Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Kongeniale Nähe

 

Denkt man an die Kombination Schostakowitsch und Sanderling, wird man nach wie vor primär an die Einspielungen Kurt Sanderlings zurückdenken, der zwar keinen kompletten Zyklus, aber doch immerhin sechs der 15 Sinfonien für Berlin Classics eingespielt hat (es handelt sich um die Nummern 1, 5, 6, 8, 10 und 15). Sanderling senior, der 2011 einen Tag vor seinem 99. Geburtstag starb, hat nicht weniger als drei musikalische Söhne hinterlassen, deren jüngster, Michael, sich zunächst als Cellist einen Namen machte, eher er in die Fußstapfen seines Vaters trat und im Jahre 2000 auch als Dirigent debütierte. Seither legte Sanderling junior eine respektable Dirigentenkarriere hin, deren vorläufiger Höhepunkt die Berufung zum Chefdirigenten der Dresdner Philharmonie im Jahre 2010 war. Diese Position trat er 2011 als Nachfolger von Rafael Frühbeck de Burgos an; sie wird mit Ende der Spielzeit 2018/19 indes auslaufen (Grund hierfür ist eine geplante Kürzung des Orchester-Etats).

Gerade noch rechtzeitig, könnte man sagen, wurde nun der Schostakowitsch-Zyklus der 15 Sinfonien vollendet, der erstmals komplett in einer 11 CDs umfassenden Box erscheint (Sony Classical 19075872462). Zuvor waren bereits einige der Sinfonien in der ungewöhnlichen Kombination mit jeweils einer Beethoven-Sinfonie einzeln erschienen (Nr. 1, 5, 6, 10, 13). Aufnahmeort der zwischen 2015 und 2019 eingespielten Aufnahmen waren die Lukaskirche und der Kulturpalast in Dresden. Neben der Dresdner Philharmonie kamen der MDR Rundfunkchor (Nr. 2 und 3) und der Estonian National Male Choir (Nr. 13) sowie die Solisten Mikhail Petrenko (Nr. 13), Polina Pastirchak und Dimitry Ivashchenko (Nr. 14) zum Einsatz.

Dass Schostakowitsch im 21. Jahrhundert nicht mehr genauso interpretiert werden kann wie zu Zeiten des Kalten Krieges, ist gewiss keine neue Erkenntnis, fehlt heutigen Interpreten doch die unmittelbare persönliche Erfahrung der Umstände der Entstehungszeit (man möchte andererseits hinzufügen: Gott sei Dank). Gleichwohl untermauert diese neue Gesamtaufnahme abermals den Eindruck, dass die Zeiten des an die Substanz Gehenden, aufs Existenzielle Zugespitzten wohl endgültig vorbei sind. Wenn andernorts von der Überwindung des „Deutungsbombasts“ (Concerti) die Rede ist, so meint dies im Endeffekt dasselbe, wenngleich unter eindeutig positiven Gesichtspunkten. Nun ist es freilich kein Wunder, dass Michael Sanderling, Jahrgang 1967, eine völlig andere Sicht auf Schostakowitsch hat – haben muss – als sein Vater, 55 Jahre zuvor geboren. Auch heutige russische Dirigenten wie Valery Gergiev und Vasily Petrenko interpretieren diese Musik anders als ihre berühmten Vorläufer Mrawinski, Kondraschin, Swetlanow und Roschdestwenski. So mögen es auch fest verankerte Hörgewohnheiten sein, die das persönliche Schostakowitsch-Bild prägen.

Aber in medias res. Nehmen wir die Leningrader, also Sinfonie Nr. 7. Das berühmte „Invasionsthema“ des Kopfsatzes ist hier arg ästhetisierend, stellenweise eher an einen sonntäglichen Spaziergang denn eine mörderische kriegerische Intervention erinnernd. Orchestral gewiss sehr gediegen und präzise, doch wo ist die bei diesem Komponisten so wichtige brachiale Scharfkantigkeit? Gleichsam Schostakowitsch auf Sparflamme. Man höre einmal unmittelbar nacheinander diese Neueinspielung und die Aufnahme von Jewgeni Swetlanow von 1978 (Melodija) oder jene von Kirill Kondraschin von 1975 (ebenfalls Melodija), um zu sehen, was hier möglich ist. Dies setzt sich andernorts fort. So vermisst man dann und wann die Hintergründigkeit, etwa im allzu leicht einseitig bombastisch anmutenden Finalsatz der Fünften. Freilich scheiterten bereits in der Vergangenheit selbst so unbestreitbar große Dirigenten wie Leonard Bernstein in Sachen Schostakowitsch mitunter auf hohem Niveau (man denke an seine verunglückte Leningrader, die unfreiwillig an Hollywood erinnerte).

Am besten scheinen Sanderling die „leichteren“ Werke zu liegen. Die Sechste und die kammermusikalische Neunte kommen seinem Ansatz entgegen, während er bei den Monumentalwerken wie der Fünften, Siebten, Achten, Zehnten und Elften an seine Grenzen stößt. Die schwierigen frühen Chorsinfonien Nr. 2 und 3 wird wohl kein Dirigent zu Meisterwerken emporheben können – viele der großen Alten mieden sie sogar. Die wenig geliebte Zwölfte, die unter einem begnadeten Dirigenten durchaus zu einem solchen Meisterwerk werden kann (neben Mrawinski besonders Ogan Durjan mit dem Gewandhausorchester Leipzig auf Philips), ist leider an den entscheidenden Stellen verhetzt. Der grandiose Übergang vom dritten zum vierten Satz, einer der großartigsten überhaupt, überzeugt hier nur bedingt, auch weil die gespenstische Grundstimmung fehlt.

Die morbide Vierzehnte, eigentlich ein Liedzyklus, vermag dafür durchaus für sich einzunehmen, auch wenn man bei den modernen Einspielungen vielleicht eher noch zu Currentzis‘ außerordentlicher Aufnahme (Alpha) greifen wird. Interessant gerade die Loreley, wo sowohl der Bassist Dimitry Ivachchenko als auch die Sopranistin Polina Pastirchak durch Expressivität punkten können. Insgesamt recht gelungen ist die Fünfzehnte, das sinfonische Abschiedswerk Schostakowitschs, auch wenn man die Wagner-Zitate im Schlusssatz schon deutlicher herausgearbeitet hörte, so etwa bei Sanderling senior in seiner ausgezeichneten Einspielung mit dem Berliner Sinfonie-Orchester.

Eine für sich genommen überdurchschnittliche, in Teilen auch durchaus überzeugende neue Gesamtaufnahme, die indes das Schicksal aller Neueinspielungen (inklusive Gergiev, Petrenko, Kitajenko und Nelsons) teilt: Die ganz großen Interpretationen in Sachen Schostakowitsch stammen schlicht und ergreifend aus den Zeiten des Kalten Krieges und beinahe ausnahmslos aus dem ehemaligen Ostblock. Wer frischen Wind in Form eines „zeitgemäßen“ Neuzugangs sucht, wird hier gleichwohl keinen Fehlkauf tätigen, auch wenn man keiner der fünfzehn Einspielungen Referenzstatus zubilligen kann. Klanglich gibt es keine Einwände anzubringen. Daniel Hauser

Mit Einschränkungen

 

Das Oratorium Svatá Ludmila (Die heilige Ludmilla) gehört gewiss nicht zu den bekanntesten Werken von Antonín Dvorák. Gleichwohl ist es nach dem Requiem und dem Stabat Mater wohl des Komponisten wichtigstes geistliches Werk. Geschrieben wurde es 1886 für das Leeds-Festival in England. Thematisch geht es um Ludmilla, eine historische Gestalt aus dem späten 9. und frühen 10. Jahrhundert, die eine bedeutende Rolle bei der Christianisierung Böhmens spielte, als Märtyrerin endete und später zur Schutzheiligen des Landes werden sollte. Naxos bringt nun eine Neuaufnahme der Slowakischen Philharmonie unter Leos Svárovský (Naxos 8.57023-24).

Das Oratorium untergliedert sich in drei Teile: Der erste Teil spielt am Hofe des Schlosses Melnik, wo einer Statue der heidnischen Gottheit Bába gehuldigt wird. Ludmila wird schließlich vom Eremiten Ivan vom einzig wahren Gott, demjenigen des Christentums, überzeugt. Dieser zerstört das Götzenbild, worauf ihn der Pöbel lynchen will, doch nimmt in Ludmila in Schutz Im zweiten Teil ist die Handlung zur Einsiedelei Ivans in die Wälder nahe Beroun verlegt, wo sich Ludmila aufhält. Eine Jagdpartie des Herzogs Borivoj erscheint und der Herzog beschließt, Ludmila zu heiraten. Im dritten Teil schließlich werden Borivoj und Ludmila getauft und feierlich vermählt. Es erklingt ein altslawisches Kirchenlied aus dem 11. Jahrhundert. Das Werk wird in einer prachtvollen Fuge in C-Dur beschlossen. Dies sind die wohl nachhaltig eindrucksvollsten Momente.

Englische Vorbilder sind schon hinsichtlich der Uraufführung gewiss kein Zufall, steht das Werk doch gleichsam in der chorlastigen Tradition Georg Friedrich Händels. Bei der Premiere bestand der Chor aus nicht weniger als 250 Sängern, ergänzt um ein Orchester von 120 Musikern und vier Solisten. Der monumentale Aufwand zeigte seinerzeit durchaus Wirkung. Gleichwohl führten die Länge (etwa anderthalb Stunden) und das spezielle Sujet dazu, dass es sich nicht dauerhaft etablieren konnte. Eine von Dvorák selbst besorgte gekürzte Bühnenfassung von 1901 konnte daran letztlich nicht viel ändern, auch wenn es im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder zu vereinzelten Aufführungen des Oratoriums kam, so durch Rafael Kubelík 1948, Karel Sejna 1954, Václav Neumann 1987 und Jiri Belohlávek 2004 und 2007.

Die Neueinspielung muss sich daher in erster Linie mit den wenigen vorliegenden Aufnahmen messen, neben Belohlávek (ArcoDiva) und Gerd Albrecht (Orfeo) insbesondere dem 1963er Klassiker unter Václav Smetácek (Supraphon). Von Vorteil ist die idiomatische vokale Besetzung, die nur aus slowakischen und tschechischen Kräften besteht. In der Titelrolle die eher dunkel timbrierte Sopranistin Adriana Kohútková, daneben der lyrische Tenor Tomás Cerný als Borivoj und der mit beeindruckendem Organ ausgestattete Bassist Peter Mikulás als Ivan. Hinzu kommen die Altistin Karla Bytnarová als Svatava und der Tenor Ondrej Saling als Bauer. Es gibt keine Ausfälle, doch im direkten Vergleich insbesondere mit der Smetácek-Einspielung zieht die von Svárovský doch den Kürzeren. Der Slowakische Philharmonische Chor unter Leitung von Petr Fiala trägt den gewichtigen Chorpart, der einen erheblichen Teil des Oratoriums ausmacht, sowohl in den ruhevollen als auch in den dramatischen Passagen. Allerdings verschluckt der nicht ideale Klang so manches. Die Slowakische Philharmonie unter Svárovský erfüllt ihre Aufgabe zweckdienlich, auch wenn die ganz große Überzeugungskraft etwas auf der Strecke bleibt. Belohlávek, Albrecht und insbesondere Smetácek holen einfach mehr heraus. Grundsätzlich ist Svárovský in Sachen Dvorák durchaus bewandert, legte er 1996 doch eine von der Kritik mit Lob bedachte Einspielung des Stabat Mater bei Supraphon vor.

Die am 29. und 30. April 2015 im Konzertsaal der Slowakischen Philharmonie in Bratislava entstandene Aufnahme hat einen etwas dumpfen und verwaschenen Klang, der klarer und detailreicher sein könnte und an den lautesten Stellen an seine Grenzen kommt. So etwas sollte im 21. Jahrhundert nicht mehr vorkommen. Das Beiheft fällt eher bescheiden aus, enthält allerdings zumindest den Librettotext, wenn auch nur auf Tschechisch und in englischer Übersetzung von John Clapham. Insgesamt eine künstlerisch gute und klanglich durchschnittliche Neuproduktion, in summa allerdings nicht herausragend und keine neuen Maßstäbe setzend. Daniel Hauser

Mit Vorschusslorbeeren

 

Eine Neuerscheinung bei Decca mit Lise Davidsen weckt mit Wagner & Strauss das Interesse der Musikfreunde, ist die junge norwegische Sopranistin doch in diesem Sommer auf dem Grünen Hügel in Bayreuth im neuen Tannhäuser als Elisabeth besetzt. Die beiden Soli der Partie bilden dann auch den Auftakt dieses Recitals, bei dem die Solistin vom Philharmonia Orchestra unter Esa-Pekka Salonen begleitet wird (483 4883). Sogleich die Hallenarie erweckt den Eindruck, dass die stählern und robust klingende Stimme für diese Rolle weniger geeignet scheint. Ihr fehlen Innigkeit, Keuschheit und das Leuchten in der Höhe. Störend vor allem ist der steife Tonansatz, besonders in der oberen Lage. Mit dem Gebet kann die Sopranistin mehr überzeugen, es ist von grüblerischer Stimmung und wird getragen von langen Bögen.

Die Auswahl von Kompositionen Wagners beschränkt sich auf diese beiden Titel, der Rest ist Richard Strauss vorbehalten. Da findet sich allerdings mit dem Monolog der Ariadne, welche Davidsen bereits an der Wiener Staatsoper und in Glyndebourne interpretiert hat, nur ein Opernausschnitt. Bei „Es gibt ein Reich“ hört man gleichfalls unangenehm bohrende Töne in der exponierten Region. Gut bewältigt wird der ekstatische Aufschwung am Schluss der Szene.

Der größte Teil des Programms ist Liedern von Strauss gewidmet, darunter die „Vier letzten Lieder“ sowie „Malven“ – das allerletzte Lied des Meisters. Es wurde 2012 von Wolfgang Rihm orchestriert, erinnert im Tonfall an Capriccio und liegt der Interpretin mit den zarten Gespinsten besonders.

Bei den „Vier Liedern“ op. 27 überzeugt „Ruhe, meine Seele!“ anfangs durch die stark zurückgenommene Stimme, bis sich später ein herbes Vibrato breit macht. Darunter leidet auch „Cäcilie“, während bei der „Heimlichen Aufforderung“ (orchestriert von Robert Heger) wie markiert klingende Passagen irritieren. Ganz entrückt und mit reduziertem Stimmeinsatz interpretiert Davidsen „Morgen!“, bei dem der Sologeiger des Orchesters Zsolt-Tihamer Visontay delikateste Klänge zaubert. Fein gesponnen und in träumerische Stimmung getaucht wird das „Wiegenlied“.

Dem Auftakt der „Vier letzten Lieder“, „Frühling“, fehlt der Duft dieser Jahreszeit. In der oberen Lage klingt der Sopran grell, der schon mehrfach erfolgte Vergleich von Lise Davidsen mit ihrer norwegischen Landsfrau Kirsten Flagstad, die diese Gesänge 1950 in der Londoner Royal Albert Hall uraufgeführt hatte, erschließt sich mir nicht. Dass traumversunkene Schweben von „September“  wird gut eingefangen, im Nachspiel lässt der Solo-Hornist Nigel Black wunderbare Töne hören. „Beim Schlafengehen“ – wieder mit einem atmosphärischen Violinsolo von Visontay –  demonstriert  eindrücklich das Volumen und die Atemreserven der Sängerin. Der Schluss, „Im Abendrot“, zeigt die Stimme in schönem Fluss und delikaten piano-Momenten, besitzt auch die gebührende Stimmung des Abschieds und der Weltverlorenheit.

