Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Zum zweiten Mal auf CD

 

Vieles an Rossinis Eduardo e Cristina ist ungewöhnlich. Schon der Ort, das Königliche Schloss in Stockholm, will so gar nicht in die Reihe von Rossinis sonstigen Opernschauplätzen passen. Vielleicht versetzten die Librettisten Andrea Leone Tottola, der kurz zuvor für Ermione verantwortlich war, und Gherardo Bevilacqua-Aldobrandini die Story (nach Giovanni Schmidt Odoardo e Cristina) auch an einen Ort, der Rossini als das nördliche Ende der  Welt vorkommen musste, um zu verschleiern, dass die im April 1819 am Teatro San Benedetto in Venedig uraufgeführte zweiaktige Seria aus bestehendem Material zusammengeflickt war: aus Adelaide di Borgogna (Rom 1817), Ricciardo e Zoraide (Neapel 1818) und der kurz zuvor erfolglos uraufgeführten Ermione (Neapel 1819)Dazu ein paar rasch geschriebene Nummern und Rezitative, alles passend, um der Tochter des Impresarios ein glänzendes Debüt zu bereiten. Auch das Libretto war im Grunde solch ein Fleckerlteppich: das heimlich verheiratete Ehepaar Cristina und Eduardo, sie die Tochter des Königs, er General der schwedischen Armee, entstammt dem Typ des bürgerlichen Trauerspiels, der heroische Teil der Geschichte, Eduardos erfolgreicher Kampf gegen die Russen, der den schwedischen König Carlo dazu bewegt, dem Paar zu vergeben, entspricht der Tradition der Heldenoper à la Tancredi; auch in Eduardo und Cristina sind der Krieger Eduardo mit einem Kontraalt, der Vater mit einem Tenor besetzt.

Vorläufer war diese: „Eduardo e Cristina“, ebenfalls aus Wildbad 1997, bei Bongiovanni

Zwei Jahrzehnte feierte das Publikum Eduardo e Cristina. Dann wurde Eduardo e Cristina zu  „Rossinis forgotten opera“. Charles Jenigan, der im Beiheft zur Neuaufnahme auf die Praxis des Pasticcios eingeht – er verwendet weitgehend den Begriff centone – bemerkt richtig, Eduardo e Cristina „is perhaps the last centone by a major composer, written just before Romanticism made a work like it impossible“Eduardo e Cristina sei die letzte der Opern Rossinis, die in neuerer Zeit wieder auf die Bühne gelangte (1997 Bad Wildbad) und selbst das Rossini Opera Festival in Pesaro hat bislang einen Bogen darum gemacht. „Rossini in Wildbad“ stellt das heldische Pasticcio im Juli 2017 neuerlich konzertant vor; der Mitschnitt von 1997 unter Francesco Corti erschien bei Bongiovanni.

Mit der Neuaufnahme aus der Trinkhalle in Bad Wildbad fügt Naxos (2 CDs 8.660466-67) seinem Rossini-Katalog einen weiteren Baustein zu. Gianluigi Gelmetti leitet eine einerseits breit würdevolle, dennoch sehr vitale Aufführung, formt das „Best of“ geradezu lustvoll aus und treibt Chor, Orchester (die Virtuosi Bruenensis und den Camerata Bach Chor aus Posen) und Solisten zu einer spannend und dichten Aufführung an. Unkundige werden zunächst mit dem anfangs dünn wirkenden Klang des Orchesters, der vom Chor holzschnittartig intonierten Introduzione und der nicht ausgewogenen Balance fremdeln. Doch rasch packt Gelmettis Elan. Die gesanglichen Leistungen sind befriedigend. Man ist immer wieder überrascht, wie kompetent die Wildbader Primadonna Silvia Dalla Benetta sich die entlegensten Partien aneignet und ihnen ein Gesicht verlieht. Ihr Ton ist streng, ein bisschen fordernd, das Timbre keinesfalls verführerisch, sie singt aber stil- und gestaltungssicher, vor allem dramatisch. Als schwedischer General muss sich Laura Polverelli kräftig ins Zeug legen, ihr Eduardo wirkt wie Cristinas kleiner Bruder, wobei sie auf der CD vorteilhafter als live klingt. Immer geschmackvoll und mit schönem Timbre singt Kenneth Tarver den König Carlo, währen Baurzhan Anderzhanov leer ausgeht und als schottischer Prinz Giacomo weder die Hand der Prinzessin noch eine Arie bekam. Es gibt keine bessere Alternative!  Rolf Fath

Banales Märchenspiel

 

Der erste Entwurf des Bayreuther Lohengrin 2018 von Neo Rauch und Rosa Loy habe ihm Brabant als ein untergegangenes Land gezeigt, erzählt Yuval Sharon, „ohne Elektrizität, ein Land, das die Energie verloren und das Verlorene zum Göttlichen überhöht hat“. Entsprechend dunkel ist, es als der Heerrufer die Grafen, Edle und Freie von Brabant unter der Gerichtseiche zusammenruft, wo der König Heinrich mit hängenden Insektenflügeln auf einem Isolator kauert. Blaugrauer und schilfig dunkler als im Festspielhaus muten die Szenen auf den beiden DVDs der vorjährigen Bayreuther Aufführungen an (2 DVD DG 004400735616), wie ein alter Film, aus dem man bestimmte Farben herausgefiltert hat, ein Gemälde aus alten Zeiten, aus dem die Figuren in ihren historischem Wämsern, Radkragen und Kniebundhosen aus dem Transformatorenhäuschen in den Lichtkreis treten. Rauchs Kulissen und Sharons übersichtliche Arrangements setzen bewusst auf die Anmutung ausgestanzter Märchenbilder und niedlicher Szenen zwischen Bilderbuch und „Toteninsel“, van Dyck und böser Königin. Würden die Mannen keine Bärte tragen, könnte man sie ohne weiteres für die sieben Zwerge und ihre possierlichen Freunde halten. Dass diese Scharade nicht ins Banale und Lächerliche oder unfreiwillig Komische abrutscht, davor bewahrt sie Christian Thielemann, der die Musik so aufrichtig, ernsthaft und anrührend mit der Aura des Märchenhaften und Übersinnlichen entfaltet. Die Bildregie rückt den Betrachter nah ans Geschehen heran, meidet die Totale weitgehend oder unterstreicht beim Blick von schräg unten oder oben den Charakter des Figurentheaters oder märchenhaft Entrückten, wodurch sich der Eindruck von der Live-Aufführung etwas korrigiert, wirkt bei den Lichtblitzen, die das Papphäuschen beim Erscheinen des Superelektrikers Lohengrin durchzucken und der Luftnummer beim Zweikampf Lohengrins mit Telramund aber auch ein bisschen wie Augsburger Puppenkiste. Dadurch gerät die stets präsente und immer böse um die Ecke guckende Waltraud Meier ins Hintertreffen. Inmitten dieser flämischen und puppenspielhaften Veduten wirkt Lohengrin in seinem Piloten- oder Elektrikeroverall tatsächlich wie der Ritter aus einer fremden Welt. Piotr Beczala singt diesen zupackenden Handwerker mit der Zuversicht eines Sängers, der keine Uniform scheut und nie lächerlich wirkt, mit aufrichtigem Ton, der ganz zart und lyrisch bleibt, aber über ausreichend Durchsetzungsvermögen verfügt, um die Gesangsbögen zu formen und sie mit Nachdruck und Bedeutung zu unterlegen. Beczala spielt den Schwanenritter mit einer ätherischen Entrücktheit und Unschuld, zu schön, um wahr zu sein. Alle klingen, scheint mir, vorteilhafter als in der von mir im Vorjahr besuchten Aufführung. Auch Anja Harteros singt mit konzentrierterem Ton, wenngleich ohne den Dornröschenglanz, ist in „Euch Lüften“ vom einigem reifem Liebreiz, doch letztlich keine ideale Elsa. Mustergültig Georg Zeppenfeld als Heinrich mit schlankem, schön zentriertem und auf Linie bedachtem Bass, der auf den DVD nicht so leicht und hell wie im Haus klingt, voll dunkler Würde in seinem Gebet. Seinem Heerrufer, einen eifernden politischen Steifbügelhalter, gibt Egils Silins wütende Attacke und ironische Zwischentöne, Tomas Konieczny dem Telramund berstende Wucht. Szenisch ist seine Begegnung mit der wilden Seherin auf der DVD womöglich noch uninteressanter als live. Auch wenn Waltraud Meier als kluge, weniger intrigante als raffinierte Ortrud – Sharon bezeichnet sie als „Überlebenskünstlerin“, die „beabsichtigt, Elsa vor der giftigen Gesellschaft zu retten, um sie in eine Freidenkende zu verwandeln“ –  nach dreißig Jahren in ihrem letzten Bayreuther Festspielsommer mit sorgfältiger Diktion und stimmgestalterischer Autorität die Summe ihre Erfahrung zieht und in den „Entweihten Göttern“ geschickt ihre Grenzen ausreizt.

Auf DVD habe ich dieses drollig unvollkommene, platt papierene Märchenspiel von der Emanzipation der Elsa, die anfangs demütig zu ihrem Retter aufblickt, sich im orangefarbenen Schlafgemach und schließlich im ebenso schrill orangefarbenen Kleid als Ausreißerin erweist, ihr Ränzel packt und mit dem grünen Männchen davon geht – Sharon ist alles andere als ein Meister der Personenführung –  eher genossen als im Festspielhaus Rolf Fath

Olè

 

Die spanische Sopranistin Nuria Rial macht bei ihrer Stammfirma deutsche harmonia mundi/Sony immer wieder mit ausgefallenen Programmen auf sich aufmerksam. Jetzt hat sie unter dem Titel Muera Cupido spanische Bühnenmusik um 1700 herausgebracht, die 2018 in Sevilla aufgenommen wurde (19075868472). Die Auswahl umfasst Kompositionen von Francisco Guerau, Sebastián Durón, Giovanni Bononcini und José de Nebra. Letzterer dürfte der bekannteste Tonschöpfer der Anthlogie sein, nicht selten wurde er gar als der beste spanische Komponist des 18. Jahrhunderts betrachtet. Er schrieb Zarzuelas und Opern, verband darin Elemente des italienischen Stils mit volkstümlichen spanischen Rhythmen, wie Fandango und Seguidilla, was ihn zum prominentesten Vertreter der Madrider Bühnenmusik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte. Aus der Zarzuela Viento es la dicha de Amor stammt die Arie „Selva Florida“. Die Sopranistin stattet dieses Liebeslied mit zärtlich-weichen Tönen und fein getupften staccati aus. Aus einer weiteren Zarzuela, Vendado es amor, no es ciego, erklingt der rhythmisch reizvolle Fandango „Tempestad grande, amigo“, in welchem die Sängerin mit südländischem Temperament für sich einnimmt. Die Arie „Adiós, prenda de mi amor“ aus der Oper Amor aumenta el valo beschließt die Sammlung  eher nachdenklich.

Begonnen hatte sie mit einem Instrumentalstück von Guerau, einer Pavane, arrangiert vom Dirigenten der Aufnahme, wie später auch die Xácara desselben Komponisten. Die ersten Vokalbeiträge stammen von Durón aus dessen Zarzuelas El imposible mayor en amor le vence Amor und Las nuevas armas de Amor. Die Aria „Yo  hermosísima Ninfa“  aus ersterer Komposition stellt den Sopran mit kristallklarem wie lieblichem Ton ins beste Licht. Auch die Arietta ytaliana „Quantos teméis al rigor“ aus der zweiten entzückt mit reizenden Klängen von kokettem Ausdruck. Später hört man mit „Sosieguen, descansen“ noch ein kapriziöses Solo humano aus seiner Zarzuela Salir el Amor del Mundo. Bononcinis Kantate „Pastorella che tra le selve“ gehört zum Bestand der Spanischen Nationalbibliothek. Deren heiter-pastoralen Charakter kann die Sopranistin mit munterem Gesang bestens vermitteln. In einer anonymen Komposition, der Cantada „All’assalto de pensieri“, ist vor allem Virtuosität gefragt, welcher die Interpretin mühelos gerecht wird. Von der Accademia del Piacere unter Leitung von Fahmi Alqhai wird sie inspirierend und sehr Affekt betont begleitet. Bernd Hoppe

Berlioz: „Les Troyens“ (Version 1858)

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Das Berlioz-Jahr 2019 bringt nicht nur einige Neuaufnahmen und mehr oder weniger zusammengefasste Gesamtausgaben der bisher aufgenommenen Werke (so bei Warner mit ihren Ex-EMI-Einspielungen,  einigem anderen aus ihren eigenen Beständen sowie die neuen Troyens aus Strassburg), sonder hält uns dazu an – mehr noch als sonst vielleicht – einen näheren Blick auf sein Ouevre zu werfen, namentlich auf sein opus summum, Les Troyens, die zuletzt in Paris, Wien und Dresden wiederbelebt wurden. Die Dokumentation der Strassburger Aufführungen von 2018 in der Warner-.Ausgabe unter John Nelson ist bislang (März 2019) die jüngste CD-Aufnahme und nimmt für sich in Anspruch, die vollständige zu sein (was angesichts der barbarisch gestrichenen Serie an der Pariser Bastille 2019 den Berlioz-Fan wieder ins Gleichgewicht bringt).

Hector Berlioz/ Photographie von Nadar/ Wiki

Aber gemach, gemach – ein Kommentar zur neuen Warner-Version bei Amazon brachte uns (i. e. unseren Leser Eberhard Mattes) auf die Spur des wenig Bekannten: The promotional “Editorial Reviews” blurb is incorrect, describing this recording of  LES TROYENS as being “absolutely complete” and “uncut.” It is not. At the end of his  note on page 33 of the libretto booklet, conductor John Nelson writes that he dropped  a scene in Act One and chose the “compressed ending of Act Five over the lengthy and  superfluous Epilogue that Berlioz originally conceived”.

Und da fing die Suche an. So vollständig wie erklärt ist der Mittschnitt unter John Nelson also auch wieder nicht. Zum einen gibt er im Vorwort zu, die noch bei Charles Dutoit in seiner mehr als konkurrenzfähigen Decca-Ausgabe enthaltene Szene des trojanischen Spions Sinon im ersten Akt gestrichen zu haben, und er verwendet vor allem  das nachkomponierte zweite kurze Finale der Oper ohne Apotheose und Nebenfiguren, das das Werk  zwar moderner, konziser enden lässt, aber es auch aus einem bestimmten gluckianischen und zeitverhafteten Kontext herausnimmt. Eben dieses Kennenlernen des Unbekannten wäre ja  in einem Konzert wie in Strassburg möglich gewesen, schon weil fast alle anderen Dokumente eben das zuerst intendierte Finale von 1858 nicht bieten („fast“ heisst, dass sich rudimentäre Reste eben dieses ersten Finales auf der Chatelet-DVD-Aufnahmne von John Gardiner von 2004/Erscheinungsdatum bei opus arte finden, zwar eben stark verstümmelt, aber doch mit erweitertem Chor und evozierender Bühnenmusik). Im Grunde sind dies zwei ganz unterschiedliche Welten, die sich bei Berlioz auftun, der selber diese epische Ausuferung erkannte,  sein Finale bearbeitete und auf die heute übliche Fassung kürzte. In einem assoziativen Quergedanken erinnert mich die nachstehende Beschreibung der szenischen Ereignisse während der letzten Momente der Troyens, wie sie Berlioz im Detail darlegt, an Richard Wagners Vorgaben für seinen  Venusberg im Tannhäuser(„C´est la reine d´amour“…)

Berlioz: „Les Troyens“ am Nationaltheater Mannheim 2003/ Szene/ Foto Jörg Michel/ in der Inszenierung von Sebastian Baumgarten und unter der Leitung von Axel Kober sangen in den Hauptrollen Susan Maclean, Kathleen Broderick, Michail Agafonov, Thomas Berau, Tomasz Konieczny, Ceri Williams und andere

Meines Wissens ist bis heute die hochdiskutierte Aufführung der Troyens 2003 in Mannheim die einzige, die den langen, ersten Schluss und die Sinon-Szene bot; und zu dieser Produktion schrieb der Berlioz-Fachmann Hugh McDonald im Programmheft für das Staatstheater Mannheim einen Beitrag über das erste Finale der Oper, den wir mit sehr liebenswürdiger Genehmigung des Autors und des Staatstheaters hier wiedergeben. Wir danken beiden und sind stolz, eine Korrektur/ Bereicherung zur Wahrnehmung der wunderbaren Trojaner von Hector Berlioz in seinem Jubiläumsjahr 2019 bieten zu können. G. H.

Hugh McDonald schreibt: Hector Berlioz begann im April 1856 mit der Arbeit an der Oper Les Troyens und vollendete das Werk zwei Jahre später, im April 1858. Natürlich hatte er sich bereits lange vor dieser Zeit gedanklich mit dem Sujet beschäftigt und überarbeitete seine Komposition auch später noch. Die grundlegende Arbeit war jedoch nach diesen 24 Monaten abgeschlossen, in denen er sehr konzentriert arbeitete, nur sehr sporadisch Konzerte dirigierte und so wenige Zeitungsartikel wie möglich schrieb.

Die erste Beschäftigung mit dem Sujet geht bis in Berlioz‘ Kindertage zurück, als sein Vater ihm die Leidenschaft für den römischen Dichter Vergil vermittelte. Louis Berlioz lehrte seinen Sohn Latein und ließ ihn viele Passagen Vergils auswendig lernen. Die Szene aus Berlioz‘ Memoiren, in der er berichtet, wie ihn die Geschichte von Didos Schmerz und Tod zu Tränen rührte, ist hinreichend bekannt.

Berlioz: „Les Troyens“/ Finale der Oper 1863 an der Oéra-Comique in der Zeitschriften-Illustration von Tinayre nach den Bühnenbildern von Gérardin/ BNF Galllica

Nach der Fertigstellung des Tedeum von 1849 hatte Berlioz das Komponieren fast ganz aufgegeben, entmutigt von dem geringen Interesse,das das Pariser Publikum seiner Musik entgegenbrachte, und von der Schwierigkeit, auch nur eines seiner größeren Werke zur Aufführung zu bringen. 1850 schrieb er zwar noch La fuite en Egypte, dabei handelte es sich jedoch um ein überschaubares Werk, das zudem nicht als Teil einer größeren Arbeit gedacht war. Drei Jahre lang komponierte Berlioz also praktisch gar nicht, eine interessante Parallele zu Richard Wagners gleichzeitigem kompositorischen Rückzug. 1853 trat eine Wende ein – ebenso wie bei Wagner -, als Berlioz auf Drängen seiner Freunde in Leipzig beschloss, La fuite en Egypte zu einem größeren Werk zu erweitern, woraus schließlich eine Trilogie, das Oratorium L‚enfance du Christ werden sollte.

Der unerwartete Erfolg dieses Werks bei der Pariser Uraufführung im Dezember 1854 ließ in Berlioz erneut den Wunsch aufkeimen, eine große Oper nach Vergil zu schreiben. Einen Wunsch, den er bisher ganz bewusst unterdrückt hatte – aus Angst vor der unglaublichen Anstrengung, den Kosten und der Frustration, die damit verbunden sein würden. Als er im Februar 1855 Weimar besuchte, vertraute er der Fürstin Carolyne Sayn­ Wittgenstein, der Lebensgefährtin Franz Liszts, seine Gedanken über eine große Oper an. Sie antwortete ihm ohne Umschweife, dass er dieses Werk einfach komponieren müsse; das sei er sich und seiner lebenslangen Leidenschaft für Vergil schuldig.

