Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Donizettis „Ange de Nisida“

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Mit Spannung erwartet, kam Opera Rara mit dem Mitschnitt des Ange de Nisida Donizettis heraus – eine Aufzeichnung aus den beiden konzertanten Aufführungen in Covent Garden vom Herbst 2018. Nicht nur Donizettianer haben darauf gewartet. Die Tatsache, dass es diese Oper überhaupt zu hören gibt und dass sie von Musikexperten wie Roger Parker, Candida Mantica und Martin Fitzpatrick herausgegeben und realisiert wurde, verleiht dieser Ausgrabung von 1838/39 besonderes Gewicht, dies ist keine kleibne komische Oper, wie geraunt, sondern ein großes tragisches Werk.

Das Resultat auf den zwei CDs bei Opera Rara (2 CD ORC 58) rechtfertigt jede Erwartung. Man hat eine veritable, schmissige und verführerisch opulente Oper vor sich, die – kein Wunder bei der Genesis – deutliche Anleihen an Anna Bolena, Don Pasquale und andere aus Donizettis langer Werkgeschichte aufweist, darin manches Vergangene und einiges Kommende. Dies ist keine Favorite „für Arme“, ein blasser Entwurf für die spätere Version, sondern in weiten Teilen – wenn man den Beteiligten und der Edition trauen darf – viel eigenständige (und auch ergänzte/neu zusammengestellte) Musik – so die neue Ouvertüre, aufregende Ensembles und Soloarien, schöne und gefühlvolle Orchestrierung. Die Handlung von Royer und Vaez ist gegenüber der nachfolgenden Favorite mehr oder weniger die gleiche. Ähnlich wie bei der französischen Lucie sind die Nebenfiguren zu einem wichtigen Hauptakteur zusammengefasst: der hier gutwillige Berater und Gönner Don Gaspard. Wie im nachfolgenden Artikel Roger Parker darlegt, dem wir für die Übernahme seines Artikels im reichen (und wieder mal nur rein englischen) Booklet der OR-Ausgabe danken. Daniel Hauser hat wie stets übersetzt und wir sind stolz darauf, als einzige eine deutschsprachige Version des Artikels bieten zu können.

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Gaetano Donizetti/ Museo Bergamo/ Wikipedia

Vorher aber ein kurzer Bericht von der konzertanten Londoner Aufführung 2018: Eine Uraufführung nach fast 180 Jahren (…) Im überaus informativen Programmheft der Londoner Uraufführung im August 2018 berichtet Candida Mantica ausführlich von Donizettis Schwierigkeiten, seine komplett neue Oper ohne Änderungen an einem anderen Theater in Paris oder Italien zur Aufführung zu bringen. Candida Mantica ist die Musikwissenschaftlerin, die nach mehr als 8 Jahren akribischer Arbeit die Puzzlestücke dieser Oper in europäischen und amerikanischen Archiven entdeckt, gesichtet, in die richtige Reihenfolge gebracht und in Zusammenarbeit mit Opera Rara die 800 Seiten umfassende Partitur erstellt und ediert hat. Sie vergleicht die langsam sichtbar gewordene authentische  Gestalt der Ange de Nisida mit dem Freilegen eines Freskos. Am glücklichen Ende dieses Prozesses war circa 97 % der von Donizetti komponierten Musik ans Licht gekommen. Die fehlenden Teile betrafen einige Rezitative sowie die nicht komplette Orchestrierung des Duetts Sylvia – Don Fernand im 2. Akt. Der auch als Dirigent tätige Martin Fitzpatrick wurde mit der Aufgabe der Vervollständigung dieser Passagen betraut und komponierte auch unter Verwendung der Ballettmusik zu La favorite ein Vorspiel als Ouvertüre-Ersatz. Ein Sonderfall war die in Sylvias Arie No. 11 im 3. Akt fehlende Cabaletta, die nach Anpassung des Textes aus der Erstaufführung der Pariser Version von Maria di Rohan im November 1843 entlehnt wurde. (…)

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Die Insel Nisida bei Neapel/ Wikipedia

L’ange de Nisida spielt nicht „um 1340 in Kastilien“, sondern im Königreich Neapel des Jahres 1470, als der regierende Monarch Ferdinand I noch nicht verheiratet war. Schauplatz der beiden ersten Akte ist die Villa der andalusischen Gräfin Sylvia de Linares, der Mätresse des Königs von Neapel, auf der kleinen Insel Nisida im Golf von Neapel;  Handlungsorte der Akte III und IV sind Sylvias Residenz in Neapel bzw. ein Kloster in der Nähe von Neapel. Diese weibliche Protagonistin – übrigens anders als in La Favorite die einzige Frauenrolle der Oper – ist ein Sopran, kein Mezzo. .(…) (Aufführung am 18. 7. 2018). Walter Wiertz 

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Zum Musikalischen: Im Ganzen wird mehr als anständig gesungen, nicht immer herausragend. Ich vermisse die strahlenden, virilen Töne eines Michael Spyres in der Tenorrolle des Leone (Ahnherr des späteren Fernand). Der Koreaner Jounghoon Kim ist nicht unrecht, hat Dank der superben Arbeit der coach-in Florence Daguerre de Hureaux (nur Französinnen können sie heißen – „you´re making this up“ hätte Anna Russell gesagt) eine fabelhafte Diktion und bemüht sich um eben strahlende Spitzentöne, macht einen frischen und auch jugendlichen Eindruck und füllt in dieser Erstaufnahme die Lücke sehr zufriedenstellend. Laurent Naouri nähert sich als freundlich-verschlagener Don Gaspar, Gönner des Tenors und Berater des Baritons, zu sehr dem Charaktersänger, die Stimme schon recht schütter und unruhig, aber eben voller Unverwechselbarkeit, eine saftige Krämergestalt á la Pasquale gestaltend. Für mich ist Vito Priante als König Fernand (mit einer Mätresse behaftet, die er loswerden muss) die überragende Stimme der Einspielung, das Timbre verdianisch-erotisch, beweglich in den kleinen Noten, bei einer fabelhaften Höhe und wirklich guter Diktion (was für Italiener nicht so einfach ist) – eine großartige Leistung und ein nachhaltiges Portrait. Seine Soloszene im 3. Akt bleibt haften. Evgeny Stravinsky schließlich gibt den dräuenden Mönch ohne eigenen Namen, bassgewaltig wie das bei Bässen eben so ist. aber anders als in der späteren Favorite bleibt die Partie nicht ganz so eindimensional, eben persönlicher.

Und elle-même? Joce El-Khoury hat zumindest für dieses Konzert und diesen dokumentierten Zustand deutlich abgebaut gegenüber früheren Eindrücken (ich würde keine Violetta mehr von ihr hören wollen). Die Stimme ist drastisch dunkler geworden, hat es in der Höhe gar nicht leicht, klingt gelegentlich wie kurz vor dem Bersten und recht halsig, dann aber (wohl an einem anderen Tag aufgenommen) wieder frischer. Im Ganzen bietet sich hier ein sehr unterschiedliches und auch beunruhigendes Bild einer jungen Sängerin am Kreuzweg. Zumal auch ihr Französisch verwaschen klingt. Domage – was war sie doch für eine Hoffnung, aber bereits in den Martyrs hatte ich meine Bedenken. Hier hat sie wenigstens ein besseres Mikrophon vor sich und klingt nicht wie dort zu klein.

Star neben Vito Prinate ist für mich das Orchester (und Chor) von Covent Garden unter der schmissigen, energischen Leitung von Mark Elder, der einen energfischen Donizetti in der Nähe zu den großen Franzosen dirigiert (und auch Guillaume Tell grüßt). Da ist nichts süßlich,. nichts klein und einer Comique verpflichtet. Selbst die Semi-Serio-Passagen Don Gaspards wertet Elder mit Elan auf. Die neugeschaffene kurze Ouvertüre (Dank an Martin Fitzpatrick) geht dem Ganzen kraftvoll voran, und die ganze Oper macht staunen. Was haben wir bloß vermisst. Dank an Opera Rara. G. H.

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Porto Pavona auf der Insel Nisida um 1776/ Stich von Pietro Fabris/ Booklet Opera Rara/ Welcome Collection

Und nun der Artikel von Roger Parker: Auf der Suche nach einem verlorenen Engel. Wie an anderer Stelle im Booklet (zur Erstaufnahme der Oper) erwähnt, offenbart ein Blick auf die Quellen von Donizettis L’Ange de Nisida eine bunte Sammlung von Dokumenten, die aus einer relativ langen Periode seiner kurzen Karriere stammen. Etwa die Hälfte der 14 Nummern der Partitur stammt aus der Mitte der 1830er Jahre, insbesondere aus einer unvollendeten italienischen Oper namens Adelaide. Dann gibt es eine beträchtliche Anzahl von Seiten, die 1839 speziell für L’Ange kreiert wurden. Und schließlich wurde in etwa die Hälfte der Oper (einiges ursprünglich aus Adelaide, einiges aus L’Ange) 1840 in La Favorite umgewandelt.

Abgesehen von den chronologischen Differenzen bedeutet dies, dass an einigen Stellen identische musikalische Inspirationen in drei verschiedenen Genres zum Einsatz kommen (Adelaide ist eine italienische Opera semiseria; L’Ange ist ein Hybrid mit Aspekten sowohl der französischen als auch der italienischen Tradition; La Favorite ist eine authentische Grand opéra). Darüber hinaus enden das Selbstausborgen und das Recyclen hier nicht. Einige Teile von Adelaide/L’Ange, die es nicht geschafft haben, in La Favorite zu landen, wurden an anderer Stelle wiederverwendet. Das schöne andante mosso-Duett („Ô ma chère patrie“), neu für L’Ange, in welchem die Heldin sehnsüchtig an ihre andalusische Heimat zurückdenkt, taucht als Duett der Primadonna und ihrer Schwester in Donizettis tragischer Oper Maria Padilla (1841) auf; noch überraschender (weil so viel bekannter), kehrte Don Gaspars prahlerische Eröffnungsarie „Et vous Mesdames“, ursprünglich aus Adelaide, wieder ins Italienische zurück und wurde zur Signatur-Arie des Protagonisten in einer der letzten Opern von Donizetti, Don Pasquale (1843).

„L´ange de Nisida“: Illustration von Lee Woodward Zeigler zur Oper „La Favorite“ um 1900/ Wiki

Was macht man aus dieser musikalischen Sparsamkeit, diesem endemischen Selbstausleihen und Wiederverwenden? Für einige mag es nur ein weiteres Beispiel dafür sein, dass die italienische Oper des frühen 19. Jahrhunderts katastrophal zurückgefallen war hinsichtlich ihrer Ernsthaftigkeit, leicht überholt von allem Deutschen und insbesondere von allem Symphonischen. Dass es, um eine häufig verwendete Phrase zu verwenden, eine bloße „Industrie“ gewesen sei, in welcher Produkte zynisch in Massen hergestellt und bei Bedarf wiederverwendet wurden, um das Publikum zu erfreuen, nicht zu erbauen. Für andere mag dies, weniger extrem, aber genauso mit Vorurteilen behaftet, die Bestätigung sein, dass ein Komponist wie Donizetti nicht im Sinne der im 19. Jahrhundert gebilligten Weise reifte (man denke an die „drei Perioden“, in welche Beethovens Werk routinemäßig unterteilt wird); dass seine Musik gefährlich vielseitig war, zynisch geschickt darin, wichtige Trennlinien wie das Tragische und das Komische, das Private und das Öffentliche zu überwinden. Die Leser dieses Aufsatzes, das heißt: die Käufer dieser Aufnahme, werden wahrscheinlich zu keinem dieser Lager gehören und wissen wohl um das Plädoyer, das solche binären Gegensätze überleben und sogar aufblühen lässt (Beethoven war nicht Teil dieser „Industrie“? Schubert und Schumann – und die meisten anderen – keine begeisterten Recycler?). Es bleibt jedoch die Frage: Wie kann man mit Donizettis Werken umgehen, die sich so exzessiv bei anderen seiner eigenen Werke bedienen? Wo bleibt ihre Individualität?

„L´ange de Nisida“:  der Autor und „Collaborateur“ zum „Ange de Nisida“: Roger Parker/ Foto OR/ Russell Duncan

Eine Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem Nachdenken über folgenden Umstand: Obwohl Donizetti häufig Entlehnungen aus seinen früheren Arbeiten vornahm, tat er dies beinahe niemals, ohne nicht wichtige Änderungen vorzunehmen. Zuweilen reichten diese Modifikationen aus, um die dramatischen Auswirkungen des geliehenen Materials drastisch zu verändern. Daraus könnte man folgern, dass die Ungezwungenheit der Musikdramen Donizettis, besonders die Art und Weise, wie sich sein Musikstil im Laufe seiner Karriere stark entwickelte, nicht so sehr in der Natur des melodischen Komponierens zu einem bestimmten Zeitpunkt liegt, sondern mehr im dramatischen Kontext, in welchem diese Melodien placiert werden. Dieser Argumentation zufolge kann eine Opera wie L’Ange de Nisida trotz des mehrfach genutzten Materials zu einem einzigartigen Moment in der Karriere des Komponisten werden: ein nicht zu wiederholendes Experiment, bei dem verschiedene Operntraditionen zu einem überzeugenden musikalischen Drama verschmelzen.

Am augenfälligsten unter diesen Operntraditionen ist vielleicht die mehrteilige Solo-Arie, die in früheren Jahrzehnten zum Fundament der italienischen Oper gehörte und nun unter Druck stand. In diesem Sinne ist es von Bedeutung, dass das Ange-Libretto nur eine einzige Stelle für eine solche Arie vorsieht – für Sylvia im dritten Akt – und dass Donizetti (wie wir aus diesem Booklet erfahren) offenbar unsicher war, ob sie angebracht sei, schließlich keine Spur der abschließenden Cabaletta hinterließ und so  die Herausgeber der Oper dazu zwang, sich selbst eine solche zu verschaffen. Bei den Hauptfiguren sind Solo-Arien (ob aus Adelaide geborgt oder nicht) selten in mehr als einem Tempo notiert und selbst dann geschickt in den dramatischen Fluss eingebettet. Ein gutes Beispiel ist die Rolle des Königs, der in der Oper keine bedeutenden Momente für sich allein hat und daher ständig seine Gefühle (vor allem seine verborgene Liebe zu Sylvia) in frustrierten Nebenbemerkungen und unvorhersehbaren Ausbrüchen zum Ausdruck bringen muss. Das extremste Beispiel für diese Tendenz ist das Ende des zweiten Aktes, wo ein Ensemble verwirrter Emotionen aller bedeutenden Figuren durch eine schmerzhafte Liebeserklärung des Königs („Ô mon ange que j’implore“) zu einem mitreißenden lyrischen Höhepunkt gebracht wird. Die Melodie mit ihrer konventionellen Polonaise-Begleitung könnte leicht aus einer früheren Periode in Donizettis Laufbahn stammen; allerdings wäre sie in dieser Zeit eine Solo-Cabaletta gewesen, ein ungezügelter Ausdruck persönlicher Emotionen. Hier ist sie jedoch umso kraftvoller, als es zu einer Unterdrückung verdrängter Emotionen wird, die in die Öffentlichkeit des Hofes eingebettet ist und von den widersprüchlichen Reaktionen der anderen umgeben und stark eingeschränkt wird.

„L´ange de Nisida“: Alfonso und Leonora in einem Stich von Juan Serra Pausas zur Oper „La Favorita“ um 1900/ Wiki Esp.

Ein weiteres gutes Beispiel ist der Fall von Leone, dem Tenorhelden der Oper. Leone hat zwei prominente langsame Arien, eine ganz am Anfang, die andere zu Beginn des vierten Aktes. Beide sind einzigartig in L’Ange und wurden nie wiederverwendet. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie eng sie in ihre Umgebung eingebaut sind. Am originellsten ist jedoch die Art, in der beide Arien – weit davon entfernt, ein uneingeschränktes Fest der Vokalität zu sein – nahtlos aus ihrer Orchesterumgebung herauszuwachsen scheinen. Tatsächlich ist seine Arie im ersten Akt („Dites-lui“) eher eine Erweiterung des eröffnenden Orchestervorspiels mit Worten, der instrumentalen Illustration des idyllischen Außenambientes der Inselhandlung der Oper. Die Cabaletten, die nach traditionellen Erwartungen langsamen Arien folgen, sind nirgendwo zu sehen. In Leones Fall gibt es jedoch tatsächlich eine Cabaletta: Sie erscheint in einer eigenständigen Nummer, in der Leone seine neu erlangte Freiheit feiert („Quelle ivresse et quel délire“). Und auch hier werden die traditionellen Erwartungen enttäuscht: Obwohl „Quelle ivresse“ die erwartete Zwei-Vers-Struktur besitzt, wird die zweite Strophe durch neue Stimmungen ausgelöst und unterscheidet sich in musikalischen Details deutlich. Einmal mehr wird ein konventioneller „eingefrorener“ Moment mit einfachen Mitteln stärker auf die Entwicklungen im Drama abgestimmt.

Wie bei vielen Oper dieser Zeit sind es mehrteilige Duette (und nicht Arien), die zu den wesentlichen Bausteinen des musikalischen Dramas von L’Ange werden. Womöglich vorhersehbar, wurden die beiden konventionellsten Duette, sowohl für Sylvia als auch für Leone, in La Favorite wiederverwendet, wenn auch in beiden Fällen mit Anpassungen der unteren Tessitura der Heldin dieser Oper. Die Tatsache, dass diese beiden Duette den alten italienischen Konventionen folgen, ist nicht so überraschend. Donizetti erhielt schließlich den Auftrag, L’Ange de Nisida für das Pariser Théâtre de la Renaissance zu schreiben, nachdem dort eine französischsprachige Fassung seiner Lucia di Lammermoor mit großem Erfolg gespielt worden war, deren zweibekanntester Moment (nach der Wahnsinnsszene) das Liebesduett im ersten Akt ist.

„L´ange de Nisida“: die engliche Primadonna Anna Thillon, für die der Librettist Gustave Cloez die Partie der Sylvia de Linarès vorsah/ Wiki

Ganz anders ist das Duett zu Beginn des zweiten Aktes von L’Ange zwischen Sylvia und dem König. Wie so oft in dieser Oper, wird die Hauptbegegnung zwischen diesen komplexen, konfliktreichen Charakteren durch ein erweitertes Vorspiel der Szenerie eingeleitet, dessen gewundene Violinlinien etwas von der Zweideutigkeit und Geheimhaltung ihrer Vereinigung zum Ausdruck bringen. Es folgt ein Moment der Verzweiflung, als Sylvia erzählt, wie sie ahnungslos in diese Beziehung hineingezogen wurde: eine Passage, in der der der König nichts weiter tun kann, als sie fortwährend zu bitten, sie möge schweigen. Aber dann, genau an diesem Punkt, wo man einen abschließenden gefühlvollen Abschnitt der gegenseitigen Angst erwarten könnte, driftet das Duett in Sylvias nostalgische Erinnerungen an ihre Heimat ab. In einem anschließenden Intermezzo beteuert der König neuerlich seine Liebe; wider alle Erwartungen vereinen sie sich dann in einer Wiederholung von Sylvias Erinnerungen und singen jetzt in glückseligen parallelen Abständen. Es ist in vielerlei Hinsicht die schönste Liebesmusik der gesamten Oper – doppelt ergreifend, da sie von zwei Charakteren gesungen wird, die diesen Glückszustand nur erreichen können, wenn sie gleichzeitig ihre eigenen separaten Traumwelten bewohnen.

