Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter

 

 „Berlioz pour toujors“! möchte man ausrufen angesichts der Fülle an Aufnahmen, die es inzwischen von dem großen Komponisten unseres Nachbarlandes jenseits des Rheins gibt (wo er nachweislich am wenigsten geschätzt wird, wie man der jüngsten Aufführung seines opus summum an der Pariser Oper bei Arte TV entnehmen konnte). Das Berlioz-Jahr 2019 (Berlioz: * 11. Dezember 1803 in La Côte-Saint-André, Département Isère; † 8. März 1869 in Paris)  animiert die CD-Firmen, ihre Schatztruhen zu öffnen und uns mit ihren mehr oder weniger habenswerten  Dokumenten zu überschütten. Wobei Warner als EMI-Nachfolgerin die Nase vorn hat, geht sie doch besonders sorgfältig mit ihren Erbstücken um und steuert für die im wahrsten Sinne Gesamten Einspielungen auch noch neue bei, die als Erstaufnahmen wie in der Debussy-Box vor kurzem auch den Berlioz-Katalog vervollständigen. Im Ganzen ist die Warner-Box ein Meilenstein, ein unverzichtbarer.

Colin Davis hat seine Berlioz-Leidenschaft noch einmal und spät mit dem London Symphony Orchestra live ausgetobt und auf CD beim hauseigenen Label LSO festgehalten, mehr als diskutabel auch die Oper Les Troyens – da mag man wahrlich kritisch sein, denn seine immer noch unübertroffenen Philips-Großtaten mit Vickers und Veasey in den Troyens sind immer noch Maßstab setzend und von den neuen Live-Mitschnitten und anderen Aufnahmen durchaus nicht übertroffen. Dennoch: Auch er ist einer der ganz großen Berlioz-Kämpfer unserer Tage gewesen.

Natürlich fehlt viel, was man im Berlioz-Jahr wieder sehen möchte und vergriffen scheint (Amazon/ jpc), aber Decca (!)-Aufnahmen hat ihre antiken Aufbnahmen von Davis (ebenfalls Veasey und dann Watts unübertroffen in Béatrice et Benedict) neu herausgegeben, zusammen m9it weiteren Berlioz-Einspielungen des Dirigenten. Fehlen tun die Decca-Boxen von prèsque tout Berlioz unter  Dutoit.  Sony/RCA hatte ihre Schränke geöffnet und die Berlioz-Schätze unter Munch, Bernstein  und Co. wiederaufgelegt (alles in operalounge.de noch mal nachzulesen). Sony selbst hat als CBS-Columbia-Erbin Eleanor Stebers schöne Berlioz-LP im Schrank (und die aufregende Bidu-Sayao-LP/ CD mit mélodies francais ist m. W. auch nicht mehr greifbar) …

 

„Les Troyens“: die Beecham-Aufnahme der BBC bei Somm, hervorragend restauriert unter den Augen von Lady Beecham beim Beecham-Trust/ Somm-Beecham 26–8, 3 CDs

Glücklicherweise sind Les Troyens unter Beecham mit der hinreißenden Marisa Ferrer bei Somm in sensationeller Qualität neu erschienen, auch diese ein Meilenstein. Auf die DG-Köstlichkeiten mit Barenboim (Teile eines abgebrochenen Berlioz-Zyklus) kann man  getrost verzichten, hingegen ist die alte Damnation unter Markhevitch ein Muss. Ebenso die Westminster-Monteux-Aufnahme von Roméo et Juliette mit der wunderbaren Resnick im Alt-Solo. Die Decca hat unter ihren Juwelen Maazels Roméo et Juliette oder natürlich die bis auf den Tenor wirklich superben Troyens unter Dutoit mit der himmlischen Pollet als Didon und anderem, noch ein Doppel-Bloc unter eben Dutoit (die schöne Lieder-Zusammenstellung mit der Pollet und anderen bei DG nicht zu vergessen, die ist aber in Teilen nun bei Warner gelandet).

Und jemand sollte die amerikanischen Troyens mit Steber und Resnik offiziell herausgeben (eigentlich unter Beecham, aber er wurde just am Tage der Radioübertragung krank und sein Assistent Robert Lawrence dirigierte).  Natürlich gehören auch die Troyens Teil 2 unter Scherchen mit der hinreißenden Arda Mandikian auf den Markt, die japanische Scherchen-Tochter hatte die alten Ducretet-Thompson/ Westminster-LPs gut aufgearbeitet für Tahra ausgegraben (die bei einer ungenannten Billigfirma sind nicht zu empfehlen, da herrscht Dumpfes). Und natürlich gibt’s jede Menge Historisches von Coppola bis Dorati oder Gielen (naja) Luisi oder oder oder, was als Addenda vielleicht lohnend wäre.

