts“ (Sven Oliver Müller) eine Rolle, wo sich soziale und politische Ungleichheit in der Kennerschaft einer aristokratischen Elite manifestierte, die ihre Logen als privaten Raum betrachtete und exklusive Rechte in Anspruch nahm. Ein Verhalten, das sich in den Ritualen der Konzertreihen oder unter leidenschaftlichen Opernanhängern, die ästhetische Besitzstände verteidigen, erhalten hat. Die Frage, ob Oper und klassische Musik ihren Status als Distinktionsgut verloren hat und an ihre Stelle der Konsum vielfältiger Musikrichtungen getreten ist  (Debora Eicher und Katharina Kunißen: „Hochkulturelle Musik in grenzüberschreitenden Geschmackskombinationen“), ist ebenso interessant wie die Feststellung, es “ist davon auszugehen, dass der Alterungsprozess des Klassikpublikums zunächst weiter voranschreitet, ohne das dies als Misserfolg der Bemühungen – gemeint sind die Programm für Kinder und Jugendliche – verstanden werden muss“ (Reuband „Das Kulturpublikum im städtischen Kontext“). Das ist wenig überraschend.

Mit Freude liest man den Beitrag über die „Entwicklung des Zeitungsfeuilletons“, in dem Günter Reus und Lars Harden akribisch belegen – freilich anhand einer gewissen Auswahl von Zeitungen – dass trotz Auflagenschwunds und Online-Konkurrenz das klassische Feuilleton und die Kulturberichterstattung, anders als möglicherweise erwartet, keineswegs im Niedergang begriffen sind. Eine Boulevardisierung und Auszehrung hat in den Allzuständigkeitsfeuilletons der Qualitätszeitungen nicht stattgefunden, allenfalls eine Zunahme der ambivalenten Kunstberichte. „Anders, als Rezensenten selbst vielfach glauben“ – auch ich hatte das angenommen – „legt das Publikum bei der Lektüre von Rezensionen keineswegs den größten Wert auf das Urteilsvermögen professioneller Beobachter. Weit wichtiger ist ihm, dass Journalisten über zusätzliche Informationen verfügen und sie dem Publikum auch bereitstellen“. „Am wichtigsten sind dem Opernbesucher Aussagen über die Leistungen der Sänger (sehr wichtig: 57%) und“ – das hätte ich nicht vermutet – „die Handlung/ das Bühnengeschehen („das worum es geht“, 55 %)“. Die Anforderungen an Opernkritiken untersuchten Wolfgang Schweiger und seine Studenten („Opernkritiker – geheime Verführer oder entfremdete Elite?“), wobei wir erfahren, dass eine Kritik keine Auswirkung auf den Publikumszuspruch hat – klar, die Bayerische Staatsoper ist zu über 90 % ausgelastet – sich nur maximal 15 % der Lesenden nicht der Meinung der Kritikers anschließen und „die Nutzung von Opernführer und -kritik als Kulturtechnik bei den jüngeren Besuchern seltener wird.“  Spannend zu lesen, auch wenn sie sich nicht logisch in den Aufbau des Bandes fügen, fand ich Fritz Trümpis Ausführungen zum Wiederaufbau der Wiener Staatsoper, die dokumentieren, wie die Hilfeleistungen und Geldflüsse von amerikanischer und sowjetischer Seite letztlich keine Erwähnung mehr fanden und die Wiedereröffnung der Staatsoper zu einer alleinigen Leistung des österreichischen Volkes stilisiert wurdeRolf Fath

Olivia Molina

 

Gesang mit Seele und Gefühl: Sie gehörte für mich schon immer zu den ganz Großen, zu einer Gattung von Künstlern, wie sie in unserem oft so oberflächlichen und kurzlebigen Medienzeitalter zur absoluten Seltenheit geworden sind. Dabei ging Olivia Molina seit vielen Jahren unbeirrt ihren Weg, der sie von ihrer (kurzen) Schlagervergangenheit um Lichtjahre entfernt hat.

„Si se calla el cantor calla la vida, por que la vida, la vida misma es todo un canto.”  So beginnt eines der Lieder auf Olivia Molinas Album „Sinceramente”. In deutscher Übersetzung heißt das: „Wenn der Sänger schweigt, schweigt das Leben, weil das Leben, eben dieses Leben nur Gesang ist.“ Ich glaube, besser kann man Olivia Molinas künstlerisches Credo, ja ihre gesamte Lebenshaltung, nicht charakterisieren.

Olivia Molina sings Jazz/ Foto Schmidl

Die künstlerische Vielseitigkeit, die manche Opernsänger mit dubiosen Crossover-Produkten so gerne beweisen möchten, liegt Olivia Molina im Blut. Auch sie ist eine Grenzgängerin, die sich in verschiedensten Stilen, von der Brecht-Oper („Mahagonny“, „Dreigroschenoper“) bis zum Musical und Jazz bewiesen hat. Die Palette ihrer Kunst ist inzwischen unglaublich breit: Ob sie als Jenny in der „Dreigroschenoper“ auftritt oder hinreißende Abende mit argentinischer Tangomusik gestaltet, ob sie „klassische“ lateinamerikanische Songs im Gepäck hat, sich unter dem Motto „Nach all den Jahren“ dem Chanson widmet (wie auf einer ihrer neueren Platten), als Musical-Star reüssiert oder ihrer wiederentdeckte Liebe zum Jazz mit swingenden Konzerten nachgeht: Stets beherrscht sie nicht nur perfekt den jeweiligen Stil, sondern gestaltet mit unglaublicher emotionaler Beteiligung.

Olivia Molina wurde am 3. Januar 1946 in Kopenhagen geboren. Ihre deutsche Mutter stammte aus Flensburg, ihr aus Mexiko stammender Vater war Musiker und Orchesterleiter. Schon in Acapulco, wo Olivia Molina den größten Teil ihrer Kindheit und Jugend verbracht hat, begann sie mit Jazz – bis hin zum Gewinn des mexikanischen Jazz-Festivals. Mit 19 Jahren führte sie die mexikanische Hitparade mit dem Titel „Juego de Palabras“ an, der Olivia Molina schlagartig zu einer der populärsten Sängerinnen in Mexiko machte. Das war 1965. Dann ging sie nach Deutschland. Hier machte sie zunächst eine äußerst erfolgreiche Karriere als Schlagersängerin. Die führte u. a.  zum Gewinn des Deutschen Schlagerwettbewerbs 1973 in Berlin und zur Auszeichnung als „Künstlerin des Jahres“ durch die Deutsche Phono-Akademie im Jahr 1977.

Aber parallel ging sie schon andere künstlerische Wege: Ihre Liebe zum Theater begann 1968 beim Stuttgarter Renitenz-Theater. Dorthin wurde sie von Gerhard Woyda in das „Erste Deutsche Damenkabarett“ verpflichtet. Es folgten weitere Kabarett-Engagements bei Lodynski in Wien und bei den Berliner „Stachelschweinen“. Aus der Zusammenarbeit mit André Heller entstand 1976 ein wunderbares, sehr poetisches Album: „All meine Jahreszeiten“.