Einer der bemerkenswertesten Aspekte von L’Ange ist der Reichtum und die Komplexität der großen Ensembles: Es gibt derer nicht weniger als drei, in der Mitte und am Ende des zweiten Aktes sowie, das grandioseste von allen, am Schluss des dritten Aktes. Solch imposanten szenischen und klanglichen Höhepunkte würde man in einer französischen Grand opéra erwarten (und tatsächlich wurden zwei davon, das erste und das dritte, mehr oder weniger stückweise in La Favorite integriert). Aber es ist ein Tribut an das Théâtre de la Renaissance (oder vielleicht ein Hinweis darauf, warum der Veranstaltungsort ohne staatliche Subventionen schließlich bankrott wurde), dass Donizetti der Meinung war, sich dort derartiger Ressourcen bedienen zu müssen. Jedes Ensemble hat seine eigene Form und Resonanz, und ein jedes wird durch einen entscheidenden Moment im Verlaufe des Dramas unterbrochen (die Ankunft des Mönches und die Denunziation Sylvias; Leones leichtgläubiges Angebot, sie zu heiraten; seine endgültige Erkenntnis, dass er betrogen wurde). Das Grandioseste von allem ist das sog. largo concertato (der zentrale langsame Satz), mit dem der dritte Akt endet, ein Meisterwerk kontrollierter Entwicklung und harmonischer Raffinesse.

Donizettis verschollene Oper: „L´ange de Nisida“, nun restauriert und aufgenommen bei Opera Rara

Es ist offensichtlich, dass die prominentesten festen Formen von L’Ange de Nisida, auch wenn sie teilweise aus anderen Werken stammen und später unterschiedlich entwickelt wurden, in dieser Oper alle eine einmalige und zwingende Gestalt angenommen haben. Es bleibt jedoch ein weiterer formaler Bestandteil des Werkes, ein Aspekt, der selten hinsichtlich der Opern jener Epoche besprochen wird, aber in vielerlei Hinsicht grundlegend ist für ihre Individualität. Ich beziehe mich auf die Passagen der freien Deklamation, die „Gespräche“, die normalerweise einer fixierten Formgebung vorausgehen. Zu Donizettis Zeiten waren diese Abschnitte bereits sehr weit vom formelartigen, fortlaufend begleiteten recitativo secco entfernt, welches man einige Jahrzehnte zuvor findet.  Nun hatte es sich zu einem orchestral begleiteten dramatischen Dialog entwickelt, oftmals von bemerkenswerter Gewandtheit und Originalität. In L’Angle de Nisida zum Beispiel bestand eine der großen Herausforderungen Donizettis darin, diese Gespräche zu nutzen, um die manchmal gewundenen Feinheiten der Handlung voranzubringen. An solchen Wendungen und Verdrehungen ist stets Don Gaspar beteiligt, der beständig unzuverlässige Motor der Handlung, wobei er für die bei L’Ange charakteristische und höchst individuelle Verflechtung des Komischen und Tragischen verantwortlich ist. Ein gutes Exempel ist der Aufbau des Finales des zweiten Aktes. Anfangs führt ein schräges, rhythmisch ungleiches Steicherthema zu einer Atmosphäre unkontrollierter, kopflastiger Aktivität, während Don Gaspar seinen „listigen Plan“ improvisiert. Aber als er sich an Leone und dann an Sylvia wendet, verändert eine Reihe energischer orchestraler Einwürfe die Stimmung: Momente des Optimismus und der Energie (Leone) und Momente der stolzen Resignation (Sylvia) sind alle in kleine musikalische Gesten eingeschlossen. Allmählich steigt die Spannung, das Orchester wird regelmäßiger, und bevor man es weiß, steht man vor dem eigentlichen Finale.

„L´ange de Nisida“: Konzert 2018 in London/ Foto OR/ Russell Duncan

Solche Passagen mit Sparsamkeit, Anmut und dramatischer Energie zu konstruieren, war eine von Donizettis beständigen Fähigkeiten, zumal sich die Herausforderungen mit jeder Oper änderten. Aber selbst unter seinen späteren Werken ist die schiere Vielfalt der Ange-Rezitative, ihr ständiges Pendeln der Formen, einzigartig und stellt die Interpreten vor gewaltige interpretative Herausforderungen. Ein anderes Beispiel vom Anfang des dritten Aktes wird dies weiter verdeutlichen. Wie im vorherigen Beispiel führt eine belebte Streicherfigur Don Gaspar in eine Stimmung energischer Tatkraft, diesmal voller Furcht, als er erkennt, dass sein Plan, das Problem der Maitresse des Königs zu lösen, aufgeht. Der König tritt dann aus Sylvias Wohnung heraus, begleitet von einem schönen Orchestermoment (Flöte, Violinen und Celli stimmen die Melodie an, die Streichertremoli und das Fagott unter sich). Er spricht Don Gaspar an, der diese Melodie wiederholt: „De la cérémonie, enfin, l’heure s’avance …“ (Die Zeit für die Zeremonie [d. h. die arrangierte Ehe zwischen Leone und Sylvia] nähert sich schnell …). Die Melodie kehrt wenige Augenblicke später wieder zurück, doch diesmal wird sie abrupt umgelenkt, als Don Gaspar widerstrebend seine Sorgen zugibt und den eifersüchtigen Verdacht des Königs weckt. Es mag einige Leser überraschen, dass diese Melodie, insbesondere ihre Auswirkungen auf die königliche Stimmung in dieser entscheidenden Szene, während der Klavierproben zur vorliegenden Aufnahme zu einer lebhaften und lang andauernden Debatte zwischen Dirigent, Interpreten und anderen Interessierten führte. War es für einen flüchtigen Moment lang eine musikalische Reflexion von etwas, was man auf der Bühne nicht gesehen hat: ein Moment der zufriedengestellten Sehnsucht des Königs, brüsk in Frage gestellt durch Don Gaspar? Wie so häufig, kann es keine eindeutige Antwort geben. Die schiere Einfachheit der melodischen Inspiration täuscht und verdeckt eine Komplexität und Mehrdeutigkeit des Ausdrucks, wie sie nur die größten Dramatiker erreichen können.

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Über L’Ange de Nisida gäbe es noch so viel mehr zu sagen:  über die subtile und abwechslungsreiche Verwendung des Chores, der sich von einfachen Einwohnern Nisidas zu routiniert Feiernden zu nachtragenden, neidischen, möglicherweise rebellischen Höflingen wandelt; oder über den meisterhaften Einsatz des Lokalkolorits, von der pastoralen Welt von Nisida am Anfang bis zur düsteren Klosteratmosphäre des letzten Aktes; über die gewagten Orchesterkombinationen und den Einsatz von Soloinstrumenten (vor allem des Solohorns), beinahe wie Figuren im Drama. Es wurde indes genug gesagt, um deutlich zu machen, dass, wo immer die Musik herkam und wohin sie auch gehen mag, ihre Platzierung in der einzigartigen Welt von L’Ange de Nisida als ein Testament für den Musikdramatiker Donizetti bleibt, besonders seine Fähigkeit zur Entwicklung und Selbsterneuerung. Roger Parker ((aus dem Englischen übersetzt von Daniel Hauser)

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Den Artikel von Walter Wiertz entnahmen wir in Ausschnitten dem Mitteilungsblatt August 2018 der Freunde der Musik Gaetano Donizettis Wien – wir danken dem Autor und Alfred Gänsthaler für die liebenswürdige Genehmigung zur Übernahme.

 

KLANGLICH ILLUSTRIERT

 

Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist – eine Regel, die auch insbesondere für Countertenöre gilt, deren Stimmen eine erhöhte Volatilität haben. Der französische Countertenor Philippe Jaroussky ist dafür bekannt, sehr umsichtig zu planen, was er singen wird, und hat innerhalb von zwei Jahrzehnten eine beeindruckende Diskographie und Bandbreite bewiesen, demnächst wird er mit Schubert-Liedern Konzerte geben. Im Mai 2018 erschien Glucks Orfeo ed Euridice, im Oktober 2018 eine Solo-Album mit Arien von Händel, nun eine gelungene Opernarien-Auswahl von Francesco Cavalli, der das aus der römischen Oper und bei Monteverdi vorherrschende Prinzip weiterführte, historische und mythologische Gestalten mit einem Kastraten zu besetzen. Das neue Album Ombra mai fu enthält Arien und Duette aus über 25 Schaffensjahren Cavallis, beginnend mit Gli amori d’Apollo e di Dafne (1640) bis Eliogabalo (1667), darunter Arien aus bekannteren Opern wie Ormindo (1644), Giasone (1649) und Calisto (1651) sowie aus La virtù de‘ strali d’amore (1642), Doriclea (1645), Eritrea (1652), Orione (1653), Erismena (1655), Elena (1659), Pompeo Magno (1666) sowie Xerse (1654) aus dem das später durch Händels Vertonung berühmte „Ombra mai fu“ stammt. Cavalli stellt hohe Ansprüche an die expressiven Fähigkeiten der Sänger, die deklamatorisch und melodiös gefordert sind – eine Hürde, die Jaroussky auf dieser Einspielung mit Leichtigkeit nimmt. Die Arien klingen lebendig, bühnenwirksam und stimmungsvoll, bspw. das Lamento des Idraspe „Uscitemi dal cor, lacrime amare“ aus Erismena, das verzweifelte „Misero cosi va“ aus Eliogabalo oder das großartige „Misero Apollo“, die als gesungene Dramen überzeugen. Es gibt weiterhin das madrigalisch wirkende „Desia la verginella“, das martialische „All’armi“, das pastorale „Alcùn piu di me felice non è“, das freudvolle Wiegenlied „Delizie, contenti“ aus Giasone oder Sestos Ombra-Arie „Cieche tenebre“ aus Pompeo Magno sowie komikbetonende Stücke. Cavallis Stärke liegt nicht nur im Lamento, sondern auch in den Duetten, von denen drei integriert sind. Mit Marie-Nicole Lemieux und Emöke Baráth hat man Partnerinnen mit Stimme gewählt. Lemieux ist als Nymphe Linfea im Gespräch mit einem lüsternen Satyr, Baráth singt mit Jaroussky das Liebesduett zwischen der schönen Helena und Menelaos sowie das melodiöse „O luci belle“. Das mit 13 Musikern besetzte Ensemble Artaserse begleitet die Sänger mit farbigem Klang – neben Streichern hat man Harfe, Laute, Lirone und Gitarre, Kornett, Flöte und Schlagzeug, um Abwechslung zu erzeugen. Vier Vorspiele belegen die instrumentale Finesse des Ensembles. Eine sehr gut zusammengestellte, beispielhafte Einspielung, die die Facetten der venezianischen Oper bei Cavalli zwischen Komik und Tragik phantasievoll und mustergültig wiedergibt und sowohl sängerisch als auch musikalisch ausdrucksstark klanglich illustriert (Erato 0190295518196). Marcus Budwitius

Genre-Torsi

 

Franz Liszt und Oper, Das ist eigentlich ein schnell abgehandeltes Kapitel. In allen anderen musikalischen Genres ist Liszt bedeutender hervorgetreten, besonders freilich bei Klavier- und Orchesterwerken. Bis dato galt das für Paris komponierte Jugendwerk Don Sanche, ou le Château de l’Amour von 1824/25 als einziger Beitrag Liszts in Sachen Oper (die alte Hungaroton-Aufnahme unter Tomas Pal ist längst vergriffen/ G. H.). Trotz der begeisterten Aufnahme an der Pariser Oper nahm der ungarische Komponist bald schon Abstand von weiteren Unterfangen in Sachen Musiktheater. Dass er zwei Jahrzehnte später gleichwohl an weiteren Opern arbeitete, ist selbst Liszt-Kennern oft gar nicht geläufig. Sardanapalo von 1846, basierend auf der Tragödie Sardanapalus (1821) von niemandem Geringeren als Lord Byron. Erhalten haben sich lediglich vier Szenen, aber immerhin gut 50 Minuten bisher unbekannter Musik. Doch stellt dies noch nicht einmal den einzigen Versuch einer Rückkehr zur Operngattung durch Franz Liszt dar: In den 1840er und 50er Jahren beschäftigte er sich tatsächlich mit mannigfaltigen Themen und hatte bereits 1841 eine Oper über Le Corsaire, ebenfalls von Byron, in Vorbereitung. Hervorzuheben sind diese Überlegungen gerade auch wegen der oft sehr prominenten Autoren, denen Liszt kompositorisch ein Denkmal setzen wollte: Mit Manfred ist noch ein dritter Byron-Stoff darunter, dazu noch Richard of Palestine von Walter Scott, Consuelo von George Sand, Jankó von Karl Beck, Spartacus von Oscar Wolff, Marguerite nach Goethes Faust, Semele von Schiller, Jeanne d’Arc von Friedrich Halm sowie Autrans Adaption von Dantes Divina commedia. Es wäre sicherlich von großem Interesse, hätte zumindest einer dieser Versuche zu einer vollständigen Oper geführt – gerade auch im direkten Vergleich mit Liszts späterem Schwiegersohn Richard Wagner.

„Sardanapale“ von Eugene Delacroix/ Wikipedia

So bleibt Sardanapalo (neben Don Sanche) die einzige Möglichkeit, hier Rückschlüsse zu ziehen. Im Zentrum der Handlung steht Assyrien im Altertum unter dem dekadenten und effeminierten letzten König Sardanapalo, der mit Aufständen und Rebellionen zu kämpfen hat. Der über seine Ufer tretende Euphrat besiegelt das Schicksal seines zuvor wehrhaften Palastes. Zuletzt wählt der König zusammen mit seiner Geliebten Mirra den dramatischen Tod in den Flammen. Liszt dachte in diesem Zusammenhang offenbar an ein besonders pompöses Finale, welches sogar Feuer im Publikum entfachen sollte. Die Byron’sche Thematik war bereits zuvor in der Kunst (Delacroix) und Musik (Berlioz) aufgegriffen worden; Liszts Vorhaben stellte sicherlich das ambitionierteste dar. Kurios, dass der Librettist namentlich unbekannt geblieben ist.

Eigentlich sollte Joachim Raff die Orchestrierung für den orchestral des damals noch wenig geübten Liszt besorgen, der lediglich eine hybride Partitur für Klavier und Stimmen vorlegte. Dazu sollte es indes niemals kommen, da die Arbeit an Sardanapalo 1852 endgültig eingestellt wurde. Die Orchesterfassung für die vorliegende Einspielung musste daher 2017 neu erarbeitet und teils auch ergänzt werden, was von dem britischen Musikwissenschaftler David Trippett besorgt wurde und sich soweit wie möglich an Liszts eigenen Komponierstil der 1850er Jahre orientiert. Erst dies ermöglichte die Welturaufführung 2018 in Weimar. Bereits jetzt legt Audite die zwischen 17. und 20. August entstandene Einspielung vor.

Man geht sicher nicht zu weit, wenn man diesem zweiten Opernversuch Liszts nicht dieselbe Güte der gleichzeitig entstandenen Musikdramen Wagners bescheinigt. Gewisse Anklänge an die Opernlandschaft um 1850 sind unverkennbar (gerade auch die französische Grand opéra). Dass es letztlich zum Abbruch der Komposition kam, wird man daher auch unter diesem Aspekt betrachten müssen, ist Liszts Genie hier doch allenfalls in Ansätzen spürbar. Vielleicht hätte er aber auch schlichtweg mehr Durchhaltevermögen beweisen müssen, denn als Orchesterkomponist und eigentlicher Schöpfer der Sinfonischen Dichtung sollte Liszt wahrlich nicht weiter unterschätzt werden.

„Mazeppa“, 1826 von Emile Jean Horace Vernet (1789-1863)/ Wikipedia

Dies belegt auch die auf der CD ebenfalls inkludierte Tondichtung Mazeppa, nach Les Préludes und neben Tasso wohl seine berühmteste und wohl auch gelungenste. Dieses Werk datiert ins Jahr 1851, fällt also in dieselbe Entstehungszeit wie Sardanapalo. Hat er mit dem Opernfragment ein zwar bemühtes, aber letztlich nicht besonders außergewöhnliches Stück geschaffen, so darf bei Mazeppa durchaus von einem Coup die Rede sein. In ihrer Dramatik und Zuspitzung zeigt diese Sinfonische Dichtung Liszt auf dem Gipfel seiner handwerklichen Fähigkeiten als Orchesterkompositeur. Die Hintergrundgeschichte mit dem gleichnamigen ukrainischen Kosakenführer ist zwar im deutschsprachigen Raum bei weitem nicht so bekannt wie in Ostmitteleuropa, doch lässt sich gerade Mazeppa eben durchaus auch als absolute Musik genießen.

Die eigentliche Umsetzung der beiden Werke durch die wie so häufig vorzügliche Staatskapelle Weimar lässt kaum Wünsche offen. Kirill Karabits versteht es, das Interesse sowohl für die unbekannte Oper als auch für die vergleichsweise häufig eingespielte Tondichtung zu wecken, auch wenn die allerbesten Interpretationen von Mazeppa nicht ganz erreicht werden (es sei neben den üblichen Verdächtigen auf eine exemplarische Rundfunkproduktion des WDR unter Hiroshi Wakasugi aus den 70er Jahren verwiesen). Sängerisch wissen im Opernfragment besonders die Herren zu überzeugen. Der Tenor Airam Hernández als Sardanapalo und der Bassbariton Aleksandr Pushniak als Beleso erwecken den Eindruck, als holten sie das Bestmögliche aus den nicht unbedingt dankbaren Partien heraus. Dagegen fällt die Sopranistin Joyce El-Khoury ab und scheint ihre Probleme mit der Partie zu haben, ohne allerdings zum Totalausfall zu werden. Dafür entschädigt wiederum der hervorragend disponierte Opernchor des Nationaltheaters Weimar. Die klangliche Qualität der Einspielungen ist superb.

