Auf 15 CDs: Warners  Gounod Edition

 

Passend zum Jubiläum des Komponisten 2018: Wehmütig, entsagungsvoll blickt Gretchen, im rosa Kleid auf der Gartenbank sitzend, am jungen Edelmann vorbei. Sie werden nicht zusammenkommen. Das Foto, für das Edda Moser und Nicolai Gedda anlässlich der Aufnahmesitzungen zu dieser frühen Faust-Quadrophonie-Aufnahme der Electrola 1973 in der Berliner Grunewaldkirche eigens in Fotostudio geeilt sind, sagt alles. Der Querschnitt, der zur Unterscheidung zum französischen Faust unter dem lange in Deutschland gebräuchlichen Namen Margarethe Eingang in The Gounod Edition von Warner Classics (15 CDs 0190295648890) gefunden hat, kann dem internationalen Publikum vorführen, wie originell deutsche Querschnitte in den 70er Jahren besetzt und konzipiert wurden. In 15 Nummern und fünfzig Minuten erzählt der von Helmut Storjohann und Christfried Bickenbach produzierte „Große Querschnitt in deutscher Sprache“ von Gretchen und Faust. Nicolai Gedda ist in jeder Phrase der promovierte Gelehrte, singt klug und eloquent, hochkultiviert und farbenreich, aber auch ein bisschen stocksteif, wodurch er Edda Mosers gezierte Margarethe nicht richtig aus der Reserve zu locken vermag. Kurt Moll ist ein wunderbarer Bass, doch nicht der abgefeimteste aller Mephistos, Dietrich Fischer-Dieskau ein doch sehr passender Valentin; Giuseppe Patané dirigierte das Radio-Symphonie-Orchester Berlin mit feuriger Zugkraft. In gleicher Besetzung entstand übrigens auch ein quadrophoner Don Carlos (sic).

Die etwas eklektische Gounod-Edition bei Warner

Die deutsche Margarethe ist eines der Petits Fours, mit der die Herausgeber die opernschwache Edition verzuckerten. Zu den Zuckerl gehören Saphos „Héro sur la tour solitaire“, das einer Entdeckung gleichkam, als die Erato-Aufnahme mit Marilyn Horne in den 1980er Jahren (unter dem entdeckungsfreudigen Lawrence Foster) herauskam. Wer das gehört hat, muss natürlich die gesamte Aufnahme mit der Grande-Duchesse, Dalila und Aubers Zerline haben. Die andere Sapho ist, mehr als Vierteljahrhundert zuvor aufgenommen, Régine Crespin mit „O ma lyre immortelle“. Auf CD 10 und 11 prallen bei Opera Arias und Songs Auffassungen und Generationen aufeinander, begegnen sich ausgewiesene Stilisten und Stimmbesitzer. Pierre Bernac, der Doyen des französischen Liedgesangs, ist mit „Au Rossignol“ vertreten (er wurde 1945 von Francis Poulenc belgeitet), dabei ist auch Gérard Souzay mit neun in den frühen 70er Jahren aufgenommenen Liedern (mit seinem Freund Dalton Baldwin), Dietrich Fischer-Dieskau steuert „Solitude“ bei, der ähnlich wie Souzay nahezu ausschließlich als Liedsänger tätige, aber kaum noch bekannte (bei Philips wurden einst seine schönen Fauré-, Duparc- und Ravel-Aufnahmen wiederveröffentlicht) hellbaritonal-feinsinnige Camille Maurane singt  u.a. „Venise“; José van Dam fällt im Vergleich fast etwas ab. Stärker das Gefälle bei den Tenören: Rolando Villazón, 2004 noch gut bei Stimme, breitbeinig und pauschal als mit Polyeucte und La Reine de Saba, José Carreras, 1994 traurig und live aus dem Wiener Musikverein, mit zwei kurzen Liedern, dazu der unvergessene Laurence Dale. Neben Horne und Crespin, ist die leuchtende Françoise Pollet mit La reine de Saba und Cinq-Mars vertreten – welche Diktion bei Crespin und Pollet (Texte gibt es im schmalen Beiheft, das uns mehr über die Aufnahmen und ihre Hintergründe als über Gounod erzählen könnte, natürlich nicht); Felicity Lott und Anna Murray erinnern mit drei Beiträgen an die schöne Zeit ihrer gemeinsamen Liederabende, und mit Gounods berühmtester Nummer, dem „Ave Maria“, ist auch Barbara Hendricks mit dünner Stimme dabei. Im Großen und Ganzen bewahrheitet sich die Aussage eines britischen Autors, “The voices Gounod knew were types particular to France, and the language he set with such lyrical eloquence and declamatory force is one that equally combines these qualities: French“.