Olivia Molina/ Weihnachtslieder aus aller Welt/ Foto Schmidl

Ab 1970 eroberte sie sich Musical und Schauspiel: Rolf Kutschera holte sie für „Sorbas“ an das Theater an der Wien; unter der Regie von Helmut Käutner spielte sie ebenfalls dort in „Kiss Me, Kate“. 1972 folgte auf Einladung von Ulrich Erfurth die Jenny in der „Dreigroschenoper“ in Bad Hersfeld (ebenso 1973 und 1991); 1974 spielte sie in Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ neben Herbert Fleischmann und Uwe Friedrichsen. Mit „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ gastierte sie in ganz Europa – an der Seite der großen Martha Mödl. Die hat zu Olivia Molina einmal gesagt: „Wenn  der Weill eine Jenny hätte erfinden müssen, hätte er sicher Olivia Molina erfunden.“ Zu Martha Mödl hatte sie ein besonderes Verhältnis: „Es war wie Liebe auf den ersten Blick. Sie strahlte so viel Wärme und Humor aus wie kaum ein Künstler. Sie war für mich auch ein bisschen Mutterersatz. Ich habe von ihr viel gelernt.“ „Jesus Christ Superstar“ und „Evita“ waren weitere Musical-Stationen. 1991 spielte sie die Iduna in „Feuerwerk“.

 

Die entscheidende Wende im Leben Olivia Molinas ereignete sich bereits 1980, als sie im Auftrag von Bischof Emil Stehle eine Messe für Adveniat komponierte, die „Misa Latinoamericana“, die sie auch im Gepäck ihrer ersten Weihnachtstournee mitführte. Vom Schlagergeschäft hatte sie sich zu diesem Zeitpunkt schon längst zurückgezogen – ein Kapitel, das sie damals für sich abgeschlossen hatte. „Ein Künstler lebt in Kapiteln, man lässt immer etwas zurück, auf das man dann nicht mehr zurückgreifen kann. Wenn man sich entwickeln will, muss man jedes Mal eine neue Welt aufbauen. Ich war immer bereit, ganz von vorn anzufangen.“

Diese Weihnachtstourneen durch Kirchen in ganz Deutschland, bei denen in den ersten zwanzig Jahren immer acht Kinder aus Lateinamerika mitwirkten, sollten zu einer Tradition werden, die bis 2011 währte.

Eigentlich sollte nach zwanzig Jahren damit Schluss sein. Die Bilanz war ja auch beeindruckend: 600 Konzerte, 500.000 Besucher, 136 Kinder, die mit Olivia Molina gesungen haben. 150 Weihnachtslieder aus Lateinamerika wurden liebevoll gesammelt, bearbeitet und arrangiert. Insgesamt wurden bis dahin 17 Projekte zugunsten von Kindern in Mittel- und Südamerika unterstützt.

Olivia Molina/mit Martha Mödl/ Foto privat

Aber das wunderbare und schier unerschöpfliche Repertoire an lateinamerikanischen Weihnachtsliedern („Die Diamanten und Perlen liegen in Lateinamerika auf der Straße“, sagt sie) war ihr zu sehr persönliche Herzensangelegenheit, um damit brechen zu können. Und so hat sie den Konzerten eine neue, kreative Gestalt gegeben. Die Konzerte fanden jetzt in einer klassischen Form statt: Keine Kinder, keine bunten Ponchos. In einem eleganten, schwarzen Kleid trat Olivia Molina auf –  eine charismatische Sängerin, die sich ihrer künstlerischen Kraft, ihrer Persönlichkeit und der Faszination ihrer dunkel timbrierten, zu unglaublichem Farbenreichtum fähigen Stimme bewusst ist. Sie zelebrierte Gesang mit Seele und Gefühl, der tief in die Herzen der Zuhörer drang. Wenn auch die Akzente des Konzerts etwas vom „Folkloristischen“ weg zu klassischer Strenge hin verlagert waren, blieb die Essenz dieser teils fröhlichen, teils von tiefer Religiosität geprägten Musik doch unangetastet. Im Gegenteil: Das neue Gewand, in dem die Lieder jetzt präsentiert wurden, diese dezente Eleganz, stand der Musik sehr gut und verstärkte eher noch ihre emotionale Wirkung. Die Kritik zeigte sich von der neuen Form der Weihnachtskonzerte, die Olivia Molina erstmalig 2002 vorstellte, begeistert. Als „Königin, deren Kronjuwelen die Lieder Lateinamerikas sind“ wurde sie bezeichnet. Es sei „diese Mischung aus inniger Frömmigkeit, die sich in den volksliedhaft schlichten bis poetischen Texten widerspiegelt, und den lateinamerikanischen Melodien und Rhythmen“, die den Erfolg der Weihnachtskonzerte ausmachte. Mit „spiritueller Größe und unnachahmlicher Präsenz“, mit „Herz und Stimmgewalt“ zöge Olivia Molina ihr Publikum mühelos über fast zwei Stunden in ihren Bann.

Mit diesen Tourneen  hat Olivia Molina nicht nur unzählige Projekte für Kinder in Lateinamerika unterstützt und ermöglicht (über den 1987 von ihr gegründeten Verein „Patenschaft Kinder Lateinamerikas – Olivia Molina e.V.“ in Bonn, dessen Präsidentin sie wurde), sondern so ganz „nebenbei“ ist auch eine wunderbare Sammlung dieser vitalen traditionellen Lieder aus Argentinien, Bolivien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru, Venezuela und anderen Ländern entstanden. Olivia Molina hat uns damit auf höchstem künstlerischen Niveau unglaublich schöne und tiefgehende Musik geschenkt, aber auch ein Stück Kulturarbeit geleistet, das nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Ein gutes Dutzend CD-Einspielungen ist mit diesen Liedern entstanden und dokumentiert diesen reichen musikalischen Schatz. Diese Schätze vor der Vergessenheit zu bewahren, ist ihr eine wirkliche Herzensangelegenheit. Auch aus diesem Grund hat sie ein Liederbuch mit einer persönlichen Auswahl herausgegeben.