Anders als auf der hier besprochenen Compact Disc wurde übrigens auch der sehr selten aufgeführte, sechs Minuten dauernde Liszt’sche Huldigungsmarsch auf den Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach (1858) von der Staatskapelle Weimar unter Karabits aufgenommen; dieser ist allerdings lediglich in Form eines Zusatztracks per Download beim Label selbst erhältlich, obwohl er leicht noch auf die gerade 67-minütige CD gepasst hätte. Eine insofern reichlich unverständliche Entscheidung (Franz Liszt: Sardanapalo; Mazeppa mit  Joyce El-Khoury, Mirra (Sopran), Airam Hernández, Sardanapalo (Tenor), Oleksandr Pushniak, Beleso (Bassbariton); Opernchor des Nationaltheaters Weimar; Staatskapelle Weimar/Kirill Karabits; Audite 97.764; Aufnahme: 2018/ veröffentlicht 2019). Daniel Hauser

Belcanto Bully

 

Auf Seite 307 erfährt der Leser, der immer wieder mit Freude nach dem Buch Domenico Barbaja  von Philip Eisenbeiss über den charismatischen neapolitanischen Impresario  gegriffen hat um weiterzulesen, warum die Lektüre eine so anregende wie angenehme ist. „Die Leidenschaft hat mich getrieben“, bekennt der Autor freimütig, so wie er nicht verhehlt, dass er eigentlich lieber Opernsänger geworden wäre, stattdessen mangels Talents jedoch Headhunter in Honkong wurde, ohne je die Liebe zur Oper zu verleugnen. Ein weiterer Pluspunkt des Werks ist die Tatsache, dass Eisenbeiss bewusst nicht den Anspruch erhebt, ein streng wissenschaftliches Buch geschrieben zu haben, dazu gibt es von dem und über den so schreibfaulen wie -unbegabten Impresario Barbaja zu wenige Primärquellen, sondern sich weitgehend auf Sekundärquellen stützt und es sich so erlauben kann, auch einmal im Konjunktiv Vermutungen auszusprechen im Stil von „er dürfte sich“ oder auch „davon kann man wohl ausgehen“. „Schillernder Pate des Belcanto“ ist der Untertitel des Buchs, das an seinem Beginn mit einer Karte des Italiens der Zersplitterung und Kleinstaaterei in die historische Situation am Ende des 18. Jahrhunderts einführt. Der Leser nimmt mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis, dass der Impresario damaliger Zeiten nicht nur Sängeragent, sondern auch Theaterleiter, Arbeitgeber für Komponisten, Besitzer einer Kostümabteilung sein und alles erst einmal aus eigener Tasche bezahlen musste. Die blieb leer, wenn die Aufführungen kein Erfolg waren, also trug  er das volle Risiko, das nicht unbedingt durch Gaben des jeweiligen Hofes, eher schon durch die Einnahmen der Spielbank, die oft mit dem Opernhaus verbunden war, gemildert wurde. Der gestresste Besucher heutiger Aufführungen merkt auf und kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass die hohen Subventionen für die heutigen Theater nicht nur positive Seiten haben, wenn auf den Geschmack des Publikums keinerlei Rücksicht mehr genommen werden muss.

Eisenbeiss stellte an den Beginn seiner Forschungen einen Besuch im Museum der Mailänder Scala, wo sich an wenig prominenter Stelle das einzige wohl noch existierende Portrait Barbajas befindet. Der Sammelsuriumscharakter des Museums wird dezent verschwiegen, in Neapel weitergesucht und im San Carlo eine Büste des langjährigen Leiters aus der Hochblütezeit gefunden und inzwischen nach dem Erscheinen des (englischen) Buches an einen attraktiveren Platz gerückt.

Der Verfasser begnügt sich nicht mit einer Lebensgeschichte seines „Helden“, dessen unsympathische Züge wie Grobheit, Unbildung und Willkürlichkeit er nicht verschweigt, sondern gibt umfassende und stets interessante Einblicke in das politische und kulturelle Leben Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, schreibt über den italienischen Impresario, von denen Barbaja einer der wenigen erfolgreichen war,  über die Theaterlandschaft Italiens, später kommen noch Wien und Paris dazu.  Natürlich steht im Mittelpunkt der Lebens- und Karriereweg Barbajas vom Kaffeehauskellner (als der er die Barbagliata, Kaffee mit Schokolade, erfindet),  über den Croupier, der an der Scala das Roulette einführt bis hin zum Beherrscher eines Imperiums.

Philip Eisenbeiss has been living in Hong Kong for the past 20 years, where he has been working as a banker and financial headhunter. After extended training as an opera singer, he started his career in journalism.(Haus Publishers)

Schicksalsstadt ist für Barbaja jedoch Neapel, Hauptstadt des Königreichs beider Sizilien mit wechselhafter, teils von Franzosen, so Napoleons Marschall und Schwager Murat, geprägter Geschichte. Eisenbeiss führt eine Fülle von Zeugnissen europäischer, auch deutscher Besucher der Stadt, die Etappe der Kavaliersreisen war, an, so Lord Byron, Stendhal, Dumas oder den Komponisten Louis Spohr. In diesem Kapitel sind die einzigen winzigen Irrtümer, wenn Kastraten generell als impotent angesehen werden oder von Frauen im Orchester (Musikerinnen) ausgegangen wird. Ein Übersetzungsfehler dürfte „zeigten kein Nachsehen“ anstelle von „Nachsicht“ sein, und Ermiones Geschlecht wird verwechselt. Der Autor zeichnet ein farbiges, interessantes Bild der Bourbonenherrschaft und der neapolitanischen Gesellschaft sowie des größten Opernhauses  Italiens, neben dem Barbaja noch zwei weitere für die semi seria und die buffa betrieb.

Drei Komponisten verdanken ihren Aufstieg dem mit einem sicheren Instinkt begabten Impresario: Rossini, Bellini und Donizetti. Sie komponierten für Barbaja, allerdings weder den Barbier noch Norma noch Lucia. Für alle drei gestalteten sich die Beziehungen zu ihm zwar konfliktreich, doch gäbe es manche ihrer Opern nicht, hätte es den immer nach Uraufführungen gierenden Agenten nicht gegeben.

Die Vielseitigkeit des Buches zeigt sich unter vielem anderen auch darin, dass in den Abschnitten über Brand und Wiederaufbau des San Carlo viel über Architektur der damaligen Zeit einfließt, bis hin zu den Toiletten oder indem über die Verflechtung von Politik, Finanzen und Kultur am Beispiel des Aufstiegs der Rothschilds berichtet wird.

Eine interessante CD bei Naxos vereint Auftragsmusik des Intendanten Barbaja (8.578237)

Neben den besten Komponisten band Barbaja in seiner Hochzeit auch die berühmtesten Sänger an seine Häuser, zu denen zeitweise auch Scala und Kärntnertor-Theater gehörten. Seine und später Rossinis Gattin Colbran, Malibran, Pasta, Rubini, Lablache waren von ihm abhängig. Einen höchst lebendigen Eindruck empfängt der Leser von der Schilderung beschwerlichen und gefährlichen Reisens, von den Gefahren der Cholera, der Prozesssucht, der Missachtung des Urheberrechts und der strengen Zensur der Libretti -kurzum, man verlässt das Buch und meint, man habe für eine Zeit lang in dieser so gefahrvollen wie interessanten Epoche gelebt.

Am Schluss des Buches gibt es nochmal eine Würdigung des nicht immer freundlich behandelten „Helden“ des Buches, der immerhin dem San Carlo zu seiner glänzendsten Epoche verhalf, die Aufführungen und nicht das Publikum in den Mittelpunkt stellte, indem er u.a. Vorhänge vor den Logen abschaffte, seine älteren Mitarbeiter nicht entließ und Notleidende unterstützte.

Der umfangreiche Anhang umfasst die dramatis personae, Bourbonen und Habsburger 1638-1859, die Opern Barbajas, Erläuterung zu den Währungen, Anmerkungen, Bibliographie, Register

Ein Buch, das zugleich so umfassen zu bilden und so angenehm zu unterhalten weiß, ist eine Seltenheit (ISBN 978 3 947641 01 7; . 368 Seiten, Sieveking-Verlag 2019; dazu auch die Kritik zur vorausgegangenen englischen Originalausgabe von Charles Jernigan).   Ingrid Wanja 

Spontinis „Olympie“

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Gaspare Spontini ist zwar auf den europäischen und vor allem den französischen Opernbühnen fast verschwunden (gelegentlich findet man La Vestale noch im italienischen Repertoire, weil sich besonders diese Oper wegen der französischen Orientierung des neapolitanischen Hofes zur Napoleonischen Zeit lange im Kanon italienischer Bühnen gehalten hat), doch der Musikkritiker Berlioz (und viele danach) hielt ihn für das größte Operngenie in Frankreich nach Gluck. Uraufgeführt an der Pariser Oper (Académie royale) am 22. Dezember 1819, schließt Olympie in 3 Akten nach Voltaire an die tragische und pathosreiche Musiksprache Glucks und anderer an, eben an die der französischen Grand Opéra.

Spontini: „Olympie“ – der Komponist Gaspare Spontini/ Wikipedia

Die Orchestrierung, ihre bemerkenswerten und erschütternden Effekte, sind von Gluckscher Art, der beeindruckende Chor, die Darstellung der Antigone ebenso wie die anrührenden Gefühlsausbrüche der Statira, Witwe Alexanders, sind eine Art moralischer Fixpunkt, in dem die Diva der Uraufführung, Caroline Branchu, über sich ins fast Übermenschliche (so die Zeitgenossen) hinauswuchs. Dieser ebenso wie der heroisch-sensible Charakter ihrer Tochter Olympie, die Titelgeberin (Louise-Marie-Augustine Albert), nehmen eine Sicht der Antike voraus, wie sie später Berlioz in seinen Troyens darstellt. Voltaires Tragödie in 5 Akten von 1762 inspirierte die beiden Librettisten SpontinisMichel Dieulafoy und Charles Brifaut, zu diesem heroischen Grundton, für den Gluck berühmt ist. Der in der Empirezeit Napoleons wie ein Gott verehrte Komponist, eben auch der Schöpfer der Vestalin, hatte mit Olympie einen überragenden Erfolg.

Allerdings war Spontini (1774-1851) zur Zeit von Olympie nicht mehr in Paris, sondern in Berlin, wo er sich am 1. Februar 1820 niederließ, weil er an der Königlichen Hofoper zum Generalmusikdirektor ernannt wurde: Als ehemaliger Anhänger Napoleons und mit den Bourbonen verstrickt, hatte Spontini gute Gründe, Frankreich zu verlassen. Der Boden wurde für den ehemaligen Hofkomponisten Napoleons zu heiß. Olympie greift das Thema des Königsmordes auf: hier ist es die Ermordung Alexander des Großen und das Schicksal seiner Familie (ein mehr als delikates Thema in einer Zeit ständiger Verbrechen in Paris – im Zuge der postnapoleonischen Bereinigungen die blutige Ermordung des Duc de Berry am 13. Februar 1820 – die eine Reprise der Olympie in Paris schwierig machte).

Spontini: „Olympie“ -. „Alexandrine Caroline Branchu, nata Chevalier, fu nel 1807, all’età di 27 anni la prima protagonista de La Vestale“/Museo Spontini, Maiolati Spontini

Also war es nun in Berlin, wo Spontini wieder Ansehen erlangte, wo man seine Bourbonen-Verstrickung nicht so wahrnahm und wo er E.T.A Hoffmann eine neue Version von Olympie schreiben ließ, eine deutsche Fassung, die an der Berliner Königlichen Hof-Oper am 14. Mai 1821 uraufgeführt wurde (mit Anna Pauline Milder-Hauptmann in der Rolle der Statira). Diese neue Version, noch intensiver und kontrastreicher, hat im Europa nach Napoleon ungeheuren Erfolg und wird 1826 in Paris (ins Französische rückübersetzt) ebenfalls mit der Branchu gegeben, die damit ihren Abschied von der Bühne feiert. Spontini wiederholt hier seine Formel der erzählten, moralisierenden und erhabenen,vor allem didaktisch gedachten, Vereinfachung der Geschichte (noch einmal eine Verbeugung vor dem Mythos des Kaisertums wie schon bei der Vestalin und vor allem Fernand Cortez), und wie sie die Nachfolger Glucks im postnapoleonischen Paris fortsetzten: Salieri, Cherubini, Sacchini… Wenig später wird Eugen Scribe durch seine Libretti der mittelalterlichen Topoi noch weiter das Modell der großen französischen Oper reformieren, für Adam, Rossini, Halévy. Aubers Muette de Portici hatte im Februar 1828 ihre Uraufführung, es folgten Guillaume Tell, Les Hugenottes und viele mehr.

Für Spontini geht es in Olympie wie in der Vestale darum, die Größe und tragische Erhabenheit der Antike durch aufwendige Rituale wiederzufinden, die auch in einer erhabenen, sogar monumentalen Kälte münden können (man denke an die Monumentalgemälde der kürzlich verstrichenen Epoche), aber immer monumental: Er mischt die Mittel der Kontraste, die aus dem Gegensatz von Sakralem und Profanem entstehen; er türmt Rituale, Aufmärsche und Finalszenen mit gewaltigen Chören als Zugabe auf. Wenn auch das Spektakuläre in der Konzeption der Oper eine große Rolle spielt, gelingt Spontini dennoch eine solide psychologische und in den szenischen Übergängen flüssige Darstellung, dank der bestens verfassten Rezitative, die von den Interpreten eine absolute Meisterschaft erfordern. Aber die eigentliche Heldin, ebenso berührend wie würdevoll bleibt die erhabene Mutter Olympias, Statira. Olympia folgt in ihrem Selbstmord am Ende nur dem mütterlichen Beispiel.

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Spontini: „Olympie“/ Kostümentwurf von Engelmann for Adolphe Nourrit/ Cassandre in Paris 1826/ BNF Gallica

Diese schicksalhafte Selbstverständlichkeit ist jedoch nicht so  nachzuvollziehen, wenn Jérémie Rhorer mit seinem Cercle de l’Harmonie im Mitschnitt von 2 Abenden im Mai 2016 in der Pariser Philharmonie nun beim Palazetto Bru Zan in der gewohnten Luxus-Buch-CD-Ausgabe mit – nur – französisch-englischer Beilage der klugen Artikel und des dto. Libretto) den Figuren, Sängern und den Hörern keine Atempause gönnt, so dass es sogar mehr als einmal ein wenig wirr, zu gehetzt im Graben klingt. Das Orchester anzutreiben ist gut, aber man fragt sich oft, ob dieser beinahe manische Tempo-Eindruck eigentlich Spontinis Intentionen entspricht. Zuviel klingt ruppig, unelegant und verwischt. Und stark gekürzt gegenüber bekannteren Aufführungen!!! Wo war zum Beispiel das Ballett? Federico Agostinelli verweist allerdings im Artikel zur Aufnahme auf die Ausgabe der kritischen Fassung, wie sie bei Bärenreiter vorliegt, die die Berliner Kürzungen und Veränderungen vorsieht. Dennoch….

Spontini: „Olympie“/ Kostümentwurf von Engelmann für Carline Branchu  in Paris 1826/ BNF Gallica

Wieder einmal kann man jedoch eine beeindruckende Leistung des Flämischen Rundfunk-Chores mit einer bewundernswerten Qualität der Diktion konstatieren, der hier eine wesentliche Rolle spielt und der sehr präsent in seinen Einsätzen hervortrat, wo sich gegensätzliche Stimmen verschiedener Gruppen des Volks von Ephesus mischen.

Bei den Solisten liegen verschiedene Gesangsstile nicht immer wünschenswert dicht beieinander – mit unterschiedlichen und auch verwirrenden Ergebnissen, die zeigen, wie wenig bekannt eben der hier nötige Gesangsduktus in unserer multimedialen Zeit ist, in der durch die globale Herkunft der Sänger zu unterschiedliche Gesangsausbildungen aufeinander treffen. Da fehlt es vielleicht auch an Zeit für coaching bei den zu kurzen Proben. Und leider ist die Vokal-Besetzung für eine so anspruchsvolle Oper in Paris nicht glanzvoll genug – sie bleibt in Teilen zu klein und zu prosaisch: Vielleicht liegt´s auch an der nur konzertanten Wiedergabe, dass bei den zu rasanten Tempi der nötige Funke nicht überspringt und man trotz der Kurzfassung auch gewisse longeurs entdeckt, die beim heimischen Hören nach einer Tasse Tee oder dem Blättern im Beiheft rufen…

Spontini: „Olympie“/ Kostümentwurf von Engelmann für Louise-Marie-Augustine Albert  in Paris 1826/ BNF Gallica

Die bemerkenswerteste Interpretation kommt vielleicht von Kate Aldrich, die mit der Statira eine grandiose Rolle bewältigt, teils rachsüchtige Furie, teils zärtliche Mutter und untröstliche Witwe. 1819 wurde diese Rolle von einem wirklichen Pariser Star dargestellt, Caroline Branchu, und die amerikanische Mezzosopranistin nützte jede Gelegenheit, ihre gut geschulte Stimme vorzuführen, die sich für das französische Repertoire eignet, stilistisch vielleicht eher weniger (und ein Quentchen zu höflich, einer Federica von Stade nicht unähnlich), aber in der Diktion und Deklamation überzeugend. Wenn auch Olympie die Titelrolle ist, so ist sie vom dramatischen Standpunkt her nicht die fesselndste Figur, und Karina Gauvin (eigentlich ein Mezzo oder Colbran) scheint ein wenig Mühe zu haben, sie zum Leben zu erwecken; sie ist im leidvollen Pathos eher zu Hause als in der Leidenschaft, gleicht dies aber mit einer sehr schön gesungenen Arie im letzten Akt aus, die sie mit einer Eleganz einer geborenen Mozartsängerin angeht.

Spontini: „Olympie“/ Szenenbild zum 1. Akt von Pierre-Luc-Charles Cicéri in Paris 1826/ BNF Gallica

Bei den Herren schätzt man die Autorität von Patrick Bolleire als Grand Prêtre. Josef Wagner gibt mit sehr gutem Französisch den „Bösewicht“ Antigone in erwarteter Schwärze. Bleibt der Fall Cassandre, für den Charles Castronovo wieder einmal kurzfristig abgesagt hatte. Wie bei Cinq-Mars hatte man auf den zurückgegriffen, der bereits in München und Versailles viel mehr geleistet hat, als nur das Notwendigste zu retten: Mathias Vidal, fast ideal.

Cassandre ist ja nicht die Rolle eines jungen Sängers, sondern eines reifen Mannes (immerhin geschrieben für Adolphe Nourrit), und Vidals (exzellente) Höhe wird seltener gefordert als ein charakterlicher Nachdruck. Der Sänger wurde im Konzert zudem zu oft vom Orchester zugedeckt und war in den tiefen Tönen unhörbar, das ist nun auf der CD repariert.

Spontini: „Olympie“ beim Palazetto Bru Zane/ BZ 1035/ ISBN 978-09-08-08262-9

Über die Striche bzw. den Gegensatz der verschiedenen Versionen gibt es keine Information als nur den etwas kursorischen Hinweis darauf im genannten (nur englischsprachigen) Artikel. Vor allem das Ballett fehlt, und bei einer Gesamtlänge des Abends von rund 120 Minuten fragt man sich, warum der Palazetto diese Version verewigen möchte, die so sicher auch in Berlin nicht gegeben wurde. Eine damalige Oper ohne Ballett ist einfach nicht denkbar und klingt nach Sparversion. Insofern liegt dann eben kein doch überzeugendes Dokument dieses vergessenen Werkes vor uns, leider, denn das andere offiziell vorhandene (bei orfeo) ist ja bei aller Wertschätzung des damaligen Wagnisses an Bizarrerie der Besetzung nicht zu überbieten und tut dem Werk und dem Komponisten keinen Gefallen. Da ist der Live-Mitschnitt unter Gavazzeni mit Hollweg und Hayashi aus Perugia 1979 (bei Voce etc.) doch wesentlich gelungener und ungekürzter in der ersten Fassung als diese Pariser Angelegenheit. Stefan Lauter

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Unser Korrespondent Matthias Käther ist da milder: Gasparo Spontini war einer der wichtigsten französischen Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts, bewundert von Kollegen wie Berlioz und Wagner. Doch zu finden ist sein Werk kaum noch auf Bühnen oder Tonträgern. Jetzt ist eine Neuaufnahme seiner Oper Olimpie erschienen.

