Es gibt ein wunderbares Interview mit Elisabeth Schwarzkopf und Thomas Voigt (operashare.de-lesern nun wirkjlich nicht unbekannt), in dem sie über ihre Studienzeit in Berlin spricht: „Diesen etwas süffisanten, raffinierten, ironischen Ton, den man für die Operette unbedingt mitbringen muß, hatte ich auf Platten von Fritzi Massary und Yvette Guilbert gehört…. Natürlich haben Sänger dieser Generation ihre Stimme anders eingesetzt, als wir sie dann später eingesetzt haben, aber sie hatten eine grundlegende Stimmschulung. Das ja auch notwendig war, denn sie haften ja täglich auf der Bühne zu singen – und ohne Mikrophone, wohlgemerkt. Und natürlich auch ohne klammheimliche Verstärkung seitens der Tontechnik, wie es heute in manchen Opernhäusern fast schon an der Tagesordnung ist – ein Betrug am Publikum, für den ich keine Worte finde. Das ist ein Verlust an Integrität, wie er schlimmer nicht sein kann.“ / Opernwelt März 1995).
Elisabeth Schwarzkopf erwähnt, dass ihre Lieblingsklasse dem Vergleich von Aufnahmen berühmter Sänger gewidmet war. Die Schüler saßen und hörten Legenden der Vergangenheit auf Schellack. Schwarzkopf sagte, dass die Aufnahmen oft begannen und sie nicht verstehen konnte, warum ein bestimmter Sänger berühmt war, da er/sie so gewöhnlich klang. Bis sie, so Schwarzkopf, plötzlich erkannte, worum es ging. Es hätte ein einziger Satz sein können, eine bestimmte Art, mit einem Wort umzugehen, eine technische Leistung, aber es gab immer das gewisse Etwas, wie kurz es auch sein mochte. Ein Kunstgriff, wenn man so will. Frau Schwarzkopf lernte daraus und versuchte, diese entscheidenden Kniffe in ihrer eigenen Karriere zu kopieren, mit Erfolg.
Dieses Schwarzkopf-Interview kam mir in den Sinn, als ich die CD Fritzi Massary 3 und 4 von Truesound Transfers (TT 3052/ 3053) aus den bewährten Händen des Magie-Renovators Christian Zwarg mit Highlights aus Die Csardasfürstin, Die Faschingsfee, Die schöne Helena und Die Fledermaus abspielte, die 1916 und 1918 in Berlin aufgenommen wurden. Christian Zwarg hat sie meisterhaft restauriert, was ihr enormes Alter vergessen macht. Die Stimmen klingen so frisch, als stünden die Sänger direkt neben einem.
Während der ersten beiden Tracks habe ich die berüchtigte Art der Massary verpasst, Liedtexte und Nuancen zu gestalten. Hier singt sie eher traditionell als lustvolle Soubrette mit einer guten Höhe, aber ohne außergewöhnliches Timbre. Und gerade als ich mich zu fragen begann, ob der Erwerb dieser Scheibe eine schlechte Investition gewesen war, begann Track 3 und änderte alles: Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht wird von Frau Massary solo gesungen, und nach der Einleitung vertieft sie sich in den Chor auf eine Weise, wie man es niemals anders hören möchte. Sie gleitet auf Worten („so hier und da“), ändert das Tempo von einem Satz zum anderen, beginnt zu improvisieren, gibt eine unerwartete Schattierung des Textes im zweiten Refrain … Man fragt sich, wieso das nicht von allen Operettensängern gemacht wird.
Solche Spielereien setzen sich in den folgenden Tracks fort, sind aber (noch) nicht das Hauptmerkmal. Dieses wird noch sparsamer eingesetzt. Aber man versteht, wohin diese Karriere führen wird. Bereits 1916 war die Massary ein großer Star und ihre Sylva Varescu war ein Volltreffer. Aber das waren keine maßgeschneiderten Rollen für sie.
Auch ihre Faschingsfee war ein Knaller. Nachdem ich mir die jüngste cpo-Aufnahme aus München angehört hatte, wollte ich mehr von Massary hören. Ich kannte einen Titel aus diesem Werk aus Fritzi Massary: O la la … Frühe Aufnahmen 1905-1920. Die Klangqualität auf dieser CD von KLEINaberKUNST ist nicht zu vergleichen mit dem, was Christian Zwarg hier herausgeholt hat. Er ist überhaupt ein Meister der subtilen, stimmenliebenden Tontechnik, wie nicht nur die vielen Titel in der Sammlung Truesound belegen. Anstelle eines Faschingsfee-Tracks gibt es hier zehn.