Insgesamt ist der Liedzyklus, der sich freilich gegen eine Vielzahl von legendären Interpretationen behaupten muss, der überzeugendste Teil der Platte. Daran hat das Philharmonia Orchestra großen Anteil, das die Sängerin einfühlsam begleitet und mit gleichermaßen rauschhafter Üppigkeit wie sublimsten Nuancen aufwartet. Bernd Hoppe

 

 Eine andere Meinung: Dass andere Ohren anders hören, zeigt sich einmal mehr auch bei diesen Neueinspielungen, die ja die Visitenkarte von Lise Davidsen (Lise Davidsen singt Wagner & Strauss) für Bayreuth und den internationalen Markt sein soll – und da weiche ich doch mit meiner Beurteilung von der meines geschätzten Kollegen recht ab. Ich finde die neue CD nicht gut produziert und das Programm abenteuerlich für eine erste Aufnahme bei einer Weltfirma. Da mischt sich ein bisschen Wagner-Arien mit Liedern von Strauss nebst wiederum ein bisschen Arie von demselben. – es hätte nur noch der Monolog der Marschallin gefehlt. Ein musikalischer Gemüseladen.

Abgesehen von der fragwürdigen Zusammenstellung passt die Stimme zu einigem mehr und zu anderem nicht. Mir ist der Sopran in der Höhe zu gleißend, in der Tiefe scheint er mir ein wenig stumpf, und mir (mir allein und es ist ja auch nur meine Meinung angesichts der Hymnen vielerorts) will die Registeranbindung nicht immer wirklich gelungen scheinen. Die Farbe wechselt mir zudem zu oft innerhalb des Vortrags (Vier letzte Lieder namentlich, die der starken Konkurrenz nicht standhalten, nicht wirklich Eigenes bieten), und die Stimme selbst bleibt für mich im Timbre grau. Auf der Habenseite stehen die Fülle des Organs, die Kraft, die gewisse Vehemenz einer gut gelernten kommenden Brünnhilde oder Elektra (in der Ferne). Beeindruckend ist der Stimmumfang auch in der Ariadne-Arie, auch die Kraft, die Felsen bewegt, aber charmant ist sie nicht, ohne nennenswerte Persönlichkeit. Zumal – die ganz starke Kritik an der Sängerin auf dieser CD – die Diktion auch hier und stärker noch in den Strauss-Liedern mir viel zu verwaschen ist. Für eine Europäerin singt sie doch sehr sprachentfernt, zu viele Vokale und zu wenige (End-)Konsonanten. Lieder wollen erzählt werden, bringen eine Message herüber, beruhen oft auf Literatur – das alles ahnt man hier nicht. Mit der Hallenarie kann ich leben, aber man hat sie auch erfüllter, fraulicher, liebenswürdiger erlebt. Und wer „Ruhe meine Seele“ hören möchte, sollte sich Elisabeth Schwarzkopf unter George Szell vornehmen: Da ruht die Seele und schweigt.

Merkwürdig distanziert ist das Orchester unter Esa-Pekka Salonen, der seiner attraktiven Solistin nicht wirklich hilft. Man hat den Eindruck, beide bewegten sich in getrennten Welten – sie wird doch nicht wie einst Domingo – auf ein Band gesungen haben? Sicher nicht. In summa: für mich enttäuschend nach dem beginnenden Hype um diese newcomerin, die nun  Bayreuth aufmischen soll. Decca hat ein gezieltes Marketing gelandet. Man hofft, die junge Sängerin erfüllt nach dieser Visitenkarte die Erwartungen (Foto Decca). Stefan Lauter

Noch eine Edward-Oper

 

Viele Jahrhunderte ruhte, abgesehen von einigen künstlerischen Versuchen,  so von Bert Brecht oder Derek Jarman, Edward II. nach seiner Hinrichtung in seinem Grabe, ehe gleich zwei Opernkomponisten innerhalb von drei Jahren sich des ebenso lustfreudigen wie gegenüber den Sorgen seines Volkes unempfindlichen englischen Königs annahmen und ihn zum Helden einer Oper machten. An der Deutschen Oper Berlin wurde Andrea Lorenzo Scartazzinis Edward II. uraufgeführt, gleich fünf europäische Opernhäuser und ein amerikanisches (zuletzt im April dieses Jahres Hamburg, davor als Uraufführung London, dazu noch beteiligt die Dutch National Opera Amsterdam, Lyon, Chicago, Madrid und Barcelona) widmeten bzw. widmen sich George Benjamins Lessons in Love and Violence, komponiert auf das Libretto von Martin Crimp. in dem zwar nie der Name des Königs fällt, wohl aber sein Schicksal abgehandelt wird. Beide Opern stellen dem König denselben Liebhaber unter vielen, nämlich Pier de Gaveston, an die Seite, obwohl diesem neben anderen noch zwei ebenso prominente, nämlich Roger d’Amory und der besonders verruchte, dämonische Hugh le Despenser, folgten.

Aus der Aufführung in Amsterdam stammt die vorliegende CD, auch eine DVD existiert, bei der Regie, Dirigent und Sänger identisch sind mit denen der Londoner Uraufführung.

Nicht meckern sollte man über ein unzulängliches Booklet ohne Libretto und Verzeichnis der Tracks ohne Angabe der singenden Personen, sondern zuerst nach der zweiten der beiden CDs suchen, um dabei auch ein zweites Büchlein mit allen notwendigen und nützlichen Angaben zu finden, die den Genuss der CDs beträchtlich erhöhen.

Erstaunlich ist, dass sowohl der König wie sein Liebhaber von dunklen Stimmen gesungen werden, die man, wenn man das Libretto zunächst nicht zur Verfügung hatte, nicht von vornherein voneinander unterscheiden kann. Insbesondere dem Gaveston hätte eine Tenorstimme gut angestanden, allerdings versteht man die Wahl des Komponisten besser, wenn man zu der Szene gelangt, in der der bereits tote Liebhaber dem König in der Person des Stranger seinen nahenden Tod verkündet. Gyula Orendt singt den zunächst noch Lebenden mit farbigem, geschmeidigem Bariton, klingt als Stranger gewollt dumpfer und düsterer. Eine etwa leichtere Baritonstimme setzt Stéphane Degout für den König ein, ein sympathisches Timbre, das zu zärtlichen Tönen wie in „How can I love you“ oder in der vierten Szene des ersten Teils findet. Eher als in den Stimmen findet man in den Orchesterfarben, in den irrlichternden Crescendi, der Wahl der Instrumente wie der des Cimbalons Erotisches, aber auch Schrilles. Die erotische Szene („Then touch me“) zwischen Königin und Mortimer spiegelt sich in seinen Klängen. Immer wieder vollziehen sich mit dem Nederlands Radio Philharmonic Orchestra unter der Leitung des Komponisten, so in der zweiten Hälfte des ersten Teils, wahre akustische Exzesse. Eine weitere dunkle Stimme gesellt sich zu denen des Liebespaars mit der von Andri Björn Róbertsson, der den Madman singt. Einen gestandenen, viril klingenden Tenor hat Peter Hoare für den Mortimer, den schließlich auch das Schicksal derjenigen ereilt, die er selbst auf dem Gewissen hat. Verantwortlich dafür ist der junge König, für den Samuel Boden eine zarte, androgyn klingende Tenorstimme hat. Sanft klagend oder nervös vibrierend, nie schrill aber bei aller Verhaltenheit intensiv („Then stay in the dark“) äußert sich die Königin Isabel, der Barbara Hannigan ihre Stimme verleiht.

Man kann gespannt darauf sein, ob eines und welches der beiden Edward-Stücke den Weg auf weitere Bühnen finden und zum gängigen Repertoire werden wird (Nimbus 5976). Ingrid Wanja         

Materialschlachten

 

Vor knapp zehn Jahren hat der serbische Tenor Zoran Todorovich eine Recital-CD mit Arien von Verdi, Puccini und Wagner eingespielt und nimmt im Booklet bereits eventuelle Kritik an seiner Interpretation vorweg, so die, er singe alle Komponisten mit der gleichen Stimme, ohne stilistische Unterschiede hörbar zu machen. Dazu bekennt er sich trotzig, so wie er auch mit schönem Selbstbewusstsein von seinen Erfolgen auf den großen Bühnen der Welt berichtet. Heute sind das weniger Scala, Paris, Barcelona, sondern eher Leipzig, Hannover, die Opernhäuser des ehemaligen Ostblocks und die Open-Air-Festivals, bei denen man eine robuste, tragfähige Stimme wie die seine zu schätzen weiß. Schon vor zehn Jahren bevorzugte der Tenor zu recht die dramatischeren unter den italienischen Partien, denn sein größtes Kapital ist das gesunde, machtvolle Material mit farbigem, baritonalem Fundament und sicherer Höhe , das auch damals bereits den Otello nicht zu scheuen brauchte. Natürlich bietet sich als Einstieg in die CD die Auftrittsarie des Radames an, deren Rezitativ eine recht hart, ja stählern klingende Stimme gut verträgt. In der Arie werden die Intervallsprünge gemeistert, doch vermisst man lyrische Qualitäten und ist geradezu verstört über den Schluss à la squarciagola, wo Verdi ein morendo vorschrieb. Hier regt sich bei Hörer der Verdacht, dass es dem Sänger nicht auf eine Interpretation, sondern auf ein Zurschaustellen von Stimmpotenz ankommt. Auch die armen „figli“ in der Arie des Macduff werden durch eine unangemessene Lautstärke aus dem ewigen Schlaf erweckt, das imposante Material wird recht eintönig eingesetzt, es scheint mehr um eine eindrucksvolle Fermate als um den Schmerz eines Vaters zu gehen. Oronte aus den Lombardi sollte mit seiner Arie einer Stimme mit eher lyrischen Qualitäten vorbehalten sein, hier fällt besonders auf, wie sehr das  Zagreb Philarmonic Orchestra im Hintergrund bleibt, obwohl es im Vorspiel zu der folgenden Arie aus Forza del Destino zeigt, dass es unter Ivan Respušić sehr einfühlsam zu spielen versteht. Sehr schön klingt „Sevilla“, bereits weniger „Leonora“, denn zu schnell geht es von den „angeli“ wieder in ein schneidendes Forte. Der Verdi-Teil endet mit zwei Auszügen aus Otello, dem Liebesduett, in dem eine empfindsame Valentina Fijacko die Desdemona singt, während der Tenor sich eher rabiat als sensibel gibt, aber dann umso mehr  in “Dio! Mi potevi“ in seinem Element ist.

Auch von den Puccini-Helden hat Todorovich die heldenhafteren gewählt, so zweimal Des Grieux und Dick Johnson. „Donna non vidi mai“ läuft abgesehen vom „sussura“ volle vokale Kraft voraus, was zum zweiten Akt eher passt, „Ch’ella mi creda“ ist von Anfang bis Schluss gelungen, von schöner, einheitlicher Farbe und angemessenem Ausdruck. Fast schon Tote, ganz sicherlich aber schlafende Ehemänner weckt Luigis Arie, während das „Fiorito asil“ Pinkertons ohne akustischen Duft bleibt.

Den Abschluss bildet der Abschied Lohengrins in guter Diktion, sensibler „Taube“, aber nach dieser wieder den Beginn einer Materialschlacht, die auch vor „und bei dem Ringe soll er mein gedenken“ nicht durchgehend Halt machen mag. Insgesamt kann man zwar die Stimme in ihrer Pracht bewundern, nicht aber die Art und Weise, in der sie eingesetzt wird (Oehms OC 793). Ingrid Wanja 

Dieser süffisante, ironische Ton …

 

Es gibt ein wunderbares Interview mit Elisabeth Schwarzkopf und Thomas Voigt (operashare.de-lesern nun wirkjlich nicht unbekannt), in dem sie über ihre Studienzeit in Berlin spricht: „Diesen etwas süffisanten, raffinierten, ironischen Ton, den man für die Operette unbedingt mitbringen muß, hatte ich auf Platten von Fritzi Massary und Yvette Guilbert gehört…. Natürlich haben Sänger dieser Generation ihre Stimme anders eingesetzt, als wir sie dann später eingesetzt haben, aber sie hatten eine grundlegende Stimmschulung. Das ja auch notwendig war, denn sie haften ja täglich auf der Bühne zu singen – und ohne Mikrophone, wohlgemerkt. Und natürlich auch ohne klammheimliche Verstärkung seitens der Tontechnik, wie es heute in manchen Opernhäusern fast schon an der Tagesordnung ist – ein Betrug am Publikum, für den ich keine Worte finde. Das ist ein Verlust an Integrität, wie er schlimmer nicht sein kann.“ / Opernwelt März 1995).

Fritzi Massary auf 2 einzelnen CDs (trotz der Numerierung ist es zu weiteren hier nicht gekommen) bei Truesound Transfers aus den Händen Christians Zwargs – fabelhaft!

Elisabeth Schwarzkopf erwähnt, dass ihre Lieblingsklasse dem Vergleich von Aufnahmen berühmter Sänger gewidmet war. Die Schüler saßen und hörten Legenden der Vergangenheit auf Schellack. Schwarzkopf sagte, dass die Aufnahmen oft begannen und sie nicht verstehen konnte, warum ein bestimmter Sänger berühmt war, da er/sie so gewöhnlich klang. Bis sie, so Schwarzkopf, plötzlich erkannte, worum es ging. Es hätte ein einziger Satz sein können, eine bestimmte Art, mit einem Wort umzugehen, eine technische Leistung, aber es gab immer das gewisse Etwas, wie kurz es auch sein mochte. Ein Kunstgriff, wenn man so will. Frau Schwarzkopf lernte daraus und versuchte, diese entscheidenden Kniffe in ihrer eigenen Karriere zu kopieren, mit Erfolg.

Dieses Schwarzkopf-Interview kam mir in den Sinn, als ich die CD Fritzi Massary 3 und 4 von Truesound Transfers (TT 3052/ 3053) aus den bewährten Händen des Magie-Renovators Christian Zwarg mit Highlights aus Die Csardasfürstin, Die Faschingsfee, Die schöne Helena und Die Fledermaus abspielte, die 1916 und 1918 in Berlin aufgenommen wurden. Christian Zwarg hat sie meisterhaft restauriert, was ihr enormes Alter vergessen macht. Die Stimmen klingen so frisch, als stünden die Sänger direkt neben einem.