Ein Jahr lang zögerte Berlioz und versuchte, dem inneren Drang zu widerstehen, wieder als Komponist tätig zu werden. Aber während seines zweiten Besuchs in Weimar im Februar 1856 ließ er sich von der Prinzessin überzeugen: Er kehrte nach Paris zurück und begann bald darauf mit der Arbeit an seiner Oper.

Berlioz: „Les Troyens“ Stéphane Fafarge und Nina Bonnefoy als Enée und Ascanio in Paris 1892/ Foto Nadar/ BNF Gallica

Die letzte Seite des Autographs von Les Troyens ist auf den 12. April 1858 datiert und mit einem Zitat von Vergil versehen: .,Quidquid erit, su­ peranda omnis fortuna ferendo est“ (,,Was immer auch sein wird, jedwedes Geschick gilt es dadurch zu überwinden, dass man es erträgt“). Diese Zeile spiegelt Berlioz‘ bittere Befürchtung, dass die Schwierigkeiten, die mit einer Aufführung seiner Oper verbunden wären, ihm nichts als Enttäuschung und Ärger bringen würden, was sich in der Realität auch tatsächlich bewahrheiten sollte. Berlioz starb 1869, ohne sein Werk jemals vollständig auf der Bühne erlebt zu haben. Zu seinen Lebzeiten sah er nur die letzten drei Akte seines Werkes, die 1863 unter dem Titel Les Troyens  á  Carthage mit erheblichen Strichen uraufgeführt wurden, nicht in der großen Pariser Opera, für die das Werk eigentlich konzipiert worden war, sondern nur im bescheideneren Pariser Theätre-Lyrique.

Zu den wichtigsten Änderungen, die Berlioz nach 1858 vornahm, zählen die Streichung der Sinon-Szene und die Komposition eines neuen Finales für den letzten Akt. Die Sinon-Szene führte im ersten Akt die Person des Sinon ein, einen griechischen Spion. Er überzeugt die Trojaner davon, dass das hölzerne Pferd ein Geschenk für Pallas Athene sei und daher in die Stadt gebracht werden sollte. Diese Szene wurde in zahlreichen Aufführungen der letzten Jahre wieder aufgenommen (und findet sich auch in der Aufnahme bei Decca unter Charles Dutoit, hingegen nicht in der neuen Warner-Einspielung unter Nelson/ G. H.).

Das ursprüngliche Finale hingegen wurde bisher noch nie vollständig aufgeführt (und eben 2003 dann in Mannheim/ G. H.). Seine Betonung des Visionären und Epischen entspricht Berlioz‘ Leidenschaft für Vergil und der Vorstellung des Schicksalsgedankens, der eine Linie von den Trojanern zu den Römern zieht. Mit seiner großen Versdichtung Aeneis beabsichtigte Vergil, das Rom des Kaisers Augustus als wahren Erben einer großen Dynastie zu zeigen, die bis in das antike Troja zurückreicht. Er weitete Homers Erzählung vom Trojanischen Krieg aus, um die Geschichte von Aeneas‘ Reisen weiter auszuführen, die schicksalhafte Begegnung mit Dido in Karthago einzuflechten und die Macht des Schicksals zu verdeutlichen, die Aeneas nach Italien treibt, wo er dazu bestimmt war, die Stadt und das Kaiserreich Rom zu gründen. Er wusste, dass Didos Geschichte ein Anachronismus war, da ihr Reich bekanntermaßen erst Jahrhunderte nach dem Fall Trojas erblühte, aber die dramatische Kraft dieser Erzählung sowie ihre ausdrucksstarke poetische Phantasie verliehen der Aeneis eine Faszination, der Berlioz wie Tausende anderer Leser mit leidenschaftlicher Begeisterung erlagen.

Berlioz: „Les Troyens“/ Plakat für die Aufführungen in Paris 1892 mit Marie Delna/ Wikipedia

Zu einem frühen Zeitpunkt der Komposition dachte Berlioz daran, die sterbende Dido eine Bemerkung zur französischen Herrschaft in Nordafrika aussprechen zu lassen, eine Bemerkung, die Kaiser Napoleon III. geschmeichelt haben könnte. Die ,,Anspielung der sterbenden Dido auf die spätere Herrschaft Frankreichs in Afrika“ schien ihm aber später doch, wie er schrieb „nichts als kindlicher Chauvinismus“ zu sein. Es wäre viel „würdiger und größer(…), bei der Idee zu bleiben, die Vergil selbst andeutet. Da­ her lasse ich die Königin, was mir überdies viel logischer erscheint, folgen­ de Worte sprechen.“ {An Carolyne Sayn-Wittgenstein , 25. Dezember 1856) Dann zitiert er aus seiner neuen Fassung, in der Hannibals Name genannt wird. Didos Beschwörung Hannibals, den verletzten Stolz der Karthager sowie ihren Selbstmord zu rächen, bildeten vermutlich den allerersten Entwurf des Finales der Troyens.

Doch zwei Jahre später schrieb er an Hans von Bülow: ,,Ich habe jetzt dem Drama einen Abschluss gegeben, der grandioser und folgerichtiger ist als der, mit dem ich mich bisher begnügt hatte. Der Zuschauer wird den glücklichen Ausgang des von Aeneas begonnenen Unternehmens erfahren. Clio ruft in der letzten Szene , während in der Feme das Kapitol von Rom im Strahlenkranze am Horizonte erscheint: ,Fuit Troja! Stat Roma!“‚ (20. Januar 1858)

Diese letzte Szene entwickelt sich wie folgt: Dido beschwört den Namen Hannibals, bevor sie sich ersticht. Als sie sterbend in den Armen ihrer Schwester Anna liegt, beginnt ein Regenbogen über dem Scheiterhaufen sichtbar zu werden und ein siebenfarbiges Strahlenspektrum fällt auf ihren Körper. Die Göttin Iris erscheint am Himmel, schwebt über den Scheiterhaufen und streut Mohnblumen über die sterbende Königin, während Plutos Hohepriester verkündet, dass die Götter Mitleid haben und Iris aussandten, um Didos Leid zu beenden. Der Regenbogen verschwindet mit der Göttin, das Farbspektrum bleibt. Dann tritt der Hohepriester hervor und stimmt einen Totengesang an, der von den Karthagern wiederholt wird: ,,Ame souffrante exhale-toi / Au nom des dieux de ton corps delivree.“ (,,Leidende Seele, steig hinauf / Befreit vom Leibe im Namen der Götter.“) Das Farbspektrum verschwindet. Dido stirbt. Die karthagische Flagge wird über ihren Körper gelegt. Alle erheben sich, schreiten vorwärts und stoßen mit erhobenen Armen einen Fluch auf das Geschlecht des Aeneas aus (Allegro con fuoco, D-Dur).

Berlioz: „Les Troyens“/ Bühnenbild von Chaperon zum vierten Akt für Paris 1863/ BNF Galica

Dieser Szene folgt ein längerer Epilog. Ein Vorhang fällt, der die „Zeit“ darstellt, gefolgt von einer Prozession der „Stunden“, von denen zwölf in weiße und rosafarbene Tuniken sowie zwölf in schwarze Tuniken mit Sternen gekleidet sind. ,,Man hört ein geheimnisvolles Raunen des Orchesters, durchbrochen von majestätischen Klänge .“ Dieses geheimnisvolle Raunen besteht aus einer Folge von fünf Takten, die vier Mal wiederhol t werden. Sie bewegt sich schrittweise von B über C, D und E nach Fis und mit einem Bogen zurück nach B. Die „Jahrhunderte“ sind symbolisch vorbeigezogen und der Vorhang hebt sich nun zum Ruhm des römischen Kaiserreiches. Das Kapitol zeigt sich in seinem Glanz. Auf der einen Seite ist Clio zu sehen, die Muse der Geschichte, mit Fama, der Allegorie des Ruhmes. Der trojanische Marsch ist zu hören, nun transformiert in einen römischen Marsch, und eine Prozession passiert das Kapitol: zunächst ein Krieger in einer strahlende n Rüstung an der Spitze der römischen Legionen. Clio ruft aus ,,Scipioni africano gloria!“ An zweiter Stelle erscheint ein weiterer, mit Lorbeeren bekrönter Krieger, eben falls gefolgt von Legionen: ,Julio Caesari gloria!“ Als drittes tritt ein Herrscher mit einem Gefolge von Poeten und Künstlern auf: ,,lmperatori Augusto et divo Virgilio gloria! Gloria! Fuit Troja… Stat Roma!“, beantwortet von einem entfernten Echo „Stat Roma!“ Die letzten Klänge des trojanischen bzw. römischen Marsches hallen nach.

Dieses großartige, idealistische Plateau rückt den Blick des Zuschauers von der Geschichte Didos und Aeneas‘ etwas ab und bezieht die gesamte Geschichte der Antike mit ein. Keine Oper hat jemals einen derartig weit gefassten Blick gewagt (obwohl La mort d’Adam von Berlioz‘ Lehrer Jean ­Franois Le Sueur gleichermaßen apokalyptisch war). Die Erhabenheit dieses Schlusses ist dem Poeten, dem diese Oper gewidmet ist, zweifellos würdig: ,,Diva Virgilio“, dem „göttlichen Vergil“.

Berlioz: „Les Troyens – die Garcia Tochter und Lehrerin/Schülerin Pauline Viardot inspirierte Berlioz zu Änderungen und war sein Orphée in der von ihm eingerichteten Fassung/OBA

Dieses Finale blieb nahezu zwei Jahre unberührt. Im Winter 1859/ 60 arbeitete Berlioz eng mit Pauline Viardot, die mit ihm befreundete Sängerin, an einer Wiederbelebung von Willibald Glucks Oper Orphee am Theätre-Lyrique Paris und zeigte ihr im Zuge dessen auch die Partitur von Les Troyens mit der Bitte um eine kritische Stellungnahme. Am 25. Januar 1860 schrieb er der Freundin: „Gestern habe ich hart gearbeitet. Ich musste mit Feuer und Kriegsbeil das Finale angehen, das dich so kalt gelassen hat. Ich denke, dass es jetzt sehr gut ist. Wie muss ich dir danken, dass Du mich auf so viele schwere Fehler aufmerksam gemacht hast!“

Der neue Schluss, den Berlioz nun als definitiv ansah, als er im folgenden Jahr die Partitur drucken ließ, versucht Anfang und Ende des originalen Schlusses miteinander zu verschmelzen und in einem einzigen kurzen Satz zu bündeln. Sicherlich hat er gespürt, dass die frühere Version zu lang war. Indem er jedoch das Finale derartig verkürzt hatte, verwässerte er die Klarheit seiner Aussage und opferte damit auch die vollständige Erhabenheit seiner epischen Vision.

In der neuen Fassung treten weder Iris, noch Clio, Scipio oder Caesar auf. Ebenso entfernte Berlioz den Gesang des Hohepriesters im Epilog. Wenn Dido stirbt, hat sie, trotz ihrer gerade verklungenen Anrufung Hannibals, eine Vision von Roms ewigem Ruhm. Das römische Kapitol erscheint, mit den Legionen und einem „Imperator“ mit seinem Gefolge von Poeten und Künstlern, die zu den Klängen des Marsches vorüberziehen. Zur gleichen Zeit stößt das karthagische Volk  einen Fluch aus, den Schrei des Ersten Punischen Krieges, der in seiner Wut einen Kontrast zur Feierlichkeit des Triumphmarsches bildet.“

Die Problematik der letztgültigen Fassung liegt darin, dass Berlioz versuchte, zwei unterschiedliche, dramatische Bilder in einem darzustellen, was allerdings nicht zu stören schien. Für einen Augenblick wird mit einem großen Bühnenspektakel der Triumph des römischen Imperiums sowie ein Abbild Roms heraufbeschworen. Während der Marsch als eine musikalische Darstellung der Wandlung von Trojanern in Römer gehört werden kann, repräsentiert der Chor immer noch die Karthager und ihren Fluch „Haine eternel/e a la race d’Enee“, der gegen die Marschmelodie gesungen wird, als ob der Sieg verleugnet werden sollte. Um dies musikalisch zu erreichen, setzt der Chor auf einem As im Fortissimo gegen das vorherrschende B-Dur des Marsches ein. Die sich daraus ergebende Dissonanz reicht jedoch nicht aus, die bittere Botschaft des ewigen Hasses der Karthager auf Rom wiederzugeben.

Die ursprüngliche Fassung der Oper mit dem Finale von 1858 ist zwar etwas länger als die spätere Version.  Allerdings findet sie dadurch auch eine entsprechende Form, um Vielfalt und Größe der Antike zu vermitteln. Das erste Finale zieht Götter und Göttinnen hinzu, die eine große Rolle im Schicksal der Menschen gespielt haben, und eröffnet einen Einblick in das Epos – im Sinne eines Vergil oder sogar Homer. Zweifellos versinnbildlichen die Schlussworte der Oper in der originalen Version, ,,Fuit Troja, stat Roma! „, diese Vision stärker als der hasserfüllte Ausruf der Karthager, der keinen wirklichen Widerspruch zum römischen Marsch eröffnet.

Berlioz: „Les Troyens – Stéphane Lafarge sang den Enée in Paris 1892/ Foto Nadar/ OBA

Dazu als Einschub die Regieanweisungen des Finales von 1858Über den Scheiterhaufen spannt sich ein Regenbogen, und auf Didos Leichnam fällt ein in sieben Grundfarben zerlegte Sonnenstrahl. ris erscheint in der Luft, schwebt über den Scheiterhaufen hinweg und streut Mohnblumen über die sterbende Königin. Alle werfen sich vor Iris‘ göttlicher Erscheinung nieder. Der Strahl verschwindet. Dido stirbt. Anna fällt neben ihr ohnmächtig zu Boden. Die karthagische Fahne wird auf dem Scheiterhaufen aufgepflanzt, so dass ihre Falten Didos Leichnam bedecken. Männer des Volkes gruppieren sich um den Scheiterhaufen und auf ihm. Der gesamte Chor geht zwei Schritte in Richtung Vorderbühne und streckt dabei den rechten Arm aus. Ein Vorderbühnenprospekt geht herunter, der die Zeit mit dem Gefolge der Stunde darstellt. Zwölf tragen Gewänder in Weiß und Rosa und zwölf tragen schwarze Gewänder mit goldenen Sternen. Man hört ein geheimnisvolles Raunen des Orchesters, durchbrochen von majestätischen Klängen…. Der Vorderbühnenprospekt geht wieder hoch, man sieht in einer Gloriole das römische Kapitol. Die Bühne ist leer. Auf einer Seite steht lediglich Clio, die Muse der Geschichte, begleitet von Fama. Es ertönt die Triumphversion des Trojanermarsches, der von der Tradition weitergetragen und zum Triumphgesang der Römer geworden ist) … Man sieht einen Krieger vor dem Kapitol vorüberziehen. Er trägt eine stählerne Rüstung und führt römische Legionen… Man sieht einen anderen Krieger vorüberziehen. Er ist lorbeergekrönt und führt andere Legionen. Man sieht einen Kaiser vorüberziehen, umgeben von einem Hofstaat von Dichtern und Künstlern. Imperatori Augusto et Divo Virgilio Gloria! Gloria! Fuit Troja, Stat Roma! SOPRAN (aus dem Hintergrund) Stat Roma! EIN TENOR (noch weiter entfernt) Stat Roma! (aus dem Programmheft des Staatstheaters Mannheim 2003; die Übersetzung des Librettos folgt in weiten Teilen der wörtlichen Übertragung von Krista Thiele, mit Dank.)

Hector Berlioz: „Les troyens“/ der Autor und  Musikwissenschaftler Hugh McDonald/ Hector Berlioz website

Als sich im Februar/ März 1858 die Fertigstellung seines Werkes abzeichnete, schrieb Berlioz über seine Komposition mit heroischen Worten an Adolphe Samuel: ,,Es ist fast gleichgültig, was mit dem Werk passiert, ob es jemals aufgeführt wird oder nicht. Meine Begeisterung für die Musik und Virgil wird erfreuen und ich werde zumindest gezeigt haben, was meiner Meinung nach mit einem klassischen Thema großen Umfangs zu tun möglich ist.“ (26. Februar 1858) Und in einem Brief an seine Schwester Adele, den er kurz danach verfasste: ,,Ich versichere dir, liebe kleine Schwester, dass die Musik von Les Troyens etwas Prächtiges und Großes hat,‘ darüber hinaus besitzt sie eine ergreifende Wahrhaftigkeit, und sie enthält Erfindungen, die, wenn ich mich nicht fürchterlich täusche, den Musikern in ganz Europa die Ohren durchblasen und vielleicht ihre Haare zu Berge stehen lassen werden. Ich glaube, wenn Gluck auf die Erde zurückkäme und diese Musik hörte, würde er zu mir sagen: ,Wahrhaftig, dies ist mein Sohn.‘ Das ist nicht besonders bescheiden von mir, oder? Aber schließlich habe ich die Bescheidenheit zuzugeben, dass ein Mangel an Bescheidenheit zu meinen Fehlern gehört.“ (11. März 1858) Hugh Macdonald (mit Dank!)

 

Noch ein kurzes Wort aus Wikipedia zu den originalen Besetzungen: Zunächst wurde am 4. November 1863 in Paris am Théâtre Lyrique nur der zweite Teil, Les Troyens à Carthage, gespielt. Die musikalische Leitung hatten Adolphe Deloffre und der Komponist. Regie führte Léon Carvalho. Es sangen Jules-Sébastien Monjauze (Énée), Estagel (Ascagne), Péront (Panthée) Anne-Arsène Charton-Demeur (Didon), M. Dubois (Anna), Jules-Émile „Giulio“ Petit (Narbal), De Quercy [Dequercy] (Iopas) und Édouard [Cabel] Dreulette (Hylas). Die Uraufführung des ersten Teils La prise de Troie erfolgte erst 1879, also zehn Jahre nach Berlioz’ Tod. Erst 1890 erreichten Les Troyens die Pariser Oper mit Maria Delna und Jean Laforge in den Haupotrollen

Berlioz: „Les Troyens“ – Marie Delna sang die Didon in Paris 1892/ Foto Nadar/ Wiki

Und weiter bei der englischen Wikipedia: After the premiere of the second part at the Théâtre Lyrique, portions of the opera were next presented in concert form. Two performances of La prise de Troie were given in Paris on the same day, 7 December 1879: one by the Concerts Pasdeloup at the Cirque d’Hiver with Anne Charton-Demeur as Cassandra, Stéphani as Aeneas, conducted by Ernest Reyer; and another by the Concerts Colonne at the Théâtre du Châtelet with Leslino as Cassandra, Piroia as Aeneas, conducted by Edouard Colonne. (…)

The first staged performance of the whole opera only took place in 1890, 21 years after Berlioz’s death. The first and second parts, in Berlioz’s revised versions of three and five acts, were sung on two successive evenings, 6 and 7 December, in German at Karlsruhe (Die deutsche Übersetzung des Texts stammte von Otto Neitzel. In den drei Hauptrollen sangen Alfred Oberländer (Aeneas), Elise Harlacher-Rupp (Ascanius) und Carl Nebe (Pantheus). Hinzu kamen Luise Reuss-Belce (Kassandra), Marcel Cordes (Chorebus), Pauline Mailhac (Hekuba und Dido), Hermann Rosenberg (Helenus und Iopas), Annetta Heller (Polyxene), Christine Friedlein (Anna), Fritz Plank (Narbal) und Wilhelm Guggenbühler (Hylas).  This production was frequently revived over the succeeding eleven years and was sometimes given on a single day. The conductor, Felix Mottl, took his production to Mannheim in 1899 and conducted another production in Munich in 1908, which was revived in 1909. He rearranged some of the music for the Munich production, placing the „Royal Hunt and Storm“ after the love duet, a change that „was to prove sadly influential.“ A production of both parts, with cuts, was mounted in Nice in 1891.