Ein wichtiges Werk? Darüber streiten die Experten bis heute – die einen sagen: ein Meilenstein der Operngeschichte. Ohne Olimpie fehlen wichtige Straßenhinweisschilder für die Reise Wagners oder Meyerbeers in die Musikgeschichte. Andre beteuern: völliger Quatsch, das Werk kommt viel zu spät, um noch bedeutend zu sein und ist der lärmende Anachronismus eines eitlen Spontini. Fest steht: Grade weil die Oper so viel diskutiert wurde und wird, ist sie hörenswert und außerdem enthält sie wirklich atemberaubend gut komponierte Musik.

Spontini: „Olympie“ beim Palazetto Bru Zane/ BZ 1035/ ISBN 978-09-08-08262-9

Die Handlung beschreibt das ewige Dilemma Spontinis, der stets eingeklemmt war zwischen rückwärtsgewandtem Klassizismus und visionärer Moderne – an der Oberfläche steifes Griechendrama, eine Geschichte um Vatermord und Opferung a la Gluck. Aber wenn man genau hinsieht, ist das einer der ersten echten Opernkrimis, es geht nämlich um die Aufklärung eines Mordes an Alexendar dem Großen, das Ganze spielt 15 Jahre nach seinem mysteriösem Tod, und seine Tochter Olimpie läuft nun Gefahr, seinen Mörder zu heiraten. Es gibt zwei potenzielle Täter und erst am Ende wird enthüllt, wer es ist, also ziemlich schräg für diese Zeit.

Schon wieder die 3. Fassung: Welche Zeit genau, fragt sich jetzt vielleicht der interessierte Opernfreund. Und genau da liegt das Problem dieser Aufnahme. Aufgenommen wurde die letzte Fassung 1826 in Paris. Von dreien ist sie vielleicht die uninteressanteste. Die Erstfassung stammt aus dem Jahr 1819, wo diese Musik wenigstens teilweise visionär war (obwohl schon damals so manches Rossinis Mosé hinterherhinkte), dann hat Spontini für Berlin eine spektakuläre Zweitfassung gemacht, die schon deshalb herausragt, weil sie in Zusammenarbeit mit E.T.A Hoffmann entstand, der das Werk ins Deutsche übersetzt hat. (Warum macht das niemand???) Diese völlig revidierte Fassung hat Spontini dann 1826 nochmal für Paris rückübersetzen lassen, wo sie dann aber nicht mehr viel hermachte; inzwischen war Paris im Rossini-Fieber und Spontini Schnee von gestern.

Solide Umsetzung: Ärgerlich, dass man nach der stilistisch fraglichen, aber extrem verdienstvollen orfeo-Studioaufnahme der 1826er Fassung mit Fischer Dieskau und Varady nun nicht eine Erstfassung zum Vergleich entgegengesetzt hat. Doch selbst die Chance, die frühere Aufnahme durch das fehlende Ballett zu ersetzen, wurde nicht genutzt. Dennoch kann ich mich mit der Produktion mehr anfreunden als manch anderer Kritiker. Natürlich ist Jérémie Rhorer am Pult ein Gewinn, und ich kann an seinen Tempi nichts Gehetztes finden. Ich fürchte, ein langsamerer Spontini wäre dröge. Kate Aldrich als Mutter Statira kaschiert ihre unstete Mezzo-Stimme mit einem ebenso ruhelosen Temperament – die Täuschung gelingt. Katarina Gauvin in der Titelpartie ist superb in Gesang und Diktion, die Herrenriege (Mathias Vidal, Josef Wagner) kämpft sich beeindruckend und nobel durch diese anspruchsvolle Partitur, Der flämische Radio-Chor wurde von niemand Geringerem als Hervé Niquet instruiert, und das hört man auch.

Hinweis auf Striche wäre schön: Das dieser Aufnahme eine gewisse Kälte die bei Opernliebhabern entgegenschlägt, ist sicher auch dem Label vom Palazetto Bru Zane geschuldet. Es ist teuer und bietet umfangreiches Textmaterial. Nicht immer spannendes. Olivier Baras Artikel fand ich diesmal sehr akademisch und strunzlangweilig. Leute, schreibt doch zur Abwechslung auch mal wieder für euer Publikum und nicht nur für den Experten im Büro nebenan. Wenn ich als Opernspezialist aussteige, muss es schon schlimm sein. Doch das Booklet schweigt sich aus über Striche in der Produktion. Das scheint mir nicht fair dem Käufer gegenüber. Trotz alledem bleibt die Serie „French Opera“ eine der besten Opernreihen des 21. Jahrhunderts – vielleicht sind wir mit dieser inzwischen 20. Produktion seit 2010 mitgewachsen und anspruchsvoll geworden (mit Karina Gauvin | Kate Aldrich | Mathias Vidal | Flemish Radio Choir | Le Cercle de l’Harmonie | Jerémie Rhorer, Leitung/ Palazetto Bru Zane 2 CD BZ 1035). Matthias Käther

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Der stärkste aller Triebe

 

Die Vornamen Emil und Nikolaus dürften in dieser Kombination nicht eben häufig sein. Emil Nikolaus von Reznicek gönnte sich diesen kleinen Hinweis und dürfte sich darüber amüsiert haben, dass eine Dame aus dem Gefolge der Milliardärstochter Gladys den Funker Machulke freudig mit „Du guter Emil Nikolaus“ begrüßt. Auf der Bühne gehört hat er diese Worte in seiner 1929 komponierte Oper Benzin freilich nie.

Die Uraufführung holte die Oper Chemnitz 2010 nach, deren seinerzeit vom MDR übertragene Aufführung nun bei cpo (7777 653-2) erschienen ist. Benzin ist eine leichtfüßige Umwandlung der Odysseus-Circe-Episode nach Calderons Adaption (Über allem Zauber Liebe), in der Reznicek den Kommandanten des Zeppelins 69 Ulysses Eisenhardt auf einer Insel landen und die in Fänge der Gladys, Tochter des Milliardärs Jeremias Thunderbolt, geraten lässt. Ulysses trägt Züge von Rezniceks Sohn Emil-Ludwig, Plumcake, ein weiterer Verehrer der Gladys, die seines Stief- und Adoptivsohns Burkhard. Und Gladys wiederum ist Burkhard Rezniceks zweiter Frau nachempfunden, der dem Bankhaus Heimann entstammenden Paula. Paula und Burkhard waren als Journalisten tätig, Paula 1928 Deutsche Meisterin im Tennis. Die familiären Implikationen, die Michael Wittmann in einem umfangreichen Text im Beiheft enthüllt, sind informativ, doch heute kaum interessant und schon gar nicht stücktragend. Ulysses muss bei seinem Weltrekordflug auf einer kleinen unbekannten Insel notlanden, da ihm das Benzin ausgegangen ist. Glück im Unglück, denn Benzin gibt es hier in großen Mengen. Allerdings wird die Insel, wie sein Ingenieur Hans Freidank erzählt, von der mit hypnotischen Kräften begabten Gladys verzaubert. Gladys will natürlich auch Ulysses verführen („Und was ist denn ihr Lieblingssport?“). Doch Ulysses wiedersteht. Gladys setzt als nun ihre Freundin Violet ein, die ans Werk geht, weil sie Freidank, auf den sie ein Auge geworfen hat, eifersüchtig machen will. Der Funker Emil Nikolaus Machulke und der Koch Obertupfer machen sich indessen mit zwei Damen aus Gladys Gesellschaft bekannt und schwärmen von den Vorzügen ihrer Heimatstädte Berlin und München. Ein operettenhaftes Hin und Her, bis Gladys sich ihre wahren Gefühle für Ulysses eingesteht, das Benzin freigibt und das Paar Gladys und Ulysses gemeinsam nach New York fliegt.

Wittmann erzählt auch, wie Hugo Eckeners Transatlantik-Überquerung, an der Personen beteiligt waren, die direkt oder indirekt – wie der amerikanische Zeitungsmagnat Hearst – durchaus Rezniceks Personal entsprachen, und schließlich der Black Friday der amüsanten Zeitoper über den Zeppelin den Boden unter den Füßen entzogen und zuerst Hamburg und dann auch Leipzig, wo immerhin Kreneks Jonny spielt auf herausgekommen war, vor einer Aufführung zurückschreckten. Das heiter-phantastische Spiel mit Musik, zu dem Reznicek selbst den Text nach Calderon geschrieben hatte, ist genau das, was der Untertitel sagt: Heiter, phantastisch. Eine Gruppe farbig entworfener und skurriler Figuren, interessante, filmartig aneindergereihte Szenen, zusammengehalten von einem wendigen, gelegentlich etwas platten Konversationston, der durchaus zu charmanten ariosen Einsichten fähig ist und Duette und Quartette in ensembleprächtige Lustspielszenen aufweicht und vor allem auf Tempo setzt.

Das Stück braucht, auch wegen Rezniceks etwas staksig ausschweifendem Text, ein bisschen, bis es in Fahrt kommt, doch dann dürfen die Figuren, die alle wie aus einer alten Filmkomödie wirken, kräftig aufdrehen, und Violet klingt dann genauso wie die verführerische Zerbinetta auf der einsamen Insel, was Guibee Yang wunderbar beweist. Gesungen wird auf dem bühnenprallen Mitschnitt recht angenehm. Johanna Stojkovic ist damenhaft zickig und mondän als lebhaft vollstimmige Gladys, Carsten Süss ein präzis verhaltener Tenorliebhaber Ulysses Eisenhardt, Andreas Kindschuh besitzt einen auffallend beherrschten Bariton für den Freidank, André Riemer ist der markante Emil Nikolaus Machulke und Keuta Räsänen der bollerige Milliardär Thunderbolt, den eine alte Liebe heimsucht (Heidrun Göpfert). Frank Beermann hat das raffiniert instrumentierte, aber etwas zu grobmaschig zusammengehaltene Stück zwischen Strauss und Jazz, Walzer, Tango und Foxtrott – samt der als Banda auf der Bühne fungierenden Jazz-Combo – sicher im Griff und bietet eine überzeugende Aufführung. Der einer österreichischen Offiziersfamilie entstammenden Freiherr Reznicek, der als Militärkapellmeister begann, an vielen Häusern als Kapellmeister und in Mannheim zeitweise als Generalmusikdirektor wirkte, war, zwar romantisch geprägt, in vielen Stilen und Moden versiert. Lange war nur seine Donna Diana-Ouvertüre bekannt. Neben Benzin (u.a. Bielefeld 2018) wurden von seinen 25 Opern zuletzt auch sein Ritter Blaubart (Augsburg 2012. cpo veröffentlichte die Berliner Konzertaufführung von 2002) und Holofernes (Bonn 2016) wiederentdeckt. Da kann man vielleicht noch nachbohren. Rolf Fath

Gute Laune garantiert

 

Keinen Abbruch tut dem überaus herzlichen Beifall am Schluss von Chabriers L’Etoile der ungeheuerliche Body, den Roi Ouf dem staunenden Publikum im letzten Akt entgegenstreckt, er wird sogar besonders gefeiert in der Dutch Opera in Amsterdam, und nur die Sängerin des Lazuli kann ihn darin übertreffen. Die Inszenierung von Laurent Pelly bietet den Sängern in ihrer geistereichen, ironischen, freizügigen, aber nie plump werdenden Art alle Möglichkeiten, sich ins rechte Licht zu setzen. Das Bühnenbild von Chantal Thomas wartet für den ersten Akt noch mit einem trüben Grau in Grau, Lautsprechern oder Sirenen an hohen Masten auf, der Chor tritt zunächst in Trenchcoats und Schlapphüten auf, doch bereits mit dem ersten von vielen Fortbewegungsmitteln, der fahrbaren Sternwarte des Hofastrologen Siroco wird es interessant, lustig und immer wieder abwechslungsreich. Eine überbordende Phantasie zaubert einen fahrbaren Hochfolterstuhl, einen ebensolchen  Kramladen, einen Leichenwagen und schließlich ein ganz aus den Fugen geratenes Räderwerk auf die Bühne, und wenn der König sich am „grünen Chartreuse“ berauscht, wird der Bühnenhintergrund erst giftgrün, um mit zunehmender Besäufnis sich zu Blau zu wandeln. Riesige, eher bekümmert als finster blickende Hunde gehören zum Hofstaat, der im letzten Akt sich in phantasievoll im Stil der Entstehungszeit entworfene Kostüme werfen darf.

Die irre Geschichte vom armen, aber charmanten Jungen, der erst vom König als Pfählungsopfer zur Belustigung seiner Geburtstagsgesellschaft erwählt wird, ehe er gehegt und gepflegt wird, weil der Hofastrologe dessen Leben und Sterben mit dem des Königs und seinem eigenen verknüpft hat, und der schließlich sogar die dem König bestimmte Prinzessin heiraten darf, braucht hingebungsvolle  Singschauspieler und hat sie mit denen dieser DVD gefunden. Stéphanie d’Oustrac hat eine knabenhafte Figur und viel tänzerische Beweglichkeit für Lazuli, dazu einen strahlenden Mezzosopran, der schillernd zweideutig eingesetzt werden kann, und darstellerisch füllt sie die jungenhaft-burschikose Partie perfekt aus. Nur wenn es tief nach unten geht, wird die Stimme etwas matt. Einen nicht ganz frei klingenden Sopran setzt Hélène Guilmette für die Prinzessin Laoula ein, etwas reifer und schärfer klingt der von Julie Boulianne für die Begleiterin Aloès. Eine lustige Karikatur eines Königs mit dem Krönchen unter dem Schlapphut ist Christophe Mortagne für den Roi Ouf, mit unermüdlichem Plappermaul und quirlig flexiblem Tenor für die Gesangsnummern. Einen etwas dumpfen Bariton setzt Elliot Madore für Porc-Epic ein, einen frischen Tenor Francois Piolino für seinen Nebenbuhler Tapioca. Köstlich im Duett mit dem König ist der Astrologe Siroco, den Jerome Varnier singt. Die vokalen Qualitäten fallen allerdings weniger ins Gewicht als das überschäumende Komödiantentum, das allen Mitwirkenden zu Eigen ist. Das gilt auch für das Residentie Orkest The Hague  unter Patrick Fournillier, das bereits mit der Ouvertüre und weiterhin unermüdlich für einen rasanten, brillanten Ablauf des musikalischen Geschehens sorgt (DVD Naxos 2.110595). Ingrid Wanja         

Frisch und unmittelbar

 

Dichterlieben gibt es wie Sand am Meer, und man runzelt die Stirn, wenn wieder einmal eine auf dem CD-Markt erscheint. Die jüngst aufgenommene immerhin lässt aufhorchen, allerdings nicht mit dem Heine-Schumann-Liederkreis, sondern zunächst einmal mit Beethovens „An die ferne Geliebte“, auch wenn der Titel der CD etwas irreführend Dichterliebe ist, hier jedoch nicht als Titel, sondern offensichtlich als Thema begriffen.  Dem bleibt die CD auch in ihrem mittleren Teil, Hugo Wolfs Lieder auf Texte von Heinrich Heine treu, und nur ganz zuletzt konnte wohl Benjamin Bruns nicht dem Zauber von Eichendorffs Mondnacht  widerstehen und setzte sie an den Schluss seiner Aufnahme.

Frische, Empfindsamkeit und Unmittelbarkeit lassen den Hörer die Liederzyklen nicht als (zu) oft gehörte, sondern als durchaus neu erlebte erfahren, man merkt es der CD an, dass ihre Interpreten einen unmittelbaren Zugang zu den Lieder haben und das auch mitzuteilen wissen.

Bereits in den sechs Liedern des Beethovenzyklus‘ offenbart sich eine gar nicht anämisch-liedgeeignete, sondern eine farbige, jünglingshaft-virile, mit einem unverwechselbaren und angenehmen Timbre begabte Tenorstimme, die sich ausgeglichen zwischen Textausdeutung und Musikfluss einzurichten weiß. Textverständlichkeit macht tatsächlich das Fehlen der Liedtexte im Booklet verzeihbar, ein feines, elegisches „klagen“ im ersten Lied und die Beschleunigung des Tempos an der richtigen Stelle nehmen sofort für die Interpretation ein. Im zweiten Lied erfreuen eine runde mezza voce und ein schönes Echo, eine kontrastreich hervorgehobene „innere Pein“, im dritten das angemessene Rubato und die rhythmischen Feinheiten.  Auch die Pianistin Karola Theill kann sich bereits im fünften Lied durch ein empfindsames Vorspiel profilieren.

Es folgt Schumanns Der arme Peter auf Gedichte von Heinrich Heine, in dem der Kontrast zwischen Peter und dem glücklichen Brautpaar gut hervorgehoben wird, eine schöne Wehmut in „ist man doch allein“ zu Herzen geht und der „jüngste Tag“ ein fast endloser zu sein scheint.

Hugo Wolfs Liederstrauß führt mit „du aber siehst es nicht“ in eine sehr präsente tiefe Lage der Stimme, zeigt in „Ich stand in dunklen Träumen“ ein schönes falsettone und ein nachvollziehbar sehr langsames „verloren“.  In schmerzlicher Intensität erklingt „Aus meinen großen Schmerzen“ und beweist, dass die Stimme auch zu Dramatischem fähig ist.

Den Abschluss der CD bildet Schumanns Dichterliebe auf Ausschnitte aus Heines „Buch der Lieder“, die mit einem zart-zärtlichen Wonnemonat Mai eingeleitet wird und einen schönen Schwellton für das „Verlangen“ hat. Dem Sänger gelingen im Verlauf des Zyklus‘ alle Abstufungen, so für „Im Rhein“ zwischen Intimität und getragener Feierlichkeit, Steigerungen bis zum Äußersten wie für „Ich grolle nicht“ oder eine helle Strahlkraft der Stimme wie für „Aus alten Märchen“.

Für die „Mondnacht“ schließlich wird der Tenor wundervoll wie in einem schwebenden Zustand gehalten, ehe die Seele bzw. Stimme „weit ihre Flügel“ ausspannen kann (HC 18025). Ingrid Wanja    

Ganzheitliches Erfassen

 

Petra Lang ist ohne Zweifel eine der international hochgefragtesten Künstlerinnen, ehemals Mezzosopranistin und nun im großen Sopranfach zu Hause. Die Details ihrer Biographie sind auf ihrer website und in internationalen Kritiken nachzulesen. Spannender will uns ein Gespräch mit einer denkenden Künstlerin erscheinen, die sich – auf der Grundlage eigenen Erlebens und Werdens – Gedanken zum Gesang heute und zum Singen überhaupt macht. Wie kommt jemand (Petra Lang) zum Gesang, wie sieht sie sich und die Gesangsszene? Fragen an Petra Lang also.

 

Drei Worte zu Ihren Lernerfahrungen: Welche Musik hörten Sie als Kind in Frankfurt? Meine Eltern besaßen eine große Schallplattensammlung. So konnte ich schon früh Opern- und Operetten-Aufnahmen und Sängerportraits von z.B. Anneliese Rothenberger, Erna Berger, Maria Callas, Christa Ludwig,  Fritz Wunderlich, Jan Kiepura, Helge Rosvaenge, Jussi Björling und Dietrich Fischer-Dieskau hören. Ganz ehrlich: Diese Musik mit Gesang fand ich viel spannender als meine Märchenschallplatten.