„Les Troyens à Carthage“ unter Hermann Scherchen bei Ducretet/London – eine legendäre LP-Ausgabe, aber zwischen als CDs erhältlich

In jeden Fall stehen wir heute unendlich viel reicher an Berlioz-Dokumenten da als noch vor einigen Jahren. Auch an DVD-Live-Mitschnitten kürzlicher Aufführungen in London und andernorts. Und a propos Live-Mitschnitte: Davon gibt es wirklich inzwischen massenhafte, namentlich aus London unter Kubelik und Davis, aber auch in Englisch mit Janet Baker aus Edinburgh und London. Und auch die alte Scala-Aufnahme (Walhall) soll ebenso wenig vergessen werden wie die beglückende von der RAI mit einem unübertroffenen Trio Gedda, Horne und Verrett unter Prêtre (Arkadia u. a.). Sowie die Torsi mit der Crespin aus Boston (Sammlerglück).

 

Marie Delna war die Didon in der ersten (!!!) vollständigen Aufführung der „Troyens“ in Paris 1890 (!!!)/ Wiki

Daniel Hauser hat noch einmal auf die Berlioz-Gesamtausgabe bei Warner hingewiesen, die auch die Neuaufnahme der Troyens aus Strasbourg beinhaltet – diese wurde auch andernorts in operalounge.de von mir besprochen, mit unterschiedlicher Begeisterung, trotz der Hochachtung vor Dirigent John Nelson.  

Aber noch ein paar Worte zum opus summum von Berlioz, auf anderen Dokumenten, denn erstaunlicher Weise ist dieses Werk, das so aufwendig zu besetzen und erst in unserer Zeit fast Repertoire-mäßig zu hören ist, gut dokumentiert. In der Vergangenheit wurde es ja eher selten gespielt, in Frankreich fast gar nicht, in Paris erst 1890 erstmals vollständig, seitdem bruchstückhaft und barbarisch gekürzt – einzig Marseille und das Berlioz-Festival kurzjährig in Lyon -wetzen die Scharte aus. Paris eröffnete zumindest die Bastille 1990 mit den „Troyens“ (die Damen Bumbry und Verrett sowie Goerge Gray standen wieder mal für die absurden Besetzungspläne der Pariser Oper, die nun 2019 erneut „Les Troyens“ mit Russen und Amerikanern gibt. Was wieder für die Nichtachtung der Franzosen gegenüber ihren großen Komponisten spricht und mit dem Aussterben der Kenntnisse vom eigenen Repertoire und dem Verschwinden der großen Stimmen/Tenöre im eigenen Land zu tun hat. Aber wenn man eine Mezzosopranistin wie die fulminante Sylvie Brunet im Land besitzt und eine Russin (als Ersatz für die Garanca) für deren Partien verpflichtet, dann macht das doch nachdenklich.

Berlioz´Oper „Les Troyens“  Erato (0190295762209) auf 3 CDs mit einem DVD-Bonus-Hightlights-Mitschnitt; Nelson verwendet leider mal wieder das spätere Finale und lässt die Sinon-Szene im ersten Akt aus….

International hingegen sind die Troyens außerordentlich oft auf CD und Sammler-live festgehalten worden. Sogar in einer barbarisch gekürzten deutschen Version von 1961 mit Josef Traxel unter Hans Müller-Kray (Walhall) vom SWR. Und apropos deutsch:  Sogar Frida Leider sang die Dido vor dem Krieg neben Helge Rosvaenge 1930 an der Staatsoper in Berlin unter Leo Blech. Aber davon gibt es kein Dokument, nur ein Foto.

Die eigentliche und immer noch unangefochtene Studio-Einspielung ist die der Philips von 1969 unter Colin Daviserstmalig (fast) komplett und ein Meilenstein in der Werkgeschichte. Covent Garden hat in der Vergangenheit unendlich viel für Berlioz getan – zu Beginn Rafael Kubelik und dann Colin Davis sorgten unermüdlich für Aufführungen erst in Englisch und dann im Original, mit illustren Besetzungen von Veasey bis Baker, Silja, Meyer, Baltsa, Lear, Shuard und vielen, vielen mehr (um nur von den beiden weiblichen Hauptpartien zu sprechen; Dank auch an Freund Sandro für die Erinnerung an Rozhdestvensky mit Felicity Palmer als Cassandra konzertant in Lodon). Ronald Dowd, Gregory Dempsey und Jon Vickers wechselten sich als Enée ab. Die Philips-Aufnahme ist für mich klanglich immer noch beste Ware, hervorragend besetzt (einzig über Vickers mag man sich streiten).

