Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Herausragend

 

Wie oft kommt es vor, dass man ein Buch von der ersten bis zur letzten Seite in einem Atemzug verschlingt, es nicht vor dem Lesen auch des Epilogs wieder schließen möchte und traurig ist, wenn man es schließlich ausgelesen aus der Hand legen muss?!  Helmut Deutsch gelingt das Wunder mit seiner Autobiographie mit dem Titel Gesang auf Händen tragen – Mein Leben als Liedbegleiter, viel klüger gewählt als der einer Biographie, die den Titel „Im Schatten des Sängers“, der schließlich umgewandelt wurde in „Im Schatten des Sängers?“, trug und eigentlich heißen müsste „Aus dem Schatten getreten“.

So wie sich Helmut Deutsch nach eigenem Bekunden Gedanken um den Aufbau eines Liederabends macht, auf kurze längere, auf schnelle langsamere Lieder folgen lässt, so hat er offensichtlich auch das Buch ganz bewusst gegliedert und lässt Kapitel über Sänger, mit denen er besonders häufig oder gern oder beides zusammen gearbeitet hat, auf solche mit Gedanken über Musik, Liedgesang, dessen Begleitung und alles, was sie tangiert, einander abwechseln. Das geht soweit, dass er im Inhaltsverzeichnis die Sänger-Kapitel groß, die über allgemeine Themen klein drucken ließ. Einige der Sänger äußern sich auf dem vorderen Klappentext und auf der Rückseite des Einbands und zwar diejenigen, mit denen gemeinsam er seine bisher letzten großen Erfolge erzielte, so 2018 mit Diana Damrau und Jonas Kaufmann mit einer Tournee mit Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch.

Das Geleitwort zum Buch stammt von Alfred Brendel, und allein die Tatsache, dass er sich zu einem solchen bereit fand, spricht bereits im vornherein für den Wert des Buches.

Schont der Autor die Sänger, mit denen er jetzt zusammen arbeitet wie Jonas Kaufmann mehr als diejenigen, die bereits seit Jahren tot sind, so wie Hermann Prey, der ihn über vielerlei Schrullen und Absonderlichkeiten staunen ließ, so über das „optische Forte“ und den „Fischer-Dieskau-Komplex“, oder sind die heutigen Künstler einfach „normaler“? Letzteres scheint der Fall zu sein, denn der Verfasser erweckt nirgends den Eindruck, jemandem nach dem Mund reden oder schreiben zu wollen, sondern lässt sein Buch als ein durch und durch ehrliches erscheinen, aus dessen jeder Zeile die Achtung und Liebe gegenüber der Musik und ihren Botschaftern, die Sänger, spricht. Dazu wird es liebens- und lesenswert durch den Humor, der nicht zu kurz kommt, so bei der Schilderung des japanischen Musiklebens, das Deutsch besonders gut kennt, da er, geraume Zeit mit einer japanischen Sängerin  verheiratet, sich häufig und lange in dem asiatischen Land aufhielt und hier auch beruflich tätig war. Dabei wird auch über die Tätigkeit vor allem vor und während der Begleiterzeit, die als Korrepetitor und Lehrer, berichtet.

Deutsch erzählt davon, wie er seit Kindesbeinen mit klassischer Musik konfrontiert war, wie seine Verehrung, ja Leidenschaft für Franz Liszt ihn das ganze bisherige Leben hindurch begleitete und die für schöne Stimmen, deren er, da die Karriere eines Begleiters ungleich länger dauern kann als die eines Sängers, die mehrerer Generationen kennenlernte: sowohl Viorica Ursuleac wie Camilla Nylund, Peter Schreier wie Michael Volle und die er  nicht nur auf dem Flügel begleitete, sondern die teilweise zu Freunden wurden.

Der Leser kann sich auf Begegnungen mit Josef Protschka, Olaf Bär, Brigitte Fassbaender, Bo Skovhus, Bernd Weikl,  Angelika Kirchschlager, Thomas Quasthoff, Juliane Banse, Dietrich Henschel, Andreas Schmidt (Brahms-Aufnahmen!), Grace Bumbry, Matthias Goerne und Piotr Beczala, über Stefanie Irányi und Peter Mauro freuen und die taktvolle Ausgewogenheit des Berichtens jenseits von Verklärung oder Klatsch.

