Archetypen in Gesang

 

Die griechische Mezzosopranistin Mary-Ellen Nesi ist eine renommierte Interpretin in der Alte-Musik-Szene und hat in vielen Einspielungen von Barockopern (vor allem bei Virgin und MDG) mitgewirkt. Verdienstvoll, dass die Firma Dabringhaus und Grimm nun ein Recital mit der Sängerin veröffentlicht, das unter dem Titel Archetypon 13 Arien tragischer Frauengestalten vorstellt (MDG 909 2064-6). Acht davon sind Weltersteinspielungen. Die Solistin wird von dem auf Alte Musik spezialisierten Ensemble Armonia Atenea unter George Petrou begleitet, was ein inspiriertes  gemeinsames Musizieren garantiert. Geschildert werden Tragödien von Frauengestalten der griechischen Antike, die als Urbilder in den Kompositionen der Barockkomponisten fortlebten und den Mythos der Primadonna begründeten.

Als Auftakt erklingt die Arie der Ismene „Un cor più misero“ aus Andrea Stefano Fiorès Oper Pirro (uraufgeführt um 1700), in der zwei Solo-Celli mit der Gesangsstimme in einen Dialog treten. Nesis Stimme klingt introvertiert und schmerzlich umflort. Eine Arie der Medée, „Du trouble affreux“, aus Cherubinis gleichnamiger Oper steht für die vielleicht tragischste Figur der griechischen Mythologie. Es ist der Moment, wo Medée vor dem Mord an ihren Kindern steht – eine existentielle Ausnahmesituation, was die Interpretin mit strenger, flammender Stimme ausdrückt.

Gleich mit drei Arien ist Johann Adolf Hasse vertreten – zunächst mit einer der Euridice, „Fasto altero“, aus seiner Oper Orfeo (uraufgeführt 1736 in London). In erregten Koloraturen äußert sich das kämpferische Naturell der Figur, die das Werben des Freiers Aristeo abweist. Danach erklingt eine Arie der Titelheldin („Impallidisce in campo“) aus Issipile (Neapel, 1732), in der Nesi vehemente Koloraturläufe zeigen kann, und schließlich die Arie der Irene „Sì, di ferri mi cingete“ aus der 1738 in Dresden uraufgeführten gleichnamigen Oper – auch dies ein Bravourstück, in welchem sich furioser Ausdruck und Virtuosität verbinden.

Händel ist in der Auswahl gleichfalls mit drei Beispielen vertreten und alle stammen aus weniger populären Werken. Da ist Medeas „Sibilando“ aus Teseo mit ihrem zerklüfteten Rezitativ und der harschen, energischen Arie, wo die Sängerin ihr starkes Ausruckspotential zeigen kann. Dejaniras Arie „Cease, ruler of the day“ aus dem Oratorium Hercules ist dagegen trotz der eifersüchtigen Gefühle sanft und getragen. Schließlich die Arie der Alceste „Spera, si“ aus Admeto, die in ihrer innigen Melodik die Opferbereitschaft der Figur wiedergibt.

Weitere drei Titel stammen aus der Feder Porporas und mit Deianira, Andromeda und Galatea sind es alle mythologische Frauengestalten. „Se morrai“ ist eine Arie der Deianira aus der gleichnamigen Oper, erfüllt von Schmerz und Trauer. „Lo so barbari fati“ singt die Titelheldin in Andromeda liberata (uraufgeführt in Venedig 1726), reich an koketten Koloraturen und übermütigem Ausdruck. Galateas „Sì, che son quella“ stammt aus Polifemo, der 1735 in London Premiere hatte. Es ist eine vehemente Rachearie, in der die Nymphe Polifemo verspottet.

Ein melodisches Juwel ist die Arie der Aristea „Caro, son tua così“ aus Paisiellos L’Olimpiade – eine Liebeserklärung, die sich in wundersamer Seligkeit aufschwingt. Schließlich gibt es mit Alcestes „Non vi turbate“ aus Glucks Oper noch einen weiteren Archetyp, bei dem Nesi mit schlichtem Ausdruck zu Herzen geht. Die Platte zeigt eindrücklich die reichen Möglichkeiten der Sängerin in Gestaltung und Bravour. Bernd Hoppe