„Mich interessiert Theater…“

 

Kurz vor Ende der ersten Spielzeit des neuen GMD und Operndirektors des TfN (Theater für Niedersachsen) Florian Ziemen ergab sich vor einer Vorstellung der „Blume von Hawaii“ die Gelegenheit, mit ihm ein Gespräch zu führen. Er hatte durch seinen besonders vielseitigen Spielplan und die Entdeckung der nahezu unbekannten „Adelia“ von Gaetano Donizetti überregionale Aufmerksamkeit erregt. Darüber und anderes mehr sprach Marion Eckels mit dem neuen Chef in Hildesheim.

 

Florian Ziemen/ Foto IVA KLjuce

Zunächst nach seinem Werdegang befragt, begann er äußerst lebhaft zu berichten:  Als gebürtiger Münchner habe ich auch dort studiert, war während des Studiums als Chorassistent an der Bayerischen Staatsoper beschäftigt und durfte in der damals frisch gegründeten August Everding Akademie viele Produktionen musikalisch leiten. Nach zwei weiteren Jahren an der Londoner Royal Academy of Music machte ich dort meinen Master im Dirigieren.

Musikalisch prägend waren Begegnungen mit Sir Colin Davis, Peter Maxwell Davis, Roger Norrington sowie Reinhard Goebel, mit dem er bis heute verbunden ist. Meine ersten Berufsjahre führten mich als Solorepetitor an das Aalto-Theater in Essen zu Stefan Soltesz, von dem ich sehr gefördert wurde; innerhalb der sieben Jahre stieg ich zum 2. Kapellmeister auf und durfte sehr viel dirigieren. Danach war ich 1. koordinierter Kapellmeister in Bremen und ging 2012 mit Michael Hofstetter als 1. Kapellmeister und stellvertretender GMD ans Stadttheater nach Gießen, also eine ganz klassische Kapellmeister-Laufbahn. Seit 2015 bin ich nebenbei Dozent für Orchesterdirigieren an der Hochschule der Künste in Bern.

Nach Hildesheim kam Ziemen praktisch durch seinen dortigen Vorgänger Werner Seitzer, der auf seine Arbeiten aufmerksam wurde, die sich durch aufführungspraktische Entdeckungslust und musikalische Frische auszeichneten. Seitzer lud ihn – quasi als Bewerbung – zur „Boccaccio“-Produktion ein. Alle waren sehr angetan – bis auf das Orchester, was zunächst zu großem Wirbel führte, als er trotzdem ernannt werden sollte. Das war natürlich sehr unangenehm und man überlegt sich dann eine Entscheidung eher zweimal. Ich bin meinem Gefühl gefolgt, dass ich es dennoch tun sollte – und das hat sich bestätigt. Jetzt bin ich unglaublich dankbar, dass das inzwischen alles Schnee von gestern ist. Wir haben uns noch im Vorfeld konstruktiv und vorsichtig angenähert und einen sehr guten Prozess durchlaufen, was dafür entscheidend war, dass es vom ersten Tag an hier ein wunderbares Zusammenwirken war. Die Arbeit macht viel Freude, das Arbeitsklima ist sehr gut. Wir haben einen ganz tollen Start gehabt; natürlich wird man sich gelegentlich wieder mal reiben, aber das gehört dazu. Mein Vertrag geht zunächst bis 2020, aber jetzt nach einem knappen Jahr fühle ich mich immer noch an einem Anfang.

Florian Ziemen in Aktion/ Foto: © TfN (Theater für Niedersachsen)

Florian Ziemen hatte bislang nebenbei noch etliche sinfonische Gastdirigate sowie Opern- und Operetten-Produktionen übernommen, bei den Grands Ballett Canadiens in Montreal war er seit vielen Jahren ständiger Gast. Wie sieht das jetzt neben der Doppelfunktion am TfN aus? In der Richtung mache ich im Moment gar nichts! Ich habe hier ein Gebilde übernommen, das Werner Seitzer in 33 Jahren aufgebaut hat. Es ist eine unheimlich anspruchsvolle Aufgabe, dies einerseits gut weiter zu führen und andererseits vielleicht auch einige Dinge mit neuen Impulsen zu versehen. Das ist absolut abendfüllend, da bleibt keine Zeit für anderes.