Sehr interessant sind auch die Ansichten von Deutsch über das Üben, über die Arbeit mit dem Sänger, den Zustand der Hochschulen für Musik, denen er vorwirft, sie weckten in unbegabten Studenten falsche Hoffnungen,  um den eigenen Bestand zu sichern.  Klaviere und Flügel, die auch schon mal direkt aus einem Rockkonzert statt von einem Auftritt Claudio Arraus kommen können, sind ein anderes Thema. Wertvolle Ratschläge gibt es in den Kapiteln über die Verhütung von Katastrophen bei der Vorbereitung eines Konzertabends, über nationale Eigenarten beim Publikum einschließlich des Hustens, über Zugaben und über Notenwender, die durchaus eine tragende Rolle spielen können.

Mancher Leser wird sich erleichtert von dem Vorwurf freisprechen , er sei ein Banause, weil kein Liebhaber moderner Musik, denn Deutsch bekennt offen, er kenne keinen Sänger, der sie gern singe, und kaum jemanden, der sie hören wolle. Ähnlich kritisch werden die Musikjournalisten gesehen, das aber ohne Bissigkeit, stattdessen humorvoll und gelassen.

Toleranz bestimmt auch die Aussagen über Werktreue und das Gegenteil davon, das Bewahren von Aufführungstraditionen, auch im Bereich der Oper ja ein beliebtes Thema. Verzierungen „in bescheidenen Maßen“  findet Deutsch tolerierbar, von inszenierten oder getanzten Liederabenden hält er nichts. Er glaubt an das Fortbestehen der Kunstform, auch wenn das Wissen um Lyrik und Mythen heutzutage gering ist und das Publikum ein zahlenmäßig kleines. Am Ende des Buches, wenn der Verfasser bekennt,  trotz seines Alters weiterhin gern seine Kunst ausüben zu wollen, freut man sich aufrichtig darüber und hofft mit ihm, dass sein Wunsch, noch einmal eine Tournee wie die mit Diana Damrau und Jonas Kaufmann unternehmen zu können, in Erfüllung geht.

Das Buch enthält zahlreiche Fotos von Helmut Deutsch mit „seinen“ Sängern, eine Vita, Ein Diskographie (Auswahl), ein Personenregister, einen Bildnachweis und eine Bibliographie (225 Seiten, Henschelverlag 2019; ISBN 978 3 89487 803 0) Ingrid Wanja

María aus Buenos Aires

 

In einer Live-Aufnahme aus dem Jahre 2016 legt Capriccio Astor Piazzollas Operita en dos partes María de Buenos Aires vor (C5305, 2 CD). Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem Theater Bonn, dem Beethoven Orchester Bonn und den Deutschlandfunk Kultur. Dirigent ist Christoph Sprenger, der mehrere Jahre Kapellmeister an der Oper Bonn war und viele zeitgenössische Musikwerke interpretiert hat. Auch zu Piazzollas spezifischem Stil mit der Einbindung von Fuge und Toccata sowie dem südamerikanischen Tango hat er eine besondere Affinität, denn die Einspielung sprüht vor Vitalität, ist reich an Lokalkolorit und fängt die Atmosphäre des Geschehens bezwingend ein.

Die Handlung ist in Buenos Aires angesiedelt, wo ein Geist die Erscheinung und Stimme von María de Buenos Aires heraufbeschwört. María lebte für den Tango und die Liebe – obwohl sie ihren größten Verehrer, den träumenden Gorrión, stets abgewiesen hat. Ihr Weg führte durch Nachtlokale und zweifelhafte Cabarets schließlich in die Unterwelt. Sie stirbt, von Dieben und Hurenmüttern verflucht. Ihr Schatten soll ihre Schuld bis in die Ewigkeit mit sich herumtragen. Verloren irrt dieser durch die Stadt, wendet sich in seiner Verzweiflung an das Volk, die Trauer um ihn nicht aufzugeben. In einer Magischen Bar im 30. Stock eines Wolkenkratzers erzählt er verwirrt von Geburt, Sterben und Reinkarnation. Am Ende wird ein Mädchen geboren, das vielleicht wieder eine María sein wird.