On 9 June 1892 the Paris Opéra-Comique staged Les Troyens à Carthage (in the same theatre as its premiere) and witnessed a triumphant début for the 17-year-old Marie Delna as Didon (Foto oben Marie Delna als Didon 1892/ Foto Nadar/Wikipedia), with Stéphane Lafarge as Enée, conducted by Jules Danbé; these staged performances of Part 2 continued into the next year. In December 1906 the Théâtre de la Monnaie in Brussels commenced a run of performances with the two halves on successive nights.

Berlioz: „Les Troyens“ – Finale der Oper in der Zeitschriften-Illustration 1863/ BNF Gallica

The Opéra in Paris presented a production of La prise de Troie in 1899, and in 1919 mounted a production of Les Troyens à Carthage in Nîmes. Both parts were staged at the Opéra in one evening on 10 June 1921, with mise-en-scène by Merle-Forest, sets by René Piot and costumes by Dethomas. The cast included Marguerite Gonzategui (Didon), Lucy Isnardon (Cassandre), Jeanne Laval (Anna), Paul Franz (Énée), Édouard Rouard (Chorèbe), and Armand Narçon (Narbal), with Philippe Gaubert conducting. Marisa Ferrer, who later sang the part under Sir Thomas Beecham in London, sang Didon in the 1929 revival, with Germaine Lubin as Cassandre and Franz again as Énée. Georges Thill sang Énée in 1930. Lucienne Anduran was Didon in 1939, with Ferrer as Cassandre this time, José de Trévi as Énée, and Martial Singher as Chorèbe. Gaubert conducted all performances in Paris before the Second World War.

The Paris Opéra gave a new production of a condensed version of Les Troyens on March 17, 1961, directed by Margherita Wallmann, with sets and costumes by Piero Zuffi. Pierre Dervaux was the conductor, with Régine Crespin as Didon, Geneviève Serrès as Cassandre, Jacqueline Broudeur as Anna, Guy Chauvet as Énée, Robert Massard as Chorèbe and Georges Vaillant as Narbal; performances by this cast were broadcast on French radio. Several of these artists, in particular Crespin and Chauvet, participated in a set of extended highlights commercially recorded by EMI in 1965, Georges Prêtre conducting. 1989 eröffnete die Pariser Bastille mit Les Troyens, in den Hauptrollen Grace Bumbry , Shirley Verrett und Georges Gray unter Myung Whun Chung in Pizzis problematischer, kalter Produktion (dazu den amüsanten Bericht in der New York Times). Redaktion G. H. (Foto oben: Berlioz: „Les Troyens“/ Giovanni_Battista_Tiepolo „Aeneas
Introducing Cupid Dressed as Ascanius to Dido/ Wikipedia  WGA22337)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Salieris Beaumarchais-Oper „Tarare“

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Eine der wichtigsten Opern im Umfeld der nahenden französischen Revolution ist Salieris Tarare, die einen veritablen und die aufgeheizte Zeit widerspiegelnden  Königs(selbst)mord auf der Bühne zeigt, der soeben bei dem Label Aparté unter Christophe Rousset mit seinem Ensemble Les Talens Lyriques in einer üppigen Ausgabe herausgekommen ist. Marcus Budwitius bespricht im Folgenden die neue Aufnahme. Und John Rice betont in seinem Aufsatz (aus dem Booklet zur neuen Ausgabe) die anspruchsvolle Zusammenarbeit von Antonio Salieri und Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, dessen Vorstellung vom Primat des durchaus revolutionären Wortes der Komponist seine reiche, sinnenfrohe und unglaublich üppig orchestrierte Musik entgegensetzt. G. H…

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„Tarare“: Der Komponist Antonio Salieri/OBAUnd nun der Aufsatz von John Rice: 

Und nun der Artikel von John Rice: Nachdem Antonio Salieri 1784 mit Les Danaides, seiner ersten Pariser Oper, die Anerkennung des französischen Publikums errungen hatte, trugen ihm die Direktoren der Academie royale de Musique (fortan l’Opera, d. h. die Pariser Oper, Anm. d. Ü.) die Komposition zweier weiterer Opernwerke an: Les Horaces und Tarare. Letzteres, auf ein Libretto von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, enthält vieles, was man mit der tragedie lyrique und der Opéra, deren Heimstatt seit Lully, verbindet, nämlich einen allegori­schen Prolog, fünf Akte, den verstärkten Einsatz von Chor und Ballett sowie eine durchgängige Orchesterbegleitung. Doch Beaumarchais und Salieri bezeichneten Tarare nicht als tragedie lyrique, sondern einfach als opéra, eine Oper. Diese vermischt Tragödie und Komödie, Exotik und Romantik, verbunden mit einer Tendenz zur politischen Allegorie, welche das vorrevolutionäre Pariser Publikum stark ansprach. Mit all diesen „Zutaten“ sowie Beaumarchais‘ Talent, die Werbe­trommel zu rühren, konnte Salieri die begründete Zuversicht hegen, dass ihm mit Tarare ein weiterer musikalischer Volltreffer zur Verfügung stünde.Warten auf Tarare: Für eine Oper aus dem 18. Jahrhundert durchlief Tarare eine ungewöhnlich lange Entstehungszeit. Ein Zensor genehmigte das Libretto bereits im März 1786, vierzehn Monate, bevor die Oper auf die Bühne kam. Kurz vor Ende Juli 1786 kehrte Salieri nach Paris zurück, wobei er der Komposition und Inszenierung von Les Horaces den Vorrang einräumte. Aber Beaumarchais, ein geschickter und unermüdlicher Werber in eigener Sache, sorgte dafür, dass Tarare in Paris bereits in aller Munde war. Ein nur unter dem Namen Hivart bekannter, im Orchester der Pariser Oper wirkender Cellist hatte Salieris Ankunft vermerkt. (Dieser Hivart diente dem russischen Grafen Nikolai Scheremetew als musikalischer Agent und schickte ihm Partituren, Libretti und anderes Material, das mit dem Pariser Musikleben und dem Theater zu tun hatte; seine in Sankt Petersburg aufbewahrten Briefe enthalten etliche wertvolle Informationen über die Oper in Paris in den 1780er Jahren.) Am 6. August 1786 schrieb Hivart an Scheremetew und erwähnte beide Opern, aber sein Interesse galt eindeutig eher Tarare: „Salieri ist gerade mit zwei neuen Opern, nämlich Tarare und Les Horaces, hier einget­roffen. Ersterer liegt ein morgenländisches Thema zugrunde, das von Monsieur de Beaumarchais auf eine ganz neue Weise für dieses Schauspiel behandelt wird. Tarare ist ein Soldat, der mit seinem Verstand und Können die Königswürde im Reich der Türken erlangt; sicherlich muss es viel Bewegung in diesem Stück geben, damit dieser Soldat vom ersten bis zum fünften Akt solch einen Aufstieg erleben kann. Langeweile wird man dieser Oper gewiss nicht zum Vorwurf machen können!“

Nachdem Antonio Salieri 1784 mit Les Danaides, seiner ersten Pariser Oper, die Anerkennung des französischen Publikums errungen hatte, trugen ihm die Direktoren der Academie royale de Musique (fortan l’Opera, d. h. die Pariser Oper, Anm. d. Ü.) die Komposition zweier weiterer Opernwerke an: Les Horaces und Tarare. Letzteres, auf ein Libretto von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, enthält vieles, was man mit der tragedie lyrique und der Opéra, deren Heimstatt seit Lully, verbindet, nämlich einen allegori­schen Prolog, fünf Akte, den verstärkten Einsatz von Chor und Ballett sowie eine durchgängige Orchesterbegleitung. Doch Beaumarchais und Salieri bezeichneten Tarare nicht als tragedie lyrique, sondern einfach als opéra, eine Oper. Diese vermischt Tragödie und Komödie, Exotik und Romantik, verbunden mit einer Tendenz zur politischen Allegorie, welche das vorrevolutionäre Pariser Publikum stark ansprach. Mit all diesen „Zutaten“ sowie Beaumarchais‘ Talent, die Werbe­trommel zu rühren, konnte Salieri die begründete Zuversicht hegen, dass ihm mit Tarare ein weiterer musikalischer Volltreffer zur Verfügung stünde. 

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„Tararae“: Adolphe Nourrit in der Titelrolle 1823/ Wikipedia

Beaumarchais als Opernreformer: Beaumarchais hatte stets einen Hang zu Kontro­versen und nutzte Tarare, um zu den Debatten über das Wesen und den Zweck der Oper beizutragen, die im gesamten 18. Jahrhundert Teil des französischen Geisteslebens waren. In seinem langen, kämpferischen Vorwort zu dem Textbuch, mit dem Titel „Aux abonnes de l’Opera qui voudraient aimer l’opera“ (An die Opernabon­nenten, die die Oper lieben möchten) etablierte er sich als Reformer, der wie so viele vor ihm die Größe und dramatische Kraft der griechischen Tragödie in die Oper einbringen wollte.

Warum, fragte Beaumarchais, spricht die Oper das Publikum nicht so stark an, wie man das erwarten könnte? Denn die Musik, welche sich auf ihre nützliche Funktion als „Verschönerung des Textes“ („d’embellir la parole“) beschränken solle, werde von Komponisten missbraucht: „Es gibt zu viel Musik in der Musik für das Theater, sie ist immer überladen; und um den naiven Ausdruck eines bekannten Mannes, des berühmten Ritters Gluck, zu verwenden, ,unsere Oper stinkt vor Musik‘: puzza di musica.“

Beaumarchais‘ Glaube an den Vorrang des Wortes über die Musik geht auch ohne jegliche Rechtfertigung aus Folgendem hervor: „Erstens das Stück oder die Erfindung der Fabel2, welche das meiste Interesse umfasst und enthält; nächst dieser dann die Schönheit der Worte oder die leichte Art, die Geschichte zu erzählen; dann der Reiz der Musik, der nur ein neuer Ausdruck ist, der dem Reiz der Verse hinzugefügt wird; schließlich die Ausschmückung des Tanzes, dessen Fröhlichkeit und Freundli­chkeit einige kühle Situationen verschönert. In der Reihenfolge des Vergnügens ist dies die Rangordnung, die für all diese Künste vorgesehen ist.“

Bezüglich der Problematik der in Opern aufgegrif­fenen Themen wandte sich Beaumarchais gegen die Verwendung von Geschichte und Mythologie als Quellen für die Handlung von Opern und lehnte damit die meisten der Themen ab, die zuvor von Librettisten ernsthafter, sowohl italie­nischer als auch französischer, Opern behandelt wurden: so „dass sehr verfeinerte Manieren zu methodisch seien, um theatralisch zu wirken. Die mannigfacheren und weniger vertrauten morgenländischen Sitten lassen dem [kreativen] Geist mehr Raum und scheinen mir höchst geeignet zu sein, diesen Zweck zu erfüllen.“

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„Tarare“: Emile Bayard als Calpigi 1876/ Wikipeedia

Beaumarchais und Salieri;: Um seine Ansichten über die Oper in die Tat umzusetzen, war Beaumarchais auf die Mitarbeit von Sängern und Orchester angewiesen, welche er in seiner Vorrede wortgewandt ansprach (…) Nicht alle Komponisten waren so willig wie Salieri, die Anforderungen des Schauspiels, wie sie vom Librettisten dargelegt wurden, über die der Musik zu stellen. Der dankbare Dichter widmete das gedruckte Textbuch dem Kompo­nisten und drückte dabei seine aufrichtige Achtung und Zuneigung aus (aber trachtete wie stets gleichzeitig danach, damit auch auf sich selbst aufmerksam zu machen).

Tarare – Quelle: Beaumarchais entnahm die Handlung zu Tarare der Erzählung „Sadak und Kalasrade“ aus einer Märchensammlung mit dem Titel The Tales of the Genii, die erstmals 1764 in englischer Sprache erschienen war und bald darauf in französischer Übersetzung herauskam (Les Contes des Genies)3. Obwohl auf den Titelseiten der ersten Ausgaben „aus dem persischen Manuskript getreulich übersetzt“ angegeben wurde, stammen The Tales of the Genii in Wirklichkeit von dem Engländer James Ridley, nach dem Vorbild der Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Der Name des Helden, Tarare (gleichbedeutend mit „Unsinn“), stammtaus einem anderen pseudo-orientalischen Märchen des Engländers Anthony Hamilton, L’Histoire de Fleur d’epine, welches erstmals 1730 erschien. (…) Eine dreibändige Übersetzung ins Deutsche durch Johann Joachim Schwabe erschien 1765-1766 bei Weidmann & Reich in Leipzig unter dem Titel Horams, des Sohnes Asmars, anmuthige Unterweisungen in den Erzählungen der Schutzgeister, aus dem persischen Manuscripte getreulich übersetzet.

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Salieris farbige Orchestrierung trägt viel zum Prolog bei. Posaunen leisten bei der Verdeutli­chung des feierlichen Mysteriums der Schöpfung Unterstützung. Salieri sparte die Klarinetten für den Moment auf, in dem menschliche Geister lebendige Gestalt annehmen. Die Neuheit des Klarinettenklangs spiegelt die Worte „Quel charme inconnu nous attire“ wider. Eine einsätzige Ouvertüre im italienischen Stil – Salieri nannte sie „Nouvelle Ouverture d’un genre absolument different de la premiere“ – folgt dem Prolog und kündigt den Beginn des Dramas per se an. (…)

Bevor Tarare die Armee gegen die Christen führen kann, muss er Altarmort unschädlich machen. Zu Beginn des dritten Aktes berichtet Urson in einem großen Rezitativ von Tarares Sieg über seinen Rivalen. In diesem Akt veran­staltet Calpigi ein Fest für Astasie, eine „Fete europeenne“: Festlichfarbenfroh gekleidete Schäfer und Schäferinnen sowie Bauern mit ihren landwirtschaftlichen Werkzeugen führen eine Reihe von Tänzen und Chören auf, die den größten Teil dieses langen Divertissements ausmachen. Calpigi trägt mit einer strophischen Romance, deren 6/8-Takt die folkloristische Wirkung verstärkt, zu den Festlichkeiten bei; in dieser erzählt er seine Lebensgeschichte: „Je suis ne natifde Ferrare“. Salieri nannte die Melodie eine „Barcarolle“ – ein Gondellied. Pizzicati bei den Streichern symbolisieren die Mandoline, auf der sich Calpigi selbst begleitet. Dieser singt die letzte Zeile jeder Strophe in seiner Muttersprache: „Ahi! povero Calpigi!“. Das Divertissement endet chaotisch, als Calpigi mitten in seiner Erzählung Tarare erwähnt. Wütend zieht Atar seinen Dolch hervor und die Menge zerstreut sich. In der Zwischenzeit findet Tarare den Zugang zum Harem und Calpigi verkleidet ihn als stummen Afrikaner.

„Tarare“: Costume design (1823), by Auguste Garneray (1785-1824) for Spinette/ Pinterest

Der vierte Akt beginnt mit einem kunst­vollen dramatischen Rezitativ, in dem Astasie ihre Verzweiflung zum Ausdruck bringt und nach dem Tod verlangt, um ihrem Kummer ein Ende zu setzen. Als sie vernimmt, dass Atar sie zwingen will, einen seiner Sklaven zu heiraten, überredet sie Spinette, die Kleidung mit ihr zu tauschen, um von dieser Schande verschont zu werden. Atars Soldaten nehmen Tarare gefangen, bevor er Astasie finden kann. Calpigi verurteilt wütend den Machtmissbrauch des Königs in der Arie „Vas ! I’abus du pouvoir supreme.“

Der letzte Akt beginnt mit Atar, der sich hämisch überTarares bevorstehende Hinrichtung freut („Fantöme vain! Idole populaire„). Die Sklaven singen einen traurigen „chceur funebre“ in g-Moll, bei dem ein Marsch mit Holz- und Blechbläsern (einschließlich Posaunen), durchgehendem Paukenwirbel und Tremolos bei den tiefen Strei­chern zum Trauereffekt beitragen. Tarare und Astasie sind endlich wieder vereint und fallen einander in die Arme. Ein Trio mit Astasie, Tarare und Atar, „Le trepas nous attend“, wird von um Hilfe rufenden Sklaven unterbrochen. Calpigi trifft dann mit einer zur Verteidigung Tarares bereiten Armee ein, welchem sie Treue schwören. Atar erdolcht sich selbst. Tarare lehnt zunächst die Königswürde ab, aber die Soldaten überreden ihn schließlich, diese doch anzunehmen. Arthenee krönt Tarare, während das Volk mit dem Chor „Quel plaisir de nos cceurs s’empare!“ feiert.„Le succes de Tarare est complet“.

Der Misserfolg von Salieris Oper Les Horaces, die am 2. Dezember 1786 in Versailles uraufgeführt worden war, verstimmte dessen Gönner, Kaiser Joseph II. Er hoffte jedoch nicht vergebens. Als Tarare am 8. Juni 1787 schließlich auf die Bühne der Pariser Oper gelangte, wurde das Werk mit sofortigem, sich wiederholendem Beifall aufgenommen. So geschickt hatte Beaumar­chais im Vorfeld der Premiere Flugschriften und Debatten eingesetzt, dass die Oper ein großes Publikum anzog, ohne aber die Gemüter so weit zu erhitzen, dass die Behörden Veranlassung dazu gehabt hätten, das Theater zu schließen.

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„Tarare“: Der Autor John Rice – John A. Rice, a freelance writer and teacher devoted to the exploration of music in eighteenth- and early nineteenth-century Europe, was born in Ithaca, New York in 1956. After studying music history under Daniel Heartz at the University of California, Berkeley (PhD, 1987) he taught at the University of Washington (1987–88), Colby College (1988–90), the University of Houston (1990–97), and the University of Texas at Austin (1999). More recently he has been a visiting professor at the University of Pittsburgh (2010–11) and the University of Michigan (2012–13). He has received grants from the Alexander-von-Humboldt Stiftung, the National Endowment for the Humanities, and the American Philosophical Society. He has written many articles, reviews of books and musical editions, entries in musical encyclopedias and dictionaries, and six books, one of which, Antonio Salieri and Viennese Opera, received the Kinkeldey Award from the American Musicological Society. He has lectured widely in both the United States and Europe. He has served as president of the Mozart Society of America and of the Southwest Chapter of the AMS and as a director-at-large of the AMS. He is an elected member of the Akademie für Mozart-Forschung in Salzburg/ google biography

Tarare kehrte mitten in der Französischen Revolution auf die Bühne zurück und wurde einer Überarbeitung unterzogen, welche eine neue Szene am Ende der Oper beinhaltete – ein politisch aufgeladenes Divertissement mit dem Titel „Le Couronnement de Tarare“. Beaumarchais nutzte die Gelegenheit, um die Rolle zu betonen (wohl als Übertreibung), die Tarare bei dem Entfachen der Revolution gespielt hatte. In seinem Vorwort zur auf den ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille datierten Libretto-Fassung von 1790 erinnerte er an die revolutionären Opernbesucher der ursprünglichen Version von Tarare: „Oh Bürger! Seid eingedenk derZeit, als Eure besorgten Denker, die gezwungen waren, ihre Ideen zu verschleiern, sich in Allegorien hüllten und mühsam der Revolution das Feld bereiteten. Nach ein paar weiteren Versuchen versenkte ich auf eigene Gefahr in der Erde diesen Keim einer Bürgereiche auf dem verbrannten Boden des Opernhauses. […] Das Werk erhielt seine Vollendung in Le Couronnement de Tarare, im ersten Jahr der Freiheit; wir offerieren es Euch zu deren Jahrestag, am 14. Juli 1790.“

 Aber Beaumarchais hat sich selbst hier zu großen Verdienst zugeschrieben. Die politischen Implikationen von Tarare waren für eine überra­schend breite Palette politischer Regimes [sic!] hinnehmbar. Das Werk überstand die Franzö­sische Revolution, Napoleon Bonaparte sowie die Wiederherstellung der Bourbonenmonarchie. Mit insgesamt 131 Vorstellungen an der Pariser Oper (die letzte fand 1826 statt) kam Tarare der Oper Les Danaides an Popularität und „Ausdauerver­mögen“ gleich.