Impulsiv schließt er gleich eine lange Erklärung an, was er am Theater in Hildesheim weiter vorantreiben möchte:  Mich interessiert die Institution Theater sehr. Man kann die Frage stellen, ob eine Stadt wie Hildesheim ein Theater braucht. Meine Antwort ist natürlich: Ja!! Man muss das aber auch füllen. Was haben wir den Leuten zu bieten, die heutzutage mobil überall hinfahren können, und wie kann man ein Theater so entwickeln, dass es ein gemeinschaftlicher Ort ist und bleibt? Ich habe z. B. in London sehr stark erlebt, wie Oper dort etwas Fremdes, Exklusives ist, das nicht unbedingt zur Allgemeinheit dazugehört wie hier in Deutschland. Hier haben wir natürlich auch einen Erosionsprozess; es gibt nicht mehr so ein Bildungsbürgertum; auch die Generation wird schon älter, die gar nichts mehr mit klassischer Musik am Hut hat, sondern sich lieber Karten für das x-te Rolling-Stone-Revival kauft als für die Oper. Da muss man eine Antwort finden, wie die Faszination dafür zu wecken ist, dass sich eine Gemeinschaft, eine Stadt ein Theater leistet mit diesen großartigen Künsten, die zugänglich für alle sind, und was sich da in der Zukunft entwickeln kann.

Meine Antwort liegt gewissermaßen im Spielplan. Für mich kann es nicht der Weg sein, wenn wir das Gleiche machen wie Braunschweig oder Hannover, nur in „klein“. Dann ist man schnell überflüssig. Wir müssen unbedingt eine Ergänzung sein, d.h. gültig sein, so dass wir uns mit allen anderen vergleichen können. Wir müssen also Stücke bringen, die nicht gerade in der Nähe laufen, also auch seltene Stücke und solche, die per se interessant sind. Darüber möchte ich auch einen Stolz der Hildesheimer – selbst derer, die nicht kommen – auf ihr Haus ermöglichen, wenn hier Dinge geschehen, die es nur hier gibt und für die auch Menschen nach Hildesheim kommen.

 Mit den gelungenen Produktionen dieser Saison (2017/2018) von Weills „Mahagonny“, Telemanns „Orpheus oder die Beständigkeit der Liebe“ und Donizettis „Adelia“ bis zu Abrahams „Blume von Hawaii“ braucht sich Hildesheim wahrlich nicht zu verstecken. Für die neue Spielzeit stehen Mozarts „Hochzeit des Figaro“ in einer deutschen Singspiel-Fassung aus dem 18. Jahrhundert, Tschaikowskys „Pantöffelchen“, Offenbachs „Prinzessin von Trapezunt“ und Brittens „Tod in Venedig“ auf dem Plan. Das sind alles reizvolle Stücke, die in den nahe gelegenen Opernhäusern nicht gezeigt werden oder wurden.  Die Hoffnung wäre, auch als ein „kleines“ Haus einen Nimbus zu entwickeln, indem wir schlagkräftig  und kraftvoll sind und die Menschen gewinnen. Eine Sache, über die ich mich zum Beispiel ganz extrem freue: Ein kostenloses Hildesheimer Wochenblatt mit großem redaktionellem Teil neben den Anzeigen veröffentlichte immer nur Schauspiel- und Musical-Kritiken, aber keine von Opern, da sie dafür keinen Redakteur hatten. Gemeinsam hatten wir die Idee, doch eine Serie mit Leuten zu machen, die noch niemals in einer Oper waren. Das war ein fulminanter Erfolg, denn die „Erst-Gänger“ schrieben bisher eigentlich ausnahmslos, das sei ganz toll gewesen, das sei viel spannender als erwartet, das sollte man viel öfter machen etc.! Das ist genau die Botschaft die ich verbreiten möchte: den Leuten diesen Schatz, den sich eine Stadt mit 100 000 Einwohnern mit diesem Theater leistet, bewusst zu machen – denn sowas gibt es in dieser Dichte in keinem anderen Land der Welt. Ob wir das eine große Opernland in der Welt bleiben, hängt davon ab, ob wir ein Bewusstsein für diesen Schatz, dieses Erbe entwickeln; und insofern viel mehr von der Zukunft von Häusern wie Hildesheim als von Berlin – ein wahnsinnig spannender Gedanke.