Petra Lang/ Foto Ann Weitz , Düsseldorf/www.petralang.com/

Hat die Oper Sie schon immer angesprochen? Welches war die erste Oper, die Sie live sahen und was hat das bei Ihnen ausgelöst? Oper mit ihren schönen Bühnenbildern und meist farbenprächtigen interessanten Kostümen hat mich schon früh begeistert. Und vor allen Dingen die Dimensionserweiterung der Szene machte die Musik für mich noch viel direkter erlebbar und regte meine Fantasie an. Die Fledermaus hinterließ einen großen Eindruck. Mein Vater erzählte mir die Geschichte vorher, hörte mit mir gemeinsam die Aufnahmen an, und so konnte ich quasi „meine“ Fassung schon lange für mich in Gedanken durchspielen, bevor ich sie dann live auf der Bühne sehen konnte. Über die Jahre haben mich viele interessante Produktionen der Oper Frankfurt auf diese Weise inspiriert: Neuenfels’ Aida, eine viel diskutierte Götterdämmerung, Tristan  und Tannhäuser mit Spas Wenkoff, Turandot mit Birgit Nilsson, Plácido Domingo als Manrico und später  auch als Dirigent der Fledermaus. Die Liste der großen Namen ließe sich noch lange fortsetzen. Vor allen Dingen hatte ich die Möglichkeit viele Vorstellungen mehrmals zu besuchen, und so konnte ich schon früh lernen, dass Sänger in der gleichen Rolle an verschiedenen Abenden unterschiedlich disponiert sein können. Dies war für mein eigenes Singen und Unterrichten und vor allen Dingen für die Beurteilung von Sängerleistungen und den Prognosen für eine mögliche sängerische Entwicklung sehr wichtig. So lernte ich im Laufe der Zeit, Parameter für diese Beurteilung mit einzubeziehen und diese so weit wie möglich zu erweitern und so zu beeinflussen, dass meine eigene Leistung möglichst stabil wird. Diese Herangehensweise gibt dem Sänger Raum für die Entwicklung, die nun einmal nötig ist, um lange gesund zu singen und so seinen Weg zu finden und zu gehen. Das schien früher der Normalfall zu sein. Viele ältere Sängerkollegen sagten mir immer wieder, dass man eine Partie erst wirklich beherrsche, wenn man sie mindestens zwanzig Mal gesungen hat. Und dann erst beginnt die spannende Zeit, in der sich die Rolle entwickeln kann.

 

Wie haben Sie „entdeckt“, dass Sie eine Stimme haben, wie konnten Sie diese so konstant bis zum heutigen Tage weiterentwickeln?  Und ich habe immer gesungen. Noch bevor ich sprechen konnte, habe ich gesungen. Ich fand die Hüte meiner Großmutter sehr „anziehend“ und wickelte mich in ihre Tischdecken, die ich zum Kleid mit Schleppe umfunktionierte und zog so singend und spielend, „meine“ Geschichten erfindend, durch das Haus. Das war großer Spaß! Wir haben zu Hause und in der Schule viel gesungen. Jedoch war ich häufig erkältet, was das Singen einschränkte, und es war leichter mit Violine oder Viola in Orchestern oder in der Kammermusik „unterwegs“ zu sein. Ich habe Violine studiert und habe einen musikpädagogischen Abschluss mit Hauptfach Violine. So konnte ich ein breites Musik-Repertoire kennenlernen und vor allen Dingen Präzision und Disziplin als wichtige Faktoren für das Musizieren als selbstverständlich annehmen. Ich wurde Lehrerin für Violine, Viola, Musikalische Früherziehung und Musikalische Grundausbildung. Das Unterrichten und die Arbeit mit Kindern hat mich sehr erfüllt, jedoch auch vor das Problem gestellt, dass ich für diese Arbeit den richtigen Stimmgebrauch erlernen sollte. Durch eine Namensverwechslung bekam ich gegen Ende des Violin-Studiums Stimmbildung und dachte mir, dass ich die Chance nutze, zu lernen, wie man „richtig“ spricht, bevor man am Institut den Fehler bemerkt. Meine damalige Lehrerin Gertie Charlent meinte, dass es sich rentieren würde, weil ich eine schöne Stimme hätte und meldete mich einfach für die Aufnahmeprüfung zum zweiten Hauptfach an. Diese habe ich, wieder mit einer schweren Erkältung, bestanden. Mit Hilfe ihres alten HNO-Arztes konnten wir dann mein Gesundheitsproblem in den Griff bekommen. Er sagte, dass ich immer in der Praxis vorbeikommen könne, wenn ich „ein irgendwie komisches Gefühl im Hals“ hätte und dass ich so lernen solle, mein eigener Therapeut zu werden. So konnte ich in relativ kurzer Zeit lernen, meinen eigenen Zustand einzuordnen, meist die Nahrungsmittelauswahl anzupassen oder zu ändern und mit einfachen Hausmitteln dann selbst zum eigenen Wohlfühlen beitragen. Über die Jahre fand ich immer wieder HNO-Ärzte, die mich auf diese Weise anregten, mich mit meiner Gesundheit aktiv auseinander zu setzen, da man als Sänger sehr schnell wissen muss, ob man singen kann oder nicht, ob man einen banalen Infekt hat, eine Heilkrise oder vielleicht auch eine ernstere stimmliche Erkrankung hat. Diese „Gesundheitserziehung“ half mir in meiner Karriere sehr und hat mir vor allen Dingen geholfen, Schwierigkeiten zu erkennen, bevor sie zum echten Problem wurden. Ich habe dadurch auch einen viel bewussteren Umgang mit meiner Stimme angestrebt und versucht, schadhafte Methoden oder Techniken zu vermeiden.

Petra Lang: Brünnhilde in Wagners „Götterdämmerung“ am Grand Théâtre de Génève/ Foto Carole Parodi (mit Dank an die Pressestelle des Grand Théâtre)

Meine erste Lehrerin hat mich auch früh zu Meisterkursen geschickt, weil sie sagte, dass man als Sänger immer „im Entwicklungsprozess“ ist und offen sein sollte für Neues. Im Laufe der Jahre konnte ich wichtige Impulse von Sängern bekommen, die selbst lange aktiv auf der Bühne gestanden haben und mir so ihre Erfahrungen direkt weitergeben konnten: Judith Beckmann, Brigitte Fassbaender, Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Schreier, Hans Hotter und Ingrid Bjoner, die dann für 17 Jahre meine Lehrerin wurde. Großen Einfluss hatte auch Astrid Varnay, die schon früh meine Potenz für das dramatische Repertoire erkannte und mich sehr gut darauf vorbereitet hat – auch wenn ich zu dieser Zeit noch nicht den Schritt zu Wagners Heroinen sah. Ich hatte schon früh das Glück gehabt, mit guten Kollegen singen zu dürfen und auf gute Coachs und Repetitoren zu treffen – Kollegen, die ich fragen konnte, die mir auch einmal eine Warnung zukommen ließen oder mir ehrliche Wege zur Realisierung zeigten, die mir auch in der täglichen Arbeit zu einer Weiterentwicklung halfen. Ingrid Bjoner als auch Astrid Varnay betonten immer, dass man in diesem Beruf nur gesund „hinten“ ankommt, wenn man lernt, auf seine Stimme zu hören und wenn man versucht, sich nicht von Status und wirtschaftlichen Gesichtspunkten leiten zu lassen. Das kann eine schwere Prüfung sein – gerade, wenn es um Partien geht, die man gerne singen möchte. So wurde ich oft in meiner Karriere nach z.B. Elektra gefragt. Da gab es lange Gespräche mit Dirigenten und Regisseuren, die mir immer das Gefühl vermittelten, dass ich diese Partie mit „ihnen“  machen kann. Diese Frau auf der Bühne darzustellen, wäre ein großer persönlicher Wunsch. Die Töne kann ich singen. Jedoch verfügt meine Stimme nicht über das nötige Metall, um hier wirklich dauerhaft reüssieren zu können. Ich habe wirklich große Sängerinnen dieser Partie live gehört und weiß, welche stimmlichen Voraussetzungen man mitbringen muss, um hier erfolgreich zu sein. Das scheint heute Niemanden mehr zu interessieren. Ich hörte oft: „Wenn Sie keine Elektra singen wollen, dann wäre ja wohl der Weg ins Charakterfach mit Amme oder  Küsterin die Option.“ Diesem Denken liegen rein wirtschaftliche Interessen zu Grunde, ohne zu berücksichtigen, was meine Stimme wirklich leisten kann. Ich habe dank meiner Lehrer früh gelernt, auf mich aufzupassen und wirklich nur die Schritte zu gehen, die ich auch gehen kann. NEIN ist das wichtigste Wort für einen Sänger, und ich habe es häufig benutzt. Und es war auch sehr hilfreich zu wissen, dass ich immer eine andere Berufsoption hatte. Es kann mit dem Sängerberuf von heute auf morgen aus sein: durch gesundheitliche Beeinträchtigungen, durch stimmlichen Verschleiß, durch Erreichen des Rentenalters des entsprechenden Faches oder dass man einfach nicht mehr „flavour of the month“ ist. Da ist es immer gut, einen Plan B parat zu haben, der dann auch sofort greift.

Natürlich gehört auch eine ganz große Portion Glück dazu, dass ich dann trotzdem, die richtigen Partien zur richtigen Zeit singen darf und mit den richtigen Regisseuren und Dirigenten arbeiten durfte, um mich zu der zu entwickeln, die ich heute bin. Es war ein großes Glück, dass ich drei Jahre von Angelo Loforese lernen durfte und durch ihn noch einen Einblick in alte italienische Gesangstechniken bekommen konnte. Ich habe zwar immer, wenn ich in New York oder in London war, mit alten (italienischen) Coachs gearbeitet. Jedoch konnte mir keiner so plastisch und direkt diese eigentlich ganz einfachen Dinge zeigen. Wichtig war für mich auch, dass mein Mann, der als Vocal Coach arbeitet, mir immer konstruktiv und direkt gesagt hat, wo ich was verändern sollte. Es ist schon sehr hilfreich, einen vertrauensvollen Menschen mit Ohren zu haben, der ehrlich mit mir umgeht. Eigentlich ist für mich immer der Weg das Ziel. Wenn es Probleme zu lösen gibt, sehe ich diese immer als Aufgabe, der ich mich jetzt stellen sollte und bei der ich ein „gesundes“   Weiterkommen im Rahmen meiner Möglichkeiten anstreben sollte. Entscheidend ist, zu akzeptieren, dass man nicht auf einen Knopf drückt und dann entsteht sofort der fertige Sänger. Das Abrufen und Selbstverständlich-werden von muskulären Abläufen benötigt eine gewisse Zeit. Das kann man sehr gut bei Sportlern sehen, die auch eine Weile benötigen, bis sie Meister ihres Faches sind. Bei uns Sängern kommen noch die intellektuelle Auseinandersetzung mit Inhalt und der Projektion des Sinnes von Wort und Musik unter musikalischen und szenischen Gesichtspunkten dazu. Selbstverständlich sollte man dies alles in einem gewissen zeitlichen Rahmen realisieren können. Astrid Varnay sagte mir, dass man gut vorbereitet sein muss, um dann abzuliefern und dass man auch akzeptieren sollte, dass der Sängerberuf nichts für einen ist, wenn es nach einer gewissen Zeit nicht mit der Singerei klappt.

 

Petra Lang: Brünnhilde in Wagners „Siegfried“ am Grand Théâtre de Génève/ Foto Carole Parodi (mit Dank an die Pressestelle des Grand Théâtre)

Was bedeutet für Sie „gesund“ und speziell „stimmgesund“? Ich versuche, meine Ressourcen optimal zu nutzen und meine Möglichkeiten zu erweitern. Ich akzeptiere jedoch natürliche Grenzen, die ich nicht oder noch nicht überschreiten kann als gegeben. Mein Vorbild war immer meine alte Lehrerin, die im Alter noch eine völlig intakte und schöne Stimme hatte und ihren Schülern alles vormachen konnte. Ich hörte sie, siebenundsiebzigjährig, drei Wochen vor ihrem Tod, einer Studentin blitzsaubere, präzise Koloraturen der Königin der Nacht vorsingen. Das war schon sehr beeindruckend! Es gab früher viele Sänger, die stimmgesund aus dem Beruf schieden. Einfach weil sie immer im Rahmen ihres Faches und mit ihren stimmlichen Mitteln gesungen haben. Sicher besteht gerade bei den dramatischen Fächern eine größere Gefahr für einen frühen Verschleiß. Dieser ließe sich in den meisten Fälle durch kluge Rollenauswahl, zeitlich angepasste Planung und stabile Technik vermindern.

Für uns Sänger ist natürlich eine stabile Gesundheit wichtig. Neben einer entsprechenden Physis spielt auch die Ernährung eine große Rolle. Vielleicht kann man als junger Mensch noch einiges ausgleichen, jedoch mit fortschreitendem Alter wirken sich ernährungsbedingte Krankheiten im Sängerberuf noch stärker aus als bei der „Normalbevölkerung“. Wenn ich hier nur an die Auswirkungen der mit dem Metabolischen Syndrom verbundenen Krankheiten denke. Aus rein optischen Gründen ist es für adipöse Sänger heute mit den vielen Video-Mitschnitten sehr schwierig. Mit dem Übergewicht kommen häufig z.B. Atemnot, Probleme des Bewegungsapparates, Müdigkeit und mangelnde Ausdauer, Infekt-Häufigkeit und vieles mehr hinzu, erschweren die Belastbarkeit des Sängers und führen zu Einschränkungen in der Berufsausübung.

Die dramatischen Fächer, die großen physischen Einsatz, eine hohe Ausdauerleistung bei angemessener Flexibilität fordern, kann und sollte man beispielsweise erst in einem relativ fortgeschrittenen Alter nach entsprechender Entwicklung über lyrische Partien singen. Hier kann es hilfreich sein, ganz genau zu wissen, was man wann zu sich nehmen sollte, um die Leistungsfähigkeit zu optimieren. Ein Profi-Leistungs-Sportler ist in diesem Alter schon lange im wohlverdienten Ruhestand.

Petra Lang/ Foto Ann Weitz, Düsseldorf/ website Petra Lang

Ich durfte schon früh Systemische Tiefenentgiftung via Darm erlernen, habe mich viele Jahre mit Sporternährung beschäftigt, habe eine Food Coach Lizenz und einen Ernährungsberater-Abschluss, habe Ernährungsberatung in meinem privaten und beruflichen Umfeld gegeben und konnte so vor allen Dingen für mich selbst eine positive Stabilisierung mit relativ einfachen Ernährungsstrategien bewirken.

 

Welche Gesichtspunkte sind für Sie noch wichtig für eine lange und erfolgreiche Sängerkarriere und welche Methoden wenden Sie unterstützend an? Für mich als Sängerin war es immer wichtig, zu einem bestimmten Termin, an einem bestimmten Ort, meine Leistung auf den Punkt gebracht abrufen zu können. Dazu musste ich, neben der gesundheitlichen Stabilität, ein gutes, realistisches Zeitmanagement erstellen und durchführen und vor allen Dingen lernen, meinen Körper rasch zu regenerieren: Stimmlich, physisch und mental. Dies auch mit möglichst einfachen, natürlichen Mitteln und Methoden. So gehören für mich Krafttraining, Gymnastik, Schwimmen, Spaziergänge und Tai Chi als auch Massagen, Sauna und Bäder zur regelmäßigen Routine. Ich wende seit Jahren Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung nach Jacobson und Akupressur an und habe Abschlüsse als Entspannungstrainerin und Kursleiterin für PME, AT und Selbsthypnose. Ich habe in den vergangenen vierzehn Jahren Klangmassage Ausbildungen und viele Weiterbildungen in diesem Bereich absolviert und bin Zertifizierte Klangmassagepraktikerin der Steinbeis-Hochschule Berlin.

Ich habe meine Partien immer neben und lange vor der eigentlichen Probenphase im Theater, mit Regieassistenten, Dramaturgen und Psychologen erarbeitet, alle möglichen Aspekte der Rolle und ihres Umfeldes durchleuchtet, versucht, meine Körpersprache in das zu kreierende Rollenportrait einfließen zu lassen oder wenn nötig, auch radikal zu verändern. So konnte ich auch psychische Belastungen, die sich durch Inhalte und Wirken bestimmter Rollen ergeben, gut be- und verarbeiten. Es war für mich anfangs nicht so einfach, als Cassandra gewissermaßen immer gegen Wände zu rennen, als Judith gegen die eigenen Wertvorstellungen für eine Partnerschaft und Liebe insistierend, jede Zukunft mit Blaubart unmöglich zu machen. Und es braucht ganz schön viel Mut als wirklich böse Ortrud auf die Bühne zu gehen! Aber nur so werden die Figuren lebendig. Darum geht es mir beim Theater. Diese Überhöhung ist für mich zwingend, sonst bleibt es Konzert im Kostüm. Das Singen als selbstverständliches Ausdrucksmittel einzusetzen ist immer mein Ziel. Das setzt auch hier stimmliche Kontrolle, regelmäßige Überprüfung und Anpassung der stimmlichen Mittel an die jeweilige körperliche Verfassung voraus.

 

Petra Lang: Ortrud im „Lohengrin“ unter Donald Runnicles an der Deutschen Oper Berlin, hier mit Gordon Hawkins/ Telramund/ Foto Marcus Lieberenz/bildbuehne.de/ mit Dank den Fotografen und an die Pressestelle der DOB

„Klangmassage“ – das klingt spannend! Peter Hess fand heraus, dass man mit auf dem Körper angeschlägelten Klangschalen einfach eine Entspannung erzeugen kann und entwickelte die nach ihm benannte Klangmethode. Sie fördert Gesundheit und Selbstwahrnehmung und steigert das körperliche Wohlbefinden und wird mit großem Erfolg in verschiedenen Bereichen wie Therapie, bei Demenzerkrankungen, in der Sterbebegleitung, bei Geburtsvorbereitung und Geburt, in Schule, Kindergarten, für Wellness und Entspannung  eingesetzt. Vereinfacht gesagt, sucht sich der Körper die Klänge der Schale aus, die er momentan benötigt. Man kann sehr leicht in einen Entspannungs-Zustand kommen und so z.B. die Sinne schärfen, die Regeneration fördern,  die Fantasie anregen, Ideen entwickeln und Probleme auf einer anderen Ebene bearbeiten. Mir erleichtern die Klangschalen das „Runterkommen“ nach einer Vorstellung, sie sind sehr hilfreich bei Jetlag und in Stress-Situationen und geben meinem Lernen eine andere Qualität. Ich verwende sie auch beim Unterrichten und kann hier bei Sängern eine leichtere Umsetzung durch das bewusstere Spüren des eigenen Körpers erreichen. Beim Singen setzen wir ja unseren Körper als Instrument ein, und die Schalen ermöglichen mit der Zeit eine andere Durchlässigkeit und Resonanz des Körpers. Und so nebenbei finde ich es einfach entspannend, sich zur Abwechslung mit Klängen zu beschäftigen, die man nicht selbst herstellen und auf „Richtigkeit“ überprüfen muss.