Salieri hingegen kehrte kurz nach der Urauf­führung von Tarare nach Wien zurück. Er wäre wahrscheinlich weiter zwischen Wien und Paris hin- und hergependelt und hätte Opern für beide Hauptstädte geschrieben, wenn die Französische Revolution es für einen loyalen Untertanen der Habsburger Monarchie nicht unmöglich gemacht hätte, Opern für das bedeutendste französische Opernhaus zu schreiben. Als französische Bürger Marie-Antoinette, die Schwester der Kaiser Joseph und Leopold sowie Salieris wichtigste Pariser Gönnerin, gefangen nahmen und später hinrich­teten, beendeten sie so auch seine kurze Karriere als Komponist französischer Opern. John Rice/Übersetzung: Hilla Maria Heintz

 

Salieris „Tarare“ neu bei Aparté unter Christoph Rousset

Bemerkendwert und spannend. Mit den von der Pariser Oper in Auftrag gegebenen Les Danaïdes feierte Antonio Salieri 1784 einen großen Erfolg und galt als legitimer Gluck-Nachfolger. Rückblickend ist Salieri zwischen Gluck und Mozart stecken geblieben – ein Fortführer, doch kein Visionär. Kaum ein Opernhaus spielt heute Salieris Opern. Obwohl sein Name einen hohen Bekanntheitsgrad hat und andere Größen der Epoche wie bspw. Jommelli, Traetta oder Martin y Soler weit überragt, hat die erneute Blüte der Musiktheaterwerke aus Barock und Rokoko kaum zu einer Wiederbelebung des Italieners geführt. Löbliche Ausnahme waren u.a. in den letzten Jahren Christophe Rousset und sein Ensemble Les Talens Lyriques, die sich den drei Pariser Auftragswerken Salieris widmeten und nach den Danaiden und Les Horaces (1786) nun den 1787 in Paris uraufgeführten Tarare vorlegen, dessen Libretto von Beaumarchais stammt, dem Autor der als Libretto berühmt gewordenen Theaterkomödien Le mariage de Figaro und Le barbier de Séville. 1788 wurde Tarare in Wien aufgeführt, nun in Italienisch und mit neuem Titel: Axur, Re d’Ormus.

Es hatte sich noch mehr geändert, der Übersetzter Lorenzo Daponte baute die Handlung um und veränderte den Prolog, auch um einer Zensur vorzubeugen, denn Tarare hat – wie auch Le Nozze di Figaro – herrschaftskritische Ansätze in Form politischer und sozialer Thesen. Die Oper spielt im Morgenland, es gibt Religionskriege und politische Machtkämpfe, der absolutistische Despot Atar stürzt sich durch Willkür und seine Eifersucht auf den Anführer seiner Leibgarde Tarare ins Verderben. Neuer Herrscher (aus Verdienst, nicht durch Gottesgnade) wird der beliebte, aufrichtige und monogam glückliche Soldat Tarare, der die Sklaverei ablehnt und letztendlich vom Militär zur Machtübernahme gedrängt wird, nachdem Atar dessen Frau Astasie entführen und in seinen Serail bringen ließ. Die Oper endet mit einem bemerkenswerten Aufruf des Chors: „Sterblicher, wer du auch sein magst, Prinz, Priester oder Soldat; Mensch! Deine Größe auf Erden hat nichts mit deinem Stand zu tun, sie beruht ganz auf deinem Charakter“. Manches wirkt inhaltlich und musikalisch vertraut, es gibt eine exotische Tradition in den Opern zwischen Lully und Rossini, von Le Bourgeois gentilhomme bis L‚Italiana in Algeri findet man wiederkehrende arabisch-türkische Motive, bspw. den Serail als Handlungsort bei Rameau (Les Indes galantes, 1735), Mozart (Zaide (1779/80) und die Entführung aus dem Serail (1782)), gute Despoten (bspw. Orosman, Osman, Saladin, Soliman, Selim), fanatische Despoten (bspw. Huascar, Atar, Osmin), Großzügigkeit und Fanatismus, gelegentlich freimaurerische Einflüsse und christliche Ritter. Mozarts Blonde bspw. heißt hier Spinette und ist der komischste Charakter.

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Salieris „Tarare“ in der stilistisch sehr anfechtbaren, aber pionierhaften Aufführung in Schwetzingen 1988 unter Jean-Claude Malgoire/ Arthaus

Tarare war in Paris erfolgreich, bis 1826 gab es dort 131 Vorstellungen. Eine erste Wiederbelebung fand 1988 als Koproduktion der Karlsruher und der Pariser Oper bei den Schwetzinger Festspielen statt, Regisseur Jean-Louis Martinoty historisierte das Geschehen augenzwinkernd, Jean-Claude Malgoire dirigierte das Orchester der Karlsruher Händel-Festspiele (diese Produktion wurde als DVD bei Arthaus  veröffentlicht). 1989 folgte Strasburg mit Gérard Garino und René  Massis unter Fréderic Chaslin in einer wesentlich überzeugenderen  Produktion, dazu idomatischer gesungen natürlich.

Ganz anders wirkt die nun vorliegende Aufnahme als Resultat einer Aufführungstournee, Dirigent Christophe Rousset dramatisiert die Handlung und hält die Oper unter Hochspannung, beim Zuhören ist diese Spannung so greifbar, dass es nur eine Frage der Zeit sein sollte, bis sich ein Opernhaus an die erneute szenische Umsetzung wagen wird. Man hört ein Plädoyer für ein Werk, und das ist das große Verdienst dieser Produktion. Musikalisch wirkt Tarare wie ein Tragédie Lyrique, zu Beginn ein dramatisch erregter Orchestereinstieg, der die Natur und die entfesselten Winde darstellt, gefolgt von einem Prolog (quasi eine Verbeugung vor Lully), in dem die Natur und der Genius des Feuers die Elemente beschwichtigen und schöpferisch tätig werden. Was folgt ist musikalisch kein Meisterwerk – dazu fehlen die zündenden Melodien und die außergewöhnlichen Momente -, aber abwechslungsreich und farbig orchestriert, bspw. mit Posaunen, Klarinetten und Fagotte haben ihre besonderen Momente, es gibt u.a. eine kurze Gebetsszene und einen Trauermarsch, Divertissements in Form von Tänzen und Chören, pastorale Schäfer, exotische Märsche und Anklänge an Mozarts Entführung aus dem Serail (1782) sind hörbar. Die handlungsreiche Oper ist durch Rezitative und kurze arienhafte Abschnitte geprägt, der Text hatte bei Beaumarchais Vorrang vor der Musik – auch deshalb ist die szenische Aufführung naheliegender als das konzertante Anhören.

Für die Sänger gibt es wenige Bravourszenen, Tonhöhe und Rhythmus sind sekundär, gefordert sind primär Deklamation und Ausdruck, und diese Herausforderung meistern alle Beteiligten – alte Bekannte aus der Musikszene des 18. und frühen 19. Jahrhunderts  – bravourös, insbesondere Cyrille Dubois als Titelfigur und Karine Deshayes als dessen entführte Gattin Astasie, JeanSébastien Bou als Tyrann Atar, Judith van Wanroij in der Doppelrolle als Natur und Spinette, Tassis Christoyannis als Genie des Feuers und Hohepriester Arthenée, Enguerrand de Hys als Eunuche Calpigi sowie Les Chantres du Centre Musique baroque de Versailles als Chor (3 CDs, Aparté, AP 208). Marcus Budwitius

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 (Wir bedanken uns außerordentlich bei dem Label Aparté und bei André Soarez von harmonia mundi france/ Pias für die Genehmigung zur  Übernahme des Textes von John Rice aus dem Booklet zur neuen Aufnahme von Salieris Tarare/ Aparté AP 208 3 CD; Foto oben Christophe Rousset/ Booklet/ Les Talens Lyriques.) G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Magische Umsetzung

 

Seit ich 1988 in Bielefeld die hinreißende Ingeborg Schneider als Heliane in Korngolds Oper in der sinnenöffnenden Produktion  von John Drew (Bühne Gottfried Pilz) erlebte, wartete ich auf eine Aufführung dieser Oper, die gleiche Begeisterung bei mir wieder auslösen könnte, weder Dortmund noch Gent oder Freiburg erüllten für mich diese Erwartungen, bis die Deutsche Oper Berlin 2018 die lichtmagische Umsetzung (Olaf Winter) dieser üppigen spätromantischen Geschichte von Christof Loy in den zauberhaften Bildern von Johannes Leiacker (Kostüme Barbara Drosihn) 2018 auf die Bühne brachte: in der hinreißenden  Titelsängerin neben einem leuchtstrahlenden Tenor und einem wirklich überzeugenden Cast unter Marc Albrecht taten sich da optische und musikalische Wunder auf. Ich neige sonst nicht zu diesen enthusiastischen Ausbrüchen und bin eher für meine scharfe Zunge bekannt. Aber dieses Wunder der Heliane begeisterte viele, viele Besucher und auch mich.

Was für ein Glück, dass die Deutschen Oper Berlin im Verbund mit Naxos diese prachtvolle Inszenierung nun als DVD festgehalten und zum Nach-Sehen herausgebracht hat (2 DVD 2.110584-85). Und auch dies ist ein kleines Wunder, denn die visuelle Umsetzung von Jörg Flisenius hält eben wirklich diesen vorgenannten Eindruck fest – das Bild zieht den Betrachter wieder hinein in dieses wirklich magische Bühnenerleben. Das gibt es selten, und das soll gewürdigt werden.

Nachstehend noch einmal die Hymne des Kollegen Bernd Hoppe auf die Aufführung selbst und ein langer Artikel aus dem Naxos Booklet von dem Korngold-Spezialisten Brendan G. Carroll. Dank an alle, DOB wie Naxos wie auch die gesamte künstlerische Crew. Stefan Lauter

 

Und nun die Aufführungsbesprechung: 1992 erschien Erich Wolfgang Korngolds Oper Das Wunder der Heliane bei Decca in deren Reihe „Entartete Musik“, denn das Werk des jüdischen Komponisten wurde 1938 von den Nationalsozialisten als „entartet“ deklariert und verboten. Nur wenige szenische Produktionen der 1927 in Hamburg uraufgeführten Oper sind bekannt (2010 gab es eine in Kaiserslautern, vor allem aber die wichtige Produktion von John Dew In Bielefeld mit der bedeutenden Soporanistin Ingeborg Schneider 1988) – umso höher ist das Engagement der Deutschen Oper Berlin zu bewerten, das Stück in einer Inszenierung von Christof Loy vorzustellen. Der Regisseur gilt als Spezialist für Werke des frühen 20. Jahrhunderts im Umfeld der Psychoanalyse und bestätigte seinen Ruf auch bei dieser Arbeit. Im Einheitsbühnenbild von Johannes Leiacker, einem Holz getäfelten Raum von nüchterner Atmosphäre mit sparsamem Mobiliar, inszeniert er schlüssig und mit wachsender Spannung. Zeitlos und vorwiegend schwarz sind die Kostüme von Barbara Drosihn, nur der Fremde trägt einen grauen Anzug. Auf Geheiß des Herrschers, in dessen Land die Liebe verboten ist, soll er sterben, hat er doch das Recht der Menschen auf Glück, Licht und Freude proklamiert. Heliane, die Gattin des Herrschers, erscheint anfangs im strahlend weißen Brautkleid und wird damit zur Lichtgestalt der Handlung. Sie will dem Fremden in der Nacht vor seinem Tod beistehen, gewährt ihm seine letzten Wünsche – ihr Haar und ihre Füße zu berühren, schließlich gar den Anblick ihres entblößten Körpers.

Korngolds „Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto wie auch oben: Monika Rittershaus

Sara Jakubiak ist mit blonden Haarflechten, eleganter Erscheinung und attraktiver Körperlichkeit optisch eine ideale Verkörperung der Titelheldin und kann die heikle Nacktszene ohne jede Peinlichkeit absolvieren. Ihr Sopran ist sinnlich und farbig in der Mittellage, sicher in der exponierten Region. Sie meistert die große Arie „Ich ging zu ihm“ mit ihren fordernden Aufschwüngen und der hymnischen Steigerung imponierend mit gleißendem, gelegentlich auch etwas herbem Klang. Von verzehrender Intensität und rauschhafter Ekstase sind ihre Duette mit dem Fremden, dessen Aura und Sensibilität sie sich nicht entziehen kann. Brian Jagde singt ihn mit in der Mitte dunkel timbriertem, doch in der Höhe strahlendem und ungemein leistungsfähigem Tenor. Emphatisch ist sein Gesang, von trunkenem Klang die Stimme. Helianes Gatten, den Herrscher, stattet Josef Wagner mit wuchtigen Tönen seines heldischen Bassbaritons aus, dessen schier unerschöpfliche Kraft von überwältigender Wirkung ist. Der österreichische Sänger von imposanter Statur weiß auch die Zweifel und Ängste der Figur zu vermitteln, findet für deren Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung berührenden Ausdruck.

Glänzend besetzt sind die Nebenrollen mit Okka von der Damerau, die der Botin ihren robusten Mezzo mit giftig-tückischen Akzenten leiht, Derek Welton, der den kurzen Auftritt des Pförtners mit seinem markanten Bassbariton aufwertet, Burkhard Ulrich, der dem blinden Schwertrichter mit seinem Charaktertenor greisenhafte Töne verleiht, und Gideon Poppe, der als Junger Mann mit zuverlässigem Tenor aufwartet.

Grandios sind der Chor und Extrachor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Jeremy Bines), der  im 2. und 3. Akt zentrale Szenen der  Handlung zu absolvieren hat. Da gibt es die tumultöse Szene der aufbegehrenden Menge, die den Fremden als den „Boten der Freude“ wiederhaben will, oder zu Beginn des letzten Aktes das in Trauer erstarrte Volk, das gleichermaßen auf Helianes Wunderkräfte hofft wie an ihnen zweifelt. Für die gewaltigen Tableaus mit deren unterschiedlichen Stimmungen von Hysterie und Trance bis zur Verklärung bietet der Chor eine enorme gesangliche Bandbreite auf, gipfelnd im finalen Hymnus über Freude, Leben, Freiheit und Glück. Heliane und der Fremde, der sich den Tod gegeben hatte und von ihr zu neuem Leben erweckt wurde, verlassen den Raum und gehen in eine andere Welt.

Am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin zaubert Marc Albrecht rauschhafte Klangbilder von faszinierender Sinnlichkeit. Das Schillern, Flirren und Aufblühen der Musik steht im großen Kontrast zu ihren aufgepeitschten, massiv aufgetürmten Blöcken und dissonanten Bläsersätzen. Aber immer wieder setzen sich schwelgerische Lyrismen und sinnliches Melos durch und erzeugen einen geradezu narkotischen, süchtig machenden Sog.

Der Jubel des Publikums nach der 2. Aufführung am 22. 3. 2018 signalisierte, dass diese exemplarische Produktion der Deutschen Oper bereits jetzt als ein Höhepunkt der laufenden Saison gelten darf. Bernd Hoppe

 

Korngolds „Wunder der Heliane“ mit Lotte Lehmann und Jan Kiepura 1927 in Wien/ forbiddenmusic.org

Dazu der Aufsatz von Brendan G. Carroll: Von all den großen Opern der 1920er Jahre – darunter Puccinis Turandot, Bergs Wozzeck, Strauss‘ Intermezzo, Hindemiths Cardillac und Zemlinskys Der Zwerg – wurde keine mit solch fieberhafter Spannung erwartet wie Erich Wolfgang Korngolds Oper Das Wunder der Heliane.

Grund hierfür war vor allem ein Skandal, den der Vater des Komponisten Julius Korngold, der jähzornige, extrem konservative und vielgefürchtete Chefkritiker der führenden Wiener Tageszeitung, der Neuen Freien Presse, rund um die Premiere anzettelte und in schöner Öffentlichkeit vorantrieb.

Monatelang führte er eine Kampagne gegen den Komponisten Ernst Krenek und dessen sogenannte »Jazz-Oper« Jonny spielt auf, die nach ihrem sensationellen Leipziger Einstand vom 10. Februar 1927 nur wenige Wochen nach Heliane auch in Wien herauskommen sollte.

Julius Korngold, der das Werk verachtete, wollte dies um jeden Preis verhindern. Vergeblich machte er seinen Einfluss auf den damaligen Wiener Operndirektor Franz Schalk, einen alten Freund der Familie, geltend. Die Opernleitung war in akuten Geldnöten, man brauchte einen erfolgreichen Kassenschlager, und Schalk wurde überstimmt. Jonny spielt auf triumphierte. Schalk meinte dazu typisch wienerisch: »Der Vorverkauf übersteigt meine schlimmsten Erwartungen«. Vater Korngold seinerseits setzte unverdrossen seine journalistische Hetzkampagne gegen Krenek fort.

Das Resultat war eine komplette Spaltung der öffentlichen Meinung. Verschiedene Fraktionen bekriegten sich untereinander für und gegen Korngold oder Krenek, eine außergewöhnliche Situation, die das Opernpublikum genauso in den Bann zog wie alle führenden Zeitungskarikaturisten und Cartoonisten der Zeit. Die Österreichische Tabakregie (die spätere Austria Tabak GmbH) beispielsweise brachte zwei „rivalisierende“ Zigarettenmarken heraus: die Jonny (billig und ungefiltert) und die Heliane, eine teure Luxuszigarette mit helllila Papier, exotischem, rosenblütengeformtem Filter in eleganter Golddosenspezialverpackung.

Korngolds „Wunder der Heliane“ mit Lotte Lehmann und Jan Kiepura sowie ;Lothar Wallerstein bei Proben 1927 in Wien/ forbiddenmusic.org

Sechs Jahre arbeitete Erich Wolfgang Korngold an seiner Heliane. Die vollendete Partitur sollte er zeitlebens als sein größtes Werk betrachten. Die Oper, basierend auf dem obskuren Mysterienspiel Die Heilige des wenig bekannten rumänisch­österreichischen Dramatikers und Dichters Hans Kaltneker (1895-1919), einem Bewunderer von Korngolds Musik, ist vermutlich das extravaganteste und dramatischste Bühnenwerk des Komponisten.

Die Partitur sieht nicht bloß eine sehr große Chor- und eine ebensolche Orchesterbesetzung vor, bestehend aus drei Flöten, Piccolo, Englischhorn, drei Klarinetten, Bassklarinetten, zwei Fagotten, Kontrafagott, vier Hörnern in F, drei Trompeten in C, drei Posaunen, Tuba, drei Paukengruppen, einen enormen Schlagwerkapparat inklusive einem kompletten Glockensatz sowie zwei Harfen, volle Streicherbesetzung und Gitarre, sondern auch einen Frauenchor hinter der Bühne (als seraphische Stimmen aus der Höhe, die das Geschehen kommentieren) und, ebenfalls aus dem Off, drei weitere C-Trompeten, drei Posaunen und sechs Fanfarentrompeten – alles in allem mehr als hundert Musiker. Die Solistenbesetzung umfasst sechs Haupt- und sieben Nebenrollen.