Fritzi Massary in Noel Coward’s „Operetta“. (Photo Robert Wennersten Archive)/ mit Dank an ORCA

Während der ersten beiden Tracks habe ich die berüchtigte Art der Massary verpasst, Liedtexte und Nuancen zu gestalten. Hier singt sie eher traditionell als lustvolle Soubrette mit einer guten Höhe, aber ohne außergewöhnliches Timbre. Und gerade als ich mich zu fragen begann, ob der Erwerb dieser Scheibe eine schlechte Investition gewesen war, begann Track 3 und änderte alles: Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht wird von Frau Massary solo gesungen, und nach der Einleitung vertieft sie sich in den Chor auf eine Weise, wie man es niemals anders hören möchte. Sie gleitet auf Worten („so hier und da“), ändert das Tempo von einem Satz zum anderen, beginnt zu improvisieren, gibt eine unerwartete Schattierung des Textes im zweiten Refrain … Man fragt sich, wieso das nicht von allen Operettensängern gemacht wird.

Solche Spielereien setzen sich in den folgenden Tracks fort, sind aber (noch) nicht das Hauptmerkmal. Dieses wird noch sparsamer eingesetzt. Aber man versteht, wohin diese Karriere führen wird. Bereits 1916 war die Massary ein großer Star und ihre Sylva Varescu war ein Volltreffer. Aber das waren keine maßgeschneiderten Rollen für sie.

Auch ihre Faschingsfee war ein Knaller. Nachdem ich mir die jüngste cpo-Aufnahme aus München angehört hatte, wollte ich mehr von Massary hören. Ich kannte einen Titel aus diesem Werk aus Fritzi Massary: O la la … Frühe Aufnahmen 1905-1920. Die Klangqualität auf dieser CD von KLEINaberKUNST ist nicht zu vergleichen mit dem, was Christian Zwarg hier herausgeholt hat. Er ist überhaupt ein Meister der subtilen, stimmenliebenden Tontechnik, wie nicht nur die vielen Titel in der Sammlung Truesound belegen. Anstelle eines Faschingsfee-Tracks gibt es hier zehn.

Fritzi Massary: vor LP-Zeiten in England auf Internationa Record Collector/ EMI – zwei wunderbare Auszüge aus „Operetta“ mit Fritzi Massary in ihrem vorübergehenden Londoner Exil, hinreißend und unnachahmlich. Joan Sutherlands Version konnte da in keiner Weise mithalten/ Decca.

Und neun Highlights aus der Csardasfürstin. Sie zeigen nicht nur Massary, sondern auch Molly Wessely, die zusammen mit Albert Kutzner Machen wir’s den Schwalben nach und mit Hermann Vallentin Das ist die Liebe singt. Sie hat eine ähnliche Klangfarbe wie Massary, man könnte sie sogar miteinander verwechseln, bis man merkt, dass dieses zusätzliche Element fehlt, dieses Massary-Spezifikum. Um Noel Cowards Tagebuch zu zitieren: „Sie ist hell wie ein Knopf und voller Vitalität. […] Mein Gott, sie hat etwas abgeliefert!“ Das hat sie sicherlich getan.

Noch 1958, als Massary zu einer seiner Aufführungen kam, gab Noel Coward an: „Es gibt wenig, was sie über das Theater nicht weiß.“ Dieses Wissen wurde in einer 30-jährigen Karriere erworben. Diese CsardasfürstinFaschingsfee-Aufnahmen stammen ungefähr aus der Mitte dieser 30 Jahre, sie kommen aus den Tagen ihrer Revue im Metropoltheater und vor ihrem Superstar-Status der 1920er Jahre.

 

Als Coward die Massary in den 1950er Jahren in Hollywood wiedertraf, war er sehr beeindruckt von der Art und Weise, wie sie gealtert war: „Dort ist sie, im Ruhestand, in ihren Siebzigern und schick wie immer. Weise und klug und vernünftig. ‚Nostalgie du temps perdu‘ bis zu einem gewissen Grade, aber leicht gemacht und ohne Schmerzen. […] Es war schön, sie wiederzusehen, keine tränenreiche Selbstbeobachtung. Eine wertvolle Begegnung.“

ORCA-Chef Kevin Clarke von dem Yiddish Theatre/ ORCA

Das Gleiche kann über die doppelte Begegnung mit Kalman gesagt werden. Besonders interessant ist „Jaj, mamam Bruderherz“. Massary, Hermann Vallentin und Pep Ludl singen es mit unerwarteten Kontrasten und wechseln von Melancholie zu wahnsinniger Hingabe. Moderne Operettensänger könnten von diesen Aufnahmen viel lernen. Es gibt eine Frische, eine emotionale Tiefe und Ehrlichkeit, die atemberaubend ist, ohne jemals in den großen Opernklang zu verfallen, der (für mich) so viele spätere Aufnahmen der Csardasfürstin und der Faschingsfee unerträglich macht.

Eugen Rex als Massarys Partner in der Faschingsfee ist fast so unterhaltsam wie Albert Kutzner. Rex war 1920 bei der Premiere von Der Vetter aus Dingsda dabei und hatte im folgenden Jahrzehnt eine große Filmkarriere. (Er trat 1933 der NSDAP bei und bekleidete  hochrangige Positionen in der Filmindustrie.)

Bereits 1918 hatte Massary ihren Stil weiterentwickelt. Sie ist absolut selbstsicher als Prinzessin Alexandra Maria. Die Art und Weise, wie sie in dieser Musik auf und ab gleitet, ist einfach umwerfend (man probiere Lieber Himmelsvater, sei nicht bös). Das wird man nirgendwo in der neuen Aufnahme aus München hören.

 

Fritzi Massary: Werbepostkarte Fritzi Massary in „Die Sünde von Berlin“, Berlin, 1906 bis 1909, DruckTechniken; 13,80 cm x 8,70 cm, Inv.-Nr.: V 93/327 V © Stiftung Stadtmuseum Berlin, mit sehr freundlicher Genehmigung des Stadtmuseums Berlin; Foto oben daraus ein Ausschnitt

Die hohe Kunst des Umgangs mit dem Text zeigt sich auch in La belle Hélène. Ihre Anrufung der Venus zeigt, wie man drei Verse interessant und frisch halten kann. Und ihr Duett mit Bernhard Bötel als Paris ist – nun ja, wie nichts, das man jemals gekannt hat. Es ist so weit wie irgend denkbar von Jessye Norman und Felicity Lott entfernt; und doch bewahrt sich die Massary durchweg einen klassischen Stil.

Ein besonderer Leckerbissen ist das abschließende Spiel ich die Unschuld vom Lande. Es macht verständlich, warum Bruno Walter sie als Adele bei den Salzburger Festspielen engagierte. Schon 1918 weiß Massary haargenau, wie man unschuldig spielt und Resultate abliefert. Das deckt sich absolut mit dem was die Schwarzkopf sagt.

Wenn man sich für Kalman interessiert, dann sollte man diese beiden Auszüge unbedingt hören. Ich würde es sogar obligatorisch nennen. Wie bereits angeführt, ist die Klangqualität für Aufnahmen von 1916/18 hervorragend. Die höchste Kunst des Operettengesangs ist unüberhörbar. Es ist so schade, dass sie verloren gegangen ist … Kevin Clarke, Operetta Research Center Amsterdam/ Übersetzung Daniel Hauser/ mit besonderem Dank an Kevin Clarke und auch Thomas Voigt für die Genehmigung zur Übernahme des Schwarzkopf-Zitats./ das vollständige Interview von Thomas Voigt mit der Schwarzkopf bringen wir im Laufe des Jahres 2019 als „Nachdruck“ des Opernwelt-Artikels.

Heather Harper

 

Mit großem Bedauern lesen wir vom Tod der irisch-britischen Sopranistin Heather Harper. Ich habe sie in London und auch in Berlin (unter Barbirolli) mehrfach gehört und sie für ihre große und vielseitige Kunst geschätzt. Sie hatte so etwas unendlich Verlässliches, etwas Solides, was es heute kaum noch gibt. Sie war unglaublich vielseitig, und eine meiner Lieblingsaufnahmen mit ihr ist eine alte Cavalli-LP mit ihrem Kollegen Gerald Englisch (in der abenteuerlichen musikalischen Ausgabe Raymond Leppards), wo sie den Tod der Dido und andere Lamenti singt. Was für eine Ruhe, welcher Fluss. Für mich war sie die Sopranfortführung ihrer ebenso von mir geliebten Kollegin Geraldine Veasey, ähnlich stimmlich gelagert und ähnlich flexibel, ob nun als Arabella oder in der berühmten Britten-War-Requiem-Aufnahme als „Ersatz“ für die Vischnevska. Als Opernsängerin ist sie vielleicht weniger hervorgetreten als in den großen Konzertstücken ihres Fachs, und ihre Vier letzten Lieder zählen für mich zu meinen Standardaufnahmen ebenso wie die von der Jurinac, mit der sie viel gemeinsam hat. Ihre Händel- und Bachaufnahmen gehören ebenfalls zu meinem eisernen Bestand – was für eine große und nachhaltige, noch heute gültige Künstlerin war sie doch. G. H.

 

Die deutsche Wikipedia schreibt etwas karg: Heather Harper CBE (* 8. Mai 1930 in Belfast, Nordirland; † 22. April 2019 in London, England) war eine britische Opernsängerin (Sopran). Harper erhielt ihre frühe musikalische Ausbildung in Belfast. Sie studierte Klavier am Trinity College of Music in London, mit Stimme als Zweitinstrument, und sang beim BBC Chorus. Ihr Debüt als professionelle Sopranistin gab sie 1954 in Luigi Cherubinis Medea, einer Aufführung dieser Oper durch den Oxford University Opera Club. Von 1956 bis 1975 war sie ein Mitglied der English Opera Group. Zu ihren herausragenden Rollen zählten Elsa in Richard Wagners Lohengrin, die Titelrolle in Strauss’ Arabella, Ellen Orford in Brittens Peter Grimes, und die Governess in Brittens The Turn of the Screw. Harper war auch als Sopranistin in konzertanten Aufführungen aktiv. So sang sie den Sopran Solo-Part in der Uraufführung von Brittens War Requiem im Jahre 1962; sie ersetzte Galina Wischnewskaja nur 10 Tage vor dem Konzert.[2] Sie trat auch auf anderen Bühnen der Welt auf: im Royal Opera House Covent Garden, bei den Bayreuther Festspielen (1967 und 1968 als Elsa), in San Francisco und an der Metropolitan Opera (Contessa Almaviva in Le nozze di Figaro und in Peter Grimes). 1985 nahm sie bei der sogenannten Last Night ft he Proms in Belfast an der Welturaufführung von Malcolm Williamsons Liederzyklus Next Year in Jerusalem teil.

 

Dazu auch die britische Wikipedia: The distinguished Irish soprano, Heather (Mary) Harper, was born and trained in Belfast. She was trained as a concert pianist at Trinity College of Music in London, taking singing as a second subject. She also took voice lessons with Helen Isepp and Frederic Husler. She sang in BBC Chorus.

Heather Harper’s first professional appearance was as Lady Macbeth in Verdi’s opera, in 1954 at the Oxford University Opera Club. She was a member of the English Opera Group from 1956 to 1975. Principal roles followed at Covent Garden, Glyndebourne and Sadler’s Wells, putting her in the foremost ranks of operatic sopranos. She created Lucie Manette in Benjamin’s Tale of Two Cities, London (New Opera Company at Sadler’s Wells) in 1957. Sang the Woman in first Britain stage production of Arnold Schoenberg’s Erwartung, 1960. Her Glyndebourne début was in 1957 as First Lady in W.A. Mozart’s Die Zauberflöte; Her Covent Garden debut was in 1962 as Helena in Benjamin Britten’s A Midsummer Night’s Dream. Her debut in 1967 at the Bayreuth Festival as Elsa in Lohengrin received international acclaim. In 1977 she made her New York Met as the Countess in W.A. Mozart’s Le Nozze di Figaro. Her roles encompass W.A. Mozart, Verdi, Wagner and 20th century works. Outstanding roles including Elsa, Arabella in Strauss’s opera, Ellen Orford in B. Britten’s Peter Grimes, and the Governess in The Turn of the Screw.

Heather Harper was also a concert artist of supreme accomplishment. Her fame in this area was based on a series of highly successful tours of North and South America, Australia, the Far and Middle East (including Israel), Russia, Czechoslovakia, Scandinavia and Europe. She gave first performances of many works. Sang in the first performances of B. Britten’s War Requiem at Coventry Cathedral in 1962, and Tippett’s 3rd Symphony in 1972. Other works dedicated to her are Three Leaves of Grass by the Finnish composer Leif Segerstram, and Chambermusic by Antal Doráti. She created Mrs Coyle in Owen Wingrave, televised 1971. Heather Harper retired from stage 1984, but sang Nadia in The Ice Break at Proms 1990 (a role she actually created).

In 1965 Heather Harper was made Commander of the British Empire for her service to music, and in 1966 the Queen’s University, Belfast, conferred on her an honorary degree of Doctor of Music.

From 1985 Heather Harper was a Professor at the Royal College of Music in London. From 1986 she was also director of singing studies at the Britten-Pears Scholl in Snap, and the first visiting lecturer-in-residence at the Royal Scottish Academy of Music in Glasgow (from 1987). Although already retired she sang with Simon Rattle and the City of Birmingham Symphony Orchestra at the London’s Proms in 1994.(Foto Bach-Cantatas)

 

In stratosphärischer Höhe

 

Seit vielen Jahren arbeitet eine eifrige Truppe von Musikwissenschaftlern und Musikern unter der Gesamtleitung von P. Nikodem Kilnar Osppe (d.h. Mitglied des Pauliner-Ordens) in Jasna Góra in Schlesien an der wissenschaftlichen und diskographischen Erschließung des überreichen Archivs dieses Klosters. Von den bis jetzt fast 60 CDs, die veröffentlicht wurden, haben nicht viele die Aufmerksamkeit des Publikums und der Kritiker außerhalb Polens erregt.

Zu Unrecht, denn Jasna Góra gehört zu jenen mitteleuropäischen Klöstern, die nicht nur dazu beigetragen haben, dass das musikalische Erbe vor allem des 18. und frühen 19. Jahrhunderts erhalten blieb, sondern es hat auch die damalige, vor allem die deutschsprachige Musikwelt mit Hauskomponisten bereichert, deren Werke z.T. auch außerhalb der Klostermauern gespielt und gedruckt wurden. Stams, die böhmischen und bayerischen Klöster oder Einsiedeln, um andere Beispiele zu nennen, waren zwar Sammelbecken fremder Kunstwerke, aber sie trugen auch aus eigener Kraft entscheidend dazu bei, den klassischen Stil zu etablieren, unter anderem, indem sie auch als Bildungsstätten für mehrere Generationen von Komponisten wirkten, die später in den Metropolen Europas Erfolge feierten. Wer weiß noch, dass Franz Xaver Süssmayr ein Stiftsschüler in Kremsmünster gewesen war? Oder dass Etienne-Nicolas Méhul sein Handwerk bei dem deutschen ChorherrenWilhelm Hanser gelernt hatte?

Jasna Góra kann sich solch berühmter Schüler nicht rühmen, aber seine Bibliothek ist eine Fundgrube seltener Kompositionen aus ganz Europa. Naturgemäß hat sich die Reihe der Musica Claromontana insbesondere der Kirchenmusik gewidmet. Die zahlreichen Folgen mit Werken des Pauliners Amando Ivancic, der 1758 verstarb, und des Beethoven-Zeitgenossen Josef Elsner (1769-1854), der selbst von Dominikanern und Jesuiten in Breslau ausgebildet wurde und und später in Warschau Chopins Lehrer war, seien hier empfohlen. Das Kloster verfügt über eine große Anzahl von Instrumentalwerken, darunter 180 Symphonien, welche unermüdliche Kopisten für ihre musizierenden Mitbrüder abschrieben.