Daniel Bonilla-Torres gibt den Geist, El Duende, mit prononciertem Sprechgesang. Er ist auch später noch in diversen Parts eingesetzt, es sind ausschließlich Stimmen (Voces), wo er seinen sinnlichen Stimmklang wirkungsvoll einsetzen kann – Stimmen von Männern, die aus dem Mysterium zurückgekehrt sind, von Alten Dieben, Hurenmüttern, Psychoanalytikern, Nudelwalzerinnen und Magischen Maurern. Diese Aufzählung zeugt von den Bizarrerien des Stückes, die auch die Sängerin der Titelrolle, Luciana Mancini, betreffen, denn sie interpretiert auch den Schatten Marías. In ihrem ersten Auftritt stellt sie in Vokalisen das tema de María vor. Die Stimme mit sinnlich lockendem Klang ist die einer Diseuse. In ihrem berühmten Canción, „Yo soy María“, kann sie mit üppigem, schwelgerischem Klang eine ganze Palette von Temperament, Erotik und Lebensgier zeigen. Ihr Thema kehrt auch in dem delikaten  Poema  valseado mit seinen träumerischen Walzeranklängen wieder. Als sombre di María, Marias Schatten, singt sie mit dunkel verschattetem  Ton. Und die letzte Nummer des Werkes wiederholt noch einmal ihr Thema. Dem dritten Mitwirkenden der Aufführung, Johannes Mertes, fallen gleichfalls mehrere Aufgaben zu – den Alten Anführer der Diebe, den Ersten Psychoanalytiker mit seinem Gassenhauer „Buenos Aires, Buenos Aires“, den Träumenden Gorrión sowie die Stimmen eines Gauchosängers und des Sonntags. Sein gleichermaßen klangvoller wie ausdrucksstarker latino-Tenor vermag all diesen Porträts eine prägnante Kontur zu verleihen. Die idiomatisch besetzte Aufnahme dürfte für alle aficionados der Musik Piazzollas un gran placer sein. Bernd Hoppe

Hans Günther Nöcker

 

Mit Bedauern hörten wir vom Tode des Bass-Baritons Hans Günter Nöcker, der am 20. März 2019 verstarb. Als Berliner erinnere ich mich gerne an seine Pizarros und Telramunds an der Deutschen Oper Berlin, wo seine kernige, gut gestützte und sehr persönlich gefärbte Bass-Stimme ein Garant für eine nachdrückliche Interpretation war. Auch sein Mandryka oder Holländer bleiben mir in Erinnerung, und sein elegantes, individuelles Spiel fügte seiner stimmlichen Leistung eine überzeugende Dimension hinzu. G. H.

Auch die Bayerische Staatsoper trauert um das langjährige Ensemble-Mitglied Hans Günter Nöcker. Der Sänger verstarb letzte Woche im Alter von 92 Jahren.  Hans Günter Nöcker gab 1960 sein Debüt an unserem Haus; zwei Jahre später wurde er Ensemblemitglied, das er bis 1998 war. Er sang an der Bayerischen Staatsoper ein umfangreiches Repertoire, darunter: Don Pizarro (FIDELIO), Jochanaan (SALOME), Mandryka (ARABELLA), den Holländer, Klingsor (PARSIFAL), Beckmesser (DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG), Dr. Schön (LULU) und Gloster (LEAR)

 