Olivia Molina/ in Bad Hersfeld/ Foto privat

Auch ihrer zweiten großen Liebe, dem Jazz, hat sich Olivia Molina seit 1999 verstärkt wieder zugewandt. Ihre Konzerte gestaltete sie mit dem 2011 verstorbenen Saxophonisten und Klarinettisten Heribert Kroll.  Über ihr Konzert in Hamburg habe ich damals geschrieben:

„Nun kehrte sie für ein paar Konzerte zu dieser Musikform zurück: „Welcome back to Jazz“ erwies sich als Jazz vom Feinsten. Begleitet von einem ganz hervorragenden Quintett (Klavier, Gitarre, Schlagzeug, Bass), das von dem Saxophonisten Heribert Kroll geleitet wurde, präsentierte Olivia Molina Standards aus dem Repertoire von Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan oder Dinah Washington„The Lady Is A Tramp“, „Fly Me To The Moon“, „As Time Goes By“, „All Of Me“ – wohlbekannte Songs, überwiegend in den dreißiger Jahren geschrieben, wurden von ihr mit unverbrauchter Frische, mit Feeling und in eigenständiger Interpretation vorgestellt. Prachtvoll changierte ihre ausdrucksstarke Stimme im Evergreen „I Left My Heart in San Francisco“; bewundernswert ihre satte Mittellage in „Stormy Weather“, einem der Höhepunkte des Konzerts. Sehr einfühlsam die schöne Ballade „Misty“, die man noch von Johnny Mathis im Ohr hat,  raffiniert die verhaltene Emotion bei „Sentimental Journey“. Auch ein kleiner Tribut an Kurt Weill durfte nicht fehlen, von dem Olivia Molina drei Lieder besonders kompetent interpretierte, darunter den unverwüstlichen „September-Song“. Mit einigen Stücken, die sich aber nahtlos in das Programm einfügten, entfernte sie sich etwas vom eigentlichen Jazz-Idiom. So konnte man sich an dem Feeling  bei Gershwins „Summertime“ und dem Variationenreichtum bei „Moon River“ ebenso erfreuen, wie an der Art, wie sie ihre Stimme an die Melodienseligkeit der „Love Letters“ anschmiegte.

Ganz großen Anteil an dem prachtvollen Eindruck des Konzerts hatte der großartige Heribert Kroll, der viele Songs solistisch mit seinem Saxophon bereicherte, der swingend jazzte und in den Balladen ein gefühlvoller Duettpartner von Olivia Molina war.“

Im Jahr 2011 konnte Olivia Molina ihr fünfzigjähriges Bühnenjubiläum feiern. Wie macht man das? Am besten doch mit den Dingen, die einem am meisten am Herzen liegen. Deshalb konnte sich Olivia Molina nichts Schöneres vorstellen, als dieses Jubiläum auf einer neuen Weihnachtstournee mit diesem wunderbaren Repertoire zu begehen. Und dabei dachte Olivia Molina dankbar an das Erreichte zurück: „Gracias a la Vida“, wie es in einem wunderschönen Lied von Violeta Parra heißt – „Ich danke dem Leben, das mir so viel gegeben hat!“

Die Jazz-Sängerin Olivia Molina/ Foto Schmudl

Trotzdem fragt man sich, wie eine Künstlerin das alles über einen so langen Zeitraum schaffen und „überleben“ kann. Denn es gibt viele Karrieren, die genauso schnell wieder vorbei waren wie sie begonnen haben. Vielleicht liegt es daran, dass sich Olivia Molina nie hat verbiegen lassen. Bei allen Dingen, die sie gemacht hat, waren sie auch noch so verschieden, hat sie immer alles gegeben. Alle künstlerischen Aufgaben ist sie mit Herzblut und ganzer Hingabe angegangen. Die emotionale Kraft, die das kostet, zahlt sich offenbar aus. Denn das Publikum merkt sehr genau, ob jemand nur Modeströmungen folgt oder hinter dem steht, was er tut. Und eine gehörige Portion Disziplin gehört natürlich auch dazu. Als „mexikanische Preußin“ hat Olivia Molina sich einmal scherzhaft in einem Interview bezeichnet.

Inzwischen hat sie sich Olivia Molina von der Bühne zurückgezogen. Ich bin glücklich, dass ich viele Auftritte nicht nur bei ihren Weihnachtskonzerten miterleben konnte. Unvergesslich ist mir auch ihre Jenny in Bad Hersfeld, ein Tango-Abend im Winterhuder Fährhaus oder ihr Jazz-Konzert in Hamburg.  Am 3. Januar 2018 wurde Olivia Molina 72 Jahre. Dazu die allerherzlichsten Glückwünsche. Wolfgang Denker

Denen wir uns anschließen. Die Redaktion (Foto oben Olivia Molina sings Jazz/ Foto Schmidl)

 

Weitere Informationen und CDs unter www.oliviamolina.de; Foto oben Oölivia Molina in Concert/ Foto Schmidt

Assoziation als Regie

 

