Das Beste von „Oper, Publikum und Gesellschaft“ kommt zum Schluss im vom Herausgeber Karl-Heinz Reuband stammenden Kapitel „Erneuerung der Oper aus dem Geist der Moderne?“ , bei dessen Lektüre der Leser schmunzelt, wenn den teilweise höchst arroganten, selbstgefälligen Zitaten der Vertreter moderner Regie die Statistiken, die Vorlieben der Zuschauer zumindest im Rheinland gegenübergestellt werden. Die nämlich kommen vor allem wegen der Musik in die Oper und bevorzugen zu einem enormen Prozentsatz Inszenierungen, die die Handlung nicht in die Gegenwart versetzen, sondern dort lassen, wo der Librettist sie angesiedelt hat. Das zeugt natürlich von einer gewissen Undankbarkeit gegenüber dem Bemühen moderner Regisseure, die Oper zu retten, wie sie meinen, und dem Publikum einen Zugang zu derselben zu verschaffen, was Letzteres davon ausgeht, der Zuschauer, der an anderen Stellen des Buches als besonders gebildet beschrieben wird, sei nicht in der Lage, sich in andere Zeiten und Milieus zu versetzen und Lehren aus derart verschlüsselten Botschaften zu ziehen.
Das Kapitel beginnt mit langen Passagen im Konjunktiv, was den Leser belustigt aufmerken lässt, denn so führen sich die Verfechter moderner Regie quasi selbst ad absurdum, besonders wenn man die zahlreichen Fallbeispiele, Wagners Siegfried betreffend, zur Kenntnis nimmt. Auch Calixto Bieitos Sex- und Grausamkeitsphantasien erhalten die ihnen gebührende Würdigung. Das alles steht nach Meinung der Verursacher im Dienste einer hohen Aufgabe, der, durch „Überforderung (zu) unterhalten“, Provokation und Widerstand auszulösen und damit Erkenntnisprozesse auszulösen, was natürlich seit jeher die Motivation für einen Opernbesuch war. Reuband stellt nicht ohne Humor dar, inwiefern für moderne Regisseure „Werktreue“ nur ein anderes Wort für Faulheit ist, drückt dem Regietheater den Stempel Made in Germany auf und stellt anhand von Statistiken dar, dass auch Verfremdungseffekte keinen Beifall bei der Mehrheit des Publikums finden. Das Kapitel vermittelt allerdings auch die Einsicht, dass Rücksichtnahme auf die Wünsche des Publikums dann nicht von Nöten ist, wenn Opernhäuser derart hoch subventioniert werden wie die in Deutschland.
Von unterschiedlicher Thematik und Qualität sind die anderen Beiträge: von seltener Klarheit und auf wenig Platz viele wertvolle Informationen vereinend das Vorwort des Herausgebers, der auch noch einen Abschnitt über „Das Kulturpublikum im städtischen Kontext“ beisteuert. So verständlich wie deutlich und ohne soziologischen Schnickschnack stellt der Autor fest, dass das Opernpublikum überaltert ist, dass es aber vielfältige Bemühungen gibt, auch ein junges Publikum für die Gattung zu gewinnen. In diesem Zusammenhang hatten zuvor Debora Fischer und Katharina Kunißen erläutert, dass heutzutage hohe soziale Stellung und Vorliebe für klassische Musik nicht mehr Hand in Hand gehen müssen, sondern neben der Klassik durchaus auch andere Musikformen in den oberen Schichten genossen werden. Mit zahlreichen Graphiken und Statistiken werden die Thesen der Autorinnen untermauert.
Der eher historische Teil des Buches befasst sich u.a. mit der Gepflogenheit der Saalschlachten im England des 19. Jahrhunderts (Sven Oliver Müller) und der Ideologisierung des Wiederaufbaus der Wiener Staatsoper nach dem Zweiten Weltkrieg (Fritz Trümpi). Oliver Falck, Michael Fritsch und Stephan Heblich befassen sich mit der wirtschaftlichen Bedeutung von Opernhäusern für eine Region, insbesondere was ihre Anziehungskraft auf Führungskräfte betrifft. Eine Karte unterstreicht die These, dass seit der Barockzeit Opernhäuser und wirtschaftliche Blüte miteinander verknüpft sind. Udo Bernbach gibt einmal mehr seine Abneigung gegenüber Richard Strauss den Anstoß zu anfechtbaren Behauptungen wie der, die Rückkehr zur Tonalität sei gleichzusetzen mit der Abkehr von der Demokratie, und um zum Heute zu kommen: dass „“Werktreue“ mittlerweile zum Vehikel rückständiger Interpretationsversuche verkommen ist.“
Über Motive für den Opernbesuch schreiben Jörg Rössel und Michael Hoelscher, befragten dazu Leipziger Opernbesucher nach möglichen vier Gründen: Freude an der Musik, “normative Distinktion von Oper“, Relevanz für die eigene Identität oder Soziale Anerkennung. Joachim R. Höflich stellte die Meinungen von Operettenbesuchern und denen des Besuchs einer Opern-Uraufführung einander gegenüber. Den Schluss bildet ein Aufsatz über die Bedeutung von Freilichtaufführungen als möglichen Einstieg in den Opernbesuch (Jörn Hering).
Ein vielseitiges Buch, dass nicht nur viele Fakten bietet, sondern auch sehr unterschiedliche Meinungen zu Wort kommen lässt, so dass der Leser aufgefordert wird, sich selbst ein Bild von Wesen und Überlebensaussichten der Gattung Oper zu machen. Reichhaltige Literaturlisten und ein umfangreicher kritischer Apparat erhöhen den Wert des Buches zusätzlich (375 Seiten, Springer VS, ISBN 978 3 658 12926 5). Ingrid Wanja