Zu seiner Vita hier ein Auszug aus dem unentbehrlichen Kutsch-Riemens: Nöcker, Hans Günter, Baß-Bariton, * 22.1.1927 Hagen (Westfalen); Studium bei Carl Momberg in Braunschweig, bei Hans-Hermann Nissen und bei Willi Domgraf-Fassbaender in München. Debüt 1952 am Stadttheater von Münster (Westfalen) als Alfio in »Cavalleria rusticana«. Er ging von dort für die Spielzeit 1953-54 an das Stadttheater von Gießen und war 1954-65 an der Stuttgarter Staatsoper engagiert, wo er 1957 in der Uraufführung von Carl Orffs »Comoedia de Christi Resurrectione«, 1959 in der von »Oedipus der Tyrann« vom gleichen Komponisten mitwirkte. Er wurde 1965 an die Bayerische Staatsoper in München berufen, an der er 1969 an der Uraufführung der Oper »Aucassin und Nicolette« von Günter Bialas teilnahm, und an der länger als 25 Jahre wirkte. Häufige Gastspiele an der Deutschen Oper Berlin, an der Staatsoper von Wien, an den Opernhäusern von Köln, Hamburg, Frankfurt a.M. und an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg. Bei den Festspielen von Schwetzingen gastierte er 1966 in »Armide« von Gluck. Im Ausland trat er beim Maggio musicale von Florenz, beim Edinburgh Festival, an den Opernhäusern von Brüssel, Palermo, Venedig und an der Covent Garden Oper London auf. Er wirkte bei den Festspielen von Bayreuth 1958-60 als Hans Schwarz in den »Meistersingern«, 1959 als Melot im grin« und 1984 als Beckmesser in den »Meistersingern« mit. 1989 sang er bei den Festspielen von Salzburg in einer konzertanten Aufführung von Fr. Schrekers »Die Gezeichneten«. Am 23.10.1972 nahm er an der Deutschen Oper Berlin an der Uraufführung der Oper »Elisabeth Tudor« von Fortner, am 27.11.1963 in München an der Uraufführung von Werner Egks »Verlobung in San Domingo« (in der Rolle des Hoango), 1978, gleichfalls in München, an der Uraufführung von A. Reimanns Oper »Lear« teil. 1983 Gastspiel in Venedig als Klingsor im »Parsifal« am 25.9.1984 am Deutschen Opernhaus Berlin in der Uraufführung von A. Reimanns »Gespenstersonate«, 1986 in München in der Uraufführung von V.D. Kirchners »Belshazar« aufgetreten, 1991 bei den Festspielen von Schwetzingen in der Uraufführung der Oper »Enrico« von Manfred Trojahn, 1994 bei den gleichen Festspielen in der der Oper »Sansibar« von Eckehard Mayer. 1990 sang er in München in C. Orffs »Trionfo d’Afrodite«, 1992 den Dörfling in H.W. Henzes »Prinz von Homburg«. Auf der Bühne im heldischen wie im Charakterfach, im Konzertsaal in einem umfassenden Repertoire aufgetreten. Noch 1997 trat er an der Münchner Staatsoper als Kruschina in der »Verkauften Braut«, als Baron Douphol in »La Traviata« und als Hermann Ortel in den »Meistersingern« auf.

Schallplatten: Schallplatten: BASF (»Trionfi« von Carl Orff), DGG (»Oedipus der Tyrann« von C. Orff, Mozart-Quartette), Eurodisc (»Götterdämmerung«), Orfeo (»Die Verlobung in San Domingo«, Mitschnitt der Uraufführung von 1963), CPO (»Enrico« von M. Trojahn); Castle-Video (»Tannhäuser«). [Lexikon: Nöcker, Hans Günter. Großes Sängerlexikon, S. 17844; (vgl. Sängerlex. Bd. 4, S. 2546) (c) Verlag K.G. Saur]/ Foto Bayerische Staatsoper

Die Husaren kommen

 

Einsam wiegt sich der Husar in Erinnerungen, „Denkst du daran“. Ausgerechnet auf das Schloss seiner Väter wird Oberleutnant von Lörenthy zum Herbstmanöver abkommandiert. Wie sein Nachkomme, der verarmte Graf Tassilo in der Gräfin Mariza, hockt er als „Zaungast des Glücks“ und rechtmäßiger Erbe vor dem Schloss, in dem ausgelassen gefeiert wird und das er sich zu betreten weigert. Denn darin residiert seine Jugendliebe Baronin Riza von Marbach, die ihn einst wegen eines reichen Rivalen verließ, welcher Lörenthy die Frau und sein Schloss nahm. Eine Wiederbegegnung mit der inzwischen verwitweten Riza ist ebenso unausweichlich wie das glückliche Ende. Für Riza riskiert Lörenthy das unehrenhafte Ende seiner militärischen Laufbahn, wird begnadigt und kann fortan „Tanzen wie ein Schneidergesell und trinken wie ein Bürstenbinder“. Wir wissen nicht, was ein Wehrbeauftragter zu diesem Manöver und den Finten, mit denen der Husar vor einem unehrenhaften Ende bewahrt wird, sagen würde, doch das Publikum im Theater an der Wien war am 22. Januar 1909 von dem Zeitstück mit den feschen Husaren angetan, „johlte Beifall“ über die zu Karikaturen verkommenden Offiziere und sorgte dafür, dass Ein Herbstmanöver zu Emmerich Kálmáns erstem Erfolg wurde. Hervorgegangen aus seiner im Vorjahr am Budapester Lustspieltheater uraufgeführten und bescheiden als Vaudeville bezeichneten Tatarenplage (Tatárjárás) gelangte das Herbstmanöver auf rasante Weise noch 1909 als The Gay Husars nach New York, wurde im gleichen Jahr in Moskau und Berlin gespielt.