In der schon vor etlicher Zeit eingespielten, aber erst jetzt zur Verfügung stehenden Folge 55 der Veröffentlichungsreihe werden vier davon vorgestellt: zwei ebenfalls aus anderen Quellen bekannte Symphonien von Johann Christian Bach und Carl Ditters von Dittersdorf, eine nur in Jasna Góra und Bratislava erhaltene, hinreißende viersätzige „Symphonia ex C“ von Dittersdorf sowie ein Concerto grosso des Pauliners Marcin Józef Zebrowski. Dieses Mitglied der Pauliner-Abtei war schon in den 1740er Jahren aktiv, veröffentlichte in Amsterdam um die Mitte des 18. Jahrhunderts Kompositionen und starb wohl erst um 1790 in Jasna Góra. Sein bizarres Concerto grosso mit seinem virtuosen Hornsolo (ausgezeichnet: Andrew Hale) lässt den beginnenden Übergang vom Barock zur Klassik nachvollziehen.

Die Produktionen aus Jasna Góra setzten schon lange auf Originalinstrumente und auf ein international besetztes, eigenes Orchester, die Cappella Claromontana, die hier unter der energischen Leitung des Geigers Tomasz Wabnic glänzt. Krönung dieser Produktion sind drei Arien von Dittersdorf („Preces humilitatis“, „Povera Beatrice“ aus Dittersdorfs Barone di Rocca antica sowie eine„Aria de tempore“). Sie zeigen, dass man in Jasna Góra Sänger allerersten Ranges zu engagieren und/oder auszubilden vermochte, denen die ehrfurchtgebietenden vokalen Schwierigkeiten zuzutrauen waren. Hervorragend gelingt das hier der in Olsztyn und Würzburg ausgebildeten Sopranistin Katarzyna Dondalska. Dem im Begleitheft versuchten Vergleich mit Mado Robin und Bogna Sokorksa muss man nicht folgen. Dondalskas Timbre wird nämlich nicht jedermanns Sache sein, und man hätte sich eine deutlichere Diktion gewünscht, aber ihre sicher geführte, quecksilbrig bewegliche und etwa in der Kadenz der dritten Arie stratosphärische Höhen erreichende Stimme beeindruckt nicht weniger als die lyrischen Töne, die sie für die zweite Arie findet. Freunde der Musikkultur im 18. Jahrhundert und die Bewunderer von Koloraturstimmen sollten sich diese liebevoll, durch einen hervorragenden Text von Agnieszka Drozdzewska bereicherte CD nicht entgehen lassen (Musica Claromontana Bd. 55: Werken von Zebrowski, J.C. Bach und Dittersdorf, K. Dondalska, Capella claromontana, T. Wabnic, Musicon Warschau).  Michele C. Ferrari

Gut gemeint, aber …

 

Im Laufe seiner fast 60 Jahre währenden Karriere hat sich Giacomo Meyerbeer nicht nur der Oper gewidmet. Von ihm stammt auch ein Korpus von im Allgemeinen als religiös zu bezeichnenden Kompositionen, die zum Teil bis vor kurzem unbekannt waren und die nun auf Initiative des Dirigenten und Musikwissenschaftlers Dario Salvi eingespielt wurden. Darunter befindet sich eine Anzahl von Psalmen, die der 16jährige Meyerbeer vertonte, noch bevor er mit Carl Maria von Weber ab 1810 in Darmstadt bei Abbé Vogler studierte. Es ist anrührend, diese schlichten Gesänge zu hören, für die Meyerbeer die deutsche Übersetzung von Moses Mendelssohn verwendete. Mit der Kantate „Gott und die Natur“ („Lyrische Rhapsodie“ benannt) aus dem Jahre 1811 und dem Singspiel „Jephas Gelübde“, das 1812 in München uraufgeführt wurde, näherte sich Meyerbeer der Opernbühne und zeigte seine Kompetenz im klassischen Stil moderner Prägung, die sich in der virtuos gehaltenen Stimmführung offenbart.

Die auf der CD versammelten späteren Werke wie ein Gloria und Halleluja von 1841, ein „Cantique tiré de l’Imitation du Christ“ aus 1859 (hier mit einem von Salvi wiederentdeckten Präldium von 1863 versehen, einem Jahr vor dem Tod des Komponisten) und ein „Pater noster“ tragen eher den Charakter von Gelegenheitskompositionen. Das soll aber nicht täuschen, genauso wenig wie die Tatsache, dass der Jude Meyerbeer christliche Texte in Musik setzte. Er war ein tief religiöser, doch überaus toleranter Mensch, und die hohe Qualität etwa des Cantique, das auf eine ursprünglich auf Latein verfasste Meditationsanleitung des frühen 15. Jahrhunderts zurückgeht, zeigt, dass das Vertonen solcher Texte vielleicht keine Herzangelegenheit, aber doch eine Aufgabe war, die Meyerbeer mit Ernst anging. Diese CD erlaubt somit, eine nicht unbedeutende, aber bis jetzt wenig beachtete Seite von Meyerbeers Schaffen kennenzulernen.

Dass sich die Begeisterung für das Unternehmen indes in Grenzen liegt, hängt an den Versionen und der musikalischen Wiedergabe. Salvi hat sich dafür entschieden, die Stücke für eine Kammerbesetzung zu bearbeiten (aus Kostengründen?), indem er etwa das Orchester, das für „Gott und die Natur“, „Jephtas Gelübde“ und die Psalmen vorgesehen war, durch Streicher und Klavier ersetzt. Der Hinweis im Booklet, man folge der Praxis der Zeit, in der „Chopin, Rossini, Liszt und viele mehr (…) Klavier-Arrangements, Transkriptionen, Potpourris oder Variationen über Lieder und Themen aus Opern Meyerbeers“ schreiben, führt in die Irre. Es geht hier nicht um eine wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit Meyerbeers Themen, sondern lediglich darum, das volle Orchester zu ersetzen. Das Ergebnis ist schwerfällig und stilistisch anachronistisch. Dass die Psalmen von der Großbesetzung mit Chor und Orchester auf eine Solo-Stimme mit Begleitung verkleinert werden, erlaubt keine Einsicht in die Kompositionsweise des jungen Meyerbeer. Angesichts des interessanten Programmes würden man sich wünschen, Positives über die Solistin berichten zu können. Andrea Chundak nennt einen engagierten Sopran ihr eigen, der allerdings nicht selten fahl und nicht nur in der Höhe gefährdet klingt. Insgesamt enttäuscht also diese gut gemeinte Produktion. Der fromme Meyerbeer wartet nach wie vor auf seine Wiederentdeckung.

Wer kann, möge auf die Gesamtaufnahme von „Gott und die Natur“ zurückgreifen, die 1996 in Bologna entstand und seitdem zu den Juwelen der Bootlegs-Sammler gehört; die anderen müssen hoffen, dass Naxos oder eine andere mutige Firma sich endlich der großbesetzten Werke annimmt (Giacomo Meyerbeer, Sacred Works. Ausschnitte aus Gott und die Natur, Jephtas Gelübde, Psalmen und Gesänge, Andrea Chudak (Sopran), Jakub Sawicki (Orgel und Klavier), Neue Preussische Philharmonie, Dario Salvi, CD Naxos 8.573907). Michele C. Ferrari

Nicola Vaccaj: „Giulietta e Romeo”

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Ob Norma, Liebestrank oder Lucia di Lammermoor: Belcanto-Opern sind beliebt und gehören inzwischen weltweit zum Opernrepertoire, besonders bei Festivals. Aber welches war eigentlich das Urmodell, die erste erfolgreiche romantische Belcanto-Oper?

Sie stammt nicht von Bellini oder Donizetti, sondern von Nicola Vaccaj – es war der Publikumserfolg Giulietta e Romeo, uraufgeführt 1825. Die Oper ließ sich selbst von Bellinis Neuvertonung von 1830 nicht verdrängen, oft spielte man perfiderweise sogar eine Mischung aus beiden Werken. An diese erstaunliche Oper hat das berühmte Opernfestival in Martina Franca 2018 erinnert (s. unten), und die Aufführung ist nun bei Dynamic auf CD zu haben (und als Bluray-DVD). Eine wirklich beeindruckende Vollblut-Belcanto-Oper mit einem Mezzosopran als Romeo.

Wuchtige Chöre: Dass erst 1825 wieder neue Töne jenseits der Formel aus Italien zu hören waren, liegt daran, dass die italienischen Komponisten sich alle in Schockstarre befanden, weil Rossini sie im Würgegriff hielt. Und dann ging Rossini 1824 nach Paris, und als dann allmählich klar wurde: der kommt so schnell auch nicht wieder, kamen die Mäuse aus ihren Löchern und trauten sich wieder, zu pfeifen. Und eine der ersten Opern, diesich moderat vom Rossini-Ton befreiten, das war diese Romeo- und Julia-Vertonung, übrigens nur Wochen vor einer zweiten erstaunlichen Reformoper, Pacinis Ultimo Giorno di Pompej.

Vaccaj nimmt sehr viel von dem vorweg, womit Bellini und Donizetti später ihre Hörer paralysieren große elegische Melodien, Einsatz von Harfe und anderen romantisch anmutenden Instrumenten, wuchtige Chöre, all das findet sich hier schon.

Vaccaj kreiert hier eine eigene Sprache, die genau zwischen Rossinis und Bellinis Meisterwerken auf die Welt kommt, er schreibt eine elegante und doch leidenschaftliche Musik, und für jeden, der den Belcanto liebt, dürfte das eine echte und erfrischende Abwechslung sein.

Viel Leidenschaft und Hingabe: Obwohl die Neuaufnahme in einigen Foren als Weltersteinspielung angekündigt wurde, hat es schon einen CD-Mitschnitt aus Jesi von 1996 gegeben. Da erschien mir das Werk unendlich langweilig, obwohl die Sängerriege gar nicht so schlecht war. Aber die Reprisen waren gekürzt und das Orchester zu tumultös. Und jetzt – das ist wirklich ein kleines Wunder – kann man in diesem Mitschnitt erleben, wie eine gut gemischte Sängergarde aus angehenden Stars und Kräften kleinerer Häuser mit viel Leidenschaft und Hingabe an ihre Grenzen geht und dem Werk echtes Leben einhaucht.

Gerade Leonor Bonilla als Julia gibt alles; Sie ist sicher keine primadonna assoluta, aber eine Sängerin, die mit ihrer Rolle verschmilzt und die Partie glaubwürdig gestaltet. Sehr hörenswert auch der Starauftritt des chilenischen Baritons Christian Senn als Pater Lorenzo. Rafaella Lupinacci als Romea fällt dagegen etwas ab, aber das kann auch subjektiver Eindruck sein; ihre Romeo-Hits haben schon große Diven auf der Platte gesungen, etwa Marilyn Horne. Insgesamt aber spürt man: wenn man es so zelebriert, macht auch eine Oper zweiten Ranges Vergnügen.

Sesto Quatrinis Stabführung hat mich nicht restlos überzeugt. Zwar kann er die großen bellinischen Bögen mit seinem Orchestra Accademia Teatro alla Scala überzeugend zelebrieren, oft bremst er aber die Schlussakte der Nummern aus, die dann unspektakulär in Zeitlupe vergurgeln (Nicola Vaccaj: Giulietta e Romeo; mit Leonor Bonilla, Raffaella Lupinacci, Paoletta Marrocu | Coro del Teatro Municipale di Piacenza | Orchestra Accademia Teatro della Scala | Sesto Quatrini; Dynamic 2 CDS 7832.02 und als DVD Bluray 57832). Matthias Käther

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Der Komponist Nicola Vaccaj/ Wikipedia

Und als Ergänzung zum Artikel meines jungen Kollegen – ein kurzer Blick auf Vaccajs nicht so bekannte Oper, wie er meint (wobei man die ungemein erfolgreiche Medea in Corinto Simone Mayrs nicht unerwähnt lassen sollte, ob nun wirklich eine Belcanto-Oper oder nicht…). Ich erinnere mich an die sehr temperamentvollen und gtar nicht langweiligen Aufführungen 1996 im bezaubernden Barock-Theaterchen von Jesi, ein reizendes Städtchen oberhalb von Martina Franca an der Adria-Küste. Davon gibt es auch den Mitschnitt (klanglich nicht aufregend) bei Bongiovanni (GB2195/96) Paula Almararez und Maria José Trullu in den Hauptrollen unter dem Pionier Tiziano Severini.  Vorher hatten sich Nicola Rescigno und Marilyn Horne der Oper angenommen und konzertant den fulminanten Schluss mit der langen Todeszene erst 1977 in Dallas und davor in New York (mit dem damaligen Ehemann Henry Lewis) nach alter Malibran-Manier statt des originalen Schlusses in die Capuleti e i Montecchi  eingebaut, unterstützt von Linda Zogby (who?) als bezaubernde  Giulietta. Die Horne braust durch diese wunderbare Musik wie ein slalomgeübter Treckerfahrer, absolut beeindruckend, ebenso in  den Capuleti e i Montecchi überwältigend, wenngleich wie meist ein wenig zu robust. Sammler habe diese Aufnahmen natürlich (bei ehemals Ponto, bei youtube et. al.).

Rossini in Wilbad nahm sich ebenfalls Vaccajs an: seine Sposa di Messina gab es dort 2009, und die tüchtige Firma Naxos hat diese im Rahmen ihres Wildbad-Kanons mitgeschnitten (8660295-96, erschienen erst 2012; SWR).

„Gulietta e Romèo“: Marilyn Horne und Lindaa Zogby singen bei youtube das Finale aus Dallas 1977/ youtube

Zudem gibt es doch verschiedene Einspielungen mit Vaccajs Musik, wie ein Blick zu Google oder Amazon zeigt: Kammerarien mit Monica Carlett bei Concerto (naja), die Sammlung Grande Accademia vocale e strumentale bei Bongiovanni, Orgelmusik bei Elegia, Flötenquartette bei Tactus, die „Praktische Schule des italienischen Gesangs für mittlere Stimme – Lehrbuch von Nicola Vaccai mit CD“ von Ricordi. Denn Vaccaj war auch als Musikpädagoge renommiert. Aber sein Verona-Drama ist mit Abstand die schmissigste Musik von ihm, die wir bislang kennen. Und das Finale mit der Horne eine absolute Ober-Wucht… G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Eva Kleinitz

 

Die Staßburger Oper schreibt: In  tiefer Trauer müssen wir mitteilen, dass Eva Kleinitz,  bisherige Intendantin der Opera national du Rhin, am Donnerstag den 30. Mai 2019 nach langer Krankheit verstorben ist. Eva Kleinitz´ kühne und weltoffene Spielplangestaltung, ihre strahlende und großzügige  Menschlichkeit und ihr für alle Mitarbeiter unseres Hauses sehr inspirierender Ehrgeiz haben tiefe Spuren bei allen hinterlassen, die das Glück hatten mit ihr seit ihrer Ernennung im Frühjahr 1916 unter ihrer Leitung zu arbeiten. Auch in ihren früheren Funktionen an der Oper Stuttgart,  am Brüsseler Opernhaus La Monnaie /De Munt und bei den  Bregenzer Festspielen bestach sie durch ihre Herzlichkeit und ihre berufliche Kompetenz. Das aufrichtige Beileid der gesamten Opera national du Rhin  und unser tiefes Mitgefiühl gelten Eva Kleinitz‘  Angehörigen und ihren Freunden.