Das gewaltige Ensemble ist meisterhaft eingesetzt und vereint musikalisch alle Wesensmerkmale von Korngolds reichem, romantischem Stil. Die ausgefallene, hochkomplexe Orchestration wird von nicht weniger als fünf verschiedenen Tasteninstrumenten verstärkt: Klavier, Orgel, Celesta, Harmonium und das selten verwendete Glockenspiel, ähnlich der Celesta, aber eine Oktave tiefer gestimmt. All dies untermauert die elaborierte Post-Strauss’sche Harmonie und sorgt für den typisch Korngold’schen Klangrausch. Diese Partitur behandelt jeden einzelnen Orchestermusiker als Virtuosen.

Die Intensität der Musik mit ihren berauschenden gestaffelten Glissandi- und Arpeggio-Effekten, ihren vorwärtsdrängenden Rhythmen, oftmals unnachgiebigen Tempi und plötzlichen Taktwechseln macht Heliane zu einer der größtmöglichen Herausforderungen für Dirigenten und Ausführende gleichermaßen. Von Akt zu Akt türmen sich die Spannungsbögen und auch für die Zuschauer wird die Oper zu einer musikalischen Überwältigungserfahrung.

 

Erich Wolfgang Korngold gibt dem Wagner-Darsteller Alan Badel Dirigierunterricht.für den Film „Frauen um Wagner“/ Wiki

Nach der erfolgreichen Uraufführung in Hamburg am 7. Oktober 1927 steigerten sich auch die Wiener Vorbereitungen. Zwei Star-Ensembles waren für zwei Premieren an aufeinanderfolgenden Abenden engagiert.

Die Rolle der Heliane hätte ursprünglich die legendäre Diva Maria Jeritza singen sollen – die erste Wiener Turandot, die bereits mit der Doppelrolle der Marie/Marietta in Korngolds Sensationserfolg Die tote Stadt und in der Titelpartie der Violanta, der zweiten Oper des gerade einmal siebzehnjährigen Komponisten, große Erfolge gefeiert hatte.

Doch das Wiener Premierendatum am 29. Oktober war zu spät angesetzt – die Jeritza war bereits einen Monat zuvor nach New York abgereist, wo sie einen Vertrag mit der Metropolitan Opera hatte. Die Heliane sollte sie auch später niemals singen. Statt ihrer glänzte in der Premiere ihre Erzrivalin, Wiens zweite große Diva Lotte Lehmann, an ihrer Seite ein spektakulär gutaussehender neuer Startenor, Jan Kiepura, in der Rolle des jungen, zum Tode verurteilten Fremden.

In der zweiten Premiere hätte Alfred Piccaver, der zweite führende lyrische Tenor Wiens, den Fremden übernehmen sollen. Doch er hatte die schwere Partie nicht rechtzeitig einstudieren können und sagte einige Tage vor dem anberaumten Termin ab. Die geplante Aufführung fiel aus, es entstand das haltlose, bis heute verbreitete Gerücht vom Misserfolg der Oper (tatsächlich kam das Stück in seiner ersten Spielzeit auf 27 Vorstellungen in Wien und 25 in Hamburg).

Ursprünglich hatten achtzehn Theater verkündet, das Werk auf die Bühne bringen zu wollen. Neun von ihnen blieben dabei – darunter Lübeck, Breslau, München, Plauen, Danzig, Schwerin, Chemnitz und Nürnberg.

„Das Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto wie auch oben Monika Rittershaus/ Dank an die DOB

Im April 1928 erreichte die Oper Berlin in einer für die frühen Jahre maßstabsetzenden Produktion. Bruno Walter dirigierte eine Starbesetzung mit Grete Stückgold, Hans Fidesser, Emil Schipper und Alexander Kipnis. Die bizarre, surrealistische Inszenierung entwarf Oskar Strnad, einer der größten Bühnenbildner derzeit.

Doch die deutschen Kritiker rächten sich an Korngold Sohn für die Hetzkampagne des Vaters gegen Krenek. Verärgert über dessen Versuche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, verrissen sie das Werk – und das umso mehr, als der Tenor Fidesser, wie Korngolds Frau in ihren Memoiren schreibt, nach einem Generalprobenkrach mit Bruno Walter seine Partie am ersten Abend absichtlich sotto voce sang und so der Aufführung viel von ihrer Vitalität und Wirkung nahm.

Vielleicht waren die eigentlichen Gründe der Kritikerschelte aber auch Hans Müller-Einigens unglaubwürdiges Libretto und die Tatsache, dass Heliane so gar nicht der neuen herrschenden Mode der »Zeitoper« entsprach – ein Schicksal, das auch Die ägyptische Helena von Richard Strauss ereilen sollte, die später im selben Jahr Premiere feierte.

Das Opernpublikum hatte kein Interesse mehr an Märchen für Erwachsene oder an berauschenden, metaphysischen Liebesgeschichten. Der Trend der »Neuen Sachlichkeit« verlangte nach zeitgenössischen Themen, großzügig versehen mit Jazzinstrumentation. Neuartige Effekte und moderne Menschen, die Radio hörten, schnelle Autos fuhren, auf der Bühne telefonierten und sich in Exzessen aller Arten ergingen, waren der letzte Schrei. Korngolds Oper fiel aus der Zeit.

„Das Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto Monika Rittershaus/ Dank an die DOB

Bis 1931 war Das Wunder der Heliane fast völlig aus dem Repertoire verschwunden und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahre 1933 wurde Korngolds Musik insgesamt von den deutschen Spielplänen entfernt. Das Wunder der Heliane fiel in Vergessenheit bis die Koninklijke Vlaamse Opera 1970 eine Wiederbelebung beschloss. Doch der Erfolg blieb aus – die große Korngold-Renaissance stand noch bevor und so schleppte sich das Werk weiter voran, bis Bielefeld sich 1988 an eine Inszenierung wagte. Auch hier gab es Probleme mit der Besetzung (der Tenor kapitulierte in der Generalprobe), und die Tatsache, dass das Theater viel zu klein war, um der Oper gerecht zu werden, tat ein Übriges, einen dauerhaften Erfolg zu verhindern.

Verbreitung: 1993 entstand unter der Leitung des Produzenten Michael Haas die wegweisende Ersteinspielung der Heliane, mit der die Decca ihre großangelegte Reihe »Entartete Musik« einleitete (der Titel ist eine Reminiszenz an die berüchtigte Nazi-Ausstellung in Düsseldorf 1938). Der Aufnahme stellte man eine CD von Kreneks Jonny spielt auf, dem ehemaligen Opernrivalen, zur Seite. Die Veröffentlichung wurde ein internationaler Erfolg. Ganz allmählich kehrte die Oper ins Repertoire zurück.

(Dem gingen Aufführungen andernorts wie Gent 1970 voraus, namentlich die erwähnte Aufführung in Bielefeld 1988 setzte neue Maßsstäbe. S. L.) Es folgten konzertante Aufführungen im Amsterdamer Concertgebouw (1995) und der Londoner Royal Festival Hall (2007). Einer Koproduktion des Pfalztheaters Kaiserslautern mit Brünn von 2010 bis 2012 war schließlich größerer Erfolg beschieden und im Januar 2017 brachte eine erfolgreiche konzertante Aufführung Heliane nach 90 Jahren erstmals zurück nach Wien, bevor man das Werk im selben Jahr konzertant in Freiburg und szenisch in Gent aufführte. Im März 2018 schließlich kehrte Heliane nach Berlin zurück. Christof Loys Produktion wurde ein spektakulärer Erfolg.

„Das Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto Monika Rittershaus/ Dank an die DOB

In deutlicher Anspielung auf Billy Wilders berühmten Film Zeugin der Anklage wurden die unglaubwürdigeren Aspekte der Handlung hier gestrichen oder gemildert, indem man die Handlung in einen nüchternen, mit Eichenholz verkleideten Gerichtssaal verlegte. Der deutliche Schwerpunkt auf die menschliche Tragödie macht Korngolds hyperromantische Musik noch eindringlicher. Kleidung und Frisur der Heliane erinnern an Marlene Dietrich, den Star in Wilders Film. Ihr Ehemann, der boshafte Herrscher dagegen, wird als jämmerlicher, impotenter Mann entlarvt, der sich verzweifelt nach der Liebe seiner Frau sehnt. Jede seiner Handlungen ist von diesem Verlangen bestimmt, und doch bleibt seine sterile Ehe zum Nichtvollzug verdammt. Seine grausamen Taten erhalten auf diese Weise einen effektiven Subtext, der das zentrale Drama sehr viel glaubwürdiger erscheinen lässt.

Der junge Fremde – bei Kaltneker und Müller-Einigen eine seltsame, christusartige Messiasgestalt – erscheint als attraktiver Befreier der unterdrückten Sexualität. Christof Loy hat verstanden, dass es in dieser Oper tatsächlich überall um Sex geht, und zwar speziell um die verwandelnde Kraft der Geschlechtsliebe, die der Unterdrückung und Verdrängung im freudlosen Reich des Herrschers ein Ende macht – ein Aspekt, auf den das originale Libretto nur leise anspielt. Dass der junge Korngold Heliane im ersten Jahr seiner glücklichen Ehe mit Luise Sonnenthal (einen Großteil sogar noch während der Flitterwochen) schrieb, ist in jedem leidenschaftlich erotischen Takt der Partitur zu hören. So hat der Komponist das Werk denn auch nicht von ungefähr seiner jungen Frau gewidmet.

„Das Wunder der Heliane“/ Theaterzettel Wien 1927/ Theatermuseum Wien

In dieser Oper gibt es nicht nur ein großes Liebesduett, sondern gleich drei, eines pro Akt, und die Arie „Ich ging zu ihm“ (1928 denkwürdig von Lotte Lehmann eingespielt), die Heliane in der Gerichtsszene des zweiten Aktes singt, ist vielleicht Korngolds schönste überhaupt – eine intensive, erotische Liebeserklärung der Titelheldin, deren Worte das Geständnis zugleich leugnen. In der chromatisch aufsteigenden Musik spiegeln sich sexuelle Befriedigung und Erschlaffung auf dieselbe wirkungsvolle Weise wie im berühmten Liebestod in Wagners Tristan und Isolde.

Das eigentliche Thema der Heliane dürfte freilich der Glaube an eine menschliche Liebe sein, deren Kraft den Tod transzendiert und überdauert. Korngold war zutiefst eingenommen von diesem Glauben an eine Liebe über den Tod hinaus: Sein Zyklus der Abschiedslieder und seine Oper Die tote Stadt erkunden ähnliche Themen.

„Das Wunder der Heliane“/ der Autor des Artikels aus dem Booklet zur DVD-Ausgabe bei Naxos, Brendon G. Carroll/ youtube

In Hollywood, seinem unfreiwilligen Exil, wandte sich der Komponist 1944 erneut diesem Thema zu. In seiner Filmmusik zu Zwischen den Welten, die er persönlich vor alle seine Filmmusiken stellen sollte, wird der Weg verschiedener Menschen ins Jenseits beschrieben. Zentrum der überarbeiteten Version von Sutton Vanes Schauspiel Outward Bound ist dabei ein junges Paar, das sich das Leben genommen hat, weil es die Trennung nicht ertragen konnte. Die Liebenden erhalten schließlich eine zweite Lebenschance. Bezeichnenderweise zitiert Korngolds äußerst romantische Filmmusik ganz bewusste Stellen aus Heliane – nicht zuletzt die schöne Arie des Pförtners aus dem dritten Akt.

Nach beinahe hundert Jahren in der Versenkung berührt Das Wunder der Heliane das Publikum heutzutage wieder mit seiner überwältigenden emotionalen Durchschlagskraft und seinem grenzenlosen, bitonalen Lyrismus. Vielleicht rührten hierher auch die beispiellosen zwanzig Minuten Ovationen bei der Premiere der neuen Berliner Produktion.

Dank der vorliegenden Aufnahme ist die einzigartige Wirkung der Heliane nun überall und für jedermann nachvollziehbar und die Zukunft des Werkes auf der Bühne scheint endlich gesichert. Brendan G. Carroll, 2018/ Deutsche Übersetzung: Katharina Duda

 

Der Korngold-Spezialist und Musikwissenschaftler Brendan G. Carroll ist der Autordes Buches The Last Prodigy, das als die definitive Korngold-Biographie gilt (Amadeus Press 1997); die deutsche Übersetzung der revidierten Fassung ist unter dem Titel Erich Wolfgang Korngold: Das letzte Wunderkind erschienen (Böhlau-Verlag, Wien 2012). Wir bedanken uns bei der Firma Naxos und vor allem beim Autor Brendon G. Carroll für die sehr freundliche Genehmigung zur Übernahme des Artikels aus der kürzlich erschienenen DVD-Ausgabe bei Naxos, die eine Aufführung an der Deutschen Oper 2019 wiedergibt.

 

 

Zu Recht wieder aufgelegt

 

Wieder auf den Markt gebracht haben Warner Classics in der Reihe The home of opera Cileas L’Arlesiana, die 1992 aufgenommen wurde und eines der seltenen Zeugnisse des Wirkens des ungarischen Tenors Péter Kelen ist, der eine Vorliebe für selten aufgeführte Verismo-Opern gehabt zu haben scheint, denn es gibt mit ihm auch eine CD mit Mascagnis Lodoletta. Diese Liebe hat offensichtlich  der amerikanische Sopran Maria Spacagna geteilt (zu kurze Karriere leider) , denn auch die Sängerin ist auf beiden Einspielungen vertreten, ebenso wie der Dirigent Charles Rosekrans.

Immerhin ist ein Track, das Lamento des Federico, bis heute populär geblieben, besonders als Zugabe bei Tenor-Recitals. Dafür und für den Rest der Partie setzt Kelen einen angenehmen, recht hell timbrierten Tenor ein, singt sehr geschmackvoll und ohne der Versuchung zu erliegen, einen Schmachtfetzen aus dem gefühlvollen Stück zu machen. Einen beachtenswerten squillo zeigt er auf „Amo“, herzerweichend klingt „soffro“, das Piano ist klangvoll, das Forte stählern, selten, so in „perchè state laggiù“, nimmt die Stimme Charaktertenorqualitäten an. Das große Duett mit dem Sopran lässt zudem den Tenor eher gequält als melancholisch klingen.

Viel vokalen Charme entfaltet Maria Spacagna als verschmähte Vivetta, wirkt akustisch jung, frisch und lässt die Spitzentöne leuchten. Über weite Strecken wird sie dank der Qualität der Stimme zur Protagonistin, die auch, wenn es dramatisch wird, mächtig aufdrehen kann.

Eine alte Bekannte ist Elena Zilio als Mamma Rosa, die inzwischen immer noch, wenn auch nun die Großmütter, singt. Seit den frühen Sechzigern steht sie auf der Bühne und hat für die geplagte Mutter eine intensiv darstellende Stimme, facettenreich und von schmerzlicher Intensität im Gebet. In der Forte-Höhe ist der Mezzo für manchen Geschmack  vielleicht zu sopranlastig, aber eindrucksvoll in jeder Note.

Der Bariton Barry Anderson singt mit viriler, dunkler Stimme zwar einen abgeklärten, aber gar nicht hinfällig, wie er behauptet, wirkenden Baldassare. Die restliche Besetzung, aus der Katalin Halmai als L’Innocente mit hellem Unschuldssopran hervorragt, ist ungarischen Ursprungs wie der Tenor.

Charles Rosekrans, ein amerikanischer Dirigent, der auch viel in Ungarn und Russland wirkte und tragisch endete, indem er sich aus dem 8. Stockwerk eines Houstoner Krankenhauses stürzte, betont gleichermaßen die Idylle (und wird dabei durch den oft aus der Ferne wirkenden Hungarian State Chorus unterstützt) wie auch die veristische Dramatik, fängt mit dem Hungarian State Orchestra die Stimmung des Intermezzo vor dem dritten Akt besonders wirkungsvoll ein (Warner Classics 0190295461294). Ingrid Wanja

Abgebissen

 

Mit einer veritablen Rarität wartet das Label passacaille auf und veröffentlicht auf zwei CDs das  Oratorio a 4 voci Adamo ed Eva von Josef Myslivecek (1053). Der böhmische Komponist, der auch in Italien studierte und dort Il Boemo genannt wurde, schrieb eine Vielzahl von Opern, Oratorien und Kantaten. Adamo ed Eva ist sein drittes von insgesamt acht Oratorien, komponiert für Florenz und dort 1771 uraufgeführt. Das Libretto wurde von dem Genueser Jesuiten Giovanni Granelli verfasst und erstmals 1747 von Baldassare Galuppi vertont. Darin finden sich der Engel der Gerechtigkeit (Angelo di Giustizia), der den Menschen aus dem Paradies vertreibt, und der Engel der Barmherzigkeit (Angelo di Misericordia), der den Gläubigen nach dem Tod das ewige Leben schenkt. Ersteren singt die renommierte Barockspezialistin Roberta Mameli, die beispielsweise an der Berliner Staatsoper als Monteverdis Poppea und bei den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci gefeiert wurde, mit leuchtendem, persönlichkeitsstarkem Sopran, kann sogleich in ihrer ersten Arie, „Quell’affanno“, auftrumpfend brillieren. In ihrem zweiten Solo, „Colla mano omnipossente“, und dem letzten Auftritt, „Toglierò le spnde al Mare“, vermag sie diesen Eindruck mit bravourösen Koloraturrouladen sogar noch zu steigern. Die andere Rolle nimmt die Sopranistin Alice Rossi wahr, klingt leichter, aber gleichfalls gelenkig und absolviert ihre erste Arie „Chi sa“ mit beherztem Zugriff. „Cara speranza“ im zweiten Teil wird getragen von lieblichen Ornamenten und souverän geboten. Bei „Renderò le sponde al Mare“ am Ende wird sie noch einmal zu virtuoser Höchstleistung gefordert. Die beiden Angeli finden sich klangvoll und bravourös vereint im Duett „Non è crudel rigore“.

Die Titelrollen sind mit dem Tenor Valerio Contaldo und der Mezzosopranistin Luciana Mancini besetzt. Adamo fällt die erste Arie des Oratoriums zu, „Sente quest’alma oppressa“, die der italienische Sänger entschlossen angeht, die Koloraturen zupackend formuliert und insgesamt mit männlicher Verve überzeugt. Eva folgt mit der lieblich wiegenden Arie „Non ti chieggo amor“, von der Sängerin mit leicht herbem Timbre sehr kultiviert geboten. Danach vereinen sich die Titelhelden im aufgewühlten Duett „Ah, formidabil suono“. Die beiden Stimmen mischen sich harmonisch und  haben mit den Koloraturläufen keine Mühe. Bei Adamos zweiter Arie, „Nó, che vano“, fällt die stilistische Nähe zum Titelhelden von Mozarts Tito auf, die der Interpret souverän wahrnimmt. Sein letztes Solo, „Amare lagrime“, ist in seinem schmerzlichen Melos besonders anrührend. Evas zweite Arie, „Non so se il mio peccato“, ist ein schwermütiges Stück, während „Se al Ciel miro!“ von Hoffnung getragen wird. Alle Solisten vereinen sich zum Schluss im Chor „Se la serena fronte“.