Im Konzertbereich ist Florian Ziemen ebenfalls sehr aktiv. Zwar hat er in der letzten Saison nur zwei von fünf großen Sinfoniekonzerten dirigiert, dazu aber noch das Neujahrskonzert mit sieben Wiederholungen. Hier wollten wir etwas Neues wagen und haben das Konzert unter das zwiespältige Motto „Spiel, Zigeuner!“ gestellt. Der Anlass zu dieser Idee war, dass hier in Hildesheim die älteste Sinti-Ansiedlung Deutschlands war. Im ersten Teil gab es dann süffige Operetten-Highlights mit Orchester und Sängern und Sängerinnen des Theaters, nach der Pause hat Balogh Kalman, ein Roma aus Budapest und vor allem unglaublich guter Cymbalom-Spieler mit uns Brahms‘ ungarische Tänze und eigenen Stücke musiziert. Außerdem kamen dann noch die Gitarristen Kussi und Sascha Weiss vom Django Reinhardt-Festival, zwei Lokalstars, die dann alle zusammenspielten – das war ein Riesenerfolg.

Das Stadttheater Hildesheim/ Foto Andreas Hartmann/ fotoaha@aol.com/ © TfN (Theater für Niedersachsen)

Ein besonderes Anliegen ist Ziemen die stilistische und aufführungspraktische Wiedererschließung der Operette, was zu mehreren geradezu spektakulär aufgenommenen Produktionen führte. So bekamen wir auch noch eine fachgerechte Einführung in seine Gedanken zur „Blume von Hawaii“.   Paul Abraham hat sich sehr dafür interessiert, das Orchester zu demokratisieren und Dinge aus dem Jazz zu übernehmen. Er hat in der original notierten sogenannten „Zentralpartitur“ den Song so aufgeschrieben, dass alle Instrumente immer spielen, aber mit der Idee, dass man spontan mit den Instrumentengruppen variieren kann. Bisher gab es hier nur eine zwar rekonstruierte, ausgesetzte also quasi „vorgekaute“ Version vom Verlag. Ich habe gefragt, ob wir das nicht in dieser Freiheit, wie Abraham es gemeint hat, machen können, und wir haben jetzt als Erstaufführung einer Version machen können, die vieles davon miteinbringt und die wir in einem Werkstattprozess entwickeln konnten. Also wenn man die Ohren öffnet, hört man ganz besondere Orchesterklänge, mit Schlagzeug, improvisatorischen Elementen und vielen unterschiedlichen Orchesterfarben. Wahnsinnig schwierig ist es mit der Balance, denn wir machen das ohne Mikroports – meines Wissens sind wir da auch die Ersten. So ist es bei jeder Vorstellung ein großer Kampf, ob wir das auch leise genug hinbekommen, so dass die Bühne gut zu verstehen ist. Aber ich finde, dieses Ringen hat eine Kraft, die man von einem bequem laut spielenden Orchester und mikrofonierten Stimmen niemals bekommt. Insofern ist es, denke ich, etwas sehr Eigenes, was wir mit der „Blume von Hawaii“ entwickelt haben. Da man die „Zentralpartitur“ in der Nachkriegszeit nicht verstanden hat, wurde alles neu im Stil der Zeit bearbeitet, so gab es diese verkitschten Filme und Aufführungen. Die Bearbeitung merkt man auch am Gesangsstil. Der Beruf des Operettendarstellers, für den das geschrieben ist, ist ja ausgestorben. Ich finde es fast immer richtig, mit Sängern zu besetzen, denn Schauspieler sind mit ihrer Singstimme meist einfach nicht vertraut und versiert genug. Die Opernsänger aber müssen dann auch einen eigenen, persönlichen Weg finden, mit den Mitteln von Singen, Sprechen und Rufen ihre individuelle Art finden. Gleichzeitig muss die Stimme tragen, um mit Saxophon, Banjo, Schlagzeug und massivem Orchester mitzuhalten. Mit diesen Dingen beschäftige ich mich seit 10 Jahren sehr intensiv, das besondere und wunderbare ist ja, dass man hier eine ‚historische Aufführungspraxis‘ betreiben kann und dazu – anders als bei älterer Musik – Tondokumente hat!