 

Biographie Eva Kleinitz wurde in Langenhagen geboren. Sie studierte Musikwissenschaft, Psychologie und italienische Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Mit einer Magisterarbeit über die Oper Francesca da Rimini von Riccardo Zandonai schloss sie ihr Studium 1998 erfolgreich ab.

Ab 1991 war sie Regieassistentin und Spielleiterin, unter anderem bei den Bregenzer Festspielen sowie in Theatern und Opernhäusern in Klagenfurt, Avignon, Nîmes, Paris, Straßburg, Spoleto, Köln und Schwetzingen und hatte dort die Gelegenheit mit verschiedenen Regisseur·innen zusammenzuarbeiten, darunter Daniele Abbado, Philippe Arlaud, Götz Friedrich, David Pountney und Jérôme Savary.

Im Rahmen ihres Engagements im künstlerischen Betriebsbüro der Bregenzer Festspiele ab 1998 leitete Eva Kleinitz die Projekte Oper am See und Oper im Festspielhaus. Sie war verantwortlich für Casting, Dramaturgie, Verträge, Werkstätten und die Redaktion des Programms. 2000 übernahm sie die Leitung des künstlerischen Betriebsbüros und war bis 2003 persönliche Referentin des Intendanten Alfred Wopmann. 2003 bis 2006 arbeitete sie als Operndirektorin und stellvertretende Intendantin der Bregenzer Festspiele sowie als Prokuristin unter dem neuen künstlerischen Leiter David Pountney.

In dieser Zeit arbeitete sie mit renommierten Regisseur·innen wie Robert Carsen, Francesca Zambello und Phyllida Lloyd sowie mit namhaften Dirigent·innen, darunter Sylvain Cambreling, Fabio Luisi, Yakov Kreizberg, Vladimir Fedoseyev, Ulf Schirmer und Marcello Viotti.

2006 bis 2010 übernahm sie die Direktion für künstlerische Planung und Produktion an der Brüsseler Oper La Monnaie / De Munt. Ab der Spielzeit 2007/2008 war sie dort ebenfalls künstlerische Referentin des neuen Intendanten Peter de Caluwe. In dieser Eigenschaft arbeitete Eva Kleinitz mit den Regisseur·innen Pierre Audi, Robert Carsen, Deborah Warner und Krzysztof Warlikowski, den Dirigenten René Jacobs, Hartmut Haenchen, Marc Minkowski, Kazushi Ono, Marc Soustrot, Carlo Rizzi, Christophe Rousset und Jérémie Rhorer sowie den Choreograf·innen Sidi Larbi Cherkaoui, Akram Khan, Ann-Teresa de Keersmaeker und Sasha Waltz.

Ab 2011/2012 war Eva Kleinitz Operndirektorin und stellvertretende Intendantin im Leitungsteam der Oper Stuttgart, zusammen mit Jossi Wieler (Generalintendant), Sylvain Cambreling (Generalmusikdirektor) und Sergio Morabito (Chefdramaturg). In der Spielzeit 2015/2016 erhielt die Oper Stuttgart unter anderen Auszeichnungen den Titel Opernhaus des Jahres von der Zeitschrift Opernwelt.

In Stuttgart arbeitete Eva Kleinitz mit Dirigenten wie Giuliano Carella, Teodor Currentzis, Gabriele Ferro, Hartmut Haenchen, Marko Letonja, Daniele Rustioni, Michael Schønwandt, Marc Soustrot und dem damaligen Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling sowie mit den Regisseur·innen Andrea Breth, Calixto Bieito, Andrea Moses, Peter Konwitschny und Kirill Serebrennikov, aber auch mit Jossi Wieler und Sergio Morabito aus dem eigenen Haus.

Im Oktober 2013 wurde Eva Kleinitz beim Herbstkongress in Wexford, Irland als erste Frau und erste Deutsche zur Präsidentin von Opera Europa gewählt; das Amt bekleidete sie bis Mai 2017. Seit 2005 hält sie regelmäßige Gastvorlesungen und Workshops an der Showa University of Music in Shinyurigaoka / Präfektur Kanagawa, Japan. Sie gibt ebenfalls regelmäßig Kurse an der Accademia della Scala di Milano.

Von Januar 2015 bis Mai 2017 war sie Mitglied der Editorial Group der Opernwebsite The Opera Platform, einem gemeinsamen Projekt von Opera Europa und dem Fernsehsender ARTE mit Unterstützung der Europäischen Union.

Darüber hinaus ist sie regelmäßig Jurorin bei internationalen Gesangswettbewerben, unter anderem bei der Francisco Viñas Competition, dem Concorso Lirico Internationale di Portofino, dem AsLiCo Como, der Paris Opera Competition etc.

Am 31. März 2016 wurde Eva Kleinitz einstimmig zur Generalintendantin der Opéra national du Rhin ab der Spielzeit 2017/2018 berufen. Es handelte sich um eine gemeinsame Entscheidung des französischen Kulturministeriums, der Städte Straßburg, Mulhouse und Colmar und der Region Grand Est. Am 1. September 2017 trat sie die Nachfolge von Marc Clémeur an, der seit 2009 als Intendant der Opéra national du Rhin tätig war.

Mit großer Kühnheit würdigte Eva Kleinitz in ihrer Zeit als Intendantin der Opéra national du Rhin immer wieder Werke, die in den Repertoires kaum Beachtung fanden, wie Francesca da Rimini von Zandonai, Der Tembelbrand von Mayuzumi, Barkouf! von Offenbach, La divisione del mondo von Legrenzi und jüngst Beatrix Cenci von Ginastera. Ihr Bestreben, die Opéra national du Rhin für neue Wege zu öffnen, verwirklichte sie unter anderem mit dem interdisziplinären Festival ARSMONDO, das sie in Zusammenarbeit mit ihrem künstlerischen Berater und Dramaturgen Christian Longchamp gestaltete. Nachdem die ersten Ausgaben des Festivals 2018 Japan und 2019 Argentinien gewidmet waren, wird 2020 Indien das Gastland sein.

Eva Kleinitz’ Begeisterung für große Künstler⋅innen kannte keine Grenzen und unter ihrer Leitung seit September 2017 wurde die Opéra national du Rhin zu einer bedeutenden Stätte des künstlerischen Schaffens, was unter anderen die Regisseur⋅innen Mariame Clément, Tatjana Gürbaca, Barrie Kosky, Ludovic Lagarde, Jetske Mijnssen, Amon Miyamoto, Mariano Pensotti, David Pountney, Nicola Raab, Pierre-Emmanuel Rousseau, Nicolas Stemann, Marie-Eve Signeyrole, Frederic Wake-Walker, Jossi

Wieler & Sergio Morabito bezeugen können. Durch die fruchtbare Zusammenarbeit mit Marko Letonja, dem musikalischen Leiter des Orchestre philharmonique de Strasbourg, sowie mit Patrick Davin und dann Jacques Lacombe, den Leitern des Orchestre symphonique de Mulhouse, entsprachen die von ihr programmierten Opernproduktionen stets einem anspruchsvollen musikalischen Niveau. Eva Kleinitz ermöglichte zahlreichen Sänger⋅innen in neuen Rollen zu debütieren und sie unterstützte und betreute die jüngsten unter ihnen, vor allem die Jahrgänge des Opernstudios, mit der allergrößten Herzlichkeit. Ihre Begeisterung und Unterstützung galt ebenfalls der Arbeit von Bruno Bouché an der Leitung des Balletts der Opéra national du Rhin. (Quelle Opéra national du Rhin/ Foto Klara Beck/ ONR)

Das Lächeln fehlt

 

Sol y vida nennt sich Elīna Garančas Ausflug ins Cross-Over-Geschäft bei DG und lässt Spanisches vermuten, was nur zum Teil zutreffend ist. Den umfangreichen Mittelteil bilden Canzoni von Tosti, de Curtis und Co, die gern für neapolitanisches Liedgut gehalten werden, eigentlich Salonmusik sind und vorzugsweise von Tenören, unlängst erst von Jonas Kaufmann, gesungen werden. Nun singen Soprane und Mezzosoprane seit einiger Zeit auch Die Winterreise, warum dann nicht italienische Canzonen. Der lettische Mezzosopran interpretiert sie nicht als naives Sichverschwenden kostbaren Materials wie einst beispielhaft Giuseppe Di Stefano, auch nicht als elegante Salonstücke, sondern wie Opernarien. Bei Cardillos Core ngrato trumpft auch das Orchester mächtig auf`, offenbart sich das Timbre als sehr preziös, wird sehr getragen gesungen, und auch bei de Curtis‘  Torna a Surriento erfreut natürlich die Stimmpracht, die Raffiniertheit des Singens, doch fehlt das Herz, das andere Interpreten in ihren Vortrag legten, erschlägt die allzu große vokale Geste fast das Stück. Non di scordar di me des selben Komponisten wird von einem unangenehm schmalzigen, überproportionierten Orchester begleitet, während die Sängerin der Canzone allzu viel Verinnerlichung angedeihen lässt, aber das Lächeln fehlt, das eigentlich diesen Stücken bei aller Traurigkeit innewohnen sollte. „Zu viel“ möchte man mit Tannhäuser ausrufen, wenn die zugegeben wundervolle Stimme viel Kunstvolles produziert, während doch der Charme von Musica proibita woanders liegt. Weniger dick wird Non t’amo più vom Orchester begleitet, doch der Mezzo bleibt tränenschwer, mit Überschwermut wird das Stück belastet. Auch Marechiare holt aus zu Operneffekten, alles klingt wunderschön, ist aber seines Charakters beraubt.

Die Stücke in spanischer Sprache, sei es aus Europa, sei es aus Südamerika, klingen schon einmal durch das härtere Idiom authentischer. Granada beginnt verinnerlicht, wo andere Sänger bereits aufdrehen, hier gibt es, und das ist gut, kein generelles Sichaufplustern der Stimme, sondern eine differenzierende Interpretation. Das Orquesta Filarmónica  de Gran Canaria unter Karel Mark Chichon ist hier hörbar in seinem Element. Eine schöne Verhaltenheit zeichnet La Llorona aus, viel Flexibilität und Leichtigkeit Vai lavar a cara. Besonders schön wird es, wenn sich die Begleitung fast nur auf die Gitarre beschränkt, so im Gracias a la vida von feiner Melancholie. Insgesamt wird sehr viel mehr vom Charakter der Musik erfasst als bei den italienischen Stücken. Zu Piazzollas Maria passt der kleine Schuss Ordinäres, den die Stimme der Garanċa hier annehmen kann, sehr schön geradlinig, sehr erfüllt hört sich Hermidas Lela an, und den angemessenen Zarzuela-Stil hält die Sängerin für No puede ser bereit. Recht weichgespült klingt Gardels El dia, und Barrosos Brazil beschließt die CD mit so unterschiedlichen Eindrücken auf den Hörer, dass er sie weder in ihrer Gesamtheit bejubeln noch verdammen mag (Deutsche Grammophon 483 6217). Ingrid Wanja  

Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter

 

 „Berlioz pour toujors“! möchte man ausrufen angesichts der Fülle an Aufnahmen, die es inzwischen von dem großen Komponisten unseres Nachbarlandes jenseits des Rheins gibt (wo er nachweislich am wenigsten geschätzt wird, wie man der jüngsten Aufführung seines opus summum an der Pariser Oper bei Arte TV entnehmen konnte). Das Berlioz-Jahr 2019 (Berlioz: * 11. Dezember 1803 in La Côte-Saint-André, Département Isère; † 8. März 1869 in Paris)  animiert die CD-Firmen, ihre Schatztruhen zu öffnen und uns mit ihren mehr oder weniger habenswerten  Dokumenten zu überschütten. Wobei Warner als EMI-Nachfolgerin die Nase vorn hat, geht sie doch besonders sorgfältig mit ihren Erbstücken um und steuert für die im wahrsten Sinne Gesamten Einspielungen auch noch neue bei, die als Erstaufnahmen wie in der Debussy-Box vor kurzem auch den Berlioz-Katalog vervollständigen. Im Ganzen ist die Warner-Box ein Meilenstein, ein unverzichtbarer.

Colin Davis hat seine Berlioz-Leidenschaft noch einmal und spät mit dem London Symphony Orchestra live ausgetobt und auf CD beim hauseigenen Label LSO festgehalten, mehr als diskutabel auch die Oper Les Troyens – da mag man wahrlich kritisch sein, denn seine immer noch unübertroffenen Philips-Großtaten mit Vickers und Veasey in den Troyens sind immer noch Maßstab setzend und von den neuen Live-Mitschnitten und anderen Aufnahmen durchaus nicht übertroffen. Dennoch: Auch er ist einer der ganz großen Berlioz-Kämpfer unserer Tage gewesen.

Natürlich fehlt viel, was man im Berlioz-Jahr wieder sehen möchte und vergriffen scheint (Amazon/ jpc), aber Decca (!)-Aufnahmen hat ihre antiken Aufbnahmen von Davis (ebenfalls Veasey und dann Watts unübertroffen in Béatrice et Benedict) neu herausgegeben, zusammen m9it weiteren Berlioz-Einspielungen des Dirigenten. Fehlen tun die Decca-Boxen von prèsque tout Berlioz unter  Dutoit.  Sony/RCA hatte ihre Schränke geöffnet und die Berlioz-Schätze unter Munch, Bernstein  und Co. wiederaufgelegt (alles in operalounge.de noch mal nachzulesen). Sony selbst hat als CBS-Columbia-Erbin Eleanor Stebers schöne Berlioz-LP im Schrank (und die aufregende Bidu-Sayao-LP/ CD mit mélodies francais ist m. W. auch nicht mehr greifbar) …

 

„Les Troyens“: die Beecham-Aufnahme der BBC bei Somm, hervorragend restauriert unter den Augen von Lady Beecham beim Beecham-Trust/ Somm-Beecham 26–8, 3 CDs

Glücklicherweise sind Les Troyens unter Beecham mit der hinreißenden Marisa Ferrer bei Somm in sensationeller Qualität neu erschienen, auch diese ein Meilenstein. Auf die DG-Köstlichkeiten mit Barenboim (Teile eines abgebrochenen Berlioz-Zyklus) kann man  getrost verzichten, hingegen ist die alte Damnation unter Markhevitch ein Muss. Ebenso die Westminster-Monteux-Aufnahme von Roméo et Juliette mit der wunderbaren Resnick im Alt-Solo. Die Decca hat unter ihren Juwelen Maazels Roméo et Juliette oder natürlich die bis auf den Tenor wirklich superben Troyens unter Dutoit mit der himmlischen Pollet als Didon und anderem, noch ein Doppel-Bloc unter eben Dutoit (die schöne Lieder-Zusammenstellung mit der Pollet und anderen bei DG nicht zu vergessen, die ist aber in Teilen nun bei Warner gelandet).