Das auf historische Aufführungspraxis spezialisierte Barock-Ensemble Il Giardellino leitet Peter Van Heyghen, der sich speziell der Musik zwischen 1500 und 1800 widmet. In der dreisätzigen Ouvertur gelingt ihm ein bemerkenswerter Einstieg, weiß er doch zwischen dem stürmischen Allegro con brio, dem bedächtigen Andante und dem energisch drängenden  Presto spannungsvoll zu variieren. Auch später hört man immer wieder Momente von feinfühliger Begleitung und inspiriertem Musizieren. Bernd Hoppe

Reifes Regiewerk

 

Wohl nicht so recht wusste die rechte Regiehand, die für den Chor, was die linke, die für die Solisten, wollte bei der Inszenierung von Hans Neuenfels für Tschaikowskis Pique Dame in Salzburg 2018. Während den Solo-Sängern eine psychologisch fundierte, bis ins Detail schlüssige und, wenn ungewohnte, dann doch nachvollziehbare Führung zuteil wurde, musste der Chor die vom Regisseur in früheren Zeiten gewohnten Mätzchen erdulden. Dazu gehören in Käfigen auf die Bühne geschobene Kinder, die von den Gouvernanten an Strippen dirigiert werden, während die übervollbusigen Njanjas sich aus dem trüben Geschehen heraushalten. Der Chor der Erwachsenen erscheint, obwohl nur das erste Frühlingslüftchen über die Newa weht, in Badekleidung und mit Schwimmbewegungen, und auch in den Folgeakten sind Einheitskleidung und entstellende Kopfbedeckungen Pflicht. Für diese war Reinhard von der Thannen verantwortlich, aber auch für die Klischeebedienung, was die Solisten anging, die in dicken Pelzen, mit Wallehaar und ebensolchen Bärten und die Wodkaflache in der Hand die Szene bevölkern. Nur Hermann trägt eine knallrote Husarenuniform, die Jacke durchgehend offen und die behaarte Brust zeigend. Das Geschehen spielt sich vor einer grauen Wand ab, vor die mal ein kleines Krankenzimmerchen für die Gräfin geschoben oder auf die für die Liebesszene ein Sternenhimmel projiziert wird (Szene Christian Schmidt). Natürlich dürfen in einer Neuenfels-Inszenierung Tiere nicht fehlen, und so treten hier, nach den Fröschen in Rigoletto oder den Bienen in Nabucco in Berlin, drei wirklich schafsmäßig dümmlich dreinblickende Paarhufer auf und lassen die Schäferszene, bei der Kinder spielen und die Sänger sich konzertant verhalten, besonders farbig werden. Wenn am Schluss des Akts die Zarin als riesiges Gerippe auf der Bühne erscheint, denkt man doch gleich an die Orgie mit einer Vielzahl solcher trüben Gestalten im Rigoletto. Fast nicht weniger ungewöhnlich als die Zarin ist die Gräfin anzuschauen, die eine rote Perücke, ein giftgrünes Kleidchen, rote Schuhe und Handschuhe trägt, gar nicht hinfällig wirkt und in einer der stärksten Szenen Hermann zu verführen versucht, sich, nachdem ihr das nicht gelingt, sich wenigstens den Pistolenlauf (Phallussymbol!) in den Mund steckt. Das ist eine wirklich großartig und den Zuschauer berührend gespielte Szene, die von der fast 75jährigen Hanna Schwarz, auch sehr fein und sehr verinnerlicht im Couplet, gesungen wird.

Bewundern muss man auch den Sänger des Hermann, den amerikanischen Tenor Brandon Jovanovich, der die kraftraubende Partie nicht nur sehr anständig und in allen Lagen gleich präsent, wenn auch nicht mit Ausnahmetimbre singt, sondern atemberaubend gut spielt, sie von Anfang an als vom Wahn Besessener auffasst, den auch die Liebe Lisas nicht kurieren kann.  Diese besitzt in durchgehend Schwarz-Weiß gekleidet eine kühle Ausstrahlung und Evgenia Muravevas  gesunden, kraftvollen und leuchtenden Sopran. Polina ist in Hot Pants Oksana Volkova mit dunkel loderndem Mezzosopran. Mit balsamischem Bariton singt Igor Golovatenko seine schöne Liebeserklärung an Lisa, die jedoch offensichtlich die Vision von mittäglichem Familientisch mit gleich vier Sprösslingen an der Tafel von seiner Seite treibt. Dämonisch bis sarkastisch singt der dunkel gefärbte Bariton Vladislav Sulimskys seine beiden Bravourstücke als Tomsky.  Auch seine Kameraden sind rollendeckend und damit gut besetzt.

Wie immer bei Neuenfels gibt es keine Über- oder Untertitel, umso sprechender sind die Philharmoniker unter Mariss Jansons und schwelgen in Schwermut, Melos und Dämonie (Blu-ray Unitel 801504). Ingrid Wanja 

So virtuos wie berührend

 

Kaum jemals wohltönender als mit den Klängen, die Magdalena Koženás Mezzosopran zu produzieren weiß, ist die Klage antiker Heldinnen wie Ariadne oder Hero um verlorenes Glück bzw. abhanden gekommene Liebhaber geäußert worden auf der CD mit dem schönen Titel Il giardino dei sospiri. Und wirklich vor allem sanfte sospiri, Seufzer, kaum je dramatischere singhiozzi, Schluchzer, trauern den glücklichen Tagen mit Teseo oder Leandro nach, dazwischen gibt es einen Ausflug in die italienische Renaissance mit Leonardo Leos Geplänkel zwischen Angelica und Medoro. Das Booklet bevorzugt eine Gliederung nach Entstehungsorten, so dass nach dem jungen Händel in Rom und seiner Hero sowie  der Arianna Abbandonata Benedetto Marcellos und Venedig auch noch Neapel als Entstehungsort barocker Kantaten gewürdigt wird.

Ein würdiger Partner ist der Sängerin das Collegium 1704 unter Václav Luks, das den Orchesterstücken zu der Arianna ein aufgewühltes Prestissimo, eine schwerblütiges Adagio assai und ein nervös flatterndes Presto angedeihen lässt. Das klingt alles gar nicht akademisch, sondern frisch, modern und äußerst interessant. In den Rezitativen und Arien der zeitweise unglücklichen Heldin lassen sich der leichte Tonansatz, die ebensolche Emission der Stimme bewundern, die sanfte Trauer mit punktuellem Aufbegehren, die sich wie ein Selbstheilungsprozess schon vor der Ankunft von Bacco anhören. Flexibilität, äußerste Geschmeidigkeit der Stimme sind auch im abschließenden Che dolce foco in petto zu bewundern.

Für Leonardo Vincis Sinfonia zu Maria dolorata lassen sich ähnliche Tugenden des Orchesters wie die oben erwähnten feststellen, ebenso ergeht es dem Hörer mit der Sinfonia zu Händels Agrippina, die so wild bewegt wie kontrolliert dargeboten wird.

Francesco Gasparinis Atalia stattete der Komponist mit Irrsinnsverzierungen aus, die die Kožená souverän bewältigt, dazu ist ein exemplarisches chiaroscuro zu bewundern.

Eine beschwingte Anmut wird den Arien von Leonardo Leo zuteil, ein feines, bukolich angehauchtes Säuseln oder raffinierte Rubati wie in Che detto avranno mai.

Den Abschluss bilden Rezitative und Arien der Hero nach dem Tod Leandros, der ertrank, weil das ihm den Weg zur Geliebten weisende Licht erlosch. Zunächst könnte man sich ein zupackenderes Herangehen an die Schmerzensäußerungen denken, aber dann wird dem Hörer bewusst, dass es die Sängerin wohl bewusst auf ein Sichsteigern angelegt hat, ehe auch ihre Heldin  nach heftigem Aufbegehren gegen das Schicksal den Tod sucht. Raffinierte Verzierungen überzeugen als Äußerungen des Schmerzes, scheinen nie Selbstzweck zu sein, so bleiben die einzelnen Tracks auch nicht als unverbundene Nummern im Gedächtnis, sondern fügen sich zu einer dramatischen Geschichte (Pentatone PTC 5186 725). Ingrid Wanja

Shakespeare-Entertainment

Den Lesern von operalounge.de wird nicht entgangen sein, dass Teile der Redaktion das (vor-)victorianische Operntheater lieben. In der Vergangenheit haben wir viel zu Wallace, Benedict, Balfe, Loder und anderen mehr gemacht und damit das Vorurteil widerlegt, dass die britischen Inseln keine eigene Opernkultur haben. Haben sie, wenngleich wie etwas später Gilbert & Sullivan in anderer, stanzenähnlicher Form als auf dem Kontinent. Die meisten Werke sind im Opéra-comique-Stil mit mehr oder weniger lustigen Sprech- und eher schlichten musikalischen Passagen. Aber sie waren unendlich beliebt und richteten sich an die Massen, die in den großen Vergnügungsparks wie Vauxhall Gardens sich Ausschweifungen jeglicher Art hingaben.

Charles Didbin & David Garrick: „The Jubilee“ bei Retrospect Opera

Das jüngst ajuf CD gelangte Entertainment The Jubilee von Charles Didbin und dem Starschauspieler David Garrick fällt in diese Kategorie (RO006/  es singen Soraya Malfi, Heather Shipp, Robert Murray und Simon Butteriss – begleitet von Stephen Higgins am Broadwood Flügel von 1801). Wie der Musikwisenschaftler und spiritus rector David Chandler (unseren Lesern kein Unbekannter, haben wir doich viele Texte von ihm bekommen können) schreibt, wurde The Jubilee anlässlich David Garricks drei Tage andauernden Shakespeare-Festival in Stratford on Avon 1779 aufgeführt (also in georgianischer, nicht victorianischer Zeit). Dies Festival war das renommierteste im 18. Jahrhundert Großbritanniens.  Es war eine durchaus musikalische Veranstaltung, zu der Charles Didbin funkelnde Songs geschrieben hatte. Er galt als einer der führenden jungen Komponisten der Zeit. Garrick Baute schließlich aus diesen Songs die musikalische Komödie The Jubilee zusammen, die auch auf den Londoner Bühnen triumphale Erfolge bekam.

Dieses neue Album bei Retrospect Records bietet nun einen guten Eindruck von diesen musikalischen Perlen. Angekoppelt ist die Kantate Queen Mab von Dibdin, ebenfalls für das Stratford Festival geschrieben, und seine spätere Komposition von1997, Datchet Mead, in der Didbin erneut zu Shakespeare zurückkehrt und die Hochzeit der Königlichen Prinzessin Charlotte feiert. Der Artikel von David Chandler geht im Folgenden auf die Umstände im Detail ein, Daniel Hauser hat seinen Artikel für uns exklusiv übersetzt – Dank an beide. G. H.

David Garrick und Charles Didbin / British Library

„Der Barde der Barden war ein Warwickshire-Barde“: Eine Shakespeare-Feier mit David Garrick und Charles Dibdin. David Garricks Shakespeare-„Jubiläum“, dasjenige kulturelle Ereignis im Großbritannien des 18. Jahrhunderts, über das am meisten gesprochen wurde, fand zwischen dem 6. und dem 8. September 1769 in Stratford-upon-Avon statt, inmitten einer beispiellosen Anteilnahme der Öffentlichkeit. Die Reihe von Ereignissen, die dazu führte, begann 1767, als die Stratford Corporation beschloss, Garrick (1717-1779), den mit Abstand berühmtesten Schauspieler der Zeit sowie Manager des Drury Lane Theatre, in der Hoffnung anzusprechen, dass er ihr ein Porträt und eine Statue von Shakespeare geben würde, um das geplante neues Rathaus zu schmücken. Garrick verehrte Shakespeare und hatte sogar einen Tempel für ihn im Garten seines Hauses in Hampton errichtet. Er war bekannt für seine Sammlung von Shakespeare-Porträts und Reliquien. Im stillschweigenden Austausch für die erhofften Kunstwerke wollte die Corporation Garrick zum Ersten Ehrenbürger von Stratford machen.

Garrick, das Zentrum der Londoner Shakespeare-Welt, kam dadurch in regelmäßige Verbindung mit Stratford, einem verschlafenen Städtchen (teilweise Dorf immer noch Dorf genannt) mit einer Bevölkerung von 2.000 Seelen. Gegen Ende 1768 erwog er die Möglichkeit, die Einweihung des neuen Rathauses mit einem großen Fest zu Ehren Shakespeares zu kombinieren, in eben jenem Ort, in welchem der große Dichter geboren und ausgebildet wurde und die ersten zweieinhalb Jahrzehnte seines Lebens verbrachte – bis er, der Standardbiographie des 18. Jahrhunderts gemäß, nach London floh, um nicht für Wilderei belangt zu werden. Nach Monaten des frenetischen medialen Interesses, in denen die Pläne für das Jubiläum immer konkretere Formen annahmen, wurde Stratford Anfang September 1769 von einem Großteil der Shakespeare’schen Gefolgschaft aus London überflutet, Anhängern und Neugierigen zugleich (darunter Garricks Gegner) aus dem ganzen Land. Die Bewohner von Stratford bemerkten schnell, dass ihr bestverkäuflichstes Produkt nicht die Wolle, sondern Shakespeare war. Souvenirverkäufer hatten einen großen Tag, besonders diejenigen, die hölzerne Artikel verkauften, die angeblich von jenem Maulbeerbaum stammten, den Shakespeare im Garten seines letzten Zuhauses, New Place, gepflanzt hatte und der 1756 gefällt worden war. Als man Garrick die Ehrenbürgerwürde von Stratford verlieh, geschah dies in einer speziellen Box, die aus dem Holz eben jenes Baumes geschnitzt war. Jeder, der eine Unterkunft zur Verfügung stellen konnte, machte ebenfalls ein Vermögen, und am meisten profitierte davon John Payton, der Besitzer des White Lion, der führenden Schenke der Stadt, wo sich Garrick und seine Frau einquartiert hatten. Um dem Anlass gerecht zu werden, benannte Payton die Räumlichkeiten nach Shakespeare-Stücken – aus der Bar wurde Maß für Maß.

David Garrick as Hamlet, with Mrs. Hopkins as Gertrude. Folger Digital Image/ Wiki

Aus heutiger Sicht seltsam, dachte Garrick niemals daran, ein Shakespeare-Stück als Teil des Jubiläums aufzuführen. Er hätte vermutlich dergestalt argumentiert, dass die Werke, geschrieben für die Londoner Theater und dort nach wie vor aufgeführt, zudem zunehmend in repräsentativen, mehrbändigen Editionen gedruckt – diejenige von Dr. Johnson erschien 1765 – bereits genügend gewürdigt würden. Was fehlte, war eine angemessene Würdigung des Genies hinter den Stücken, ein Mann, dessen Einfallsreichtum bei weitem alles überstieg, was ein einzelnes Stück und noch weniger eine einzelne Aufführung dieses Stückes erreichen konnte. Doch hatte Garrick nicht die Intention, Shakespeare auf einen erhabenen Sockel zu heben, abgegrenzt von der Populärkultur. Eher das Gegenteil war der Fall: Teil seines Planes war es, den Barden als eine Art Volkshelden zu etablieren, den Volkspoeten – das literarische Gegenstück zu Robin Hood, den traditionellen Liebling der Balladenschreiber. Zu diesem Zweck verfasste Garrick eine Reihe von Liedtexten, die Shakespeare nicht nur als literarischen Genius, sondern auch als den „ersten unter allen Bauernburschen“ (Track 17) feierten und als einen sympathischen Schurken – er hatte, trotz allem, gewildert!

Diese Lieder wurde von Charles Dibdin (1745-1814) komponiert, einem immens begabten jungen Komponisten, den Garrick 1768 nach Drury Lane gebracht hatte. Dibdins komische Oper The Padlock (Das Vorhängeschloss), in welcher er selbst als der schwarze Diener Mungo auftrat, war einer der größten Erfolge in der Londoner Spielzeit 1768/69, weswegen er ein naheliegender Mitarbeiter wurde. Gleichwohl erwies sich die Zusammenarbeit der beiden Männer als schwierig und sollte es über Jahre bleiben. Dibdin würde sich nach Garricks Tod folgendermaßen beschweren: „Ich arrangierte und überarbeitete [die Jubiläums-]Lieder … bis meine Geduld zu Ende war“, wobei seine Fassungen von Garrick „aus Ignoranz oder Launenhaftigkeit angenommen oder zurückgewiesen wurden“. Wie auch immer, waren die Endresultate einige großartige Lieder, die perfekt zum geplanten Jubiläum passten. Ein kleine Begleitbroschüre mit den Liedtexten wurde unter dem Titel Shakespeare’s Garland von Garricks Freund Thomas Beckett verlegt und am ersten Tag des Jubiläums veröffentlicht. Es wurde zu einem Beststeller und hielt sich bis 1816 im Druck.

Didbin & Garrick: „The Jubilee“/ Georgian entertainment – from pleasure gardens to blood sports / The British Library

Vieles von der Musik, die auf dieser CD enthalten ist, konnte man zum ersten Mal am 6. September 1769 hören, Tag eins des Jubiläums. Der denkwürdige Tag begann um 6 Uhr morgens, als dreißig Kanonen am Ufer des River Avon zahlreiche Festsalven abfeuerten. Alle Kirchenglocken von Stratford läuteten und sogleich danach besuchten Dibdin und eine Gruppe von Sängern und Musikern zahlreiche Herbergen und Gesellschaftsdamen, um sie mit einer wunderschönen Morning Address (Track 8) zu begrüßen. Garricks Intention war es wohl gewesen, dass einzig dieses Lied vor dem Frühstück erklänge, doch Dibdin und die Sänger wurden es müde, die Serenade endlos zu wiederholen und begannen, andere Lieder zu singen, darunter The Warwickshire Lad (Track 11), welches zum musikalischen Hit des Festivals werden sollte. Um 8 Uhr fand eine Reihe formaler Veranstaltungen statt, beschlossen von einem großen Frühstück im neuen Rathaus. Im Zuge dessen spielte die Regimentskapelle der Warwickshire Militia draußen eine Reihe von Märschen und zudem eine speziell geprobte Version des Warwickshire Lad. Das Morgenessen wurde um 10.30 Uhr beschlossen und die Gesellschaft begab sich anschließend in die Kirche anlässlich einer Aufführung des Oratoriums Judith von Thomas Arne – ein Werk ohne eine Verbindung zu Shakespeare, doch ausgewählt, um den Feierlichkeiten eine kulturelle Gravität zu verleihen. Nach dem Ende des Oratoriums kam es gegen 14 Uhr zu einer Prozession zu Shakespeares Geburtsstätte, angeführt von einer Kapelle und einem Chor, der den Chorus from the Church intonierte (Track 21). Zeitgenössische Kommentatoren waren beeindruckt von der außerordentlichen Mischung der sozialen Klassen, die daran teilnahmen. Nach dem Besuch des Geburtshauses begaben sich die 700 Glücklichen, die Karten besaßen, zur Rotunda, einem speziell errichteten Gebäude am River Avon, wo ein großes Dinner um 15 Uhr stattfinden sollte, obschon es sich letztlich um fast eine Stunde verzögerte.