Im Juni 2018 auch im Stadttheater Gießen, das sich an Kálmáns längst verklungenen Früherfolg erinnerte und sich aus Budapest Verstärkung in Gestalt von Bálázs Kovalik und seiner ersten Operetteninszenierung holte. Im Beiheft der nun auf einer CD erschienen Ersteinspielung (Oehms OC 977) erzählt Kovalik anschaulich von der Arbeit an der Gießener Fassung, “Vom Herbstmanöver gibt es lediglich eine einzige, handschriftliche Ur-Partitur im Kálmán-Archiv in Los Angeles. In Budapest existieren vor allem Stimmbücher; es ist ein marodes, konfuses Material, da es wegen des Erfolges es des Werkes oft herumgeschickt, nachbearbeitet und vielfarbigen Strichen versehen wurde. Trotzdem hat es Spaß gemacht, das alte Material zu studieren, zu sehen, wie damals ein solches Stück gespielt wurde, und daraus eine neue Gießener Partitur zu editieren.“  Spaß gemacht hat seinerzeit offenbar auch die anspielungsreiche Gießener Aufführung, die man wohl besser als DVD veröffentlicht hätte. Michael Hofstetter präsentiert das Ergebnis – „Gießener Dialogfassung von Balázs Kovalik, Ergänzende Gesangstexte und Dramaturgie von Matthias Kaufmann“ – mit Gusto, ohne den Funken überspringen zu lassen. Herbstlich verhalten. Die teilweise eingestreuten Sprechszenen wirken auf der CD so steif wie in den alten Operetteneinspielungen vom WDR oder NDR. Schade, dass die Nummern ohne Hinweis auf Figuren und Interpreten auf der Trackliste aneinandergereiht wurden. Klar, das „Lied des Lörenthy“ wird von dem kroatischen Bariton Grga Peroš, der den Csárdáskavalier ein wenig steifleinen und eingeschnappt gibt, was sicher auch an der Rolle liegt, mit wohltönend breitem Bariton und schmachtendem Schmerz gesungen, dazu gehören auch das vom Zigeunerprimas begleitete „Lied und Tanz des Lörenthy“. Einige Nummern stammen aus Der gute Kamerad, darunter das Pumper-Duett („Komm und zeig es mir“) – leider fehlt verzichtet das Beiheft auf die Gesangstexte -, das Gießens wandelbarer, witzig sprühender Buffobariton Tomi Wendt als Leutnant der Reserve Wallerstein und der Schauspieler Rainer Hustedt als Gutsverwalter Kurt singen. Den ursprünglich als Hosenrolle konzipierten Freiwilligen Marosi singt Clemens Kerschbaumer, insbesondere in seinem „Kusslied („Die kleine Gretel küsste gern“) mit drahtig schlankem Tenor. Christiane Boesiger entfaltet als Riza die Aura einer etwas angejahrten serösen Operetten- Primadonna alten Schlags („Seh ich dich strahlen“), und Marie Seidler ist soubrettenzart und schön timbriert die in Lörenthy verliebte Feldmarschalls-Tochter Treszka, die schließlich mit Marosi vorliebnimmt. Noch nicht ganz auf der Höhe der Csárdásfürstin, die es musikalisch in manchen Details vorwegnimmt, ist Ein Herbstmanöver ein unverkennbarer Kálmán-Erfolg: melancholisch umflort, Walzer nostalgisch, mit trotzigen Märschen, ein Abgesang auf die Zeit der Husarenherrlichkeit und ein Jahrhundert, zugleich aufmüpfig genug, sich im Strudel der Silbernen Operette zu behaupten. Rolf Fath

 

Der „neurotische Narziss“

 

Wohl Gift und Galle spucken würde der polnische Komponist Karol Szymanowski könnte er die von Danuta Gwizdalanka geschriebene Biographie  mit dem Titel Der Verführer lesen, denn wenn auch spät im Verlauf des Buches so doch schonungslos deckt sie die Charaktereigenschaften des Künstlers auf, die seine Zeitgenossen nach seinem Tod vor der Nachwelt zugunsten eines schmeichelhaften Bildes zu leugnen suchten. Schließlich war ihm die Rolle des zweiten Nationalkomponisten neben Chopin im noch jungen Nationalstaat Polen zugedacht.

