Biblisches

 

„Die Tochter des Jaïrus hat er von den Toten erweckt“, führt der Erste Nazarener bei der Aufzählung der Wunder des Messias auf. Die bei Markus geschilderte Auferweckung der Tochter des Jaïrus kennen Opernfreunde vor allem durch Hedwig Lachmanns Übersetzung von Oscar Wildes Dichtung in der Vertonung von Richard Strauss. Einige Jahre zuvor hatte sich Ermanno Wolf-Ferrari ihrer angekommen, woran sich Friedrich Haider erinnerte, der Talitha Kumi! mit der capella-Hymne für gemischten Chor La passione und den Otto cori op. 2 auf Texte u.a. von Heine, Michelangelo und Goldoni mit dem Coro El León de Oro und der Oviedo Filarmonia 2010 im spanischen Oviedo aufführte. Naxos (8.573716) füllt damit seinen Wolf-Ferrari-Katalog mit World Premiere Recordings auf.

Noch bevor er 1900 wieder an seinen Studienort München zurückkehrte, hatte der 22jährige Deutsch-Italiener seine Kantate op. 3 für einen Mailänder Chor verfasst, dessen Leitung er 1897 übernommen hatte. Seinem Lehrer Joseph Rheinberger berichtete er, was ich in dem von Mark Lothar herausgegebenen Wolf-Ferrari-Briefen fand, „Hier in Mailand bleibe ich nur noch einen Monat: ich bin hierher gekommen, um noch ein bisschen in einer musikalischen Luft zu sein, ohne gleich nach Deutschland zu gehen. Ich wollte unter anderem sehen, ob es nicht irgendwo in Italien eine Stellung gäbe, für welche ich conkurrieren könnte: aber, mein Gott, um ein Stück Käse gibt es gleich eine Million Mäuse: und ich weiß nicht einmal von irgendeinem Stück Käse! Es ist besser, man nimmt die Sachen so lustig man kann.“ Nach der heiteren, aber nicht erfolgreichen Cenerentola setzte Wolf-Ferrari mit der zweiteiligen, gut halbstündigen Talitha Kumi! – den aramäischen Worten „Mädchen, ich sage dir, stehe auf“, mit denen Jesus das Mädchen wiedererweckte – einen biblischen Stoff mit Jaîrus, hier der Bariton Joan Martín-Royo, und dem Evangelisten, der uns besser bekannte Tenor Rainer Rost, um. Beide Solisten haben nicht viel all zu viel zu tun. Das Hauptaugenmerk fällt auf das Orchester, in dessen Satz sich Wolf-Ferraris Beschäftigung mit früher italienischer Musik niederschlägt. Wolf-Ferrari originelle Komposition liefert den lieblichen Rahmen zur biblischen Geschichte, die hier, trotz der beschwörerisch einfallenden Chöre und wagnerischer Ausbuchtungen, als galiläische Idylle erscheint. Dennoch schwingen sich Sänger und Orchester im sanftmütigen Geschehen zu hingebender Leidenschaften auf. Talitha Kumi! ist so etwas wie die Keimzelle von Wolf-Ferraris späterer Kunst. 1920 schrieb er an den Schweizer Musikwissenschaftler Ernst Kurth, „Niemand kennt dieses Werk, glaube ich. Und ich selber habe es nie gehört. In ihm liegen die Keime meiner zukünftigen Musik, ich fühle es, denn es ist jetzt mein mir verwandtestes Werk. Es ist mir, als wenn ich jenen Zauberstaub nie wieder gefunden hätte“.

Reizende Chorpreziosen stellen die vom spanischen Chor mit Aktionsfreude gesungene witzigen, teils bukolischen, teils melancholischen Otto cori dar, die von der römischen Straßenszene über Heines „Lehre“ der Bienenmutter („Mutter zum Bienelein: »Hüt’ dich vor Kerzenschein!« Doch was die Mutter spricht, Bienelein achtet’s nicht“) bis zu Goldonis Venedig-Sehnsucht reicht, „Da Venezia lontan domile mija, no passa dì che no me vegna in mente“ („Von Venedig zweitausend Meilen entfernt, vergeht kein Tag, ohne dass ich zurückdenke“).

 

Wenige Jahre zuvor schrieb Charles Gounod sein letztes Oratorium, ein schmalgliedrig zweiteiliges Oratorium über Saint François d’ Assise (1891), zu dem er sich durch Murillos Gemälde mit Jesus und dem Heiligen sowie Giottos Traum des Heiligen Franziskus anregen ließ. Das nicht besonders originelle, aber gefällige Werk umfasst eine Szene in der Zelle des Heiligen Franziskus und seinen Tod – mit einer Orchesterereinleitung, einem leidenschaftlichen Rezitativ, der Arie „Agneau de Dieu“, einer verführerischen Einladung des lebendig gewordenen Kreuzes und einer ekstatischen Antwort des Franziskus sowie einen Gruß des Sterbenden an Assisi, einen Dialog mit seinen Jüngern und einen Choral der himmlischen Stimmen. Umkleidet wird das opernhafte Geschehen von melodischen Streicherfiguren, Harfenarpeggios und Horn, selbst die die melodischen Rezitative des Heiligen besitzen eine ohrenschmeichelnde Eindringlichkeit, die der Szene eine bildhafte Lebendigkeit gibt. Florian Sempey (Kreuz) und vor allem der 2014 in Aix-en-Provence als Tamino hervorgetretene Stanislas de Barbeyrac (den Mozart Prinzen sang er in der Folge in Zürich und Genf, Don Ottavio ist für das Met-Debüt vorgesehen) mit seinem auffallend kultivierten und schönen Tenor sangen das verschollene und bis 1996 von einer Schwesternschaft gehütete Werk im Juni 2016 in der als Koproduktion des Orchestre de Chambre de Paris mit Palazzetto Bru Zane entstanden Aufnahme (naive V5441, engl.-franz. Beiheft) mit vornehmer Zurückhaltung. Als noble Dreingabe ließ Laurence Equilbey die ebenfalls 1891 entstandene Hymne à Sainte Cécile Gounods und Liszts Légende de Sainte Cécilie spielen. Gounods in vielen Fassungen überlieferte Hymne von 1865 – nicht zu verwechseln mit seiner Messe solennelle de sainte Cécilie – erklingt hier mit Solovioline. Liszts 1875 in Weimar erstmals aufgeführte Légende de Sainte Cécilie lohnt sich vor allem für Freunde der Mezzosopranistin Karine Deshayes. Die Aufnahme ist klanglich nicht bemerkenswert, mit knapp 40 Minuten dafür aber bemerkenswert kurz ausgefallen. Rolf Fath