Wichtig ist vorher noch die Rundfunkaufnahme im Original unter Thomas Beecham von 1947 (hervorragend neu restauriert unter Aufsicht von Lady Beecham beim Beecham-Trust/ Somm) – immer noch eine packende und überzeugende Aufnahme) mit der beeindruckenden Marisa Ferrer in beiden Partien (Cassandre und Didon) neben einem eher schüchternen  Jean Giraudeau, Enée vom Dienst auch auf der Ducretet-Aufnahme von Carthage unter Hermann Scherchen 1952 neben einer sensationellen Arda Mandikian, auch sie prachtvoll und so unendlich idiomatisch. Den EMI-Torso der gemeinen Kürzungen ziert nur Régine Crespin als bewegende Didon unter Georges Prêtre (die erstaunlicher Weise nicht in der Warner-Box vertreten scheint), Guy Chauvet bölkt  wie sein Landsmann Gilbert Py auf weiteren Dokumenten. Bemerkenswert und für mich neben Davis und Dutoit (Decca) auf dem Siegerpodium ist der leicht gekürzte RAI-Mitschnitt von 1969 mit einer mehr als befriedigenden All-round-Besetzung (Marilyn Horne, Nicolai Gedda, Shirley Verrett), wobei ich die Horne und Gedda als schlicht genial und unendlich beglückend empfinde. Gedda ist der gebrochene Held par excellence, hier in seiner Bestform, und das an einem Abend im Konzert (Arkadia ist da die beste Aufnahme).

Charles Dutoit machte bei Decca seine vor allem auch klanglich hervorragenden und hochidiomatischen Berlioz-Aufnahmen, Francoise Pollet als Didon nicht zu vergessen.

Der große Sprung führt dann zur Decca-Aufnahme unter einem, breite Tempi favorisierenden Charles Dutoit am Pult kanadischer Kräfte, aus denen ebenfalls unique Francoise Pollet als textwissende, cremige und erzfranzösische Didon herausragt – eine große Sängerin in einer kongenialen Partie. Kaum zu überbieten. Deborah Voigt und Gary Lakes sind nicht unrecht,die franco-kanadischen Kräfte eine Wucht. Sehr habenswert und ungekürzt (sogar den fiesen Boten im ersten Akt hat Dutoit eingebaut). Zudem klanglich absolut erste Decca-Ware. Was für ein Rausch! Und dies auch nach Hören der Nelson-Aufnahme…

Als Videos gibt es Eliot Gardiners Pariser Aufführung im TCE (mit dem auf einen Torso reduzierten 1. originalen Finale der Oper, wie es Hugh McDonald in einem weiteren Berlioz-Artikel später im Jubiläums-Jahr in operalounge.de ausführlich beschreibt und)  mit einer eher schlichten Susan Graham (mit dem Charme einer Arzthelferin) neben einer leidenschaftlichen, wenngleich verwaschen prononcierenden Antonacci und einem zu amerikanischen Kunde (opus arte 2010) sowie eine Aufführung aus Covent Garden mit erneut Antonacci und Eva-Maria Westbroek blusig-allgemein als Didon neben einem stentoralen Brian Hymel als Enée, der virile Kraft und kaum Zerrissenheit einbringt (opus arte). Vergessen will ich die Gergiev-DVD aus dem Mariinski von 2011: Lancy Ryan brüllt unerträglich, und die Damen sind doch recht …. robust (C-Major 2011). Und fast vergessen: Deborah Polaski ist die sicher auf der Bühne erfolgreichere Heldin auf dem Salzburger Mitschnitt bei Arthaus von 2002 in der vielgelobten, wenngleich gekürzten Wernicke-Produktion, die danach durch die Theater zog. Hingegen soll Plácido Domingo nicht unterschlagen werden, der bei der DG mit Jessye Norman und Tatjana Troyanos  den Enée stemmt (2002, aber die Produktion ist älter), die Kolleginnen achtungsgebietend (wenngleich auch nur im allgemeinen Opernpathos verharrend), er nicht so sehr und wie oft nur professionell im Instant-Modus. James Levine auch. Die Produktion schaut abgewetzt aus (ich erinnere mich auch an Abende an der Met mit der Pollet in der falschen Partie als Cassandre neben der bizarren Maria Ewing, die aus der Didon eine Cabaret-Nummer machte).