Das Buch ist zunächst chronologisch, im zweiten Teil thematisch gegliedert, wenn es opportun erscheint, ist den einzelnen Kapiteln ein Motto oder Zitat von oder über Szymanowski vorangestellt. Innerhalb der einzelnen Kapitel finden sich zahlreiche Aussagen von Zeitgenossen und Wegbegleitern des Komponisten, was das Vergnügen beim Lesen ungemein erhöht. Es gibt auch einige Fotos des Komponisten, dasjenige, das ihn als Knaben zeigt, lässt unvermeidlich die Assoziation Tadzio, der schöne Jüngling aus Thomas Manns Der Tod in Venedig, zu. Ebenso wirkte er, glaubt man der Autorin, auf Männer wie Frauen nicht zuletzt wegen seiner Eleganz, auf die Jugend wegen seiner Bereitschaft, auf die Alten, die wahre Größe nicht zu schätzen wüssten, zu schimpfen, sich mit ihr zu solidarisieren.

Mit dem älteren Moniuszko teilt Szymanowski die Herkunft aus dem von Russland beherrschten Teil Polens. Die Mutter war deutscher Herkunft, die Russen wurden gemieden und verachtet, die deutsche Musik so sehr verehrt, dass der junge Komponist mit seinem Schwager Bayreuth besuchte, dass er die Uraufführung von Elektra miterlebte. Nach 37 auf dem Gut Tymoszowka verbrachten Jahren musste die Familie vor den Bolschewiki nach Warschau fliehen, wo,  da die Einnahmen aus dem zur Kolchose umgestalteten Adelssitz fehlten,  Mangel das Leben bestimmte. Farbig und interessant wie das Leben, das der von Gönnern unterstützte junge Komponist u.a. mit dem Freund Artur Rubinstein in Wien oder in Italien oder sogar Nordafrika führte, ist die Darstellung der Autorin, die auch das Ringen Szymanowskis mit der erst nicht zugegebenen Homosexualität, ehe er sich ihr in vollen Zügen mit kostspieligen „Epheben“ hingibt, zum Thema macht. Dabei beschränkt sie sich nicht auf die Vita des Komponisten, sondern bezieht diese Neigung auch in ihre sehr sachkundigen Werkanalysen mit ein, so in die der Oper König Roger, in der sie sowohl im König wie im Hirten Charakterzüge Szymanowskis, jedenfalls derer, die er selbst bei sich wahrnahm, aufzeigt.

Das Leben Szymanowskis wird auch als eines des gegenseitigen Übelwollens, der Fehleinschätzung beschrieben, wenn zum Beispiel Russen seine Musik als eine ohne „Inneres“ verunglimpfen, er selbst Puccinis Musik, damals noch verächtlich, als solche für Homosexuelle bezeichnet. Immer wieder weist die Verfasserin darauf hin, wie sehr Wehleidigkeit, Egoismus, die Unfähigkeit zur Selbstkritik und der Hang zu einem luxuriösen Lebensstil auf Kosten seiner Gönner, dazu eine am Schaffen hindernde Bequemlichkeit  ein kontinuierliches Fertigstellen bereits zur Aufführung angenommener Kompositionen zum Unmut auch der Wohlgesonnensten führen. Auch das Streben nach gutbezahlten Ämtern, die er nicht ausfüllen kann oder will, kommt mehrfach zur Sprache. Dauernder Zigaretten- und Alkoholkonsum sind mit der Grund dafür, dass der Komponist bereits mit 54 Jahren in Lausanne stirbt.

Der Schweizer Kurort ist seine letzte Lebensstation, davor wird ausführlich auf Aufenthalte auch in Paris, Berlin, Petersburg eingegangen. In Berlin, wo die Philharmoniker einige seiner Werke aufführen, meldet sich mehrfach der Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt, auch noch im Nachkriegsberlin tätig, zu Wort und klassifiziert Chopin als elegischen Ekstatiker, Szymanowski als ekstatischen Elegiker.