 

Leider nicht dabei: die erste vollständige „Faust“_Einspielung bei EMI mit de los Angelkes und Gedda

Gounods Ruf verbreitete auch die Cäcilienmesse, die Messe solenelle de Sainte Cécilie, die in der Edition in einer Aufnahme von 1963 unter Jean-Claude Hartmann vertreten ist. Da hätte es im Erato-Katalog auch Neueres gegeben, doch die Besetzung vor allem mit Pilar Lorengar (gegenüber Barbara Hendricks) – dazu Heinz Hoppe, Franz Crass –  spricht für sich. Hendricks kommt aber mit dem nicht sehr anspruchsvollen Sopranpart im viktorianisch-frommen Oratorium Mors et Vita zu Wort, wo Michel Plasson mit Nadine Denize, John Aler und José van Dam eine opernhaft-leidenschaftliche Aufführung leitet. Plasson begegnet uns wieder bei den beiden Sinfonien von 1855. Zu diesem Zeitpunkt war Gounods Karriere trotz der überschaubaren Erfolge der Sapho und der Nonne sanglante 1851 und 1854 die entscheidende Abbiegung zur Oper genommen.

 

Man kann bedauern, dass Plasson bei Faust, den er allüberall dirigierte, mit seiner Einspielung von 1991 nicht zum Zuge kommt, auch nicht Gedda (welche schöne Gegenüberstellung hätte das ermöglicht), de los Angeles und Christoff unter Clytens 1958. Stattdessen hat man sich für die 1978 in der Pariser Salle Wagram entstandene Aufnahme unter Georges Prêtre mit Mirella Freni, Plácido Domingo und Nicolai Ghiaurov entschieden. Von Prêtre hätte man sich eine leidenschaftlichere, idiomatischere als diese von Nummer zu Nummer springende, gelegentlich triviale Aufführung erwarten dürfen; das Ballett ist angehängt, Plasson nahm übrigens zusätzlich drei vor der Uraufführung gestrichene Passagen auf. Domingo gibt eine seiner leidenschaftlichen Instant-Interpretationen, Ghiaurovs Mephisto bietet eine gute Verbindung von Witz und Bosheit, Freni vermittelt das Pathos der Marguerite und ist berührend in „Il était un roi de Thule“, bei Thomas Allen hört man gerne hin, sein grobkörniger Valentin ist mustergültig.

Und leider auch nicht dabei: die atmosphärische und erste Einspielung der „Mireille“ aus Aix-en-Provence unter Cluytens bei EMI

Auch im Fall der Mireille wäre die ältere Cluytens-Aufnahme von 1954 möglicherweise die bessere Wahl für diese provenzalische Liebesgeschichte gewesen. Dafür ist die Plasson-Aufnahme aus Toulouse von 1979 vollständiger. Freni ist als Mireille, die in Liebe zum armen Korbflechter Vincent entbrennt, ganz in ihrem Element, Alain Vanzo singt mal wieder den Vincent mit viel Stil und Stimme, als sinisterer Gegenspieler Ourrias gibt José van Dam eine vielschichtige Interpretation und mit Jane Rhodes, Gabriel Bacquier, Christine Barbaux , Michèle Command sind erste Sänger aus der zweiten Reihe versammelt. 1983 war José van Dam in Toulouse wieder mit dabei. Diesmal als nobler Frère Laurent in der sehr lohnenden Roméo et Juliette, wo Alfredo Kraus als Romeo mit eminenter Kultiviertheit und Technik, perfekter Atemführung und zauberischen Pianissimi eine seiner besten (wenngleich vielleicht nicht unbedingt idiomatischsten) Interpretationen gibt. Catherine Malfitano ist eine mehr als ausreichende Juliette. Michel Plasson, der gut zehn Jahre später nochmals Alagna und Gheorghiu auf den berühmtesten Balkon der Literaturgeschichte schickte, integrierte erstmals die Ballettmusik im fünften Akt und versammelte wieder ein französisches Ensemble.  Rolf Fath

 

Foto oben/  Gounod: Szene aus der Pariser Produktion von „Mireille“, 2010 im  Palais Garnier/ Foto A. Pouteney/ Opéra National de Paris;dazu auch die ausführliche  Rezension im italienischen Online-Magazin Tutti