 

Was heißt das für Sie in der Praxis? Als Sängerin bin ich dem Komponisten verpflichtet, d.h., ich muss die Partitur genau umsetzen, die richtigen Töne zur richtigen Zeit singen, den Inhalt transportieren und diesen auch szenisch optimal präsentieren.

 

Wann haben Sie sich dann entschlossen, Sängerin zu werden und wie sah der Weg in den Beruf aus? Nach meinem Violin-Examen hatte ich eine sehr gute Stelle an der Musikschule in Rüsselsheim. Ich studierte gleichzeitig Gesang und besuchte Meisterkurse. So auch bei Ingrid Bjoner, die mich dann zur „Münchner Singschul’“ eingeladen hat. Nach dem Vorsingen für diesen Kurs wurde ich sofort ins Opernstudio der Bayerischen Staatsoper engagiert. So hat gewissermaßen das Schicksal entschieden, dass ich auf die Bühne gehen sollte. Mein Operndbüt war am 15. September 1989 das zweite Bauernmädchen im Figaro unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch an der Bayerischen Staatsoper München. Und Cherubino, Dorabella, Ramiro, Rosina, Octavian, Suzuki waren meine Lieblingsrollen in jenen Jahren. Ich habe gerne Annina in Verdis La Traviata gespielt und habe mir mein erstes eigenes Auto mit dem Gastieren mit dieser Partie verdient.

 

Und wie fing das an mit Ihren Wagner-Partien? Und mit Ortrud? Ich sang schon 1992 die Waltraute in der  Dortmunder Walküre. 1994 kam dann die Waltraute in der Götterdämmerung dazu, gefolgt von beiden Frickas. Von Braunschweig startete dann Brangäne ihre Reise in die Welt.  Über die Jahre konnte ich dann nach und nach meine anderen Wagner-Rollen hinzufügen: Venus, Adriano, Kundry, Sieglinde, Brünnhilde, Isolde und Ortrud.

Astrid Varnay hat mir schon im Opernstudio prognostiziert, dass die Ortrud einmal „meine“ Partie werden würde und gab mir schon früh sehr viele hilfreiche Tipps. 1996 habe ich dann mit Ingrid  Bjoner begonnen, an der Ortrud zu arbeiten und habe auch immer wieder Astrid Varnay kontaktiert, um mit dieser Rolle „weiter zu kommen“. 2003 habe ich dann beim Edinburgh Festival unter der Leitung von Donald Runnicles meine erste Ortrud gesungen. Die erste szenische Aufführung war dann 2006 in Wien, ein paar Tage nach dem Tod meiner beiden verehrten Lehrerinnen.

In der Folge hatte ich das große Glück, diese Partie mit großen Regisseuren arbeiten zu dürfen, die mich immer wieder dazu brachten, Grenzen zu überschreiten und mir Mut zum Extremen gaben. Über die Jahre und mit den Brünnhilde– und Isolde-Erfahrungen hat sich die Ortrud entwickelt. Sie wurde nicht leichter – aber noch differenzierter im Vergleich zu den ersten Anfängen.

 

Petra Lang/ Foto Ann Weitz, Düsseldorg/ website Petra Lang

Offenbar entwickeln Sie  Ihre Partien immer weiter. Für mich steht die ganzheitliche Erfassung und Umsetzung der Vorgaben des Komponisten unter Berücksichtigung der Ideen und Übertragungen des jeweiligen Regisseurs im Vordergrund. Mein Opernschullehrer Harro Dicks sagte immer, dass das Herstellen der „Fliegenschisse“ – sprich der Noten – Voraussetzung für den Sängerberuf sei. Die große Kunst sei, durch die eigene Interpretation eine ehrliche, echte und wahrhafte Darstellung zu schaffen, die eine Überhöhung erzeugt. Nur dann hätte man ein „Recht“, auf die Bühne zu gehen und würden diesen Beruf auch lange ausüben  dürfen. Sicher sehr extrem gedacht – mit viel Wahrheit. Bei Harro Dicks durfte ich lernen, dass auf der Bühne eine andere Dimension hinzukommen muss. Astrid Varnay hat mir direkte Methoden an die Hand gegeben, wie man Rollen analysiert und wie man dies sängerisch umsetzt. Ingrid Bjoner hat mir gezeigt, wie man diese „Bühnen-Übermenschen“ für sich verständlich und nachvollziehbar mit ganz einfachen, praktischen Assoziationen umsetzen kann. Es war ein langer Weg des Suchens und Probierens, dass diese Ausbrüche auf der Bühne auch stimmlich stabil und abrufbereit wurden. Wie schon gesagt: der Weg ist das Ziel. Ich durfte mich mit meinen Rollen entwickeln und so neue Farben finden. Das ist schon ein großes Geschenk!

Die extremste Entwicklung hat sicher meine Kundry erlebt, die über die Jahre, dank guter Regisseure, sehr viele Facetten gewann. Jedoch habe ich bei allem „Spiel“ nie die Basis aus den Augen verloren: alle Töne richtig und zum richtigen Zeitpunkt abzuliefern.

Wichtig für meine Entwicklung war neben dem richtigen und vorsichtigen Aufbau meines Opernrepertoires auch immer der stimmliche Ausgleich im Konzertbereich. Hier hatte ich kein Kostüm zum Verstecken, stand gewissermaßen „nackt“ auf der Bühne und musste allein mit stimmlichen Mitteln den Inhalt transportieren. In Liederabenden viele verschiedene Rollenportraits ohne äußere Hilfsmittel und nur im Gesicht und mit der Stimme zum Leben zu erwecken war und ist immer eine große Herausforderung. Es war immer ein großes Kompliment, wenn man meiner Mahler-Interpretation nicht den Wagner anhörte und dass ich umgekehrt meinen Wagner-Partien viele Farben und dynamische Schattierungen hinzufügen konnte.

 

Petra Lang/ als Cassandre (neben Marcus Brück/ Chorebe) in „Les Troyens“ von Berlioz an der Deutschen Oper Berlin/ Foto Matthias Horn/ mit Dank an die Pressestelle der DOB

Sie haben sehr viele Mahler-Aufführungen im Laufe Ihrer Karriere gesungen. Was macht diesen Komponisten so besonders für Sie? Die Werke Gustav Mahlers haben mir immer geholfen, in Bescheidenheit und Demut in der Realität anzukommen. Ich konnte meinen Erfolg nur erreichen, weil ich seiner Musik „diente“, jegliche persönliche Eitelkeit hintanstellen konnte und so eine große Befriedigung erfahren durfte. Seine Lieder und Symphonien waren wie Medizin für mich und meine Stimme. Die vielen Nuancen und Dynamikabstufungen, die es herzustellen galt, halfen, meine Stimme flexibel  und jung zu halten. Man ist bei der Oper leicht versucht, nur auf Lautstärke und großen Ton zu gehen und vergisst, dass Muskulatur und Nerven, Stimme in Körper und Seele, einen Ausgleich und eine Regenerationsmöglichkeit benötigen. Und: Oper heißt nicht zwangsläufig nur: laut singen. Um alle Facetten einer Rolle und des Textes umzusetzen, bedarf es einer Stimme, die flexibel vom Mezza Voce zur Vollstimme in allen Registern an- und abschwellen kann. Kurz: eine gesunde, gut funktionierende Stimme!

Schreiben verschiedene Komponisten unterschiedlich für die Stimme? Gibt es für Sie verschiedene Ansatzpunkte? Ich versuche, immer dem Stil eines jeden Werkes gerecht zu werden, den Text gut zu transportieren und die jeweils benötigten Klang-Farben umzusetzen. Dies erfordert eine große Flexibilität. Rein technisch gesehen, entnehme ich diese Bandbreite einer Ausnutzung meiner stabilen technischen Möglichkeiten. Ich bin also flexibel in der Anpassung an den jeweiligen Stil, bei gleichbleibendem technischen Vorgehen. Der Pianist Jürgen Uhde sagte mir einmal, man müsse, vereinfacht gesagt, erkennen, ob eine Phrase Deklamation oder Melodie sei und sie dann entsprechend gestalten. Beethoven führt Stimmen oft sehr instrumental, während  sich die vielen Farben in Mahlers Werken über eine feine Bearbeitung der Worte ergeben. Bei Wagner dominiert die Deklamation neben wunderbar melodischen Phrasen. Strauss’sche Frauenrollen leben von herrlichen, lang gespannten Melodiebögen in hoher Lage. Ich versuche, nie zu vergessen, dass, bei allem „Klang-Management“, wir Sänger den Text als Transportmittel des Sinns nie vernachlässigen sollten. Hilft die richtige Projektion der Worte doch auch die Stimme richtig zu platzieren und eine künstlerische Aussage zu machen.

 

Petra Lang/ Foto Ann Weitz, Düsseldorf/ website Petra Lang

Sie wurden sicher schon oft nach der Isolde gefragt. Warum haben Sie sich erst relativ spät entschieden, diese Partie zu singen? Ich hatte großen Respekt vor jeder Sängerin, die mit der Isolde auf die Bühne geht. Ich war immer vorsichtig und bin immer nur die Schritte gegangen, die ich auch wirklich gehen konnte. Die Isolde bekam ich schon früh angeboten – für mich zu früh. Als ich dann so langsam meiner Agentur grünes Licht für diese Rolle gab, wurde mir signalisiert, dass es genug Isolden gäbe und dass man mich nicht in dieser Partie sehen würde. Glücklicherweise verlor man in Bayreuth 2015 in der Probenzeit die Isolde, und Katharina Wagner fragte mich am Abend nach den Lohengrin-Sitzproben, ob ich die kommenden Tage die Isolde in den Tristan-Sitzproben übernehmen könnte. Ich sagte, dass man dann hören könne, wie Jemand diese Rolle singt, der halt 19 Jahre daneben gestanden hat. Ich bekam noch am Abend eine Probe mit dem Assistenten von Christian Thielemann und lernte die halbe Nacht die Partie. Nach der Probe für den ersten Akt hat man mir die Isolde in Bayreuth für die nächsten vier Jahre angeboten. Ich bekam noch die Chance, die Hauptprobe von der Seite mit Noten zu singen. Dies war für mich wichtig, um zu sehen, ob ich das überhaupt „überleben“ würde. Die Tristan-Hauptprobe fand ebenfalls wieder einen Tag nach der Lohengrin-Orchesterhauptprobe statt. Und es hat einen riesen Spaß gemacht. Dann kam die schwierige Phase des Studiums, während ich meinen vollen Kalender zu erfüllen hatte. Ich habe einige Male gedacht, dass ich vielleicht besser bei der Kundry geblieben wäre, worauf mein Mann immer wieder sagte: „Geh ans Klavier und studiere Isolde.“ In 2016 war dann die öffentliche Generalprobe in Bayreuth mein erster „Durchgang“ dieser Partie. Da braucht es schon gute Nerven. Kolleginnen haben mir immer wieder gesagt, dass man bei der Isolde nicht darüber nachdenken dürfe, wie lange und schwer diese Partie wirklich ist. Man sollte wissen, was man tut und darauf vertrauen, dass der Körper dann das Richtige macht.

 

Und die Brünnhilde? Bei der Brünnhilde muss ich eigentlich drei verschiedene Frauenstimmen abdecken: „Die Walküren-Brünnhilde ist bis auf die Hojotohos eine Mezzo-Partie“ (Originalton Ingrid Bjoner). Für die Siegfried-Brünnhilde, die eher eine jugendlich-dramatische Stimme voraussetzt, benötigt man neben der Tragfähigkeit auch sehr viele Pianofarben. Und die Götterdämmerungs-Brünnhilde ist ein ausgewachsener dramatischer Sopran mit einer guten Mittellage und einer stabilen, durchschlagkräftigen Höhe. Das eigentliche „Problem“ ist aber, dass Brünnhilde aus eben diesen drei Partien besteht und dass man einen Weg finden muss, diese aufeinanderfolgend, mit einem Tag Pause, zu singen. Das geht nur mit viel Disziplin und dem Wissen, wie man das herstellen kann und die richtigen stimmlichen Voraussetzungen für diese Umsetzung besitzt. Das erfordert schon Erfahrung im Sinne von wirklich gesungenen Partien auf der Bühne. Astrid Varnay sagte mir, dass die Walküre nichts mit dem Säugetier Wal oder Walross zu tun hat und damit auch keine Entschuldigung für übergewichtige Sängerinnen gegeben ist, die in ihrem eigentlichen, vermutlich deutlich lyrischeren Fach auf Grund ihres Körperumfangs nicht engagiert werden und sich in dieses Repertoire wagen. Brünnhilde ist ein junges, sportliches, energiegeladenes Mädel, das mit ihrem Pferd Grane durch die Lüfte reitet. Zum Kämpfen benötigt eine Amazone Muskeln – es braucht viel zu viel Energie und Zeit, um aus Fett Energie zu gewinnen – womit wir wieder bei der Ernährung angekommen wären.

 

Wie lernen Sie eine neue Partie wie Brünnhilde? Mit viel Zeit!  Ich habe immer schon früh angefangen, meine Partien vorzubereiten, sie zu studieren, sie in die Stimme zu singen und in den Körper zu bekommen – lange bevor ich die Rollen akzeptiert hatte. Ingrid Bjoner riet mir immer, dass ich vorher wissen muss, ob und wann ich eine Partie singen kann, bevor ich einen Vertrag unterschreibe. Ich hatte das große Glück, dass ich über die Jahre in der Walküre Waltraute, Fricka und Sieglinde, in der Götterdämmerung Floßhilde, 2. Norn und Waltraute sang und so von den Brünnhilden-Sängerinnen viel lernen durfte. So war ich 20 Jahre mit Walküre und Götterdämmerung beschäftigt, bevor ich selbst meine erste Brünnhilde sang. Ich sang 19 Jahre lang Brangäne vor der Isolde. Die Erfahrung mit den anderen Partien im jeweiligen Stück ersetzt nicht die Arbeit an der großen Partie. Denn auch hier galt für mich immer, dass man Rollen nicht vom Zuhören lernt. Ich musste sie mir immer gut für mich zurechtlegen und durch effizientes Wiederholen stabilisieren. Das braucht Zeit und wiederum Vorstellungen, um sich die Rollen wirklich zu eigen zu machen.

Grundsätzlich fange ich mit dem Rollenstudium am Klavier an. Das heißt, ich lerne die Partie eine ganze Weile, ohne zu singen. Dann spreche ich die Texte – frei und im Rhythmus der Musik. Gleichzeitig vokalisiere ich die Töne und suche die passenden Resonanz-Räume für einen optimalen Klang. Wenn das einzeln funktioniert, setze ich Text und Musik zusammen – Phrase für Phrase. Das braucht Zeit, rentiert sich, weil ich so eine Stabilität erreiche, auf die ich später leicht zurückgreifen kann. Die langjährige Dresdner und Bayreuther Souffleuse Gaby Auenmüller hat  mir gesagt, dass Sänger, die sehr schnell zu lernen scheinen, häufiger Text-Probleme haben und auch aufgrund der Tatsache, dass sie schnell lernen auch schneller mehr Repertoire singen und durch die nicht wirkliche Durchdringung und stabile körperliche Umsetzung eher technische Probleme bekommen.

Parallel zum technischen Ausarbeiten lerne ich die komplette Oper, arbeite die Orchester-Partitur durch, um zu wissen, wo ich wann mit welchen Instrumenten korrespondiere, lese Sekundär-Literatur, besuche Vorstellungen, um zu überprüfen, wo vielleicht noch Schwierigkeiten sein könnten, die ich nicht bedacht hatte. Wenn diese Arbeiten abgeschlossen sind und ich meinen technischen und interpretatorischen Ansatz habe, gehe ich zu einem Korrepetitor und/oder Regieassistenten und vertiefe die Rolle. Und dies lange bevor die Proben beginnen. Bei manchen Partien schon lange bevor ich einen Vertrag unterschreibe. Bei der Brünnhilde musste ich mir schon sehr sicher sein, dass ich dies auch wirklich kann. Und selbst bei aller Vorbereitung habe ich mir diese Partie erst im Laufe von Aufführungen er-singen können.

Eine sehr strategische Vorgehensweise!  Ja! In der 8. Klasse bekam ich in meinem „Star-Fach“ Mathematik eine 5 im Zwischenzeugnis, weil ich auf Grund von krankheitsbedingtem drei-wöchigen  Fehlens, wichtiges Basiswissen verpasst hatte und so den Anschluss nicht herstellen konnte. Ich setzte mich im folgenden Vierteljahr hin, habe mir den mir fehlenden Lernstoff einverleibt und mich gleichzeitig mit Lern- und Lehrtechniken autodidaktisch beschäftigt. Die Jahres-Mathematik-Note war dann wieder eine 2. Seit dieser Zeit habe ich mich in meiner freien Zeit mit pädagogischen, didaktischen und psychologischen Themen mit viel Freude  intensiv beschäftigt.

Praktische Erfahrung konnte ich schon während der Schulzeit bei der Mathematik-Nachhilfe sammeln. Ich konnte hier schon auch direkt überprüfen, wie zielführend meine Herangehensweise war. Individuell auf den einzelnen Schüler abgestimmt, ihm die Angst vor den Zahlen nehmen und ihm Wege zu zeigen, wie er „seine“ Denkweise und deren praktische Umsetzung positiv in die Tat umsetzen kann

Noch begleitend zum Violinstudium unterrichtete ich Violine und Viola und kam durch ein Missverständnis zum Unterrichten der Musikalischen Früherziehung. Hier habe ich in kurzer Zeit  ein eigenes Unterrichtskonzept entwickelt und konnte auch hier in der Praxis überprüfen, was funktioniert und was nicht. Mit diesen Erfahrungen habe ich dann, beim Wechsel an eine größere Musikschule, mit Erlaubnis der Schulleitung und des Früherziehungslehrkörpers, das von der Schule verwendete Programm „Musik und Tanz für Kinder“ entschlackt und den Bedürfnissen der „vorhandenen“ Schüler angepasst. Mit dem Ergebnis, dass die Einschätzungen und Instrument-Empfehlungen zu 98 Prozent trafen und die Instrumentallehrer glücklich waren ob der körperlichen Vorbereitung, der rhythmischen Sicherheit, der präzisen Hörfähigkeit und vor allen Dingen der Freude der Kinder an der Musik. Hier hatte man mich auch gefragt, ob ich das „Experiment“ eingehen würde,  jeweils ein behindertes Kind in den Früherziehungskurs einzubinden.  Da ich im Bekanntenkreis Psychologen und Psychiater hatte, konnte ich mir hier direkt praktisches Wissen aneignen, im Zweifelsfalle Antworten auf meine Fragen bekommen und dieses Experiment wurde zum großen Erfolg. Die autistischen bzw. gehirngeschädigten Kinder konnten eine deutliche positive Entwicklung durchmachen und das soziale Gefüge im einzelnen Kurs wurde deutlich durch Rücksichtnahme und Sinn für gemeinsames Musizieren und Lernen gestärkt. Interessanterweise war in diesen Kursen der Lernerfolg gesteigert. Auch durch verstärktes Engagement der Eltern und vielleicht durch Besinnung auf höhere Inhalte des Lebens. Diese Erfahrungen konnte ich sehr gut in meine eigene sängerische Arbeit einbinden. Meine nun 30 Jahre dauernde Karriere und meine heutige stimmliche Verfassung sprechen deutlich für die Richtigkeit dieser Herangehensweise.