Leonardo Vinci (1690-1730) hat seit der Einspielung von „Artaserse“ auf CD und DVD mit fünf Countertenören (Jaroussky, Cencic, Fagioli, Barna-Sabadus und Mynenko) durch Virgin Classis (2012) bei einem breiteren Barockopernpublikum wieder einen Namen. Das italienische Label Dynamic ist bekannt dafür, Raritäten bei Aufführungen auf Festivals in Italien und auch mal anderswo aufzuspüren und hat zwei Opern-Produktionen von Vinci im Angebot, die ebenfalls sowohl auf CD als auch auf DVD vorliegen. Partenope wurde 2011 im spanischen Murcia aufgezeichnet, die Uraufführung erfolgte 1725 als La Rosmira Fedele in Venedig, die Titelrolle sang Faustina Bordoni. Partenope ist eine mythologische Figur (als Sirene soll sie sowohl Odysseus als auch die Argonauten vergeblich gelockt haben) und gilt als Gründerin Neapels, denn dort soll ihre Leiche angeschwemmt worden sein, nachdem sie sich aus Verzweiflung ins Meer gestürzt hatte. Vinci arbeitete offensichtlich unter Zeitdruck, er nahm das Partenope-Libretto von Silvio Stampiglia, das 1722 von Domenico Sarro vertont worden war (und das auch Händel 1730 verwendete und Vivaldi 1738 wiederum als „Rosmira Fedele“ vertonte) und passte es teilweise an bereits von ihm komponierte Musik an, von Sarro kopierte er fast alle Rezitative, einen Chor und zwei Märsche sowie drei Intermezzos, dazu komponierte Vinci aber auch  Originalbeiträge und fertig war die treue Rosmira, Händel verwendete noch im gleichen Jahr für sein Pasticcio „L’Elpidia“ sieben Arien daraus. Diese Oper handelt von Liebeswirren, Eifersucht und Missverständnissen: Rosmira liebt Arsace, der zusammen mit Armindo und Emilio um Partenope konkurriert. Rosmira verkleidet sich als Mann, um als Eurimene Arsace nahe zu sein. Letztendlich finden die richtigen Paare zueinander und Freundschaft befriedet die Rivalen. Das Libretto hat zusätzlich zwei komische Figuren, die nicht zur Handlung gehören, sondern sie parodistisch kommentieren und deshalb in drei Intermezzos auftreten, die in dieser Produktion zu Beginn noch vor der Sinfonia sowie am Ende des 1. und 2. Akts positioniert wurden und in Spanisch gesprochen werden. Regisseur Gustavo Tambascio erzählt wenig und bleibt eng an der Handlung. Er arrangiert Partenope in barockem Ambiente, man zeigt gemalte Bühnenbilder (Ricardo Sánchez), man greift auf alte Bühnentechnik zurück, bspw. bei der Darstellung des Meeres durch hintereinandergestellte wellenförmig fixierte Leinwände, die gegeneinander nach rechts und links bewegt werden. Man sieht Kostüme (Jesús Ruiz), wie man sie aus alten Stichen kennt, die Sänger tragen bspw. Helme mit Federboa. Barockes Pathos entsprach einer kontrollierten Emotionalität, die Sänger und Tänzer arbeiten viel mit Gestik und Handbewegungen zum Verdeutlichen der Emotionen und der Situation. Man könnte diese Inszenierung als assoziativ semi-historisierende Produktion bezeichnen, live war es wahrscheinlich reizvoller als in der Konserve, aber wer bspw. die nur von Kerzenlicht beleuchteten, historisierenden Inszenierungen der belgischen Regisseurin und Choreographin Sigrid T’Hooft oder des Franzosen Benjamin Lazar gesehen hat, dem wird der Bühnenzauber bei dieser weniger konsequenten spanischen Produktion fehlen. Eine Besonderheit sind die von Sarro vertonten Intermezzi, die aufheitern sollen, aber hier nicht richtig funktionieren. Hätte man auf diese Szenen verzichtet, hätte man vielleicht weniger Authentizität in die Produktion, aber mehr Stringenz in die eigentliche Oper bringen können, bei der man vermuten kann, dass einige Striche angebracht wurden. Das Beiheft gibt über die Umsetzung keine wesentliche Auskunft. In Murcia kamen keine Countertenöre zum Einsatz, das Stimmklangbild ist dennoch gut zusammengestellt. Die Rosmira von Maria Grazia Schiavo ist lieblich, ihre Stimme hell und warm, ein wenig fehlt ihr das Feuerwerk, immerhin wurde die Rolle für die Bordoni geschrieben. Sonia Prina als herrische Partenope hat Charisma, ihr Timbre kommt aber hier nicht immer zur Geltung, manchmal wirkt ihre Stimme zu schwer. Dem Arsace von Maria Ercolato fehlt ein wenig das Schillernde, Eufemia Tufano als Emilio (dessen Trompetenarie „Forti schiere, vicino è il cimento“ am Ende des 1. Akts besonders effektvoll ist) könnte charismatischer sein und Stefano Ferraris als Armindo hatten wohl einen schlechten Tag, zu matt und trüb klingen manche Passagen, die Liebesbezeugungen überzeugen nicht. Dirigent Antonio Florio und sein 1987 gegründetes Ensemble I Turchini sind auf der Habenseite der Produktion, ein flüssiges, frisches Musizieren, warum das Continuo ohne Laute und dafür mit Harfe besetzt ist, erschließt sich allerdings ebenfalls nicht aus dem Beiheft.

 

Vincis „Didone abbandonata“ bei Dynamic – das schlüpfrige Cover trügt!

Didone abbandonata ist eines der erfolgreichsten Librettos von Metastasio und eines von dreien mit einem tragischen Ende. Vinci vertonte es 1726. Die vorliegende Aufnahme aus Florenz entstand im Januar 2017 und arbeitet mit sparsamen Mitteln. Die Inszenierung bemüht sich gar nicht erst um Originalität und setzt ebenfalls auf Assoziation. Die Bühne (Gabriele Vanzini) ist sehr schmal und karg und zeigt eine Treppe und ein Metallgestell, das mit Stoff bedeckt werden kann, man arbeitet mit farbigen Lichteffekten und Schattenspielprojektionen. Die Kostüme (Monica Iacuzzo) sollen ein wenig charakterisieren: Didone ist leuchtendem Rot, Enea trägt einen antik-römischen Brustpanzer, Jarba ist getarnt mit teilgeschwärztem Gesicht. Die Produktion und die Regie von Deda Cristina Colonna erinnern an einen Inszenierungsstil, wie man ihn bei Barockproduktionen vor ca. 30 Jahren pflegte. Erzählt werden einfache Figurenkonstellationen, Spannungsbögen werden nicht szenisch gebaut, es entwickelt sich keine Dynamik, beim Anschauen erlebt man kaum Inspirierendes. Die Sänger sind ordentlich, vor allem die Titelfigur hat Charisma. Als Didone hört man Roberta Mameli, die stimmlich und darstellerisch eine starke Figur im Zwiespalt darstellt. Carlo Allemano singt viel Barockes zwischen Monteverdi und Mozart, als Enea wirkt er ungelenk und schwerfällig, er leidet unter der lediglich assoziativ arrangierenden Personenführung. Countenor Raffaele Pé als Iarba überzeugt mit schöner Stimmführung. Der Sopran von Gabriella Costa (Selene), die Mezzosoprane von Marta Pluda (Araspe) und Giada Frasconi (Osmida) ergänzen in den kleineren Rollen gut. Carlo Ipata dirigiert das Orchester des Maggio Musicale Fiorentino ohne Funken zu schlagen, der Klang ist ohne federnde Eleganz, die Dynamik ist zu eng begrenzt. Auch hier ist das Beiheft wenig interessant. (Partenope 2 DVD, ca 168 Minuten, Dynamic 33686. / Didone abbandonata 2 DVD, ca. 166 Minuten, Dynamic 37763) Marcus Budwitius

 

Bravo Nikolai Schukoff

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Heutzutage eine kleine Sensation ist eine Studiogesamtaufnahme, dazu noch eine von Verdis Otello, für dessen Titelhelden es wenige wirklich überzeugende Stimmen gibt, die tenoralen Strahl und solide baritonale Mittellage in sich vereinen, dazu noch zu extremer Expressivität fähig sind .Neben den berühmten beiden Vs, Vickers und Vinay, versuchten sich mit wechselndem Erfolg mehrfach Mario Del Monaco und Plácido Domingo am Mohren, der wahrscheinlich eher ein Maure war, sogar irregeleitet Pavarotti, Bergonzi scheiterte an ihm, ansonsten Martinucci, Cossutta, McCracken, Atlantov, Cura, in jüngster Zeit Robert Dean Smith und Jonas Kaufmann, beide nicht einstimmig und absurder Weise zu dem „Otello unserer Zeit“ gekürt.