Live tummeln sich weiterhin fast unendlich viele Aufnahmen bei Sammlern und auf grauen CDs/LPs/MCs/Minidiscs und Open-reels. Und auch da macht unser Nachbarland keine gute Figur, denn die Troyens wurden nach dem Krieg kaum in Frankreich gegeben. Mal in Marseille, dann beim verstorbenen Berlioz-Festival in Lyon (riskante Besetzungen) und als fast rein-amerikanische Initiative am TCM in Paris. Seit dem Krieg fallen mir nicht mal eine Handvoll Produktionen in Frankreich  ein – im Gegensatz zu Deutschland.

Immer noch eine der aufregendsten Aufnahmen, die beste Ausgabe von „Les troyens“ mit Nicolai Gedda auf Arkadia, gekoppelt mit seiner „Damnation de Faust“/ inzw. vergriffen, aber doch noch auftreibbar.

Eleanor Steber und Regina Resnik sorgten für die amerikanische Erstaufführung in moderner Zeit (1960) und halten die nationale Glorie aufrecht (VA;, nach einem run in Washington unter Thomas Beecham sprang für New York sein Aisstent ein). Rafael Kubelik, der mit vielen Abenden in London dokumentiert ist, leitete auch die italienisch-sprachige Version an der Scala, wo sich Mario del Monaco, Giulietta Simionato und Nell Rankin an Berlioz abarbeiten. Aber die Übertragung ins Italienische macht daraus etwas ganz anderes, dichter an Mascagni vielleicht, zumal die Sänger mit voller Lunge eben diesen singen (Melodram u. a.).  Natürlich gibt es noch viele andere Dokumente: Christa Ludwig (Gala), die Silja, die Baltsa, Meyer (Caprice), Crespin, vor allem die ganz wunderbare und empfindsame Lorraine Hunt als Didon an der Met (wo ähnlich wie früher in London die Troyens ein festes Zuhause haben), die pastose Troyanos, Ewing, Elkins, Baker (Gala), Palmer, Thebohm, Shuard, Goerke, Elms, ganz sicher Nadine Denize mit ihrem schönen und melancholischen Ton, und viele, viele mehr neben einer knapp gehaltenen Riege an empfehlenswerteren Tenören (so Roberto Alagana in Berlin, aber nicht Heppner, Lakes, Grey und verschiedene Osteuropäer) finden sich in den Sammlungen, die ich hier nicht alle aufzählen kann. In Erinnerung bleibt für mich vor allem – weil live erlebt – die Aufführung an der Scottish Opera in Edinburg 1969, wo die Damen mit Helga Dernesch und Janet Baker besetzt waren, was für ein Rausch! Sicher habe ich bei der Aufzählung  einige vergessen. Mea culpa.

Nur die Gardiner-DVD-Aufnahme der „Troyens“ aus Paruis 2003 hat zumindest in Teilen das originale Finale der Oper von 1858.

Was also bleibt? Haben muss man die ältere Philips-Aufnahme wegen Davis, der Veasey und Vickers (egal wie man zu ihm steht) nebst Massard und vielen anderen der älteren Schule. Ganz sicher auch die Decca-Einspielung wegen des Klanges und der unglaublichen Pollet neben vielen Franco-Kanadiern. Und nun die neue von Erato? Wegen Michael Spyres als dem fast idealen Helden und wegen Nelsons erfahrener Leitung am Pult dieser bemerkenswerten Kräfte in einer wirklichen Original-Fassung. Aber ganz sicher auch die alte RAI-Aufnahme (Arkadia) wegen Gedda unvergleichlich in seiner Poesie und seinem Schmerz und wegen der Ideal-Besetzung der Cassandre mit Marilyn Horne. Das Werk ist so gewaltig und überragend, dass man nicht genug Aufnahmen haben kann. Finde ich (Foto oben: Roberto Alagna und Béatrice Uriah-Monzon sangen in den „Troyens“ 2010 an der Deutschen Oper Berlin, daraus oben ein optischer Ausschnitt/ Foto Bettina Stoeß mit freundlicher Genehmigung der DOB; dazu auch unsere Rezension in operalounge.de; Alagna ist zudem mit weiteren Berlioz-Stücken in der Warner-Berlioz-Box vertreten. Eben!)Geerd Heinsen.

  1. charles ofaire

    Gedda zeigte sich seltsamerweise wenig befriedigt von seinem Enée, den er im Gegensatz zum Faust aus der DAMNATION und zum Benvenuto Cellini nur einmal(?) gesungen hat.Die 2 Lyoner Aufführungen der TROYENS durch Sege Baudo (Münch-Schüler) waren die Uraufführungen der Gesamtpartitur in Frankreich, zuerst konzertant,dann szenisch und weckten in Frankreich sowenig Interesse am Werk, dass es davon keine Aufnahme gibt.

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