Heute gibt es viele wunderbare „Lern-Strategien“, die durch Forschungen in den Bereichen Neurologie und Psychologie mehr Verständnis über die Arbeitsweise des Gehirns liefern.

 

Petra Lang/ Foto Ann Weitz , Düsseldorf/website Petra Lang

Sie geben schon seit Jahren viele Meisterkurse für Gesang und werden ab dem Herbst 2019 mit einer Dozentur beginnen. Was möchten Sie den jungen Sängern vermitteln? Ich habe während meiner gesamten Karriere immer unterrichtet. Da kamen meist Kollegen, die Rat suchten in Bezug auf Rollenauswahl oder die vor einer Nicht-Verlängerung standen, wo es galt, relativ schnell sängerische Probleme zu lösen oder Studenten, die sich durch ihren Hauptfach-Professor unzureichend betreut fanden. Meisterkurse sind eher als kleine Vitaminspritze zu verstehen, die dem Sänger helfen sollen, neue Anregungen für seine Weiterarbeit zu bekommen. Man hat mir über die Jahre verschiedene Professuren angeboten. Jedoch fand ich den Zeitpunkt immer verfrüht. Solange ich noch quasi rund um die Uhr als Sängerin unterwegs war, konnte ich mir nicht vorstellen, für eine Gesangsklasse Verantwortung zu übernehmen. Auch konnte ich einige technische Zusammenhänge erst mit dem Singen erkennen. Ich wollte auch immer wissen, wie sich das Klimakterium auf die stimmliche Leistung auswirkt. Meine Ärztin hat auch schon früh begonnen, den Hormonspiegel zu kontrollieren, so dass meine „Wohlfühl“-Werte bekannt waren, um bei Problemen eventuell mit bioidentischen Hormonen auszugleichen. Ich konnte mit Ernährungsstrategien sehr viel für mich bewirken, so dass ich dieses Notfall-Programm glücklicherweise nie aktivieren musste. So konnte ich noch viele Punkte „abarbeiten“, die sich sicher als nützlich für die Sängerausbildung erweisen werden.

Über die Jahre kam ich immer mehr zu dem Schluss, dass man versuchen sollte, in der Ausbildung der Sänger Dinge so anzulegen, dass sie später, bei eventuellen Problemen, in der Lage sind, sich eigenständig zu helfen oder zumindest zu wissen, wo sie Hilfe bekommen können. Dies schien mir nur in einer festen Lehrposition möglich und mit Sängern in deutlich jüngerem Alter. Wenn es bei einem Sänger „irgendwie“ funktioniert, will er eigentlich meist nur die Abkürzung zum Ziel, ohne den Umweg seines Problems zu bearbeiten. Denn er möchte weiter Geld verdienen und solange er engagiert wird, wird ihm die Wirklichkeit oft viel zu spät bewusst.  Einige Kollegen, denen ich so über die Jahre weiterhelfen konnte, haben mich bestärkt, endlich „fest“ zu unterrichten, um meine, in der Realität des harten Berufsalltags gesammelten Erfahrungen, an den Nachwuchs weiter zu geben.

Ich freue mich sehr, dass mich das Schicksal wieder zurück an das Institut geführt hat, an dem ich selbst ausgebildet wurde und wo der Grundstein zu meiner internationalen Karriere gelegt wurde. An der Akademie für Tonkunst Darmstadt werde ich zum September 2019 eine halbe Dozentur für Hauptfach Gesang erhalten und mir meinen großen Traum eines Seminars „Klangentspannung für Musiker“ erfüllen dürfen. Mein Unterrichtskonzept für Gesangs-Meisterkurse PetraLangKlang® wird hier in erweiterter Form Anwendung finden.

Petra Lang: Ortrud im „Lohengrin“ unter Donald Runnicles an der Deutschen Oper Berlin/ Foto Marcus Lieberenz/bildbuehne.de/ mit Dank den Fotografen und an die Pressestelle der DOB

Hauptaugenmerk des Gesangsunterrichts ist natürlich auf die technische Basis des Singens der Studenten zu legen, auf die dann ihre Interpretation zurückgreifen kann. Die jungen Sänger sollen möglichst rasch selbstständig Eigenverantwortung für ihr Singen übernehmen können und ein Wissen erwerben, dass ihnen hilft, IHREN Weg zu finden und zu gehen. Mir ist immer wichtig, dass die Sänger fokussiert und mutig mit positiven Erfahrungen aus der Gesangsstunde gehen. Die neuen Anregungen, die sie weiterverfolgen können, sollen sie motiviert weiter arbeiten lassen und ihr Ziel, lange Stimm-gesund den Sängerberuf ausüben zu können, erreichen lassen (http://www.petralang.com/Studium-Education)

 

Waren Wettbewerbe und Meisterkurse hilfreich zu Beginn Ihrer Karriere? Meisterkurse halfen mir, neue Eindrücke zu sammeln und von den praktischen Erfahrungen der berühmten Sänger zu lernen und so meine eigenen Singing-Tools zu erweitern. Wettbewerbe habe ich in erster Linie dazu benutzt, um Auftritts-Erfahrung zu sammeln, meine Belastbarkeit in solchen Situationen zu trainieren und auch, um mich im Business vorzustellen. Schön waren natürlich die ersten Preise beim IVC s’Hertogenbosch, beim Robert-Stolz-Wettbewerb Hamburg oder beim Alexander-Girardi-Wettbewerb in Coburg. Die Aufbesserung der “Kasse“ hat mir sehr geholfen – konnte ich so Noten und Abendkleider kaufen, konnte Vorstellungsbesuche machen und meine Vorsingen finanzieren.

 

Was ist für Sie die Quintessenz für langes, erfolgreiches berufliches Singen? Qualität ist für mich das Schlüsselwort. Auch wenn mir ein Agent weismachen wollte, dass es heute nicht mehr um Qualität ginge, ist für mich Qualität und deren Erhaltung der Motor meines Tuns. Bei aller Technik, allen optischen Äußerlichkeiten, bei allem Ringen um die „wahre, richtige“ Interpretation, war für mich immer entscheidend, dass es aus mir heraus entstand und nicht aufgesetzt war. Dies war und ist nur mit seelischer Beteiligung und Ehrlichkeit gegenüber Kollegen, dem Werk und mir selbst möglich. Man kann vielleicht mit Emotion einiges erreichen. Für mich besteht die große Kunst jedoch darin, die Mittel, die man gewissermaßen unsichtbar einsetzt, in den Dienst der Aussage zu stellen, der Seele ihren Platz zu geben und so die Bühnenfigur zum Leben zu erwecken. Das Gespräch führte Stefan Lauter.

 

http://www.petralang.com/PetraLangKlang/Mein-Leitfaden

Tiefsinniges

 

Dass der Bariton Christian Gerhaher ein nachdenklicher Sänger ist, das wusste man längst, dass er geradezu ins Grübeln, so über die Anordnung einzelner Lieder in einem Liederkreis, kommen kann, zeigt sich bei seinen Ausführungen im Booklet zu seiner neuen CD mit dem Titel Frage. Hier sind ausschließlich Schumann-Lieder und zwar vornehmlich der unbekannteren Art versammelt. Besonders die Ironie, durchaus ein romantisches Stilmittel, hat es Gerhaher angetan, auch wenn sie in Heines Die beiden Grenadiere und Fröhlichs „Die Nonne“ schwer auszumachen ist, noch weniger in den Vertonungen Schumanns. Allein den  Dominantseptakkord am Schluss eines kurzen Lieds als ironisches Stilmittel anzusehen, ist gewagt. Geheimnisvolles in die Anzahl 12 für den  Liederkreis auf Texte von Kerner aufgrund der 24 für die Winterreise zu deuten, eventuelle 11 (Fußball – die Profanität in Person!) Lieder als Unmöglichkeit anzusehen, heißt die Interpretationssucht aufs Äußerste treiben.

Das Booklet ist die eine, die Interpretation kann eine ganz andere Sache sein. Allerdings unterscheidet sich Christian Gerhaher auch hier von den meisten anderen Sängern, indem der Text das für die Interpretation Maßgebliche zu sein scheint, wobei nicht die durch ihn erzeugte Gesamtstimmung gemeint sein muss, sondern manchmal auch nur ein einziges Wort. Weniger wichtig scheint ihm hingegen die musikalische Linie zu sein. Allerdings wechseln einander Lieder, in denen zugunsten der Melodie über Zeilenende hinweg in die nächste Zeile gesprungen wird, mit solchen ab, in denen am Ende eines Verses eine noch längere Pause eingehalten wird, als der Text es nahelegt.

Es beginnt mit den sechs Gesängen opus 107. In „Herzeleid“ (Ophelia) wechseln Verhangenes und Auffahrendes einander ab, in „Die Fensterscheibe“ wird die Andersartigkeit der jeweils letzten Zeile einer Strophe  besonders stark betont, in „Der Gärtner“ werden die Extreme Zartheit und Leidenschaft ausgelotet, was in „Die Spinnerin“ auf die von Behändem und Verharrendem zutrifft. Die Betonung der Gegensätze setzt sich in „Im Wald“ fort, wenn es einmal hurtig, einmal getragen zugeht, in „Abendlied“ hell und dunkel miteinander kontrastieren.

Der strahlende „Kaiser“ in den beiden Grenadieren widerspricht eigentlich der Behauptung, Heine und Schumann verhielten sich gegenüber dem Thema ironisch, insbesondere der Schluss und das Nachspiel geben sich ausgesprochen elegisch.

In „Warnung“ kommt der Tod fast lautlos daher, in Drei Gesänge opus 83 werden in „Resignation“ Metrum und Gesangslinie gesprengt, was dem Stück nur gut tut, so wie in „Die Blume der Ergebung“ durch ein verhuscht klingendes Singen Peinlichkeiten des Textes erträglich werden. Eine andere literarische Qualität hat Eichendorffs „Der Einsiedler“, so dass die virile Bedächtigkeit die angemessene Haltung ist.

Auch in den Liedern nach Texten von Kerner zeigt sich der Sänger als Freund von Gegensätzen, so zwischen dem einheitlichen Trübsinn von „Stirb, Lieb‘ und Freud‘“ und  den unterschiedlichen Farben für die einzelnen Strophen von „Sehnsucht nach der Waldgegend“. Immer wieder fällt auf, dass weniger die Gesamtstimmung eines Liedes als einzelne Worte bestimmend sind, so das extrem hervorgehobene „teuerem Blute“ und das „tönt nach“ wie ein Echo in „Auf das Trinkglas eines verstorbenen Freundes“. Auch in „Wanderung“ erfolgt der plötzliche Ausbruch aus der Versonnenheit überraschend. Insgesamt legt der Bariton mehr Wert auf interpretatorischen Tiefsinn als auf gesangliche Schönheit.  Vier Gesänge opus 142 beschließen die CD, Heines „Mein Wagen rollet langsam“ charakterisiert sehr schön die „Schattengestalten“ mit verhauchendem Gesang. Gerold Huber begleitet den eigenwilligen Sänger einfühlsam am Klavier (Sony 19075889192). Ingrid Wanja   

CARLO FRANCI

 

Der in Argentinien geborene italienische Dirigent und Komponist Carlo Franci (18. Juli 1927 – 22. März 2019) war 40 Jahre lang (1974-2014) eng der Oper Frankfurt verbunden. Er hat mit seinen herausragenden Interpretationen die Geschichte des Hauses maßgeblich geprägtCarlo Franci hat an allen großen Opernhäusern Italiens gearbeitet, Orchester wie das London Symphony Orchestra, das BBC Symphony Orchestra, die Wiener Philharmoniker, die Wiener Symphoniker sowie das Salzburger Mozarteum Orchester geleitet und zahlreiche Opernvorstellungen u.a. in Berlin, Hamburg, München, Wien, Madrid, Barcelona, Zürich, Tokio, Rio de Janeiro und Pretoria dirigiert. ln Pretoria war er von 1990 bis 1997 Chefdirigent des Transvaal Philharmonic Orchestra. An der Metropolitan Opera in New York stand er bei über 90 Vorstellungen am Pult, gastierte aber auch in anderen amerikanischen Städten wie Boston, Cleveland, Detroit und Dallas. Zahlreiche von Carlo Francis eigenen Kompositionen wurden u.a. an der Mailänder Scala, der Accademia di Santa Cecilia und im italienischen Rundfunk (RM) aufgeführt. Carlo Franci gab regelmäßig Meisterkurse u.a. in Südafrika, wo er auch eine Schule für Dirigent*innen gründete. (Text Oper Frankfurt, Foto Wolfgang Runkel)

 

Carlo Franci hat nicht nur an vielen Opernzentren der Welt (wie Wien, Berlin, Hamburg, die Scala, London und viele andere) ebenso wie zahlreiche Plattenaufnahmen bei den großen Firmen dirigiert, sondern er war auch ein wirklich bedeutender Komponist, namentlich von Filmmusiken. Viele sind heute vergessen, aber beispielhaft folgt hier eine Erinnerung an einen seiner in Italien höchst erfolgreichen „Sandalenfilm“, dessen Musik ein amerikanischer Filmkritiker nachstehend beurteilt:

We are releasing for the first time the complete edition CD of the OST by Carlo Franci for the film „The Invincible Gladiator“ (original title „Il gladiatore invincibile“)  of 1961.  Carlo Franci (Buenos Aires , July 18, 1927), also known under the pseudonym Francis Clark, studied in Rome with Goffredo Petrassi. He is an orchestra conductor and a composer for theatre productions. He did the music for many films during the 50s and 60s including: „Woe to the Vanquished Ones“, „79 A.D.“, „Goliath and the Rebel Slave“ and „The Secret Seven“.

Carlo Franci schrieb die Filmmusik zu „Der Unbesiegbare“ 1961, hier das Poster/ OBA

For this film the composer wrote a symphonic score to describe the heroic endeavours, where dramatic and violent passages for the battle scenes are alternated with a romantic and nostalgic love theme which is gloriously reprised in the finale. Maestro Franci used a symphonic orchestra, dominated by powerful French horns. For the realization of our CD (total running time 68:48 minutes) we used the mono master tapes of the recording session which took place over half a century ago in 1961 and have been kept in good condition until now.
Directed in 1961 by Antonio Momplet. Starring Richard Harrison, Livio Lorenzon, Leo Anchóriz, Ricardo Canales, Isabelle Corey, Antonio Molino Rojo, Jole Mauro, Edoardo Nevola, José Marco.
In the kingdom of Acaste the wicked Rabirio holds the fate of the government in the name of ten-year-old Dario who is heir to the throne. Recio, a gladiator, saves Rabirio’s life by killing the man who had attacked him. Recio is released and put in charge of the soldiers, who must defeat a gang of bandits hiding out in the mountains. Recio discovers that the bandits are actually patriots being led by Sira, Dario’s sister, and they are fighting against Rabirio’s oppression. Rabirio decides to get rid of Recio and little Dario (against Recio’s wishes), but he fails. The people rise up against Rabirio and he is executed. Peace returns to Acaste and Recio can finally marry the beautiful Sira. (Text soundtrackcorner)

Sonnenaufgang über Livorno

 

Zumindest die von den Faschisten misbrauchte Chornummer „ L‘Inno al Sole“ und die Tenorarie „April la tua finestra“ haben, wenn auch weniger in deutschen Landen, aus Mascagnis Oper Iris in Wunschkonzerten überlebt, während andere Opern des Livornesen gänzlich dem Vergessen anheimgefallen sind. Aus seiner Geburtsstadt Livorno stammt die Aufnahme aus dem Jahr 2017, deren optische Realisierung ganz in japanische Hände gelegt worden war, wie bei Madama Butterfly  ein zweischneidiges Unterfangen, denn trotz des Studiums der japanischen Musik und der Verwendung gewisser ihrer Elemente durch die beiden Komponisten bleiben ihre Werke wegen der Musik ganz und gar italienische. Ungewöhnlich an Iris ist, dass sie nicht auf ein literarisches Werk zurückgeht, sondern eine Eigendichtung des vielschreibenden Luigi Illica war. Bei der Uraufführung 1898 in Rom war der Erfolg ein immenser, und das nicht zuletzt wegen der gerade modernen Leidenschaft für exotische Stoffe. In den letzten Jahren gab es besonders in Italien wieder Aufführungen, so unter Gianandrea Gavazzeni. Die Neuköllner Oper Berlin führte vor einigen Jahren eine auf ihre Möglichkeiten zugeschnittene Fassung auf.

Iris ist die Geschichte einer unschuldigen jungen Japanerin, einer Mousmé, der ihre Schönheit zum Verhängnis wird. Ein reicher Lebemann lässt sie während einer Aufführung durch Komödianten  in ein Freudenhaus entführen. Als sie seine Liebe zurückweist, verliert er das Interesse an ihr, der Bordellbesitzer benutzt sie als eine Art Aushängeschild für sein Etablissement. Der blinde Vater von Iris glaubt,  sie habe ihn freiwillig verlassen , bewirft sie mit Schmutz und beschimpft sie. Iris wirft sich verzweifelt in einen Abgrund, wird von Lumpensammlern beraubt, hört noch einmal die Stimmen ihrer drei Peiniger  und stirbt, nicht ohne im Todeskampf durch die aufgehende Sonne und die angebeteten Blumen ihres Gartens getröstet zu werden. Sogar die geliebte Puppe, die sich im ersten Akt in einem schlechten Zustand befand, ist intakt wieder mit ihr vereint.

Die Bühne von Sumiko Masuda ist zuerst einmal sehr bunt, verwendet die Blume Iris als wiederkehrende Dekoration, taucht sogar auf einem der schönen Kimonos, die Iris trägt, auf (Kostüme Tamao Asuka) und nimmt symbolistische Züge an, so wenn sich im ersten Akt Schlangen um das bescheidene Häuschen von Iris und ihrem blinden Vater winden. Phantastisch gelernt, sich wie eine japanische Frau vergangener Zeiten zu bewegen hat die Sängerin der Iris, aber auch die Geishas im zweiten Akt stehen ihr darin nicht nach. Regisseur Hiroki Ihara lässt so den Eindruck der Authentizität perfekt werden. Optisch ist das eine Arbeit wie aus einem Guss.

Leider sind die Sänger nicht so gut, dass ihnen eine Ehrenrettung des Werks gelingen könnte. Paola Marrocu hat an ersten Häusern gesungen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme  hatte die Stimme wenig Farbe und Rundung, klang die Höhe schrill und ist es um das Vibrato nicht gut bestellt. Trotzdem kann ihre Klage im dritten At den Hörer bewegen. Der Tenor Paolo Antognetti hat ein angenehmes Timbre für den Möchtegernverführer Osaka, singt munter drauf los, aber leider ohne jede Schattierung und nicht immer sicher in der Intonation. Hohl und substanzlos ist die Stimme von Manrico Signorini für den blinden Vater. Solides Material kann Carmine Monaco d’Ambrosia für den Kyoto einsetzen. Eine auffallend schöne Stimme hat der Lumpensammler, den Didier Pieri singt. Seine Arie „Ad ora bruna e tarda“ ist von schöner Melancholie.

L’Inno al Sole und auch der Schlusschor werden nicht nur vom Bühnenpersonal, sondern auch von einem Zusatzchor (Coro Ars Lyrica unter Marco Bargagna) sehr eindrucksvoll und mit Hingabe gesungen. Das Orchestra Filarmonica Pucciniana unter Daniele Agiman vermag Mascagni-Üppigkeit zu vermitteln.

