Wahrscheinlich können nur wenige Opernliebhaber aus dem Gedächtnis fünf Opern von Komponistinnen aufzählen oder haben tatsächlich mehrere erlebt. Wer kennt schon bspw. Céphale et Procris (1694) von Elisabeth-Claude Jacquet de la Guerre, Talestri, regina delle Amazzoni (1760) von Maria Antonia Walpurgis, La Esmeralda (1836) von Louise Bertin, The Wreckers (1906) von Ethel Smyth oder aktueller L’amour de loin (2000) von Kaija Saariaho? Nur spezialisierte Medien wie operalounge.de berichten über sie (wie im Falle Smyth, Bertin od erde la Guerre).
Die früheste erhaltende Oper einer Frau (und bis heute ist diese Musikgattung eben immer noch weitgehend Männerdomäne) wurde bereits 1625 komponiert, und zwar von der Florentinerin Francesca Caccini (geboren 1587, gestorben nach 1641), Tochter des Komponisten Giulio Caccini und Sängerin in dessen 1602 aufgeführten Euridice. Francesca Caccini war am Hof der Medici in Florenz vielseitig tätig als Sängerin, Komponistin, Gesangslehrerin und Konzertorganisatorin. Sie komponierte La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina als Ballettoper mit getanzten Instrumentalstücken dreiaktig mit Prolog. Mehr als dreizehn theatralische Bühnenwerke hat Caccini geschaffen, ihre Alcina überdauerte, da dieses Werk mit Ausnahme der Tänze noch im Aufführungsjahr gedruckt wurde. Es handelte sich um eine pompös in Szene gesetzte Auftragsoper anläßlich des Besuchs eines polnischen Kronprinzen am Hof der Medici, das Libretto hat Bezüge zur politischen Konstellation, im Prolog ruft Neptun die Flussgötter der Weichsel zum Lobgesang auf die toskanischen und polnischen Fürsten auf. Die Geschichte um Alcina und Ruggiero stammt aus Ariosts Orlando furioso und wurde über einhundert Jahre später noch von Händel vertont, in Caccinis Variante befreit die gute Zauberin Melissa den sarazenischen Ritter Ruggiero aus den Händen der bösen Alcina. Das Notenmaterial ist nicht komplett. Um die Oper aufführbar zu machen, vervollständigte man den Generalbass und die Partitur, in der es Stellen gibt, an denen die entsprechende Musik fehlt. Man recherchierte und fand dafür Quellen, bspw. eine Gagliarde von Caccinis Zeitgenosse Salomone Rossi. In den Regieanweisungen sind manchmal die Instrumente angegeben, jeder Hauptrolle ist eine eigene Tonart und Instrumentenfarbe zugeordnet (bspw. Alcina: Streicher mit Virginal, Ruggiero: Blockflötenquartett, Melissa: Gambe, Neptun: drei Posaunen).
Neben der neuen Aufnahme gibt es noch weitere – Amazon verzeichnet Bongiovanni (2016) und zuletzt Glossa (2016) als Labels. Dirigent der neuen dhm-Einspielung, Paul Van Nevel, erarbeitete eine Aufführungsversion, das belgische Huelgas Ensemble spielt mit 17 Musikern in historischer Besetzung – Barockviolinen, Violone, Diskant- und Bassgambe, Lirone und Virginal sowie Blockflöten, Barockposaune, Basskrummhorn, Trommel, Gong, Triangel und Zimbeln sorgen für einen abwechslungsreichen, farbigen Klang, die Interpretation ist lebendig und unterstützt die wechselnde Auftritte und Ensembles, Gesang, Intermedien und Ritornellen sowie die Wechsel zwischen Rezitativen, Arien und Chor. Die deutsche harmonia mundi (dhm) veröffentlichte diese komplette bzw. komplettierte Alcina als Live-Aufnahme vom Januar 2016 aus der Antwerpener Augustinenkirche. Es liegt nicht nur am Aufführungsort, dass man beim Zuhören öfters an ein Oratorium erinnert wird. Die kleineren Rollen sind oft noch dem Renaissance-Stil verpflichtet, der durch Canzonetten mit Strophe und Refrain unaufgeregt wirkt. Die drei Hauptrollen singen im dagegen dramatischeren, auf den Text fokussierten „stile recitativo“. Die Sänger sind homogen zusammengestellt. Die Mezzosopranistin Michaela Riener als Alcina wirkt nicht wie eine böse Zauberin, ihre Stimme bleibt nobel, wenn bspw. Alcina ihr wehmütiges „Qui lasci la mia vita“ anstimmt oder auch das vorwurfsvolle „Ferma, ferma crudele“ klingt eher traurig als ungehalten oder zornig. Herbere Töne schlägt Riener in „Qual temerario core“ an. Dass der Ausdruck in dieser Interpretation der Situation angemessen auch unschöner werden darf, ist dem Chor der Monster vorbehalten, die Alcina zur Rache beschwört. Die Auseinandersetzung mit Ruggiero wirkt schwermütig. Tenor Achim Schulz hat als Ruggiero eine fast schon passive Rolle, die bei ihm dennoch zum Hinhören aktiv gestaltet wird, „Oh quanto è dolce amar belta pietosa“ ist eindringlich gelungen. Sabine Lutzenberger als Melissa klingt gelegentlich zu gleichförmig, ihr einleitendes „Cosi perfida Alcina“ wirkt fast unbeteiligt ihre Mission erzählend, eine unaufgeregte Interpretation, der das Intime fehlt. In den kleineren Rollen überzeugen Axelle Bernage (Nunzia, die mit einem bemerkenswerten „Non sò qual sia maggiore“ Alcina über Melissa und Ruggiero ins Bild setzt), Katelijne Van Laethem (Sirena und Dama Disincantata), Matthew Vine, (Nettuno und Astolfo), Bernd Oliver Fröhlich (Vistola Fiume und Pastore) sowie der Chor des Huelgas Ensembles. (dhm 88985338762) Marcus Budwitius