Besonders intensiv befasst sich die Autorin mit den „Meisterwerken“, neben König Roger das Ballett Harnasie um eine Goralenhochzeit, die Violinkonzerte, das Stabat Mater und das Liedschaffen. Sie stellt deutlich heraus, wie sehr man von dem Polen folkloristische Elemente in seiner Musik erwartete und wie sehr er eigentlich Kosmopolit war. Auch bei dem Pianisten Szymanowski wird eine Schwäche nicht übersehen, die darin besteht, dass seine Spätwerke, die er wegen des Broterwerbs selbst aufführen musste, weit weniger technische Schwierigkeiten aufweisen als die frühen, die anderen Pianisten, so Rubinstein,  anvertraut waren.

Ein wesentliches Kapitel ist der Einordnung von Szymanowskis Musik gewidmet, der Frage, inwieweit expressionistische, folkloristische oder hochromantische Elemente sie kennzeichnen. Auch die Rezeptionsgeschichte kommt nicht zu kurz bis hin zu der Entdeckung von König Roger als Gay-Oper oder der Aufführung der Violinkonzerte mit Simon Rattle.

Das Buch wurde aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew übersetzt und das offensichtlich sehr gut, ein Passus wie „Die Unfähigkeit, Verpflichtungen nicht zu erfüllen, war eine Eigenschaft….“ ist ein einmaliger Ausrutscher.

Den Schluss des lesenswerten Werks bilden eine Chronik von Leben und Werk, ein Bildnachweis, ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister (Harrasowitz Verlag 2017, 292 Seiten; ISBN 978 3 447 10888 1Z/ Foto Karol Szymanowski website). Ingrid Wanja       

Ein glanzvoller Rückblick

 

Das 1918 gegründete und in Genf ansässige Orchestre de la Suisse Romande (OSR) ist untrennbar mit dem Namen des schweizerischen Dirigenten Ernest Ansermet verbunden, der es nicht nur ins Leben rief, sondern diesem Klangkörper auch beinahe ein halbes Jahrhundert lang vorstand und somit der französischsprachigen Schweiz internationale Geltung innerhalb der klassischen Musikszene verschaffte. Damit deckt Ansermet bereits die Hälfte der Zeitspanne ab, welche die anlässlich des 100. Orchesterjubiläums auf fünf hybriden SACDs erschienene Box One Century of Music/Premier siècle 1918-2018 bei Pentatone (PTC 5186 791) umfasst. Der Anspruch dieser Veröffentlichung war es, alle der bis dato zehn Chefdirigenten abzudecken, was gelungen ist. Es handelt sich dabei neben Ernest Ansermet (1918-1967) um Paul Kletzki (1967-1970), Wolfgang Sawallisch (1970-1980), Horst Stein (1980-1985), Armin Jordan (1985-1997), Fabio Luisi (1997-2002), Pinchas Steinberg (2002-2005), Marek Janowski (2005-2012), Neeme Järvi (2012-2015) sowie Jonathan Nott (seit 2017). Dies wird auch die teilweise ein wenig spezielle, insgesamt aber sehr kluge und geschickte Werkauswahl begründen, welche berücksichtigt wurde, waren manche künstlerische Leiter des OSR doch nur kurz im Amt und ist der Vorrat an erhaltenen Tondokumenten begrenzt. Von zwei Ausnahmen abgesehen, handelt es sich um Aufnahmen zwischen den späten 1970er Jahren und der jüngsten Vergangenheit.

Thematisch ist die ansprechend aufbereitete Kollektion in fünf Abschnitte untergliedert, die jeweils eine SACD einnehmen: Zum einen wird die französische Musik berücksichtigt, die sich prominent auf der ersten SACD befindet und zum Kernrepertoire des bedeutendsten Orchesters der Romandie gehört. Debussys Épigraphes antiques in der Orchestrierung von Ansermet und in einer Einspielung unter Sawallisch von 1978 machen den Auftakt. Ravel ist doppelt bedacht, zum einen mit dem Liederzyklus Shéhérazade mit der Sopranistin Marilyn Richardson unter Horst Stein von 1980, zum anderen mit der Suite Nr. 2 zu Daphnis et Chloé unter Armin Jordan von 1993. Als „Lückenfüller“ fungieren zwei selten eingespielte Ouvertüren, diejenige zur wagnerisch angehauchten Oper Le Roi d’Ys von Édouard Lalo unter Pinchas Steinberg von 2002 sowie die Konzertouvertüre Polyeucte von Paul Dukas, wiederum unter Jordan, von 1993. Hierbei handelt es sich mit um die stärksten Interpretationen der Werke, die auf Tonträger vorliegen.