Und neun Highlights aus der Csardasfürstin. Sie zeigen nicht nur Massary, sondern auch Molly Wessely, die zusammen mit Albert Kutzner Machen wir’s den Schwalben nach und mit Hermann Vallentin Das ist die Liebe singt. Sie hat eine ähnliche Klangfarbe wie Massary, man könnte sie sogar miteinander verwechseln, bis man merkt, dass dieses zusätzliche Element fehlt, dieses Massary-Spezifikum. Um Noel Cowards Tagebuch zu zitieren: „Sie ist hell wie ein Knopf und voller Vitalität. […] Mein Gott, sie hat etwas abgeliefert!“ Das hat sie sicherlich getan.
Noch 1958, als Massary zu einer seiner Aufführungen kam, gab Noel Coward an: „Es gibt wenig, was sie über das Theater nicht weiß.“ Dieses Wissen wurde in einer 30-jährigen Karriere erworben. Diese Csardasfürstin/ Faschingsfee-Aufnahmen stammen ungefähr aus der Mitte dieser 30 Jahre, sie kommen aus den Tagen ihrer Revue im Metropoltheater und vor ihrem Superstar-Status der 1920er Jahre.
Als Coward die Massary in den 1950er Jahren in Hollywood wiedertraf, war er sehr beeindruckt von der Art und Weise, wie sie gealtert war: „Dort ist sie, im Ruhestand, in ihren Siebzigern und schick wie immer. Weise und klug und vernünftig. ‚Nostalgie du temps perdu‘ bis zu einem gewissen Grade, aber leicht gemacht und ohne Schmerzen. […] Es war schön, sie wiederzusehen, keine tränenreiche Selbstbeobachtung. Eine wertvolle Begegnung.“
Das Gleiche kann über die doppelte Begegnung mit Kalman gesagt werden. Besonders interessant ist „Jaj, mamam Bruderherz“. Massary, Hermann Vallentin und Pep Ludl singen es mit unerwarteten Kontrasten und wechseln von Melancholie zu wahnsinniger Hingabe. Moderne Operettensänger könnten von diesen Aufnahmen viel lernen. Es gibt eine Frische, eine emotionale Tiefe und Ehrlichkeit, die atemberaubend ist, ohne jemals in den großen Opernklang zu verfallen, der (für mich) so viele spätere Aufnahmen der Csardasfürstin und der Faschingsfee unerträglich macht.
Eugen Rex als Massarys Partner in der Faschingsfee ist fast so unterhaltsam wie Albert Kutzner. Rex war 1920 bei der Premiere von Der Vetter aus Dingsda dabei und hatte im folgenden Jahrzehnt eine große Filmkarriere. (Er trat 1933 der NSDAP bei und bekleidete hochrangige Positionen in der Filmindustrie.)
Bereits 1918 hatte Massary ihren Stil weiterentwickelt. Sie ist absolut selbstsicher als Prinzessin Alexandra Maria. Die Art und Weise, wie sie in dieser Musik auf und ab gleitet, ist einfach umwerfend (man probiere Lieber Himmelsvater, sei nicht bös). Das wird man nirgendwo in der neuen Aufnahme aus München hören.
Die hohe Kunst des Umgangs mit dem Text zeigt sich auch in La belle Hélène. Ihre Anrufung der Venus zeigt, wie man drei Verse interessant und frisch halten kann. Und ihr Duett mit Bernhard Bötel als Paris ist – nun ja, wie nichts, das man jemals gekannt hat. Es ist so weit wie irgend denkbar von Jessye Norman und Felicity Lott entfernt; und doch bewahrt sich die Massary durchweg einen klassischen Stil.
Ein besonderer Leckerbissen ist das abschließende Spiel ich die Unschuld vom Lande. Es macht verständlich, warum Bruno Walter sie als Adele bei den Salzburger Festspielen engagierte. Schon 1918 weiß Massary haargenau, wie man unschuldig spielt und Resultate abliefert. Das deckt sich absolut mit dem was die Schwarzkopf sagt.
Wenn man sich für Kalman interessiert, dann sollte man diese beiden Auszüge unbedingt hören. Ich würde es sogar obligatorisch nennen. Wie bereits angeführt, ist die Klangqualität für Aufnahmen von 1916/18 hervorragend. Die höchste Kunst des Operettengesangs ist unüberhörbar. Es ist so schade, dass sie verloren gegangen ist … Kevin Clarke, Operetta Research Center Amsterdam/ Übersetzung Daniel Hauser/ mit besonderem Dank an Kevin Clarke und auch Thomas Voigt für die Genehmigung zur Übernahme des Schwarzkopf-Zitats./ das vollständige Interview von Thomas Voigt mit der Schwarzkopf bringen wir im Laufe des Jahres 2019 als „Nachdruck“ des Opernwelt-Artikels.