Und jemand sollte die amerikanischen Troyens mit Steber und Resnik offiziell herausgeben (eigentlich unter Beecham, aber er wurde just am Tage der Radioübertragung krank und sein Assistent Robert Lawrence dirigierte).  Natürlich gehören auch die Troyens Teil 2 unter Scherchen mit der hinreißenden Arda Mandikian auf den Markt, die japanische Scherchen-Tochter hatte die alten Ducretet-Thompson/ Westminster-LPs gut aufgearbeitet für Tahra ausgegraben (die bei einer ungenannten Billigfirma sind nicht zu empfehlen, da herrscht Dumpfes). Und natürlich gibt’s jede Menge Historisches von Coppola bis Dorati oder Gielen (naja) Luisi oder oder oder, was als Addenda vielleicht lohnend wäre.

„Les Troyens à Carthage“ unter Hermann Scherchen bei Ducretet/London – eine legendäre LP-Ausgabe, aber zwischen als CDs erhältlich

In jeden Fall stehen wir heute unendlich viel reicher an Berlioz-Dokumenten da als noch vor einigen Jahren. Auch an DVD-Live-Mitschnitten kürzlicher Aufführungen in London und andernorts. Und a propos Live-Mitschnitte: Davon gibt es wirklich inzwischen massenhafte, namentlich aus London unter Kubelik und Davis, aber auch in Englisch mit Janet Baker aus Edinburgh und London. Und auch die alte Scala-Aufnahme (Walhall) soll ebenso wenig vergessen werden wie die beglückende von der RAI mit einem unübertroffenen Trio Gedda, Horne und Verrett unter Prêtre (Arkadia u. a.). Sowie die Torsi mit der Crespin aus Boston (Sammlerglück).

 

Marie Delna war die Didon in der ersten (!!!) vollständigen Aufführung der „Troyens“ in Paris 1890 (!!!)/ Wiki

Daniel Hauser hat noch einmal auf die Berlioz-Gesamtausgabe bei Warner hingewiesen, die auch die Neuaufnahme der Troyens aus Strasbourg beinhaltet – diese wurde auch andernorts in operalounge.de von mir besprochen, mit unterschiedlicher Begeisterung, trotz der Hochachtung vor Dirigent John Nelson.  

Aber noch ein paar Worte zum opus summum von Berlioz, auf anderen Dokumenten, denn erstaunlicher Weise ist dieses Werk, das so aufwendig zu besetzen und erst in unserer Zeit fast Repertoire-mäßig zu hören ist, gut dokumentiert. In der Vergangenheit wurde es ja eher selten gespielt, in Frankreich fast gar nicht, in Paris erst 1890 erstmals vollständig, seitdem bruchstückhaft und barbarisch gekürzt – einzig Marseille und das Berlioz-Festival kurzjährig in Lyon -wetzen die Scharte aus. Paris eröffnete zumindest die Bastille 1990 mit den „Troyens“ (die Damen Bumbry und Verrett sowie Goerge Gray standen wieder mal für die absurden Besetzungspläne der Pariser Oper, die nun 2019 erneut „Les Troyens“ mit Russen und Amerikanern gibt. Was wieder für die Nichtachtung der Franzosen gegenüber ihren großen Komponisten spricht und mit dem Aussterben der Kenntnisse vom eigenen Repertoire und dem Verschwinden der großen Stimmen/Tenöre im eigenen Land zu tun hat. Aber wenn man eine Mezzosopranistin wie die fulminante Sylvie Brunet im Land besitzt und eine Russin (als Ersatz für die Garanca) für deren Partien verpflichtet, dann macht das doch nachdenklich.

Berlioz´Oper „Les Troyens“  Erato (0190295762209) auf 3 CDs mit einem DVD-Bonus-Hightlights-Mitschnitt; Nelson verwendet leider mal wieder das spätere Finale und lässt die Sinon-Szene im ersten Akt aus….

International hingegen sind die Troyens außerordentlich oft auf CD und Sammler-live festgehalten worden. Sogar in einer barbarisch gekürzten deutschen Version von 1961 mit Josef Traxel unter Hans Müller-Kray (Walhall) vom SWR. Und apropos deutsch:  Sogar Frida Leider sang die Dido vor dem Krieg neben Helge Rosvaenge 1930 an der Staatsoper in Berlin unter Leo Blech. Aber davon gibt es kein Dokument, nur ein Foto.

Die eigentliche und immer noch unangefochtene Studio-Einspielung ist die der Philips von 1969 unter Colin Daviserstmalig (fast) komplett und ein Meilenstein in der Werkgeschichte. Covent Garden hat in der Vergangenheit unendlich viel für Berlioz getan – zu Beginn Rafael Kubelik und dann Colin Davis sorgten unermüdlich für Aufführungen erst in Englisch und dann im Original, mit illustren Besetzungen von Veasey bis Baker, Silja, Meyer, Baltsa, Lear, Shuard und vielen, vielen mehr (um nur von den beiden weiblichen Hauptpartien zu sprechen; Dank auch an Freund Sandro für die Erinnerung an Rozhdestvensky mit Felicity Palmer als Cassandra konzertant in Lodon). Ronald Dowd, Gregory Dempsey und Jon Vickers wechselten sich als Enée ab. Die Philips-Aufnahme ist für mich klanglich immer noch beste Ware, hervorragend besetzt (einzig über Vickers mag man sich streiten).

Wichtig ist vorher noch die Rundfunkaufnahme im Original unter Thomas Beecham von 1947 (hervorragend neu restauriert unter Aufsicht von Lady Beecham beim Beecham-Trust/ Somm) – immer noch eine packende und überzeugende Aufnahme) mit der beeindruckenden Marisa Ferrer in beiden Partien (Cassandre und Didon) neben einem eher schüchternen  Jean Giraudeau, Enée vom Dienst auch auf der Ducretet-Aufnahme von Carthage unter Hermann Scherchen 1952 neben einer sensationellen Arda Mandikian, auch sie prachtvoll und so unendlich idiomatisch. Den EMI-Torso der gemeinen Kürzungen ziert nur Régine Crespin als bewegende Didon unter Georges Prêtre (die erstaunlicher Weise nicht in der Warner-Box vertreten scheint), Guy Chauvet bölkt  wie sein Landsmann Gilbert Py auf weiteren Dokumenten. Bemerkenswert und für mich neben Davis und Dutoit (Decca) auf dem Siegerpodium ist der leicht gekürzte RAI-Mitschnitt von 1969 mit einer mehr als befriedigenden All-round-Besetzung (Marilyn Horne, Nicolai Gedda, Shirley Verrett), wobei ich die Horne und Gedda als schlicht genial und unendlich beglückend empfinde. Gedda ist der gebrochene Held par excellence, hier in seiner Bestform, und das an einem Abend im Konzert (Arkadia ist da die beste Aufnahme).

Charles Dutoit machte bei Decca seine vor allem auch klanglich hervorragenden und hochidiomatischen Berlioz-Aufnahmen, Francoise Pollet als Didon nicht zu vergessen.

Der große Sprung führt dann zur Decca-Aufnahme unter einem, breite Tempi favorisierenden Charles Dutoit am Pult kanadischer Kräfte, aus denen ebenfalls unique Francoise Pollet als textwissende, cremige und erzfranzösische Didon herausragt – eine große Sängerin in einer kongenialen Partie. Kaum zu überbieten. Deborah Voigt und Gary Lakes sind nicht unrecht,die franco-kanadischen Kräfte eine Wucht. Sehr habenswert und ungekürzt (sogar den fiesen Boten im ersten Akt hat Dutoit eingebaut). Zudem klanglich absolut erste Decca-Ware. Was für ein Rausch! Und dies auch nach Hören der Nelson-Aufnahme…

Als Videos gibt es Eliot Gardiners Pariser Aufführung im TCE (mit dem auf einen Torso reduzierten 1. originalen Finale der Oper, wie es Hugh McDonald in einem weiteren Berlioz-Artikel später im Jubiläums-Jahr in operalounge.de ausführlich beschreibt und)  mit einer eher schlichten Susan Graham (mit dem Charme einer Arzthelferin) neben einer leidenschaftlichen, wenngleich verwaschen prononcierenden Antonacci und einem zu amerikanischen Kunde (opus arte 2010) sowie eine Aufführung aus Covent Garden mit erneut Antonacci und Eva-Maria Westbroek blusig-allgemein als Didon neben einem stentoralen Brian Hymel als Enée, der virile Kraft und kaum Zerrissenheit einbringt (opus arte). Vergessen will ich die Gergiev-DVD aus dem Mariinski von 2011: Lancy Ryan brüllt unerträglich, und die Damen sind doch recht …. robust (C-Major 2011). Und fast vergessen: Deborah Polaski ist die sicher auf der Bühne erfolgreichere Heldin auf dem Salzburger Mitschnitt bei Arthaus von 2002 in der vielgelobten, wenngleich gekürzten Wernicke-Produktion, die danach durch die Theater zog. Hingegen soll Plácido Domingo nicht unterschlagen werden, der bei der DG mit Jessye Norman und Tatjana Troyanos  den Enée stemmt (2002, aber die Produktion ist älter), die Kolleginnen achtungsgebietend (wenngleich auch nur im allgemeinen Opernpathos verharrend), er nicht so sehr und wie oft nur professionell im Instant-Modus. James Levine auch. Die Produktion schaut abgewetzt aus (ich erinnere mich auch an Abende an der Met mit der Pollet in der falschen Partie als Cassandre neben der bizarren Maria Ewing, die aus der Didon eine Cabaret-Nummer machte).

Live tummeln sich weiterhin fast unendlich viele Aufnahmen bei Sammlern und auf grauen CDs/LPs/MCs/Minidiscs und Open-reels. Und auch da macht unser Nachbarland keine gute Figur, denn die Troyens wurden nach dem Krieg kaum in Frankreich gegeben. Mal in Marseille, dann beim verstorbenen Berlioz-Festival in Lyon (riskante Besetzungen) und als fast rein-amerikanische Initiative am TCM in Paris. Seit dem Krieg fallen mir nicht mal eine Handvoll Produktionen in Frankreich  ein – im Gegensatz zu Deutschland.

Immer noch eine der aufregendsten Aufnahmen, die beste Ausgabe von „Les troyens“ mit Nicolai Gedda auf Arkadia, gekoppelt mit seiner „Damnation de Faust“/ inzw. vergriffen, aber doch noch auftreibbar.

Eleanor Steber und Regina Resnik sorgten für die amerikanische Erstaufführung in moderner Zeit (1960) und halten die nationale Glorie aufrecht (VA;, nach einem run in Washington unter Thomas Beecham sprang für New York sein Aisstent ein). Rafael Kubelik, der mit vielen Abenden in London dokumentiert ist, leitete auch die italienisch-sprachige Version an der Scala, wo sich Mario del Monaco, Giulietta Simionato und Nell Rankin an Berlioz abarbeiten. Aber die Übertragung ins Italienische macht daraus etwas ganz anderes, dichter an Mascagni vielleicht, zumal die Sänger mit voller Lunge eben diesen singen (Melodram u. a.).  Natürlich gibt es noch viele andere Dokumente: Christa Ludwig (Gala), die Silja, die Baltsa, Meyer (Caprice), Crespin, vor allem die ganz wunderbare und empfindsame Lorraine Hunt als Didon an der Met (wo ähnlich wie früher in London die Troyens ein festes Zuhause haben), die pastose Troyanos, Ewing, Elkins, Baker (Gala), Palmer, Thebohm, Shuard, Goerke, Elms, ganz sicher Nadine Denize mit ihrem schönen und melancholischen Ton, und viele, viele mehr neben einer knapp gehaltenen Riege an empfehlenswerteren Tenören (so Roberto Alagana in Berlin, aber nicht Heppner, Lakes, Grey und verschiedene Osteuropäer) finden sich in den Sammlungen, die ich hier nicht alle aufzählen kann. In Erinnerung bleibt für mich vor allem – weil live erlebt – die Aufführung an der Scottish Opera in Edinburg 1969, wo die Damen mit Helga Dernesch und Janet Baker besetzt waren, was für ein Rausch! Sicher habe ich bei der Aufzählung  einige vergessen. Mea culpa.

Nur die Gardiner-DVD-Aufnahme der „Troyens“ aus Paruis 2003 hat zumindest in Teilen das originale Finale der Oper von 1858.

Was also bleibt? Haben muss man die ältere Philips-Aufnahme wegen Davis, der Veasey und Vickers (egal wie man zu ihm steht) nebst Massard und vielen anderen der älteren Schule. Ganz sicher auch die Decca-Einspielung wegen des Klanges und der unglaublichen Pollet neben vielen Franco-Kanadiern. Und nun die neue von Erato? Wegen Michael Spyres als dem fast idealen Helden und wegen Nelsons erfahrener Leitung am Pult dieser bemerkenswerten Kräfte in einer wirklichen Original-Fassung. Aber ganz sicher auch die alte RAI-Aufnahme (Arkadia) wegen Gedda unvergleichlich in seiner Poesie und seinem Schmerz und wegen der Ideal-Besetzung der Cassandre mit Marilyn Horne. Das Werk ist so gewaltig und überragend, dass man nicht genug Aufnahmen haben kann. Finde ich (Foto oben: Roberto Alagna und Béatrice Uriah-Monzon sangen in den „Troyens“ 2010 an der Deutschen Oper Berlin, daraus oben ein optischer Ausschnitt/ Foto Bettina Stoeß mit freundlicher Genehmigung der DOB; dazu auch unsere Rezension in operalounge.de; Alagna ist zudem mit weiteren Berlioz-Stücken in der Warner-Berlioz-Box vertreten. Eben!)Geerd Heinsen.

Ein Bedeutender

 

Mit Kirill Kondraschin verband mich eine nachhaltige Seelen-Freundschaft, die in jenen langen Wochen seiner Deutschlandtournee mit wechselnden Rundfunkorchestern im Frühjahr 1979 begann, als ich ihn für die deutsche Agentur Wolfgang Wiesbaden im Auftrag der russischen Zentralagentur betreute. Ich hätte ihn zwar am Ende des Sommer erwürgen können, als er plötzlich im besten Deutsch zu einem Gelage einlud, während er vorher sich stets von einem der vielen russischen Orchestermitgleider dolmetschen ließ und wir beide in seinem zweifelhaften Englisch kommunizierten. Aber er öffnete sich mir und sprach viel von seinen Gründen, in den Westen, Amsterdam, flüchten zu wollen. Wobei ich ihm half. Das war eine schwere Entscheidung – zumal seine Frau Nina wieder zurück nach Moskau wollte, wegen der Kinder. Später wurden sie geschieden und Kondraschin heiratete in Holland neu. Er war ein wunderbarer Mensch und Mann, durchdrungen von Musik wie nur Russen das sind. Seine Proben zu Schostakowitsch waren ein unvergessliches Erlebnis, das sich jedes Mal neu wiederholte, wenn er vor einem anderen Orchester stand. Seine Kommunikation mit den Musikern war eine unglaublich spontane, fast ein Liebesakt. Intensiv und mir bis heute eingebrannt in die Erinnerung. Wir blieben lange jahre im Kontakt, und ich besuchte ihn in Amsterdam einige Male. Er war wie John Barbirolli einer der bedeutendsten Musiker, den ich kennen durfte.