Wie immer hat Bongiovanni aus Bologna ein informationsreiches Booklet geliefert. Es gibt Untertitel in Italienisch und Englisch (AB 20039). Ingrid Wanja

Aus der Oper Frankfurt

 

Marie Stejskalová las die Lidové noviny und musste herzlich über die Bilderfolge von von Stanislav Lolek und die Texte von Rudolf Tésnohlidek lachen. Durch das Lachen der Hauswirtin wurde Leos Janáček auf die Abenteuer des Füchsleins in den Lidovky aufmerksam, für die er selbst regelmäßig Feuilletons schrieb. Die Idee zur siebten seiner zehn Opern, die am Tag seines 70. Geburtstags 1924 in Brünn uraufgeführt wurde, war entstanden. Bald war klar, dass die Vorlage geändert werden musste, um dramatische Konturen zu gewinnen, die Geschichte lustig beginnen, sich ernsthaft entwickeln und schließlich wieder heiter enden solle. Weniger als die Hälfte der 23 Kapitel Tésnohlideks wählte Janáček dazu aus, wobei er endlich auf seine Notizen über das Gezwitscher der Vögel seines Gartens zurückgreifen: ein Kreislauf des Lebens, in dem Janáček die menschlichen und tierischen Figuren in Analogie setzte und den Förster am Beispiel des jungen Füchsleins, welches am Ende Mutter einer großen Fuchsfamilie ist und von einem Wilddieb erschossen wird, mit dem Leben versöhnen.

An der Oper Frankfurt, wo 2016 eine Neuinszenierung der Oper herauskam (Inszenierung: Ute M. Engelhardt), braucht Johannes Debus 90 Minuten, um diese Bilder zu umreißen, um zwischen Wald und Försterhaus, Fuchsbau und Schenke, Garten und Lichtung die mährische Landschaft zu erkunden. Den ständigen Wechsel der Perspektiven fängt Debus, wie jetzt auf der CD nachzuerleben (Oehms Classics 2 CD 982), mit der Akribie eines Sachwalters um, der sich Janáčeks musikalische Forschung und minutiöse Klangrede zu eigen gemacht hat. Im klaren und direkten Klagbild erhalten die Tiere des Waldes, die Grille, Heuschrecke, Mücke und der quakende Frosch, eine Stimme, sind sie mit ihren kurzen Kommentaren und Geräuschen nicht nur trefflich charakterisiert, sondern fast greifbar wie im Streichelzoo. Dennoch herrschen ein wuselndes Eilen und Rennen, Flirren und Gewebe und eine quecksilbrige Ruhelosigkeit, wo man sich manchmal einen Augenblick des Verweilens wünscht. Die Wiedergabe wird bestimmt vom reaktionsschnellen Wechsel, dem szenischen Drive, der durch die Bühnengeräusche verstärkt wird, aber auch die gute Arbeit mit dem Ensemble und der lebhaften Klangrede, seien es die Kinder Frantik und Pepik (Ioannis Germanidis und Jascha Mössle) und der weise Dackel (Nina Tarandek), sie alle blitzen als lebhafte Episoden auf. Louise Alder ist ein körperhaft sinnliches Füchslein Schaukopf, farblich gut abgesetzt die Mezzosopranistin Jenny Carlstaedt als verführerischer Fuchs – beider Begegnung gerät um reizvollen Verführungsakt. Als trinkfreudiger Schulmeister klingt Beau Gibson etwas verdruckst, als Pfarrer Magnús Baldvinsson angemessen altväterlich. Simon Neal als Förster und Sebastian Geyer als Haraschta wirken etwas strapaziert, was ihren Rollenbildern kaum Abbruch tut. An Aufnahmen des Schlauen Füchsleins bestand eigentlich kein dringender Bedarf – wenngleich die großen Aufnahmen von Bohumil Gregor 1970 bzw. von Charles Mackerras und Václáv Neumann auch schon Anfang der 80er Jahre entstanden –  doch diese präsente, plastisch klare, gut durchhörbare und durch gestische Beredsamkeit und dramatische Intensität bezwingende Aufnahme ist ein Gewinn. Rolf Fath

Faszinierend homogen

 

Zielstrebig werden bei Bel Air Media (mit Produzent François Duplat an der Spitze) Opernaufführungen für Fernsehübertragungen und Veröffentlichung auf DVD/Blu-ray ausgewählt, die nicht nur von Stars, sondern von einer starken Gesamtkonzeption leben – zuletzt wieder öfters (aber nicht nur) an der Bayerischen Staatsoper. Dort waren die Münchner Opernfestspiele 2016 dramaturgisch vielleicht insofern die geschlossensten der letzten Jahre, als die Begegnung mit Fremdem und Exotischem als Motto über das traditionelle Opernrepertoire hinaus (auch in den kleineren Produktionen der Festspiel-Werkstatt) eingehalten wurde. Am deutlichsten jedoch in der zweiten großen Neuinszenierung, die im Münchner Prinzregententheater herauskam: Les Indes Galantes von Jean-Philippe Rameau. Der Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui hat dabei mit seiner Compagnie Eastman Antwerpen (wo Cherkaoui auch geboren ist) und dem hervorragenden Sängerensemble eine Inszenierung geschaffen, die paradoxerweise alles andere als traditionalistisch oder historisierend dem Genre der opéra-ballet gerecht wird. Sängerische und tänzerische Teile der Produktion gehen faszinierend homogen ineinander über.

Die Episodenstruktur des Librettos hat Cherkaoui aufgegeben und stattdessen quasi einen Bogen leichter (aber nicht vollkommen assoziativer) Handlungselemente geschaffen. Sie bilden eine Bestandsaufnahme zu europäischen Entwicklungen heutiger Tage; das Konzept zum „anachronistischen Raum“ von Anna Viebrock erläutert Cherkaoui selbst auch im Beiheft zur DVD/Blu-ray. Ein wenig der Regie-Holzhammer kommt dabei zum Vorschein, wenn aus dem die Himmelszeichen zu seinen Gunsten auslegenden und manipulierenden Inka Huascar ein katholischer Priester wird, dem, anstelle der Lavabrocken eines selbst provozierten Vulkanausbruchs, die Hostie der Eucharistiefeier zum Verhängnis wird.

Wenn Cherkaouis Inszenierung aber an den Grenzzäunen Europas endet und die im Libretto vorgesehene Vereinigung der Indianer untereinander in eine Übereinkunft Europas mit den Vereinigten Staaten umfunktioniert wird, schließt sich der Kreis – auch weil Lisette Oropesa als Hébé des Prologs und Zima des Finales sich neben ihrer vokalen Brillanz eindrucksvoll unter die Tänzer der Compagnie Eastman mischt. Dass Oropesa gesanglich dabei dem Gesang nach eher im späten 18. und 19. Jahrhundert beheimatet scheint, fällt auf, aber nicht aus dem Rahmen. Statt puristisch ist das Ensemble mit Elsa Benoit (Emilie), Anna Prohaska (Phani/Fatime), Ana Quintans (L’Amour/Zaïre), Cyril Auvity (Valère/Tacmas), Mathias Vidal (Carlos/Damon), Tareq Nazmi (Osman/Ali) und François Lis (Huascar/Alvaro) in den wichtigsten Rollen auch sonst eher bunt besetzt, was Stimmmaterial und -schulung betrifft. Prohaska interpretiert die Phani beispielsweise mit der von ihr gewohnten liedhaften Wortbehandlung, aber auch etwas manieriert. Auvity und Lis sind wiederum um idiomatischen Tenor- (bzw. haute-contre-) und Bass-Gesang bemüht, kämpfen jedoch leicht mit dem Stimmsitz. Und Vidal wurde von der Kritik schon im romantischen Fach (mit Gounods Cinq-Mars) als zu „barock“ und umgekehrt just für Rameau als zu modern gescholten. Ich persönlich halte ihn schlicht für einen der heute besten Allrounder seiner Zunft.

All diese möglichen Einwände fallen letztlich unter Ivor Bolton geschickt dosierender musikalischer Leitung des Münchner Festspielorchesters und des hervorragenden Balthasar-Neumann-Chores kaum ins Gewicht. Hinzu kommt, dass durchgehend hervorragende schauspielerische Leistungen zu verzeichnen sind. Schade allenfalls, dass die Kameraführung gelegentlich unter den besonderen Voraussetzungen im Münchner Prinzregentheater (der Schräge des Zuschauerraums) zu leiden scheint: mal durch die Distanz, mal durch die Tendenz zur Froschperspektive bei Nahaufnahmen. Dennoch waren diese Indes Galantes als lebendiges und durchaus diskussionswürdiges Musiktheater festspielwürdig – und bleiben es auch in der audiovisuellen Aufzeichnung. Sebastian Stauss

Othmar Schoeck: „Das Schloss Dürande“

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In seiner Novelle Das Schloss Dürande erzählt Joseph von Eichendorff eine schöne Geschichte aus uralten Zeiten. Die Oper will man unbedingt bis zum Schluss erleben. Armand, der junge Graf von Dürande, und Gabriele, die Schwester des gräflichen Jägers Renald Dubois, verlieben sich. Sie ahnt nicht, wer der Unbekannte ist, mit dem sie ihr Bruder des Nachts überrascht. Renald schießt auf den Unbekannten, Gabriele wirft sich schützend vor Armand und wird leicht verwundet. An einer zurückgelassenen Pistole erkennt Renald, dass es sich bei dem Unbekannten um den jungen Grafen handelt. Aus Furcht, Armand mache seine Schwester zur Hure, schickt er Gabriele zu ihrer Tante, der Priorin, ins Kloster. Armand taucht dort ebenso auf wie Renald, und als Gabriele erfährt, das Armand den Winter in Paris verbringen wird, reist sie ihm in Männerkleidern nach. In den Wirren des Jahres 1789 lässt sich Renald von den Revolutionären anwerben, um in seinen privaten Rachefeldzug zu ziehen. Während draußen die Revolution das Land verändert, hat sich der alte Graf auf dem Schoß von der Welt zurückgezogen, wo er nach einiger Aufregung erschöpft stirbt. Die Nonnen und die Revolutionäre nähern sich dem Schloss, auch Gabriele, die neuerlich den Geliebten rettet, indem sie in Armands Kleidern die Feinde auf eine falsche Fährte lockte. Sie wird angeschossen und stirbt in Armands Armen. Renald schießt auch auf Armand. Zu spät erfährt er vom alten Diener Nicolas, dass beider Liebe rein und aufrichtig war. Renald eilt zum Pulverturm, um das Schloss zu sprengen. Mit einer gewaltigen Explosion, die das erschrockene Publikum der Uraufführung an einen Bombenangriff der Alliierten glauben ließ, endet die Oper.

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Kann man eine Oper reinwaschen? Übermalen wie ein altes Bild? An der Berner Kunsthochschule hatte sich ein Team aus Musikern und Textlieferanten daran gemacht, Othmar Schoecks 1943 an der Berliner Staatsoper uraufgeführte Oper Das Schloss Dürande durch eine „interpretierende Restaurierung“ spielbar zu machen. Mit einer gewissen Naivität hatte sich Schoeck, der sich das Sujet für seine neue Oper, die gleichnamige Novelle Eichendorffs (1837) selbst ausgesucht hatte, auf einen Textdichter eingelassen, dem ihm ein Mäzen ans Herz gelegt hatte. Der süddeutsche Dichter Hermann Burte war seit 1936 Nazi-Mitglied, verfasste Hitler-Gedichte und Spitzelberichte, schaffte es auf die „Gottbegnadeten-Liste“ und durchtränkte seinen Operntext mit völkischer Blut-und-Boden-Reimerei. Dessen ungeachtet, sind Burtes Knittelverse ohnehin schwer erträglich, faselte doch der Jagdhüter, der versehentlich seine Schwester anschießt, „Du hast ihn gedeckt, und hast mich erschreckt! Beim Himmel, ich will nicht hoffen – Du blutest! – Bis du getroffen?“ Göring telegrafierte prompt an den Generalintendanten Tietjen, „Habe soeben das Textbuch der zur Zeit aufgeführten Oper Schloss Dürande gelesen. Es mir unfassbar, wie die Staatsoper diesen aufgelegten Bockmist aufführen konnte. Der Textdichter muss ein absolut Wahnsinniger sein“. +

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Nach dem Ende des „Dritten Reichs“ wollte niemand etwas von dieser vom Nationalsozialismus infiltrierten und zwei Monate nach der Verkündigung des „Totalen Kriegs“ uraufgeführten Oper wissen. In Deutschland war sie unmöglich geworden, in der Schweiz nahm man Schoeck übel, mit dem Feind kokettiert zu haben und nach Berlin gereist zu sein, wo es ihm schmeicheln musste, dass sich allererste Kräfte wie Peters Anders, Maria Cebotari, Marta Fuchs, Willy Domgraf-Fassbaender und Josef Greindl unter der Leitung von Robert Heger für sein Schloss Dürande einsetzten.

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Nun also die Restaurierung, wozu der Schriftsteller Francesco Micieli das Libretto verfasste „unter freier Verwendung von Texten von Joseph von Eichendorff, auf der Basis des originalen Opernlibrettos von Hermann Burte“. Mario Venzago dirigierte im Vorjahr eine konzertante Aufführung. Das Meiniger Staatstheater machte sich nun unter Leitung seines Schweizer GMD daran, das Werk zu retten, genießt doch Schoeck seit der Wiederentdeckung seiner Opern, darunter Venus (1921), die Balzac-Oper Massimilla Doni (1937) und vor allem seine Penthesilea nach Kleist (1927) – die beiden letzten wurden an der Semperoper uraufgeführt – einen ausgezeichneten Ruf. Die Übermalung hat nicht viel gerettet. Noch immer ist das Libretto einigermaßen gestelzt, wenngleich die Eichendorff-Texte – sowohl aus der Novelle wie einige seiner Gedichte – der Oper mit ihren Bildern vom Spielmann, den Traum- und Alte-Zeit-Motiven eine Duftigkeit zu geben bemüht sind, wie man sie mit den Schumannschen Lied-Zyklen verbindet; daneben treten die Figuren auch aus ihren Rollen und sprechen an der Rampe in der dritten Person von den Begebenheiten. Die Text-Collage hat vermutlich nur das Gröbste abgemildert. Doch noch nie hat ein schlechter Text eine Oper zunichte gemacht.

Schoecks Oper „Das Schloss Dürande“ in einer Neufassung am Staatstheater Meiningen/ Szene/ Foto wie auch oben Sebastian Scholz

Die Oper, deren historischen Hintergrund Giordano in Andrea Chénier schlagkräftig auf die Opernbühne wuchtete, wird bei Schoeck zum Stationendrama mit fröhlichen Nonnen, die in die Weinberge ziehen, und Aufständischen, die sich mit leichten Mädchen amüsieren und am Stammtisch schwadronieren. Nie kommt er auf den Punkt, nie wird etwas wirklich dramatisch verdichtet, sondern in den langen drei Stunden endlos zerredet. Schoecks Sympathien gelten dabei eindeutig dem Adel und der vom Freiherrn von Eichendorff vertretenen Ansicht, „Es ist überhaupt ein Irrtum, wenn man den Adel jener Zeit als die ausschließlich konservative Partei bezeichnen will.“ Wirft doch der alte Diener Nicolas vor, nur aus niederen Motiven, blankem Hass und menschlicher Kälte gehandelt zu haben. Der treue alte Diener ist ein schönes Motiv, das durch den Auftritt des markanten und mit soigniertem Bassbariton singenden Roland Hartmann davor bewahrt wird, gar zu larmoyant zu werden. Immer eine Freude ist es, Anna Maria Dur zu hören, die der Priorin neben süffig profunder Tiefe, eleganter Geschmeidigkeit und einer immer noch sicher sitzenden Stimme auch Herzensgüte und Humor zukommen ließ, eine durchaus runde Figur, wie es der zur Karikatur verkommene alte Graf des charaktertenoral schleimigen Matthias Grätzel und Sonja Freitags harmlose Gräfin Morvaille nicht waren. Mine Yücel war mit einem leuchtenden jugendlich-dramatischen Sopran, der jubelnde wie fast liedhafte intime Momente mit fesselnder Freunde umspannt, eine ideale Gabriele, Odrej Saling mit engem, leicht näselndem Tenor und heldischen Kornetttönen ein hinreichend sympathischer Armand, Shin Taniguchi ein zur Wutfratze verzerrter, durchgehend wortdeutlich deklamierender und ebenmäßig auf Linie singender Renald Dubois. Das umfangreiche Ensemble war vor allem im dritten Akt, in Paris, eingesetzt, wo es unter den tumben Freudschreien, „Jugend und Jubel in Lust“, für anrüchige Atmosphäre sorgen musste. Schoeck hängt den alten Zeiten nach wie der in seine Spieldosen verliebte Graf. Das ist nichts, was aufhorchen lässt, doch ist eine durchgehend meisterhafte Tonklöppelei zu spüren, klingeln die Glöckchen an der richtigen Stelle, tönen die Hörner bei der Jagd, vermittelt das Klavier Intimität, wird ein wenig zu häufig die Marseillaise zitiert, erklingt sehnsüchtig das Geigensolo zu Gabrieles Weltschmerz. Man merkt Schoecks Verbundenheit mit dem Lied, dem sein umfangreichstes Schaffen galt, denn in den volksliedhaft poetischen Bildern und den zarten liedhaften Insel erreicht er eine feine und vornehme Wort-Ton-Intensität und Subtilität des Ausdrucks, die sich ihrer nostalgischen Gebrochenheit und Rückwärtsgewandtheit durchaus bewusst zu sein scheint, wenngleich der Eindruck durch die routiniert fließende Illustration von umfangreichen Textmassen und hohlem Parlando immer wieder zunichte gemacht wird. Welke Melancholie dominiert anfangs auch in Ansgar Haags Inszenierung, die auf einer schrägen Ebene mit einer für alle Orte einsatzbereiten, gekippten Würfelbühne die Zeit aus den Fugen geraten lässt und eine gebrochene Herbststimmung auf die Wände wirft (Bernd Dieter Müller und Annette Zepperitz), die in den Farben der Kostüme wiederkehrt und der Liebesgeschichte auf dem provenzalischen Schloss den Keim des bösen Endes einpflanzt. Haag versagt sich jegliche Stellungnahme zu den Umständen der Entstehung, ergreift nicht Partei. Muss er auch nicht, doch gar so brav und unbeholfen hätten seine szenischen Handreichungen nicht ausfallen müssen, bei denen sich die die Choristen auf der engen Bühne drängeln – egal ob im Kloster oder in Paris mit seiner 20er Jahre Verruchtheit – und die Figuren wenig Spannkraft entfalten. Das mag auch ein Mangel von Schoecks illustrierender musikalischer Reihung sein, die nie den oft gemachten Vergleich mit Strauss erzielt. Das ist gutes Handwerk, eine schöne Geschichte, ein großer Erfolg bei der dritten Aufführung (16. März 2019), denn Philippe Bach und die Hofkapelle Meinigen identifizierten sich spürbar mit der Musik, die sie mit seidigem Streicherklang und markanten Akzenten versahen. Rolf Fath

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