Den neuesten Versuch hat Nikolai Schukoff unternommen, ihm zur Seite stehen zwei Sänger, die vor allem in Amerika Karriere machen. Aufgenommen wurden die beiden Pentatone-CDs in Lissabon mit dem Gulbenkian Orchestra unter Lawrence Foster. Der österreichische Tenor singt demnächst an der Staatsoper Unter den Linden den Narraboth, eine weitere Spanne zwischen lyrisch und dramatisch, die auszufüllen er sich vorgenommen hat, ist demnach kaum vorstellbar. Schukoff überzeugt mit einem sieghaft herausgeschleuderten „Esultate“, kann im Liebesduett gut lange Passagen in der mezza voce durchalten und bleibt stets Tenor. Um billige Effekte bemüht er sich nicht, der Racheschwur fällt moderat aus, das Addio wird gut beherrscht und „la sposa d’Otello“ wird mit bitterer Verachtung in der Stimme abgestraft. „Dio mi potevi“ und der Dialog mit Emilia erfolgen vorwiegend im Sprechgesang, was Geschmackssache sein kann. Ergreifend ist die Sterbeszene, zum Schluss verhauchend, gestaltet, insgesamt dominiert das tenorale Element, baritonale Dramatik könnte man sich in stärkerem Maße vorstellen, so dass insgesamt der Eindruck eines achtbaren, wenn auch nicht ganz und gar Erfüllung darstellenden  Rollenportraits entsteht.

Nicht nur black-facing mit einem weißen Otello, auch das wohl weit weniger in der Kritik stehende white-facing findet sich, wenn auch unsichtbar bleibend, auf der CD mit einem afroamerikanischen Bariton, Lester Lynch, der in der letzten Zeit auch an der Sächsischen Staatsoper zu hören war. Ein Brunnenvergiftertimbre ist ihm nicht gegeben, und eine schreckliche Hohnlache nach dem Credo macht noch keinen Jago. So kommt es zu Timbreverfärbungen, die der Stimme etwas Bedrohliches verleihen sollen, von einem „onesto Jago“ ist so nicht viel  zu hören, jeder auch noch so von Eifersucht Verblendete müsste den Betrug durchschauen.

Eine höchst angenehme Entdeckung ist die Desdemona von Melody Moore, in deren dunkelgetönter Mittellage, so im „A terra“, viel schöner Schmerz zu vernehmen ist, die einen Sopran hat, der zum Herzen des Hörers spricht, mit ergreifenden „prime lagrime“ und feinen Piano-Fermaten im letzten Akt für die Salice und das Ave. Ihre Desdemona ist perfekt im Lyrischen wie auch, was seltener ist, im Dramatischen- schließlich singt sie bereits Tosca und Senta. Jago wollte Verdi seine Oper eigentlich nennen, Desdemona könnte diese CD heißen.

Munter  und mit Emphase kräht der Cassio von JunHo You, charaktervoll ist die Emilia von Helena Zubanovich, dumpf der Lodovico von Kevin Short.

Der Chor klingt nicht immer idiomatisch, das Orchester unter Lawrence Foster steht in einem schönen, ausgewogenen Verhältnis zu den Sängern, so dass insgesamt diese Aufnahme eine sehr achtbare ist. Für die Aufnahme spricht nicht zuletzt auch die Aufmachung, die sich angenehm von der Billig-Optik, die man heutzutage oft in Kauf nehmen muss, abhebt. (2 CD Pentantone PIC 5186 562Ingrid Wanja      

Weinbergers „Wallenstein“

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Schon wieder nicht Gera. Wie bereits beim Ullenspiegel von Braunfels, der unlängst auf DVD aus Linz kam, stammt auch die neue cpo-CD von Jaromir Weinbergers Wallenstein nicht von den Bühnen der Stadt Gera, wo sowohl die Oper von Braunfels wie die von Weinberger während der entdeckungsfreudigen Oldag-Intendanz in deutscher Erstaufführung (!!!) 2009 herausgekommen waren. cpo hat den Mitschnitt der Wiener konzertanten Aufführung von 2012 unter Cornelius Meister herausgegeben. Das ist verdienstvoll und wird nachstehend besprochen. Aber Ehre, wem Ehre gebührt: Danach bringen wir einen Artikel von Felix Eckerle aus dem Programmheft (und nun Beiheft der cpo-Ausgabe) jener deutschen Erstaufführung 2009 in Gera und würdigen damit den Mut des damaligen Intendanten und des Hauses. G. H.

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„Wallenstein“: der Komponist Jaromir Weinberger/ Wiki

Wallenstein im Schiller-Jahr 2009, als man sich erstmals dieser Rarität und ihrer mit insgesamt vier Aufführungen folgenlos gebliebenen Wiener Uraufführung von 1937 erinnerte. Im März 1938 erfolgte der Anschluss. Der in Prag geborene Jude Weinberger emigrierte in die USA, wo er 1967 Selbstmord beging. Müßig zu spekulieren, ob Weinberger unter anderen Umständen mit Wallenstein an den Erfolg seines zehn Jahre älteren Schwanda, der Dudelsackpfeifer hätte anknüpfen können, der „glanzvollen Eintagsfliege“, wie Marcel Prawy so trefflich bemerkte, die immerhin bis zur Met geflogen war. Wohl kaum. Beim Hören der Aufnahme wird, mehr als in der Geraer Aufführung, deutlich, dass es sich bei der Oper, für die Milos Kares in seinem tschechischen Libretto Schillers Dramen-Trilogie auf sechs Szenen reduzierte, welches Max Brod wiederum ins Deutsche übertrug, um ein merkwürdiges Zeitstück handelt. „Wollte er“, so Felix Eckerle im Beiheft, „mit seiner musikalischen Tragödie Wallenstein vor dem Krieg warnen, den er vorausahnte, wollte er gar am Beispiel Wallensteins, den Niedergang eines Potentaten vor Augen führen, dessen Hybris und Realitätsverweigerung ihm letztlich den Tod brachten?“. Ein sprödes Geschichtstableau im rezitativischen Gedankenaustausch. Man denkt an Kreneks Karl V. oder Hindemiths Mathis der Maler, die im folgenden Jahr in Prag bzw. Zürich herauskamen.

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Nun also wieder Wien, wo Cornelius Meister im Juni 2012 die Musikalische Tragödie in sechs Bildern auf die Bühne des Konzerthauses hievte (2 CDs cpo 777963-2). Und man kann ahnen, weshalb Meister sich des Werks annahm, das abseits des böhmischen Musikantentums im Schwanda oder Kreneks Zwölfton-Oper mit konventionellen Mitteln versucht, die komplizierte Geschichte zu fassen. Für seine Doku-Oper entwickelt Weinberger einen Klangstrom, der vieles aufsaugt, was damals angesagt war. Die böhmisch volkstümlichen Elemente im Feldlager, wo wir die Kapuzinerpredigt hören, die Verdi zu einer ähnlichen Sequenz in Forza del destino anregte, kennen wir bereits aus Schwanda. Neu sind in den Gesängen der Soldaten, der Pappenheimer und des Volkes die Marschlieder, die deutlich den Songstil der 30er Jahre aufnehmen, dazu der nicht uninteressante Wechsel von Rezitativ, Sprechgesang und Melodram. Da ist der Ohrwurm des Pappenheimer-Marsches, viel puccinihaft klang- und tenorprächtiges, fast operettensüßes, in den Thekla-Max-Szenen, doch auch viel formelhafte Textbewältigung in den Szenen des Wallenstein mit seinen Generälen, seiner Schwester Gräfin Terzky, den beiden Piccolominis und des Astrologen Seni.  Ausgeprägt wie in Schwanda ist die farbig glühende, Weinbergers liquide Handwerkskunst bezeugende Orchestersprache, die Strauss, aber auch Korngold und Schreker aufnimmt.