Deshalb ist es uns ein Anliegen, die nachstehenden Kollektionen auf BR Klassik vom Beyerischen Rundfunk und  bei Hänssler Profil vorzustellen und an ihn zu denken. Daniel Hauser berichtet. G. H. 

 

Kyrill Kondraschin/ European Collections

Kirill Kondraschin war fraglos einer der bedeutendsten sowjetischen Dirigenten überhaupt. Anders als seine wichtigsten Kollegen, der anderthalb Jahrzehnte ältere Jewgeni Mrawinski und die anderthalb Jahrzehnte jüngeren Jewgeni Swetlanow und Gennadi Roschdestwenski, wagte er am Ende seines Lebens, 1978, den Sprung in den Westen. Dort arbeitete er besonders mit dem Concertgebouw-Orchester in Amsterdam, dessen Zweiter Dirigent er wurde, sowie mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, zu dessen Chefdirigenten er bereits designiert war, als er im März 1981 völlig überraschend erst 67-jährig starb. Die vom BR-Eigenlabel vorgelegten Aufnahmen (BR Klassik 9007004) entstanden ein gutes Jahr zuvor, am 7. und 8. Februar 1980, im Herkulessaal der Münchner Residenz. Es handelt sich um die Konzertouvertüre Russische Ostern von Nikolai Rimski-Korsakow sowie um die Sinfonie in d-Moll von César Franck.

Mit beiden Komponisten setzte sich Kondraschin in seinen späten Jahren verstärkt auseinander. So spielte der Rimski-Korsakows Scheherazade in einer von der Kritik gefeierten Aufnahme mit dem Concertgebouw-Orchester 1979 für Philips ein. Die Sinfonie von Franck hatte er bereits 1977 ebenfalls in Amsterdam dirigiert; der Mitschnitt wurde von Tahra veröffentlich (vergriffen). Dass der russische Dirigent ein Händchen für die Musik seiner Landsleute hat, braucht an dieser Stelle wahrlich nicht näher belegt zu werden. So nimmt es nicht wunder, dass Kondraschins farbenprächtige Wiedergabe der Oster-Ouvertüre gerade auch wegen der Klasse des BR-Symphonieorchesters zu den empfehlenswertesten gerechnet werden darf.

Der gebürtige Belgier und spätere Wahlfranzose Franck legte gewiss eine der bedeutendsten französischen Sinfonien des 19. Jahrhunderts vor. Trotz aller Bemühungen tut sich dieses etwas sperrige Werk aber noch heute schwer, sich wirklich zum Standardrepertoire rechnen zu lassen. Sie ist vor allem auch ein Spätwerk dieses Komponisten, 1888 gerade zwei Jahre vor seinem Tode vollendet. Kondraschin, der nicht eben als Experte für französische Musik berühmt wurde, legt nichtsdestotrotz eine überzeugende Lesart vor, die im großformatigen Kopfsatz zwischen der stetig auftretenden Ruhelosigkeit einerseits und der Majestät des Hauptthemas zu kontrastieren versteht. Der gar nicht so langsame Mittelsatz mit seiner vergeistigten Aura bildet eine Phase der Verinnerlichung. Beschlossen wird die Sinfonie durch ein furios dargebotenes Finale, das das Werk mit seiner per aspera ad astra-Anlage freudig ausklingen lässt. An bedeutenden Vergleichsaufnahmen besteht kein Mangel, angefangen beim exemplarischen Pierre Monteux (RCA) über Ernest Ansermet (Decca) bis hin zu Leonard Bernsteins exzentrischer Interpretation mit breitem Zeitmaß (DG). Auch von Kondraschins Landsmann Jewgeni Swetlanow ist eine Aufnahme überliefert (Weitblick). Neben all diesen kann sich die BR-Einspielung sehr gut behaupten, die Francks nicht eben sofort zugängliche Sinfonie fast kurzweilig erscheinen lässt.

Die klangliche Qualität ist glücklicherweise insgesamt auf einem ähnlich hohen Niveau wie die künstlerische, so dass eine volle Kaufempfehlung für diese in allen wesentlichen Punkten überzeugende BR-Produktion ausgesprochen werden kann. Einzig die mit gerade 52 Minuten kurze Gesamtspielzeit der CD wäre anzumerken. Daniel Hauser

 

Kirill Kondraschin in Japan 1980/ youtube

Unter den großen russischen Dirigenten des 20. Jahrhunderts hat Kirill Kondraschin (1914-1981; in dieser Edition mit „y“ geschrieben) seinen festen Platz, gilt er doch als der bedeutendste Dirigent Russlands in der Generation zwischen Jewgeni Mrawinski (1903-1988) und Jewgeni Swetlanow (1928-2002). Was ihn von diesen unterscheidet, ist gerade auch, dass er 1978 die Sowjetunion verließ und in den Westen emigrierte. In den Niederlanden fand er eine zweite Heimat, heiratete und wurde bereits im selben Jahr zweiter Dirigent des renommierten Concertgebouw-Orchesters in Amsterdam. Sein früher Tod im März 1981 infolge einer Herzattacke setzte diesem neuen Lebensabschnitt leider unerwartet rasch ein jähes Ende.

Profil Edition Günter Hänssler (PH 18046) bedenkt ihn nun mit einer 13 CDs umfassenden Kollektion, welche Aufnahmen zwischen 1937 und 1963 beinhaltet, wobei der Schwerpunkt auf den späten 1950er und frühen 60er Jahren liegt. Tatsächlich erlangte Kondraschin besonders ab 1960 internationale Berühmtheit, stand er doch ab diesem Jahre den Moskauer Philharmonikern für anderthalb Jahrzehnte als Chefdirigent vor. Dass hier die letzten, künstlerisch so ertragreichen beiden Lebensjahrzehnte des Dirigenten völlig ausgespart wurden, ist erst einmal unverständlich, wohl aber nicht zuletzt auf Lizenz-Gründe zurückzuführen. Es werden hier also der frühe und mittlere Kondraschin abgedeckt, seine späteren Jahre indes ausgeklammert.

Bei der ältesten in der Box inkludierten Aufnahme handelt es sich um die Ouvertüre zur Verkauften Braut von Smetana aus Leningrad 1937. Hier ist sogar ein Vergleich möglich, ist doch auch eine (russisch gesungene) Gesamtaufnahme dieses Werkes von 1949 aus dem Moskauer Bolschoi-Theater enthalten. Sicherlich keine besonders idiomatische Angelegenheit, doch trösten das inspirierte Dirigat und das gute Sängerensemble (darunter Elisabeta Schumilowa, Georgi Nelepp, Anatole Orfenow und Nikolai Schtschelgolkow) darüber hinweg. Der Klang ist selbst in der 1937er Einspielung durchaus erträglich, wie übrigens in der gesamten Kollektion, in der etwa die Hälfte aus Monoaufnahmen besteht.

Außer dieser einzigen Oper sind ansonsten reine Instrumentalaufnahmen enthalten: Sinfonien, Konzerte, Serenaden und sonstige Orchesterwerke. Von besonderem Interesse ist die Welturaufführung der 13. Sinfonie Babi Jar von Schostakowitsch vom 18. Dezember 1962 aus dem Großen Saal des Moskauer Konservatoriums. Es spielten die Moskauer Philharmoniker, Bassist war Witali Gromadski. Bis heute muss sich wohl jede Neuaufnahme an dieser Interpretation messen, die (am Ende aufgrund des enthusiastischen Applauses hörbar) ein gewaltiger Erfolg war und mit zum Ruhm des Dirigenten Kirill Kondraschin beitrug. Der Klang ist, zieht man das Alter und die Live-Situation in Betracht, ganz ausgezeichnetes Stereo.

Nicht weniger überzeugend fällt Kondraschins Einspielung der Sinfonie Nr. 6 Pathétique von Tschaikowski aus, die bereits 1959 im Studio entstand. Sie darf sich ebenfalls einreihen in die bedeutenden Darbietungen dieses häufig aufgenommenen Werkes. Interessanterweise hat sich Kondraschin den übrigen Tschaikowski-Sinfonien nicht in offiziellen Studioproduktionen angenommen, auch wenn – abgesehen von der Zweiten – eine jede in mindestens einem Live-Mitschnitt vorliegt. Gleichwohl spielt dieser Komponist eine bedeutende Rolle in der Box, sind doch noch das Capriccio Italien, die Streicherserenade, die Suite Nr. 3, das Klavierkonzert Nr. 1 (Solist: Emil Gilels), das Violinkonzert (Solist: David Oistrach) und die weniger im Mittelpunkt stehende Sérénade mélancolique (wiederum mit Oistrach) sowie das Pezzo capriccioso (Solist: Mstislaw Rostropowitsch) berücksichtigt. Es ist hier also die illustre Crème de la Crème der bedeutenden seinerzeitigen sowjetischen Solisten versammelt, die zum Gelingen kongenial beiträgt. Besonders Oistrach kommt noch weiters zum Zuge, so in der Suite de Concert von Tanejew, im Violinkonzert von Strawinski und in Tzigane von Ravel. Swjatoslaw Richter steht im Klavierkonzert von Rimski-Korsakow zur Seite, Leonid Kogan im Violinkonzert Nr. 1 von Schostakowitsch sowie im Violinkonzert von Weinberg, Emil Gilels in Ravels Klavierkonzert für die linke Hand und Wiktor Pikaisen schließlich im 1. Violinkonzert von Paganini. Den Solopart im 1. Cellokonzert von Schostakowitsch übernimmt wiederum Rostropowitsch. Die enorme Bandbreite des Repertoires, welches Kirill Kondraschin abdeckte, wird bereits daraus ersichtlich.

Kirill Kondraschin in Japan 1980/ youtube

Abgerundet wird dies durch weitere Orchesterwerke wie das Capriccio Espagnol von Rimski-Korsakow, die Rapsodie Espagnole sowie La valse von Ravel und die Paganiniana von Alfredo Casella. Eher randständiges Repertoire wie Weinbergs Sinfonie Nr. 4 geht Hand in Hand mit Rachmaninows Sinfonie Nr. 3 und seinen Sinfonischen Tänzen. Dass Kondraschin sich gerade auch zeitgenössischen Komponisten widmete, zeigte bereits der Fall Schostakowitsch, doch auch Paul Hindemith (Sinfonische Metamorphosen von Themen Carl Maria von Webers) und Rodion Schtschedrin (Konzert für Orchester Nr. 1 Freche Orchesterscherze) sind in dieser Kollektion zu finden.Obwohl also die letzten achtzehn Jahre des Wirkens Kondraschins hier keine Berücksichtigung finden, darf die Box insgesamt als große Bereicherung gelten, sind in ihr doch neben einigen „Blockbustern“ vor allen Dingen ansonsten weniger beachtete Werke in tadellosen Interpretationen enthalten. Die etwa die Hälfte ausmachenden Stereoproduktionen sind klanglich über jeden Zweifel erhaben, aber auch die älteren Monoaufnahmen wurden bemerkenswert überzeugend aufbereitet. Insofern steht einer uneingeschränkten Empfehlung nichts im Wege (Fotos: Screenshots aus dem Japan-Konzert 1980 auf youtube) . Daniel Hauser

Jakov Gotovacs „Ero der Schelm“

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Wieder einmal widmete sich das Münchner Rundfunkorchester einem ebenso seltenen wie verdienstvollen Operntitel in einer konzertanten Aufführung im Mai 2019. Diesmal – nach Ausflügen in die französische Opernwelt jüngst beim Palazetto Bru Zane dokumentiert und nach Bruchs Loreley (bei cpo) sowie anderen Werken – dirigiert Ivan Repusic die Komische Oper Ero der Schelm (Originaltitel kroatisch Ero s onoga svijeta) von Jakov Gotovac (* 11. Oktober 1895 in Split – † 16. Oktober 1982 in Zagreb/ Uraufführung am 2. November 1935 im Kroatischen Nationaltheater Zagreb unter der Leitung des Komponisten). Es sangen in München erwartungsgemäß kroatische Kräfte: Valentina Fijačko Kobić, Sopran (Djula), Jelena Kordić, Mezzosopran (Doma), Tomislav Mužek, Tenor (Ero) Ljubomir Puškarić, Bariton (Mlinar Sima), Ivica Čikeš, Bass (Gazda Marko), der Kroatische Rundfunkchor, als Bayerisches Kind der Knabensopran Christoph Immler und das Ganze eben unter Ivan Repušić am Pult des Münchner Rundfunkorchesters.

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Was für eine Ehrenrettung dieses nur gelegentlich im Ausland aufgeführten Komponisten, dessen heitere Oper sich ein-zweimal in deutschen Rundfunkarchiven findet (Liane Synek und andere machten sich darüber her), und der auch im heimischen Kroatien nur mit zwei älteren Einspielungen und einem TV-Film vertreten ist, wenngleich Ero an der Adria so etwas wie eine Nationaloper ist und von Split über Zagreb bis Rijeka gern gespielt wird, in buten Kostümen namentlich vor Touristen. Ich erinnere mich an Aufführungen im schönen Helmer & Fellner-Opernhaus von Zagreb,  an einen bunte, sehr folkloristisch ausgestattete Darbietung noch zu Tito-Zeiten. Mütterliche, stark gebaute Damen in teppichartigen Folklore-Bekleidungen trugen an einer wippenden Bambusstange Maiskolben über die Bühne, mehrfach. Verstanden hatten wir gar nichts, aber es war ein unvergesslicher Abend. Die Fotos jüngerer kroatischer Aufführungen deuten auf eine ungebrochene Stilistik der bunten Teppiche und prallen Dorfszenen bis heute hin.

Gotovac ist neben Ivan Zajc der große nationale Komponist Kroatiens, wie Florian Heurich im nachstehenden Artikel ausführt (den wir mit großem Dank an den Autor und das Müncher Rundfunkorchester aus deren Programmheft für die konzertante Aufführung im Mai 2019 entnommen haben). Und es ist gut und richtig, dass wir uns nicht nur dem internationalen, zu sattsam bekannten Opernkanon widmen, sondern eben auch die Musik unserer europäischen Nachbarn kennen lernen und ehren. „Mehr davon!“, ruft der begeisterte Europäer. G. H.

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„Ero s onoga svijeta“/ Szene aus der Aufführung am Kroatischen Nationaltheater Zagreb/ Foto HNK/  Mara Bratos/ Foto oben Szene aus der gleichnamigen Oper in Split/ HNS Split

Ein Wort zum Erwachen des kroatischen Bewusstseins: Das Phänomen einer nationalen Schule in der Musik ging in Kroatien einher mit einer allgemein nationalkroatischen Bewegung in Literatur, Kunst und Kultur, der sogenannten Illyrischen Bewegung. Zur Zeit der k. und k. Herrschaft wandte man sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert etwa durch Dichtung in der eigenen Sprache gegen eine Dominanz des Deutschen bzw. des Ungarischen in der Kultur, die durch das Habsburgerreich kam. 1840 wurde in Zagreb die erste Illyrische Musikgesellschaft gegründet, mit dem Ziel, die kroatische Musik auf akademischer Ebene zu fördern. Im Bereich der Oper schuf der Komponist Vatroslav Lisinski daraufhin mit Ljubav i zloba (Liebe und Arglist, 1846) das erste Musiktheaterwerk in kroatischer Sprache, eine in Split spielende Liebesintrige mit einer noch weitgehend vom italienischen Stil geprägten Musik. Als eigentliche Nationaloper schrieb schließlich Ivan Zajc 1876 mit Nikola Šubić Zrinjski ein historisches Werk über den gleichnamigen Freiheitshelden, der im 16. Jahrhundert gegen die türkischen Belagerer kämpfte − eine Oper, in der nun auch musikalisch ein nationales Idiom realisiert wurde. 1860 wurde das Kroatische Nationaltheater in Zagreb gegründet, 1870 die dazugehörende Opernkompanie, deren Leiter Zajc wurde.