Gleich nach diesem Dinner, gegen 17 Uhr, begann ein Konzert in der Rotunda, an welchem Musiker und Sänger aus dem Drury Lane Theatre beteiligt waren, geleitet von Joseph Vernon und Sophia Baddeley. Die allermeisten der Jubiläumslieder Dibdins wurden gespielt und das Publikum hatte mannigfaltige Gelegenheit, dabei mitzumachen. Dibdins Kantate Queen Mab mit dem Text von Isaac Bickerstaffe (dem Librettisten von The Padlock) wurde ebenfalls inkludiert und stand, bedingt durch seine größere Ernsthaftigkeit, vermutlich als erstes auf dem Programm. Diese Ereignisse des ersten Tages zeugten von der großen Shakespeare-Liebe, die das Jubiläum inspirierte. Shakespeare wird beschrieben als „des Himmels meist geliebte Kreatur“ und unter anderem als Sov’reign oft he human heart (Track 3). Diese Empfindungen nahmen Garricks große Ode upon dedicating a Building, and erecting a Statue to Shakespeare, at Stratford Upon Avon vorweg, die am zweiten Tag vorgetragen wurde als spiritueller Höhepunkt des Jubiläums. Dibdin war von Queen Mab angetan genug, um es – höchst ungewöhnlich – mit dem Großteil der Noten zu veröffentlichen, wodurch wir in der Lage waren, es mit Hilfe eines Kammerorchesters dergestalt zu rekonstruieren, wie es 1769 wohl erklungen sein mag.

Dibdin / Garrick: „The Jubilee“/ Heinrich Füsslis „Queen Mab“ von 1815/1820/Wikipedia

Nach Queen Mab – sofern dies als erstes gespielt wurde – kamen Lieder aus Shakespeare’s Garland sowie ein kleiner komischer musikalischer Dialog namens The Country Girl, den Garrick zu diesem Anlass geschrieben hatte, wiederum mit der Musik von Dibdin. Hier spielten Sophia Baddeley und Eleanor Radley zwei Mädchen vom Lande, die das Jubiläum würdigten; das Lied All this for a Poet (Track 18) und das Duett Let us sing it and dance it (Track 19) kamen zu Gehör. Um halb 7 Uhr abends endete das Konzert und alle sangen God Save the King. Danach gab es Tee und Kaffee, verbunden mit der anschließenden Möglichkeit, die verschiedenen Beleuchtungen, die in der Stadt angebracht worden waren, zu besuchen wie auch einen Abendball, der einige neue Tänze beinhaltete, welche vom omnipräsenten Dibdin stammten.

In nahezu jeder Hinsicht war der erste Tag des Jubiläums ein Triumph gewesen. Leider brachte der nächste Morgen heftigen Regen. Das führte dazu, dass die große Prozession beziehungsweise der Festumzug von Shakespeare-Charakteren und Triumphwägen durch die Stadt mit Kostümen aus dem Drury Lane Theatre, der von Garrick als Mittelpunkt des Jubiläums vorgesehen worden war, ausfallen musste. Man machte den Regen verantwortlich, hätten die Kostüme dadurch doch leicht beschädigt werden können, doch Dibdin fühlte, dass die ganze Konzeption fehlerhaft war: „Hätte der Umzug in Stratford stattgefunden, wären die Straßen so uneben gewesen, dass die Wägen von Melpomene (Tragödie), Thalia (Komödie) und den Feen aufgrund von Erdspalten im Pflaster umgeworfen worden wären; das Leder, Lametta und der sternübersäte Schmuck hätten im Tageslicht eine bedauernswerte Figur abgegeben.“ Diese Prozession sollte sich zur Rotunda bewegen, wo Garrick seine Ode zu musikalischer und choraler Begleitung (dieses Mal komponiert von Arne) zum Besten gegeben und einen Lorbeerkranz auf der Shakespeare-Statue placiert hätte. Danach wäre man abermals zum Rathaus gegangen und hätte diese Statue in einer Nische aufgestellt. Trotz dieser Widrigkeiten trug Garrick die Ode dem durchnässten Publikum schließlich in der Rotunda vor, und sie wurde zu einem großartigen Erfolg. Dibdin selbst, der in späteren Jahren so kritisch gegenüber Garrick war, schrieb, „dass es niemals einen solchen Enthusiasmus gegeben habe, der so leidenschaftlich vermittelt und würdig gefühlt wurde“. Danach fand ein spätes Abendessen statt und ein zweites Konzert, das auf Shakespeare’s Garland basierte, doch blieb der Regen unerbittlich, was die zweite Hälfte des Jubiläums in ein ziemliches Fiasko verwandelte. Garrick verließ Stratford so bald er konnte unter dem Eindruck einer tiefen Verbitterung; er nannte Statford nun „die dreckigste, ungeziemendste, schlechtbezahlteste, erbärmlichste Stadt in ganz Britannien“. Er sollte nie wieder dorthin zurückkehren. Seine persönlichen Verluste während des Festivals beliefen sich auf 2.000 Pfund, eine gewaltige Summe zu jener Zeit, als ein Abend im Pakett im Drury Lane Theatre drei Schillinge kostete (und ein Sitzplatz in der Galerie gerade einen Schilling).

Didbin & Garrick: „The Jubilee“/ James Gillra: „Le Baiser a la Wirtembourg“, 15 April 1797 (detail) / British Museum

Nachdem Garrick seinen Gleichmut zurückgewonnen hatte, fand er gleichwohl Gründe für Optimismus. Drei Dinge vereinigten sich in seinen erfindungsreichen Gedanken: Zum einen erwiesen sich die Lieder von Dibdin als höchst populär und konnten nun umfunktioniert werden. Zum Zweiten hatte Dibdin recht hinsichtlich des Festumzuges; er passte viel besser zu einer spektakulären Präsentation auf der Bühne von Drury Lane. Und zum Dritten machten sich Humoristen im ganzen Land lustig über Jubiläen, und Garrick spürte, dass er jene übertreffen konnte, indem er sich selbst einen furchtbaren Spaß aus seiner eigenen Stratford-Veranstaltung machte. Diese Dinge miteinander verschmelzend, erwuchs die Idee zu seinem The Jubilee, eine kunstvolle Bühnenversion des Umzuges mit Musik und Schauspielszenen aus den Stücken, die in einige komische Szenen der Jubiläumsfeierlichkeiten von Stratford integriert wurde. The Jubilee suggeriert, dass der Umzug tatsächlich stattfand, allerdings mit einem komisch-brillanten Wink zu den tatsächlichen Ereignissen. Garricks zentraler Charakter ist ein Ire, der es zustande bringt, zur falschen Zeit einzunicken und dadurch den Umzug verpasst! Dibdin wurde nun gebeten, einen neuen Text des Jubilee Song zu schreiben, der diesen parodiert (Track 10). The Jubilee hatte seine Uraufführung am 14. Oktober 1769, gerade fünf Wochen nach den Feierlichkeiten in Stratford. Es war ein sofortiger und anhaltender Erfolg und lief allein in der ersten Spielzeit bereits 91-mal, Rekord im 18. Jahrhundert. „Es gab niemals ein Unterhaltungsprodukt, welches in den Logen, im Parkett und in der Galerie so viel Vergnügen bereitete“, schrieb William Hopkins, der Souffleur des Drury Lane. Der Profit entschädigte Garrick für seine Verluste in Stratford mehrfach.

The Jubilee verschwand lange Zeit von den Bühnen. Es wiederzubeleben bedingt eine Reihe von Herausforderungen. Unsere Adaption des Werkes für eine Audioaufnahme erfolgte in zwei Schritten. Zunächst kürzten und vereinfachten wir es, indem wir einen guten Teil der gesprochenen Dialoge herausnahmen, die in keinem Bezug standen zu den Liedern. Garricks verschiedene Örtlichkeiten (das Haus einer alten Dame, eine Straße, die Schenke White Lion, auf dem Lande, eine Straße, auf dem Lande und schließlich Durchsichtigkeit) wurde zu einer einzigen, vereinheitlichten Straßenszene einer klassischen Komödie zusammengelegt. Dies kann ohne ernsthafte Beeinträchtigung der Erzählung erfolgen und demonstriert die Durchführbarkeit einer modernen Produktion mit nur einem einzigen Set. Jeder, der diese gekürzte Fassung im Theater spielen will, muss sich lediglich die Kulisse einer Straße des Stratford im 18. Jahrhundert vorstellen, mit einer Poststelle auf einer Seite der Bühne und dem White Lion auf der anderen, beide mit geeigneten Türen. Das zweite Bühnenbild unserer Fassung war die Vorstellung, wie Dibdin in den 1790er Jahren zu seinem Werk zurückkehrt, um es in seinem eigenen kleinen Sans Souci Theatre in London aufzuführen. Hier konnte er es nicht zustande bringen und es wurde etwas zum Hören, nicht zum Sehen. Dies nimmt viel von der Distanz zwischen dem Publikum von 1769, das eine visuelle Show in einem großen Londoner Theater zu sehen bekam, und dem modernen Hörer der Audioaufnahme im eigenen Zuhause. Im Sans Souci war Dibdin natürlich der Star der Aufführung, dem es aufgrund seines komödiantischen Genies gegeben war, die Personifikation der ganzen Reihe an Charakteren von Garrick selbst zu übernehmen – ein Unterfangen, das hier Simon Butteriss unternimmt.

Didbin & Garrick: „The Jubilee“/ David Chandler , der Autor des Artikels. David Chandler is a professor of English at Doshisha University in Kyoto. His background is in English Romanticism (M. Phil and D. Phil, Oxon), but he has wide-ranging research interests in English and Italian opera. He has edited books on the Italian composers Alfredo Catalani and Italo Montemezzi and published many articles and reviews on British musical theatre, including pioneering accounts of Edward Cympson (1838-1905), Alan Doggett (1936-78) and nineteenth-century musical adaptations of Charles Dickens’s novels. David has recently written a series of commissioned essays, including one on Romantic opera for a book titled Into the Eurozone, and another about Andrew Lloyd Webber for The Oxford Handbook of the British Musical/ Quelle Restrospect Opera

Wir wissen, dass Dibdin noch in den 1790ern von Erinnerungen an das Jubiläum verfolgt wurde, enthält doch sein erster Roman The Younger Brother (1793) ein merkwürdiges Kapitel in Warwickshire mit dem Titel A Jubilee of Hearts, das mit einer seltsamen Mischung aus Bewunderung , Hohn und auch Nostalgie zurückblickt auf Garricks großes Event. Dibdins eigenes tiefes Eintauchen in den Shakespeare-Kult von 1769 muss ihm gewiss besitzergreifende Gefühle gegeben habe, und als er die Hochzeit von Prinzessin Charlotte, der ältesten Tochter von Georg III., mit Friedrich, dem Sohn und Erben des Herzogs von Württemberg, die am 18. Mai 1797 stattfand, zelebrierte, kehrte er zurück zum großen Barden für seine eigene Inspiration. Das war in vielerlei Hinsicht angemessen, nicht zuletzt deswegen, weil Shakespeare in Deutschland mittlerweile genauso bewundert wurde wie in England. Allerdings scheint Dibdins anfängliche Inspiration für Datchet Mead, or The Fairy Court aus dem Fakt erwachsen zu sein, dass Charlotte in Windsor aufgewachsen war, nicht nur dem bevorzugten Sitz der königlichen Familie, sondern auch der Handlungsort von Shakespeares einziges romantischer Komödie auf britischem Boden: Die lustigen Weiber von Windsor, die in Datchet Mead dreimal erwähnt werden. Dies ist Shakespeares unverwechselbare Weise, sich auf Datchet Common zu beziehen, das Gemeindegut in der Umgebung von Windsor Castle. Betrachtet man diese Kombination der Elemente inklusive des Datums, so besteht die faszinierende Möglichkeit, dass Dibdin mit seinem leidenschaftlichen Interesse an Theatergeschichte, auf Informationen gestoßen war, die Shakespeare-Wissenschaftler bis dato nicht berücksichtigt hatten: Der Fakt nämlich, dass ein früherer Herzog Friedrich von Württemberg am 23. April 1597 zum Ritter des Hosenbandordens ernannt worden war, ein Ereignis, das Shakespeare direkt zu seinem Stück inspiriert haben mag mit seinen Referenzen auf England besuchende Deutsche und Zeremonien des Hosenbandordens. Wie auch immer, der Höhepunkt der Lustigen Weiber ist eine Feenszene mit einer Feenkönigin, was als hübsches Kompliment an Elisabeth I. zu deuten ist. Tatsächlich wusste das Publikum, dass die Feen ortsansässige Kinder in Verkleidung waren, doch hatte Shakespeare mit Ein Sommernachtstraum auch ein echtes Feenstück geschrieben – „‘Twas Shakespeare that the Fairies made“ in Queen Mab (Track 4) –, ein Werk, das eine Hochzeit feiert und Königin Elisabeth beglückwünscht. Indem er Einfälle aus diesen Stücken zusammennahm, kam Dibdin zur Grundidee für Datchet Mead: Die Feen würden sich außerhalb von Windsor versammeln, um die königliche Hochzeit zu feiern. An der Spitze dessen stand Shakespeares Beschreibung von Queen Mab in Romeo und Julia, welche Dibdin und Bickerstaffe zur Kantate von 1769 inspiriert hatte.

Datchet Mead wurde am 20. Mai 1797 erstaufgeführt und als Serenade beschrieben. Es handelte sich wahrscheinlich um die ausgedehnteste musikalische Komposition, die Dibdin jemals an seinem eigenen Sans Souci Theatre in London präsentierte. Er hatte dieses 1791 als Veranstaltungsort für „Tischunterhaltungen“ eröffnet, Ein-Mann-Shows mit Liedern und gesprochenen Dialogen. Datchet Mead war in Verbindung mit Valentine’s Day, die Darbietung Dibdins vom 14. Februar 1797. Gelegentlich engagierte er weitere Musiker, so etwa zur Aufführung seiner Ode in Honour oft he Nuptials of Their Royal Highnesses the Prince and Princess of Wales, erstmals gespielt am 21. April 1795. Die Hochzeitsfeier für Charlottes Bruder, den späteren Georg IV., war der offensichtliche Vorgänger von Datchet Mead. Dibdin versuchte offenkundig seine royalistische Grundhaltung in diesem turbulenten Jahrzehnt zu etablieren, in welchem Georg III. eine populäre nationale Figur wurde im Kampf gegen das revolutionäre Frankreich. Was er in der Einleitung der Ode sagt, betrifft fraglos auch Datched Mead: „Ich frohlocke, weil ich ein Engländer bin; weil die wahre Sicherheit der englischen Freiheit, die mich mein Vater lehrte zu ehren, die ich großzügig genieße und welche das  höchste Glück meiner Kinder begründet, dadurch gefördert wird.“ Freilich war Dibdin nicht von Natur aus Teil des Establishments, und ein schlauer (und abzuleugnender) Zug von Subversion kann aus Datchet Mead herausgelesen werden. Da ist zum einen die lange Unterbrechung der Feierlichkeit, verursacht durch die Fee Fub, eine Rolle, die Dibdin unzweifelhaft selbst übernommen hätte. Johnsons Dictionary gibt zwei Definitionen von fub, keine besonders fein: aufschieben und plumper, molliger Junge. Zum Zweiten war Friedrich von Württemberg für seinen immensen Umfang bekannt, wie in einer Reihe grimmiger Karikaturen von James Gillray ersichtlich wir – man betrachte Le Baiser a la Wirtembourg (Der württembergische Kuss). Alle drei Referenzen auf die Lustigen Weiber in Datchet Mead beziehen sich auf Instruktionen an die Dienerschaft, dass ein amouröser fetter Ritter aus Windsor in schmutziger Wäsche getragen und in den dortigen Schlammgraben geworfen werden soll. Dibin kann hier so gedeutet werden, dass er eine wenig schmeichelhafte Assoziation zwischen Friedrich und Falstaff herstellen wollte. David Chandler/ aus dem Englischen, von Daniel Hauser

Die Erste von Dreien

 

Gleich dreimal lässt Donizetti in seinem reichen Opernschaffen die englische Königin Elisabeth I. vergeblich nach einem Liebhaber schmachten, und zweimal davon ist es der Graf Leicester, der allerdings unterschiedliche Damen mit seiner Gunst beehrt. Oft auf die Bühnen kommt Maria Stuarda, der die Rivalität mit der Königin nicht gut bekommt, weniger, aber immerhin bekannt ist Roberto Devereux, der einer Sara den Vorzug vor der Herrscherin gibt, im kaum bekannten Il Castello di Kenilworth ist wieder Leicester das Objekt königlicher Begierde, aber bereits, wenn auch heimlich, verehelicht. Schon bei seiner Uraufführung in Neapel hatte diese erste der Königinnenopern nicht viel Glück, was auch daran lag, dass Rossini, vor Donizetti Opernlieferant am San Carlo, ein Werk ähnlichen Inhalts mit Elisabetta, regina d‘Inghilterra komponiert hatte. In Bergamo, das in jedem Herbst seinen Komponisten mit einem Festival ehrt, wurde bereits 1989 die zweite Fassung des Castello mit einem Bariton als Bösewicht mit Mariella Devia und Denia Mazzola Gavazzeni aufgeführt, im Jahre 2018 nun die ursprüngliche Fassung mit einem Tenor in dieser Partie: Die vorliegende Aufnahme ist also die erste derselben auf CD/ DVD und stammt aus Bergamo 2018 (wo der Kollege Rolf Fath im vergangenen Jahr darüber berichtet hatte).

In der Vorlage von Walter Scott wird die Heldin, und dadurch wird sie eigentlich erst zu einer solchen, ermordet. In der Oper steht eher Elisabetta wegen ihrer Großmut, ihrem Verzeihen-Können, im Mittelpunkt. Leicester lebt mit der ihm heimlich angetrauten Amelia auf Schloss Kenilworth. Als sich Elisabetta zu einem Besuch anmeldet, malt er sich eine Zukunft an ihrer Seite aus und betraut seinen Vertrauten Warney mit der Aufgabe, Amelia versteckt zu halten. Der nutzt die Situation zu Annäherungsversuchen aus, wird aber zurückgewiesen und plant deshalb die Ermordung Amelias. Diese kann fliehen und beichtet der Königin die Vermählung. Leicester spürt inzwischen Reue wegen seines Verhaltens gegenüber der eigentlich geliebten Gattin, die Königin verzeiht und das lieto fine kann stattfinden. Die Handlung ist also weit weniger brisant als der Streit zwischen zwei Königinnen oder der Verzicht auf Liebe und Herrschaft in den beiden anderen Elisabetta-Opern. Ein wenig hört man bereits in die Lucia hinein, insbesondere im Gebrauch von Harfe oder Glasharmonika als Begleitung für die Damen.