„Wallenstein“: Szene aus der Aufführung in Gera 2009/ Foto © Bühnen der Stadt Gera

Das klingt nicht immer ausgesprochen individuell, doch Wallenstein ist durchaus sehr kunstvoll und fast filmhaft in Szene gesetzt, hebt Liebesszenen von den düster gehaltenen Kriegsszenen ab, schafft Höhepunkte, und wenn man sich auf die langen Klangreden einlässt, erkennt man wie meisterhaft Roman Trekel die Gestalt des Wallenstein, der sich in dieser 130minütigen Oper natürlich nicht hinreichen vertieft, erfasst („Es gibt im Menschenleben Augenblicke, wo er dem Weltgeist näher ist als sonst“), wie er mit oft bohrender Intensität und Leidenschaft Linien meißelt, wie er um psychologische Vertiefung ringt, wo es das Libretto nicht hergibt. Alles in allem: Wallenstein ist eine bemerkenswerte Zeitoper. Einige der Solisten übernehmen mehrere, teilweise bis zu vier Partien, Ralf Lukas beispielsweise ist Octavio Piccolomini, sowie ein Dragoner und Kapuziner, der auffallende Tenor Dietmar Kerschbaum singt Questenberg und Seni sowie zwei weitere Rollen – das wirkt beim Hören etwas irritierend. Daniel Kirch ist ganz ausgezeichnet als der jugendlich-heldische Max, der von Martina Welschenbach gesungenen Thekla fallen mit dem Liebeslied und dem Klagegesang um den gefallenen Max zwei der zentralen Szenen zu (in der UA wurde die Partie immerhin von Esther Réthy gesungen), und Dagmar Schellenberger gibt der Terzky mit kantigem Sopran ein Gesicht. Manche der Raumwirkungen und Signale mögen im Konzerthaus überzeugender gewirkt haben, doch die Wiener Singakademie und das ORF Radio Symphonieorchester sind haben Überzeugendes geleistet, das sich vielfach erst beim zweiten Hören erschließt.  Rolf Fath

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„Wallenstein“: Ester Rethy sang in der Uraufführung in Wien/ OBA

Jaromir Weinberger – Wunderkind und Opfer. Der Komponist: Geboren am 8. Januar 1896 in Prag als Sohn eines Gebrauchtmöbelhändlers, wuchs Jaromir Weinberger in eher ärmlichen Verhältnissen auf. Im Alter von fünf Jahren begann, er Klavier zu spielen und entpuppte sich als musikalisches Wunderkind. Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte er 1906 in Prag; bei dieser Gelegenheit leitete er einen Kinderchor, der eine Chorbearbeitung eines seiner Lieder sang. Mit vierzehn Jahren kam er ans Prager Konservatorium und wurde in die Kompositionsklasse von Vitèzslav Novak sowie in die Klavierklasse von Karel Hoffmeister aufgenommen. 1913 schloss er sein Kompositionsstudium mit der Aufführung einer Klaviersonate sowie seiner „Lustspiel-Ouvertüre“ im Rudolfinum ab. 1915 folgte das Examen im Fach Klavier. Im selben Jahr nahm er Kontakt mit Max Reger auf, bei dem er bis zu dessen Tod im Jahr 1916 in Leipzig studierte. Zurück in Prag arbeitete als Komponist, Pianist und Dirigent, schrieb u.a. Bühnenmusiken und Kabarett-Lieder.1922 entschloss sich Weinberger, in die USA zu gehen. Er erhielt eine Stellung als Kompositions- und Theorielehrer am Konservatorium in lthaka (NY), fühlte sich aber vor allem durch seine schlechten Sprachkenntnisse beim Unterrichten unwohl. So kehrte er nach nur einem Jahr in die Tschechoslowakei zurück.

„Wallenstein“: Alfred Jerger (hier als Johnny in Kreneks Oper) sang in der Uraufführung in Wien/ Wiki

Am Slowakischen Nationaltheater in Bratislava arbeitete er als Dramaturg. Kurze Zeit war er Lehrer am Konservatorium in Eger, kehrte aber bald nach Prag zurück. Dort konzentrierte er sich auf die Komposition seiner neuen Oper Schwanda, der Dudelsackpfeifer, mit der er unter Rückgriff auf die romantische Volksoper des 19. Jahrhunderts eine neue tschechische Oper verwirklichen wollte. Die Uraufführung 1927 im Nationaltheater Prag auf Tschechisch wurde eher skeptisch aufgenommen. Max Brod fertigte daraufhin eine deutsche Übersetzung des Librettos von Milos Kares an, und nach einer Überarbeitung durch Weinberger wurde das Stück zu einem internationalen Sensationserfolg u.a.in Breslau, München, Dresden, Leipzig, Berlin, Straßburg, Wien (Staatsoper), New York (Met), London (Covent Garden) und Buenos Aires. In der Spielzeit 1929/30 stand Schwanda, der Dudelsackpfeifer auch in Altenburg und Gera auf dem Spielplan. Bis Anfang der 30er Jahre wurde die Oper über 2.000 Mal aufgeführt und in 17 Sprachen übersetzt. Der Münchner Aufführung 1929 folgte ein Kompositionsauftrag für eine weitere Oper durch den Dirigenten Hans Knappertsbusch, dem Weinberger mit der Oper Die geliebte Stimme nachkam. Die Oper wurde 1931 in München  uraufgeführt, ohne viel Anerkennung zu finden. Ähnlich war es mit den folgenden Opern Die Ausgestoßenen von Pokerflat (UA 1932 in Brünn) und Wallenstein. Im Januar 1933 wurde Weinbergers erste Operette, Frühlingsstürme im Berliner Admiralspalast mit Richard Tauber erfolgreich uraufgeführt.

Nach der Machtübernahme der Nazis war eine Fortführung dieses Erfolges aber nicht möglich. Infolge der politischen Ereignisse floh Weinberger im Herbst 1938 mit seiner Frau Hansi zunächst nach Frankreich und von dort in die USA. Obwohl seine Ankunft in der Presse angekündigt wurde, verloren Verleger und Dirigenten bald das Interesse. Einer der wenigen Erfolge war 1939 die Aufführung von Under the Spreading Chestnut Tree durch John Barbirolli und das New York Philharmonie Orchest ra.