„Ero der Schelm“/ Plakat für das Gastspiel der Zagreber Oper in Berlin 1943/ Klasika.hr/ Marija Barbieri

Jakov Gotovac setzte diese mit Lisinski begonnene und mit Zajc gefestigte Strömung der kroatischen Nationalmusik in der nächsten Generation fort, zu einer Zeit, als das Nationale jedoch nicht mehr als Abgrenzung von fremden kulturellen Einflüssen verstanden wurde (die k. und k. Herrschaft auf dem Balkan war mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gegangen), sondern als Identitätsmerkmal des neuen Jugoslawien. Hier wurde gerade eine Musik mit ausgeprägten Volksmusikelementen und nationalen Themen besonders gefördert und oft auch ideologisch aufgeladen im Sinne einer Einheit stiftenden Größe. Dank ihres folkloristischen Einschlags, der auf die Klangsprache des 20. Jahrhunderts trifft, haben sich indessen viele dieser Werke bis heute ihre emotionale Überzeugungskraft bewahrt und sind lohnende Entdeckungen in einem weitgehend unbekannten Repertoire.

 

Als einer der wichtigsten Komponisten des früheren Jugoslawien hat der Kroate Jakov Gotovac mit Ero der Schelm (Originaltitel kroatisch Ero s onoga svijeta) eine Oper geschaffen, die schon bei ihrer Uraufführung 1935 am Kroatischen Nationaltheater Zagreb vom Publikum begeistert aufgenommen wurde und die dann zu einer Art kroatischen Nationaloper geworden ist. Mit inzwischen über 700 Aufführungen ist Ero der Schelm immer noch im Repertoire des Zagreber Opernhauses und steht regelmäßig auf dem Spielplan. Das Sujet, eine heitere Episode aus dem ländlichen Leben in Dalmatien, die bauernschlaue Hauptfigur, ein Volkstypus dieser Region, und Gotovacs Musik voller Lokalkolorit, voller Melodien und Rhythmen des Balkans haben zur großen Popularität dieser Oper vor allem in Osteuropa, aber auch weit darüber hinaus beigetragen.

„Ero s onoga svijeta“/ Szene mit Josip Gosic und Sonja Mottl-Dula 1957 / Foto Klasika.hr/ Marija Barbieri

Jakov Gotovac wurde am 11. Oktober 1895 in Split in Dalmatien geboren. Auf Wunsch seines Vaters musste er zunächst Recht studieren, ging dann aber im Alter von fünfundzwanzig Jahren nach Wien und nahm sein Musikstudium bei dem Komponisten und Pädagogen Joseph Marx auf. Seine musikalische Karriere begann in Šibenik an der kroatischen Adriaküste, wo er in der dortigen Philharmonischen Gesellschaft tätig war. 1923 wurde er als Dirigent an die Oper von Zagreb berufen, wo er bis 1957 blieb; daneben leitete er mehrere der in Zagreb beheimateten Chorgesellschaften und Gesangsvereine. Jakov Gotovac starb im Jahr 1982 in Zagreb, sein Leben umspannt also die Zeit von der ausgehenden k. und k. Herrschaft auf dem Balkan über das Königreich Jugoslawien zwischen den beiden Weltkriegen bis hin zum sozialistischen Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg.

Gotovacs erste Werke sind Lieder und Chorkompositionen, in denen sich schon eine stark nationale Note zeigt. Diese setzt sich in seinen Orchesterstücken wie etwa einem Symphonischen Kolo fort. Der Kolo ist ein typischer Reigentanz des Balkans und zugleich einer der Rhythmen, die in Ero der Schelm eine zentrale Rolle spielen. Auch Gotovacs weitere Bühnenwerke schöpfen aus dem Volksleben und der Geschichte des Balkans und insbesondere Kroatiens, etwa seine Musik zu der Pastorale Dubravka (1928) des kroatischen Barockdichters Ivan Gundulić, seine Oper Morana (1930) nach einer bosnischen Volkslegende, die tragische Oper Kamenik (Der Steinbruch, 1946), das historische Musikdrama Mila Gojsalića (1951) über eine kroatische Volksheldin und Märtyrerin während der Türkenherrschaft auf dem Balkan, das Singspiel Đerdan (Die Halskette, 1954/1955), die Opernlegende Dalmaro (1958) und der Einakter Stanac (Ein harter Felsen, 1959).

Mit seinem Nationalstil in Musik und Inhalt traf Gotovac genau den Trend, der das Musikleben des Landes seinerzeit beherrschte. Sowohl während des Königreichs Jugoslawien als auch während der sozialistischen Republik Jugoslawien waren die Künste stark national geprägt, nicht zuletzt um eine Einheit dieses Vielvölkerstaates zu suggerieren. In seiner Kompositionsweise fügt sich Gotovac jedoch nahtlos in die Linie der nationalen Schulen ein, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts gerade die osteuropäische Musik prägten. Was in Russland mit Glinka und Borodin oder in Tschechien mit Smetana begonnen hatte und dann von Dvořák und Janáček weitergeführt wurde, setzte Gotovac sozusagen in dritter Genration in seinem eigenen Land fort. Insbesondere mit Janáček verbinden ihn einige Charakteristika in der Klangsprache, etwa wenn gerade durch den Rückgriff auf die alte Folklore ein Weg in die Moderne gewiesen wird. Allerdings werden von Gotovac die kroatischen Melodien und Rhythmen wesentlich direkter zitiert und in die Werke eingearbeitet als bei seinem tschechischen Kollegen. In Bezug auf Ero der Schelm liegt aber auch der Vergleich mit Smetanas Verkaufter Braut nahe, obschon die beiden Werke rund siebzig Jahre auseinanderliegen. In beiden Stücken geht es darum, wie im bäuerlichen Milieu ein listiger Mann durch einen Trick seine Geliebte für sich gewinnen und alle anderen überlisten kann. Sehr ähnlich sind Schauplatz, Figurenspektrum und die musikalische Milieuschilderung.

„Ero s onoga svijeta“/ Szene aus dem Film 1982/ OBA

Gerade in Gotovacs Bühnenwerken zeigt sich ein breites inhaltliches Spektrum, das von literarischen Quellen über historische Epen bis hin zu Volksdichtung, Legenden und heiteren Schwänken reicht. Dadurch bringt er Kultur, Brauchtum und Geschichte seines Landes in vielen verschiedenen Facetten und Ausformulierungen auf die Bühne. Dies spiegelt sich auch in einer großen musikalischen Bandbreite von einfachen Liedformen und Tänzen bis hin zu großen Arien, Chornummern und einem spätromantisch inspirierten Klangreichtum wider.

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In der zwischen 1926 und 1927 komponierten komischen Oper Ero der Schelm bringt Gotovac einen Volkscharakter auf die Bühne, der in vielen Erzählungen und Legenden auftaucht, Archetypus des gewitzten und freien Menschenverstandes. Der Name ist abgeleitet von Hero, der Koseform des Wortes „Hercegovac“, also Herzegowiner, da die Leute aus der Herzegowina als besonders schafsinnige und listige Menschen galten. Die der Oper zugrundeliegende Volkserzählung dreht sich um die Streiche eines Bauernburschen während der Türkenherrschaft auf dem Balkan, der insbesondere die fremden Machthaber immer wieder hinters Licht führen und sich mit List und Tücke aus jeglicher Bedrängnis herausretten konnte. Damit ist dieser Ero so etwas wie die kroatische Variante eines Till Eulenspiegel oder Nasreddin Hodscha. Gerade letzterer, diese komische Figur aus dem türkischen Kulturkreis, ist auch auf dem Balkan sehr populär, und so wird Ero zu einer Art Gegenstück zu Nasreddin Hodscha aus der kroatischen Kultur, die ursprünglich in dieser Region beheimatet war, bevor die Türken kamen.

„Ero s onoga svijeta“ angekündigt als „Ero lo sposo caduto dal cielo“ beim Gastspiel der Zagreber Oper in Rom 1941/ Foto Archivio Storico – Teatro dell’Opera di Roma

Gotovac und sein Librettist Milan Begović strichen jedoch alle türkischen Elemente aus dieser Erzählung und verlegten die Geschichte ins Hinterland von Dalmatien nahe der Grenze zur Herzegowina, wo Begović geboren wurde. Diese Gegend im Dinaragebirge galt als besonders traditionsbewusst; die kroatische Folklore hatte sich in dieser Region sehr unverfälscht erhalten und wurde noch mit Leidenschaft gepflegt. Und Ero als solcher existiert bei Gotovac und Begović gar nicht, sondern ist eigentlich Mića, der Sohn eines reichen Gutsbesitzers, der unter falschem Namen die Liebe des Dorfmädchens Đula gewinnen will und allen anderen weismacht, er komme vom Himmel und überbringe die Grüße der verstorbenen Angehörigen. Dieses Motiv eines vom Himmel Gefallenen hat Begović aus einem Fastnachtspiel von Hans Sachs, Der farent Schueler ins Paradeis, übernommen, das ihm neben den Quellen aus dem kroatischen Volksgut als literarische Vorlage diente.

Die bislang einzige CD-Aufnahme in der Originalsprache ist ein Mitschnitt vom Zagreber Theater 1962 mit Marianna Radev, Branca Oblak-Stilinovic und Josip Góstic unter Leitung des Komponisten, aber es gibt noch ein-zwei frühere LP-Aufnahmen auf Jugoton und verschiedene Rundfunkmitschnitte.

„Eine Volksoper soll klar und gesund auf Melodie und Rhythmik der Volksmusik aufbauen. Sie soll Melodie und Harmonie mit einer reichen Orchesterpalette malen und echten Volkshumor mit Lied und Tanz zu einem harmonischen Ganzen vereinen“, so formulierte Gotovac sein künstlerisches Credo, wie er es in Ero der Schelm verwirklichte. Dabei bediente er sich trotz der stark folkloristischen Anklänge, den vielfach ganz unmittelbaren rhythmischen Strukturen und der sich breit entfaltenden Melodik einer gemäßigt modernen Klangsprache, die sich vor allem in den rezitativischen Passagen und den Orchesterüberleitungen bemerkbar macht. Hier verleihen die Instrumentierung und insbesondere das gezielt eingesetzte Schlagwerk der Musik eine expressive Note. Während die Folklore in solchen Momenten eher als Kolorit zu spüren ist, zitiert sie Gotovac an anderen Stellen ganz direkt, etwa im liedhaften Chor der Dorfmädchen, mit dem die Oper beginnt und in den sich Đulas sehnsuchtsvoller Gesang mischt, in den weiteren Chorszenen, in Mićas Auftrittslied, in dem er sich als vom Himmel gefallener Ero ausgibt, oder im lyrischen Duett von Đula und Mića im I. Aufzug. Die Szene zwischen Mića und Doma, in der dieser ihr Geld abluchst (angeblich für ihren verstorbenen Mann im Himmel), hat einen betont komödiantischen Charakter, während dem Chorfinale des I. Aufzugs durch seinen stampfenden Rhythmus sogar etwas Aggressives anhaftet.

„Ero s onoga svijeta“ am Kroatisches Nationaltheater Jakov Gotovac in Osijek / Szene/ KNO

Der II. Aufzug beginnt mit einem Lied des Müllers Sima, worauf wenig später ein Lamento Đulas folgt, in dem sie in einer weit ausladenden Arie den Tod ihrer Mutter beklagt. Im Verlauf dieses Aufzugs, in dem Mića mit Sima die Kleider tauscht, imitieren ein kreisender Rhythmus im Orchester und hämmerndes Schlagwerk immer wieder das Rotieren der Mühle − ein Effekt, den zuvor Janáček in ähnlicher Weise in Jenufa angewandt hat. Auf Mićas ariose Ausbrüche folgt ein weiteres Liebesduett mit Đula.Im III. Aufzug herrscht schließlich Fest- und Tanzstimmung vor. In die Jahrmarktsatmosphäre mit ihren Volkstänzen sind immer wieder rezitativische Abschnitte und lyrische Passagen eingearbeitet, wie Đulas Szene, die in ein großes Ensemble überleitet, oder Mićas finales Triumphlied. Die Oper endet jedoch mit einer breit angelegten, fast zehnminütigen Tanzszene, einem Kolo, als Sinnbild der kroatischen Musik und Folklore. Dieser Kreistanz, der in seiner ursprünglichen Form in Kroatien, Bosnien und Serbien, aber auch in anderen Regionen des Balkans sehr populär ist, gipfelt in einem großen Chorfinale, mit dem das Paar Mića und Đula gefeiert wird.

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Der Autor: Florian Heurich ist freier Autor und Musikjournalist, schreibt und produziert Radiofeatures und Reportagen für BR-Klassik und gestaltet das Online-Format Opern.TV sowie die Audio-Podcasts der Bayerischen Staatsoper. Dabei versucht er immer seine Opernleidenschaft, seine Reiselust nach Asien und Lateinamerika und seine Arbeit unter einen Hut zu bringen/ Quelle Bayr. Staatsoper

Im Nebeneinander von eher einfachen Liedformen und größer angelegten Arien, Duetten und Ensembles mischt sich der slawische Volkston überdies mit dem Schmelz der großen Oper italienischer Provenienz. Auch dies ein Hinweis auf einen der vielen kulturellen Einflüsse auf dem Balkan, da die kroatische Adriaküste lange Zeit von der Dogenrepublik Venedig beherrscht wurde.

Vor allem aber schwingt in der Volksmusik des Balkans, wie sie Gotovac verwendet, die Musik des Orients mit. Viele hundert Jahre Osmanisches Reich auf dem Balkan haben auch musikalische Spuren hinterlassen. Auf harmonischer Seite kommt dies etwa durch die „orientalische Tonleiter“ zum Ausdruck, die durch zwei übermäßige Sekundschritte charakterisiert ist. Dadurch bekommt die Musik etwas „Exotisches“. Auch in Ero der Schelm sind solche Klänge von entscheidender Bedeutung, das Thema des Marko etwa fußt vollständig auf solchen Harmonien.

Ero der Schelm begründete den Ruhm von Jakov Gotovac in seinem Heimatland und in anderen Ländern Osteuropas. Gotovac traf damit genau den Nerv seiner Zeit im noch jungen Jugoslawien, sodass dieses Werk zu einer der populärsten Opern Kroatiens und des Balkans wurde und mit seinem besonderen Kolorit und seiner originellen, über den reinen Folklorismus hinausgehenden Musik auch das internationale Publikum begeisterte. Florian Heurich

 

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Dank an den Autor Florian Heurich und Doris Sennefelder für die Genehmigung zu Übernahme des Artikels aus dem Programmheft des Münchner Rundfunkorchesters zur konzertanten Aufführung am 19. Mai 2019.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.