Die Besetzung ist zumindest auf dem Papier vorzüglich. Carmela Remigio allerdings klingt als Amelia zunächst einmal nur unerweckt, flach und, wenn man es positiv ausdrücken will, extrem elfenhaft. Erst in der sanften Klage gegenüber Elisabetta, „Par che mi dica ancora“, bringt sie mehr Volumen und Gefühl in ihren Gesang. Mild und mädchenhaft ist auch die Elisabetta von Jessica Pratt, die viel Sinn für die kleinen Notenwerte und zahlreiche abbellimenti zu ihrem Markenzeichen macht. Die schöne, leichte Höhe verstärkt ebenfalls den positiven Eindruck, schwärmerisch klingt „il suo celato ardore“, rasant „tremi il vile“, und ein irrer Intervallsprung am Ende des zweiten Akts löst ebenso Bewunderung aus wie der strahlende Spitzenton als Abschluss. Mit Verzierungen ohne Ende ist der Schluss mit dem Perdono der Getäuschten gespickt. Sehr hörenswert ist der Tenor Xabier Anduaga, ein junger Spanier mit frischer, durchschlagskräftiger Stimme, sensationeller Höhe und Dominanz in den Ensembles. Auftrumpfen kann auch Stefan Pop als Ränkeschmied Warney mit farbigem, schön schaurigem in „taci amor“ und mit zugleich baritonal klingender Mittellage wie tenoraler Höhe. Mit dunkel verhangenem Bass und tröstlich klingendem Mezzo stützen Dario Russo als Lambourne und Federica Vitali als Fanny. Riccardo Frizza am Dirigentenpult ist die sichere Bank für einen frisch und straff dargebotenen Donizetti (Dynamic CDS 7834.02; auch als DVD DYN-57834 Bluray). Ingrid Wanja    

Kongeniale Nähe

 

Denkt man an die Kombination Schostakowitsch und Sanderling, wird man nach wie vor primär an die Einspielungen Kurt Sanderlings zurückdenken, der zwar keinen kompletten Zyklus, aber doch immerhin sechs der 15 Sinfonien für Berlin Classics eingespielt hat (es handelt sich um die Nummern 1, 5, 6, 8, 10 und 15). Sanderling senior, der 2011 einen Tag vor seinem 99. Geburtstag starb, hat nicht weniger als drei musikalische Söhne hinterlassen, deren jüngster, Michael, sich zunächst als Cellist einen Namen machte, eher er in die Fußstapfen seines Vaters trat und im Jahre 2000 auch als Dirigent debütierte. Seither legte Sanderling junior eine respektable Dirigentenkarriere hin, deren vorläufiger Höhepunkt die Berufung zum Chefdirigenten der Dresdner Philharmonie im Jahre 2010 war. Diese Position trat er 2011 als Nachfolger von Rafael Frühbeck de Burgos an; sie wird mit Ende der Spielzeit 2018/19 indes auslaufen (Grund hierfür ist eine geplante Kürzung des Orchester-Etats).

Gerade noch rechtzeitig, könnte man sagen, wurde nun der Schostakowitsch-Zyklus der 15 Sinfonien vollendet, der erstmals komplett in einer 11 CDs umfassenden Box erscheint (Sony Classical 19075872462). Zuvor waren bereits einige der Sinfonien in der ungewöhnlichen Kombination mit jeweils einer Beethoven-Sinfonie einzeln erschienen (Nr. 1, 5, 6, 10, 13). Aufnahmeort der zwischen 2015 und 2019 eingespielten Aufnahmen waren die Lukaskirche und der Kulturpalast in Dresden. Neben der Dresdner Philharmonie kamen der MDR Rundfunkchor (Nr. 2 und 3) und der Estonian National Male Choir (Nr. 13) sowie die Solisten Mikhail Petrenko (Nr. 13), Polina Pastirchak und Dimitry Ivashchenko (Nr. 14) zum Einsatz.

Dass Schostakowitsch im 21. Jahrhundert nicht mehr genauso interpretiert werden kann wie zu Zeiten des Kalten Krieges, ist gewiss keine neue Erkenntnis, fehlt heutigen Interpreten doch die unmittelbare persönliche Erfahrung der Umstände der Entstehungszeit (man möchte andererseits hinzufügen: Gott sei Dank). Gleichwohl untermauert diese neue Gesamtaufnahme abermals den Eindruck, dass die Zeiten des an die Substanz Gehenden, aufs Existenzielle Zugespitzten wohl endgültig vorbei sind. Wenn andernorts von der Überwindung des „Deutungsbombasts“ (Concerti) die Rede ist, so meint dies im Endeffekt dasselbe, wenngleich unter eindeutig positiven Gesichtspunkten. Nun ist es freilich kein Wunder, dass Michael Sanderling, Jahrgang 1967, eine völlig andere Sicht auf Schostakowitsch hat – haben muss – als sein Vater, 55 Jahre zuvor geboren. Auch heutige russische Dirigenten wie Valery Gergiev und Vasily Petrenko interpretieren diese Musik anders als ihre berühmten Vorläufer Mrawinski, Kondraschin, Swetlanow und Roschdestwenski. So mögen es auch fest verankerte Hörgewohnheiten sein, die das persönliche Schostakowitsch-Bild prägen.

Aber in medias res. Nehmen wir die Leningrader, also Sinfonie Nr. 7. Das berühmte „Invasionsthema“ des Kopfsatzes ist hier arg ästhetisierend, stellenweise eher an einen sonntäglichen Spaziergang denn eine mörderische kriegerische Intervention erinnernd. Orchestral gewiss sehr gediegen und präzise, doch wo ist die bei diesem Komponisten so wichtige brachiale Scharfkantigkeit? Gleichsam Schostakowitsch auf Sparflamme. Man höre einmal unmittelbar nacheinander diese Neueinspielung und die Aufnahme von Jewgeni Swetlanow von 1978 (Melodija) oder jene von Kirill Kondraschin von 1975 (ebenfalls Melodija), um zu sehen, was hier möglich ist. Dies setzt sich andernorts fort. So vermisst man dann und wann die Hintergründigkeit, etwa im allzu leicht einseitig bombastisch anmutenden Finalsatz der Fünften. Freilich scheiterten bereits in der Vergangenheit selbst so unbestreitbar große Dirigenten wie Leonard Bernstein in Sachen Schostakowitsch mitunter auf hohem Niveau (man denke an seine verunglückte Leningrader, die unfreiwillig an Hollywood erinnerte).

Am besten scheinen Sanderling die „leichteren“ Werke zu liegen. Die Sechste und die kammermusikalische Neunte kommen seinem Ansatz entgegen, während er bei den Monumentalwerken wie der Fünften, Siebten, Achten, Zehnten und Elften an seine Grenzen stößt. Die schwierigen frühen Chorsinfonien Nr. 2 und 3 wird wohl kein Dirigent zu Meisterwerken emporheben können – viele der großen Alten mieden sie sogar. Die wenig geliebte Zwölfte, die unter einem begnadeten Dirigenten durchaus zu einem solchen Meisterwerk werden kann (neben Mrawinski besonders Ogan Durjan mit dem Gewandhausorchester Leipzig auf Philips), ist leider an den entscheidenden Stellen verhetzt. Der grandiose Übergang vom dritten zum vierten Satz, einer der großartigsten überhaupt, überzeugt hier nur bedingt, auch weil die gespenstische Grundstimmung fehlt.

Die morbide Vierzehnte, eigentlich ein Liedzyklus, vermag dafür durchaus für sich einzunehmen, auch wenn man bei den modernen Einspielungen vielleicht eher noch zu Currentzis‘ außerordentlicher Aufnahme (Alpha) greifen wird. Interessant gerade die Loreley, wo sowohl der Bassist Dimitry Ivachchenko als auch die Sopranistin Polina Pastirchak durch Expressivität punkten können. Insgesamt recht gelungen ist die Fünfzehnte, das sinfonische Abschiedswerk Schostakowitschs, auch wenn man die Wagner-Zitate im Schlusssatz schon deutlicher herausgearbeitet hörte, so etwa bei Sanderling senior in seiner ausgezeichneten Einspielung mit dem Berliner Sinfonie-Orchester.

Eine für sich genommen überdurchschnittliche, in Teilen auch durchaus überzeugende neue Gesamtaufnahme, die indes das Schicksal aller Neueinspielungen (inklusive Gergiev, Petrenko, Kitajenko und Nelsons) teilt: Die ganz großen Interpretationen in Sachen Schostakowitsch stammen schlicht und ergreifend aus den Zeiten des Kalten Krieges und beinahe ausnahmslos aus dem ehemaligen Ostblock. Wer frischen Wind in Form eines „zeitgemäßen“ Neuzugangs sucht, wird hier gleichwohl keinen Fehlkauf tätigen, auch wenn man keiner der fünfzehn Einspielungen Referenzstatus zubilligen kann. Klanglich gibt es keine Einwände anzubringen. Daniel Hauser

Mit Einschränkungen

 

Das Oratorium Svatá Ludmila (Die heilige Ludmilla) gehört gewiss nicht zu den bekanntesten Werken von Antonín Dvorák. Gleichwohl ist es nach dem Requiem und dem Stabat Mater wohl des Komponisten wichtigstes geistliches Werk. Geschrieben wurde es 1886 für das Leeds-Festival in England. Thematisch geht es um Ludmilla, eine historische Gestalt aus dem späten 9. und frühen 10. Jahrhundert, die eine bedeutende Rolle bei der Christianisierung Böhmens spielte, als Märtyrerin endete und später zur Schutzheiligen des Landes werden sollte. Naxos bringt nun eine Neuaufnahme der Slowakischen Philharmonie unter Leos Svárovský (Naxos 8.57023-24).

Das Oratorium untergliedert sich in drei Teile: Der erste Teil spielt am Hofe des Schlosses Melnik, wo einer Statue der heidnischen Gottheit Bába gehuldigt wird. Ludmila wird schließlich vom Eremiten Ivan vom einzig wahren Gott, demjenigen des Christentums, überzeugt. Dieser zerstört das Götzenbild, worauf ihn der Pöbel lynchen will, doch nimmt in Ludmila in Schutz Im zweiten Teil ist die Handlung zur Einsiedelei Ivans in die Wälder nahe Beroun verlegt, wo sich Ludmila aufhält. Eine Jagdpartie des Herzogs Borivoj erscheint und der Herzog beschließt, Ludmila zu heiraten. Im dritten Teil schließlich werden Borivoj und Ludmila getauft und feierlich vermählt. Es erklingt ein altslawisches Kirchenlied aus dem 11. Jahrhundert. Das Werk wird in einer prachtvollen Fuge in C-Dur beschlossen. Dies sind die wohl nachhaltig eindrucksvollsten Momente.

Englische Vorbilder sind schon hinsichtlich der Uraufführung gewiss kein Zufall, steht das Werk doch gleichsam in der chorlastigen Tradition Georg Friedrich Händels. Bei der Premiere bestand der Chor aus nicht weniger als 250 Sängern, ergänzt um ein Orchester von 120 Musikern und vier Solisten. Der monumentale Aufwand zeigte seinerzeit durchaus Wirkung. Gleichwohl führten die Länge (etwa anderthalb Stunden) und das spezielle Sujet dazu, dass es sich nicht dauerhaft etablieren konnte. Eine von Dvorák selbst besorgte gekürzte Bühnenfassung von 1901 konnte daran letztlich nicht viel ändern, auch wenn es im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder zu vereinzelten Aufführungen des Oratoriums kam, so durch Rafael Kubelík 1948, Karel Sejna 1954, Václav Neumann 1987 und Jiri Belohlávek 2004 und 2007.

Die Neueinspielung muss sich daher in erster Linie mit den wenigen vorliegenden Aufnahmen messen, neben Belohlávek (ArcoDiva) und Gerd Albrecht (Orfeo) insbesondere dem 1963er Klassiker unter Václav Smetácek (Supraphon). Von Vorteil ist die idiomatische vokale Besetzung, die nur aus slowakischen und tschechischen Kräften besteht. In der Titelrolle die eher dunkel timbrierte Sopranistin Adriana Kohútková, daneben der lyrische Tenor Tomás Cerný als Borivoj und der mit beeindruckendem Organ ausgestattete Bassist Peter Mikulás als Ivan. Hinzu kommen die Altistin Karla Bytnarová als Svatava und der Tenor Ondrej Saling als Bauer. Es gibt keine Ausfälle, doch im direkten Vergleich insbesondere mit der Smetácek-Einspielung zieht die von Svárovský doch den Kürzeren. Der Slowakische Philharmonische Chor unter Leitung von Petr Fiala trägt den gewichtigen Chorpart, der einen erheblichen Teil des Oratoriums ausmacht, sowohl in den ruhevollen als auch in den dramatischen Passagen. Allerdings verschluckt der nicht ideale Klang so manches. Die Slowakische Philharmonie unter Svárovský erfüllt ihre Aufgabe zweckdienlich, auch wenn die ganz große Überzeugungskraft etwas auf der Strecke bleibt. Belohlávek, Albrecht und insbesondere Smetácek holen einfach mehr heraus. Grundsätzlich ist Svárovský in Sachen Dvorák durchaus bewandert, legte er 1996 doch eine von der Kritik mit Lob bedachte Einspielung des Stabat Mater bei Supraphon vor.

Die am 29. und 30. April 2015 im Konzertsaal der Slowakischen Philharmonie in Bratislava entstandene Aufnahme hat einen etwas dumpfen und verwaschenen Klang, der klarer und detailreicher sein könnte und an den lautesten Stellen an seine Grenzen kommt. So etwas sollte im 21. Jahrhundert nicht mehr vorkommen. Das Beiheft fällt eher bescheiden aus, enthält allerdings zumindest den Librettotext, wenn auch nur auf Tschechisch und in englischer Übersetzung von John Clapham. Insgesamt eine künstlerisch gute und klanglich durchschnittliche Neuproduktion, in summa allerdings nicht herausragend und keine neuen Maßstäbe setzend. Daniel Hauser

Mit Vorschusslorbeeren

 

Eine Neuerscheinung bei Decca mit Lise Davidsen weckt mit Wagner & Strauss das Interesse der Musikfreunde, ist die junge norwegische Sopranistin doch in diesem Sommer auf dem Grünen Hügel in Bayreuth im neuen Tannhäuser als Elisabeth besetzt. Die beiden Soli der Partie bilden dann auch den Auftakt dieses Recitals, bei dem die Solistin vom Philharmonia Orchestra unter Esa-Pekka Salonen begleitet wird (483 4883). Sogleich die Hallenarie erweckt den Eindruck, dass die stählern und robust klingende Stimme für diese Rolle weniger geeignet scheint. Ihr fehlen Innigkeit, Keuschheit und das Leuchten in der Höhe. Störend vor allem ist der steife Tonansatz, besonders in der oberen Lage. Mit dem Gebet kann die Sopranistin mehr überzeugen, es ist von grüblerischer Stimmung und wird getragen von langen Bögen.

Die Auswahl von Kompositionen Wagners beschränkt sich auf diese beiden Titel, der Rest ist Richard Strauss vorbehalten. Da findet sich allerdings mit dem Monolog der Ariadne, welche Davidsen bereits an der Wiener Staatsoper und in Glyndebourne interpretiert hat, nur ein Opernausschnitt. Bei „Es gibt ein Reich“ hört man gleichfalls unangenehm bohrende Töne in der exponierten Region. Gut bewältigt wird der ekstatische Aufschwung am Schluss der Szene.

Der größte Teil des Programms ist Liedern von Strauss gewidmet, darunter die „Vier letzten Lieder“ sowie „Malven“ – das allerletzte Lied des Meisters. Es wurde 2012 von Wolfgang Rihm orchestriert, erinnert im Tonfall an Capriccio und liegt der Interpretin mit den zarten Gespinsten besonders.

Bei den „Vier Liedern“ op. 27 überzeugt „Ruhe, meine Seele!“ anfangs durch die stark zurückgenommene Stimme, bis sich später ein herbes Vibrato breit macht. Darunter leidet auch „Cäcilie“, während bei der „Heimlichen Aufforderung“ (orchestriert von Robert Heger) wie markiert klingende Passagen irritieren. Ganz entrückt und mit reduziertem Stimmeinsatz interpretiert Davidsen „Morgen!“, bei dem der Sologeiger des Orchesters Zsolt-Tihamer Visontay delikateste Klänge zaubert. Fein gesponnen und in träumerische Stimmung getaucht wird das „Wiegenlied“.

Dem Auftakt der „Vier letzten Lieder“, „Frühling“, fehlt der Duft dieser Jahreszeit. In der oberen Lage klingt der Sopran grell, der schon mehrfach erfolgte Vergleich von Lise Davidsen mit ihrer norwegischen Landsfrau Kirsten Flagstad, die diese Gesänge 1950 in der Londoner Royal Albert Hall uraufgeführt hatte, erschließt sich mir nicht. Dass traumversunkene Schweben von „September“  wird gut eingefangen, im Nachspiel lässt der Solo-Hornist Nigel Black wunderbare Töne hören. „Beim Schlafengehen“ – wieder mit einem atmosphärischen Violinsolo von Visontay –  demonstriert  eindrücklich das Volumen und die Atemreserven der Sängerin. Der Schluss, „Im Abendrot“, zeigt die Stimme in schönem Fluss und delikaten piano-Momenten, besitzt auch die gebührende Stimmung des Abschieds und der Weltverlorenheit.

Insgesamt ist der Liedzyklus, der sich freilich gegen eine Vielzahl von legendären Interpretationen behaupten muss, der überzeugendste Teil der Platte. Daran hat das Philharmonia Orchestra großen Anteil, das die Sängerin einfühlsam begleitet und mit gleichermaßen rauschhafter Üppigkeit wie sublimsten Nuancen aufwartet. Bernd Hoppe

 

 Eine andere Meinung: Dass andere Ohren anders hören, zeigt sich einmal mehr auch bei diesen Neueinspielungen, die ja die Visitenkarte von Lise Davidsen (Lise Davidsen singt Wagner & Strauss) für Bayreuth und den internationalen Markt sein soll – und da weiche ich doch mit meiner Beurteilung von der meines geschätzten Kollegen recht ab. Ich finde die neue CD nicht gut produziert und das Programm abenteuerlich für eine erste Aufnahme bei einer Weltfirma. Da mischt sich ein bisschen Wagner-Arien mit Liedern von Strauss nebst wiederum ein bisschen Arie von demselben. – es hätte nur noch der Monolog der Marschallin gefehlt. Ein musikalischer Gemüseladen.

Abgesehen von der fragwürdigen Zusammenstellung passt die Stimme zu einigem mehr und zu anderem nicht. Mir ist der Sopran in der Höhe zu gleißend, in der Tiefe scheint er mir ein wenig stumpf, und mir (mir allein und es ist ja auch nur meine Meinung angesichts der Hymnen vielerorts) will die Registeranbindung nicht immer wirklich gelungen scheinen. Die Farbe wechselt mir zudem zu oft innerhalb des Vortrags (Vier letzte Lieder namentlich, die der starken Konkurrenz nicht standhalten, nicht wirklich Eigenes bieten), und die Stimme selbst bleibt für mich im Timbre grau. Auf der Habenseite stehen die Fülle des Organs, die Kraft, die gewisse Vehemenz einer gut gelernten kommenden Brünnhilde oder Elektra (in der Ferne). Beeindruckend ist der Stimmumfang auch in der Ariadne-Arie, auch die Kraft, die Felsen bewegt, aber charmant ist sie nicht, ohne nennenswerte Persönlichkeit. Zumal – die ganz starke Kritik an der Sängerin auf dieser CD – die Diktion auch hier und stärker noch in den Strauss-Liedern mir viel zu verwaschen ist. Für eine Europäerin singt sie doch sehr sprachentfernt, zu viele Vokale und zu wenige (End-)Konsonanten. Lieder wollen erzählt werden, bringen eine Message herüber, beruhen oft auf Literatur – das alles ahnt man hier nicht. Mit der Hallenarie kann ich leben, aber man hat sie auch erfüllter, fraulicher, liebenswürdiger erlebt. Und wer „Ruhe meine Seele“ hören möchte, sollte sich Elisabeth Schwarzkopf unter George Szell vornehmen: Da ruht die Seele und schweigt.

Merkwürdig distanziert ist das Orchester unter Esa-Pekka Salonen, der seiner attraktiven Solistin nicht wirklich hilft. Man hat den Eindruck, beide bewegten sich in getrennten Welten – sie wird doch nicht wie einst Domingo – auf ein Band gesungen haben? Sicher nicht. In summa: für mich enttäuschend nach dem beginnenden Hype um diese newcomerin, die nun  Bayreuth aufmischen soll. Decca hat ein gezieltes Marketing gelandet. Man hofft, die junge Sängerin erfüllt nach dieser Visitenkarte die Erwartungen (Foto Decca). Stefan Lauter