Auf Liebig ist Verlass: hier ein Bildchen zu Schillers Drama „Wallenstein“/- mais ein francais/ Liebig.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt Weinberger Nachricht von seiner Familie aus Europa: Seine Mutter und die Schwester Bedriska waren von den Nazis ermordet worden. 1948 erhielt er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Mit Hilfe einer Kompensation für die nicht ausgezahlten Tantiemen konnte er in St. Petersburg (Florida/USA) ein Fertighaus bauen und in den Jahren 1962 -1963 jeweils im Sommer nach Europa reisen. Dort widmete er sich vor allem der Fotografie. Zudem entstand eine Reihe von Kompositionen, in denen er weiterhin tschechische, österreichische, aber auch amerikanische Volksmusik verarbeitete. Nach einem Streit um eine nicht zustande  gekommene   Auftragskomposition mit dem Wiener Rundfunk gab Weinberger, der zuvor bereits einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte und sich stationär behandeln lassen musste,  das  Komponieren  endgültig auf. Es folgten ein vollständiger Rückzug  aus der Öffentlichkeit, ein Herzinfarkt und Depressionen. Nach verschiedenen Klinikaufenthalten nahm sich Weinberger am 8. August 1967 mit Schlaftabletten  das Leben.

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Die Oper: Im Jahr 1789 nahm Friedrich Schiller eine Professur  in  Jena an. Dort verfasste er eine ,,Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“. Niemals zuvor waren die historischen Ereignisse so umfassend aufgearbeitet worden. Wenig später schrieb er für das Weimarer Hoftheater die Dramen-Trilogie Wallenstein, in der er dem Feldherrn ein literarisches Denkmal setzte. Vor den Toren Weimars liegt der Ettersberg, Weimars höchste Erhebung. Goethe und Schiller gingen hier gerne spazieren. Dies hinderte die Nationalsozialisten nicht daran, genau dort 1937 ein Konzentrationslager zu errichten.(…) Die von Goethe und Schiller propagierten Ideale einer aufgeklärten, toleranten und humanen Gesellschaft wurden mit Füßen getreten.

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Weinbergers „Wallenstein“ in der Aufnahme aus Wien bei cpo

Wallenstein (Valdstejn): Musikalische Tragödie in sechs Bildern von Jaromir Weinberger Text nach Schillers dramatischem Gedicht von Milos Kares Deutsche Übertragung  von Max Brod; UA: 18. November 1937, Operntheater (heute Staatsoper) Wien; Deutsche Erstaufführung: 23.Oktober 2009, Bühnen der Stadt Gera. Der tschechisch-jüdische Komponist Jaromir Weinberger wählte nicht ohne Grund das Drama einer der bedeutendsten deutschen Geistesgrößen als Vorlage seiner opulenten Opernkomposition. Wollte er mit seiner musikalischen Tragödie Wallenstein vor einem Krieg warnen, den er vorausahnte? Allerdings: Weinberger erklärte sich mit Wallenstein einer europäischen Kultur zugehörig, die auf bürgerlichem Selbstbewusstein, Humanität, Toleranz und Friedfertigkeit fußt. Keine Selbstverständlichkeit zu einer Zeit, in der die Nationalsozialisten auf der Grundlage ihrer Rassenideologie nicht nur den Menschen jüdischer Provenienz gerade diese Kulturfähigkeit absprachen. Vier Monate vor dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland wurde die Uraufführung der Oper Wallenstein von der Presse weitgehend ignoriert. Nur vier Vorstellungen erlebte die musikalische Tragödie in sechs Bildern,“Nacht muss es sein, wo Friedlands Sterne strahlen“, äußert Wallenstein im Drama und in der Oper. Der Hoffnung verbreitende Satz erwies  sich als falsch. Die Sterne, Frieden und Wohlstand, waren in der Nacht eines drei Jahrzehnte währenden, unerbittlich-grausamen und unübersichtlichen Krieges nicht zu greifen. Auf Wallensteins (falsche) Erkenntnis folgte dessen baldiger Tod. Auch Weinbergers Oper konnte 1937 ihre Strahlkraft nicht entfalten. Allzu lange währte anschließend die Nacht des lgnorierens und Vergessens.

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Die Texte von Felix Eckerle, damals Dramaturg bei der Theater & Philharmonie Thüringen, entnahmen wir mit Dank dem Programm zur deutschen Erstaufführung am Theater Gera im Oktober 2009.  (Informationen: www.tpthueringen.de), die nun auch der neuen cpo-Ausgabe beiliegen.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Mesalliance?

 

„Vivaldi- Die fünfte Jahreszeit“ nennt sich das Musical oder besser die BaRock-Oper von Christian Kolonovits, die im Sommer 2017 in der Wiener Volksoper urausgeführt wurde und die es nun bereits als DVD gibt. Der Musikliebhaber erkennt unschwer, dass im Mittelpunkt des Werks des Barockkomponisten wohl berühmteste Schöpfung „Die vier Jahreszeiten“ steht. In einer Rahmenhandlung suchen rund um die Wiener Karlskirche, auf deren Totenacker der Komponist in einem Armengrab bestattet wurde, nach dem verschollenen fünften Satz, finden aber stattdessen ein Tagebuch, das eine der beiden Schwestern, die die Geliebten des prete rosso gewesen sein sollen und anhand dessen sie das Leben Antonio Vivaldis in vier Akten, den Jahreszeiten entsprechend, nacherleben können: die Bestimmung zum Priester bereits als Kind durch den Kardinal Ruffo, seinen lebenslangen Gegenspieler, das Wirken als Musiklehrer für venezianische Mädchen, den vergeblichen Versuch, in Rom Fuß zu fassen, und die Reise nach Wien, wo der Kaiser, bei dem man Unterstützung suchte, bereits verstorben ist.

Kolonovits, der auch die Musik zur Oper „El Juez“ für José Carreras geschrieben hat, mischt Elemente der Barockmusik, vor allem natürlich die der Vier Jahreszeiten mit rockartiger Musicalmusik, Rezitative, die in stampfendem Rhythmus auf einen aus vollem Hals für den Opernfreund nicht immer angenehm zu hörenden, lang anhaltenden Höhepunkt zueilen,  im Aufbau also einander recht ähnlich sind und bei deren Gesang es weniger auf Schönheit als auf Nachdrücklichkeit anzukommen scheint. Das Libretto mit nicht durchweg geglückten Reimen stammt von Angelika Messner, im Orchestergraben, wo der Komponist auch als Dirigent wirkt, spielen sowohl das Orchester der Volksoper als auch eine sogenannte Vivaldi-Band, bestehend aus zwei Gitarren, Keyboard, E-Bass und Drums.

Die Mädchenband bildet mit ihrer Suche nach der Fünften Jahreszeit nicht allein die Rahmenhandlung, auch die Geschichte Vivaldis beginnt mit seinem nahenden Ende („Ausgebrannt“), um dann zur Kindheit im Frisiersalon des Vaters zurückzukehren und dann, assistiert vom Freund und Librettisten Carlo Goldoni, chronologisch abzulaufen. Vivaldis Musik erklingt vorzugsweise in Zwischenspielen, aber auch hin und wieder inmitten der Rockmusik.

Die Bühne (Christof Cremer) lebt vor allem von den Hintergrundprospekten vornehmlich aus barocker Zeit, die Kostüme sind eine witzige Mischung von übertriebenem Barock bis Rokoko und Jetztzeit, oft grell bonbonfarben, die Perücken ironisch übertrieben.

Drew Sarich singt mit höhensicherem Charaktertenor einen beeindruckenden Vivaldi mit rotem Schopf, eine schmale, in der schwarzen Kutte noch schlanker wirkende Figur, sich sichtbar verzehrend im Schaffensrausch und der Meisterung seines komplizierten Privatlebens. Mit ihm steht und fällt die Produktion. Intensiv ist auch der Goldoni von Boris Pfeifer mit etwas knarzigem Bariton, eindrucksvoll im „Du hast den Scharlatan im Blut“. Die angenehmste Stimme hat, abgesehen von der Extremtiefe, Morten Frank Larsen als Kardinal Ruffo. Rebecca Nelsen ist die Sängerin und Geliebte Vivaldis, Annina, und verliert zu recht den Wettstreit mit dem Kastraten Caffarelli, der von Thomas Lichtenecker als tolle Karikatur gespielt und imponierend gesungen wird. In „Ich bin Künstlerin“ weiß sich der Sopran aber zu steigern. Julia Koci ist mit angenehmer Stimme die Schwester Paolina.

Dem auch zwischen den einzelnen Musiknummern nicht mit Beifall geizendem Publikum scheint die Aufführung ausnehmend gut zu gefallen, für Nur-Operngänger, aber die sind ja nicht das Maß aller Dinge, ist sie natürlich gewöhnungsbedürftig.  Immerhin gab es für die Produktion den Deutschen Musical Theater Preis 2017 (Home-base records 217043). Ingrid Wanja 

 

Vermächtnis

 

Wie ein schönes Vermächtnis muten die beiden Gesamtaufnahmen von Verdi-Opern mit dem jüngst verstorbenen russischen Bariton Dmitri Hvorostovsky an, die 2013 und im Juli 2016 in der Kaunas Philharmonie aufgenommen wurden und die 2015 bzw. 2017, also erst kürzlich, erschienen. Es handelt sich um  Simon Boccanegra und Rigoletto, in beiden Fällen leitet Constantine Orbelian das Kaunas City Symphony Orchestra, das sich als wenig raffiniert beim Simone, so im Vorspiel zum 1. Akt, aber auch sonst als recht schwerfällig erweist und das für den Rigoletto durch extreme Tempi in beide Richtungen auf sich aufmerksam macht. Besser schlägt sich auf beiden Einspielungen der Chor mit reicherer Agogik und einigem Brio. Beim Simone meint man zunächst wegen der Szenenfotos im Booklet, es handle sich um eine Live-Aufnahme, aber beides sind Studioaufnahmen, man hat  lediglich Fotos von Bariton und Sopran in Kostümen für das Booklet machen lassen.

Als Simone erfreut der Sänger mit einer samtweichen Stimme im Vorspiel, mit effektvollem „morta“ oder „m’odi“, er verfügt über eine darstellende Stimme, die den Hörer nachvollziehen lässt, wie er vor dem Palast des Fiesco Überlegungen anstellt. Ohne Anstrengung gelingt später „Plebe! Patrizi!“, endlos ist das „figlia“ am Schluss des ersten Akts, weniger gut hört sich das Duett Bariton-Bass im letzten Akt an, da die beiden Stimmen nicht miteinander harmonieren. Dem Fiesco von Ildar Abdrazakov mangelt es zwar nicht an Fülle und Durchsetzungsvermögen, aber an Wärme, dem Bass fehlt auch das Balsamische, das die Benedizione im ersten Akt zur akustischen Labsal werden lässt, dazu ist er zu hart und dumpf- zumindest in dieser Aufnahme. Ein ganz großes Plus der Aufnahme ist Barbara Frittoli als Amelia, der Sopran ist reich an Farben, die Emission leicht, die Höhe sicher und aufblühend, und sehr schöne Glockentöne hat sie für „Orfanella il tetto umile“. Keine Mühe hat der Sopran, über den Ensembles zu schweben und den ersten Akt mit einem schönen Triller zu krönen. Gabriele ist Stefano Secco mit für Verdi eher zu hellem Tenor, und manchmal kommt der Hörer in Versuchung, „nomen est omen“ zu denken, besonders wenn wie im 2. Akt die Stimme unter Druck hart wird. Einen ausdrucksvollen Paolo mit manchmal fast zu schöner Stimme singt Marco Caria, von den einheimischen Kräften lässt Kostas Smoriginas als Pietro aufhorchen.

Der litauische Bariton darf auch im Rigoletto mitwirken und ist hier ein beachtlicher Monterone, weiß auch die größere Partie angemessen zu meistern. Mit der Stimme von Dmitri Hvorostovsky hingegen hat sich, wohl bereits krankheitsbedingt, ein bedauerlicher Wandel vollzogen, wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass die Begleitung nicht eben sängerfreundlich ist. Die dumpfer und hörbar älter gewordene Stimme, die manchmal abgedunkelt wird, hat es schwer, großzügige Bögen zu formen (so bei „vegliar oh donna“), gerät manchmal in die Nähe des  Sprechgesangs und „Pari siamo“ wie „Cortigiani“ erscheinen nicht wie aus einem Guss, sondern zerstückelt. Es tut dem Hörer weh, wenn er sich vorstellt, dass der Sänger versuchte, trotz seiner schweren Krankheit die Folge derselben zu ignorieren. Immerhin gelingt es zumindest teilweise, durch expressives Singen einiges wettzumachen. Francesco Demuro hat zumindest im Ansatz die voce brillante, die die Partie des Duca verlangt,  auch die notwendige, selbst wenn nicht besonders angenehm klingende Höhe. Für „Parmi veder“ setzt er eine gute Phrasierung ein, aber mehr liegt ihm „Possente amor“, da für die Arie etwas die notwendige lyrische Emphase fehlt. Nadine Sierra bietet für den „Caro nome“ hübsche Tongespinste an, ihre Pianissimi sind vom Feinsten, aber „Tutte le feste“ wird nicht mehr als anständig gesungen, für mehr ist der frische Sopran noch zu unbedarft klingend. Optisch finsterer als akustisch ist der Sparafucile von Andrea Mastroni, warme Töne steuert Oksana Volkova als Maddalena bei. Wenn dem zu früh verstorbenen Sänger diese Aufnahme eine Genugtuung war, dann will man auch zufrieden mit ihr sein, ein hohes Maß an künstlerischer Reife entschädigt allemal für Schwächen in der vokalen Bewältigung.(Simon Boccanegra  2 CD Delos 3457; Rigoletto 2 CD Delos 3522). Ingrid Wanja