Auf der zweiten SACD ist das deutsche Repertoire versammelt, wobei die Auswahl mit einer Ausnahme recht konventionell geraten ist. Wagners Ouvertüre und Bacchanal zu Tannhäuser (Wiener Fassung) unter Steinberg (2004), Salomes Tanz der sieben Schleier aus demselben Konzert, Schumanns Manfred-Ouvertüre ausgezeichnet unter Sawallisch (1984) sowie Don Juan von Richard Strauss unter Luisi (2000) machen das Gros aus. Ergänzt wird dieses Programm durch die vergleichsweise exquisiten Orchestervariationen über ein Thema von Paganini von Boris Blacher, welche in einer Aufnahme unter Janowski von 2012 beigegeben wurden.

Dieses Werk von 1947 bildet gleichsam die Überleitung zur Musik des 20. Jahrhunderts, die auf der dritten Disc versammelt wurde. Ligetis Melodien steuert neuerlich Sawallisch bei (1978), während Horst Stein eine beeindruckende Einspielung der atmosphärischen Prélude Photoptosis von Bernd Alois Zimmermann verantwortet (1985). Der nur kurzzeitig als Leiter des OSR amtierende Paul Kletzki dirigiert das erste Violinkonzert von Béla Bartók (Solist: Isaac Stern), welches bereits 1961, also noch in Ansermets Amtszeit, aufgezeichnet wurde. Die von Heinz Holliger komponierten Fünf Lieder nach Gedichten von Georg Trakl stehen einmal mehr unter der musikalischen Leitung von Armin Jordan. Es wirken in dieser Einspielung von 1993 zudem mit die Mezzosopranistin Cornelia Kallisch sowie der Frauenchor des Chœur de Chambre Romand. Den Abschluss bildet schließlich die nur fünfminütige Passacaglia von Alban Berg unter Luisi (2002).

Die vierte SACD bedenkt die beim OSR seit jeher sehr gepflegte russische Musik, repräsentiert besonders durch Igor Strawinsky, der mit Les Noces (Vokalisten: Francine Laurent, Nadine Denize, Louis Devos, Michel Brodard sowie der Chœur de la Radio Suisse Romande) unter dem Dirigat Horst Steins (1983) sowie Le Sacre du printemps unter Jonathan Nott vertreten ist. Letztere Aufnahme vom 1. Juni 2017 ist zugleich die neueste der gesamten Box und kann sich in Notts intensiver Lesart erstaunlich gut auch gegenüber als Referenzen gehandelten Vorgängeraufnahmen behaupten. Abgerundet wird das russische Programm durch Rachmaninows Sinfonische Dichtung Die Toteninsel unter der Stabführung von Neeme Järvi (2013), die vielleicht nicht ganz die Sogwirkung der Interpretationen Jewgeni Swetlanows besitzt, aber für sich genommen ebenfalls überzeugt.

Auf der letzten CD findet man ein wahrlich historisches Tondokument mit der nahezu 80-minütigen Einspielung der Dramatischen Legende Les Armaillis von Gustave Doret aus dem Jahre 1943. Selbstredend stand hier der damalige Chefdirigent Ernest Ansermet auf dem Pult. Das Werk ist in drei Akte untergliedert, die zwischen 22 und 28 Minuten dauern, und mit Fernando Corena, Hugues Cuenod, Georges Genin, René Chambaz, Robert Bugnard, Marie-Louise Rochat sowie Juliette Salvisberg besetzt. Die Chorleitung des Chanson Valaissane hatte Georges Haenni inne (und man wird daran erinnert, dass das Orchester ja auch Operndienst im Grand Théâtre versieht und mit eben dessen Aufführungen auch in den schweizerischen Rundfunk kommt G. H.)

Die Klangqualität der ganz überwiegend in der berühmten Genfer Victoria Hall entstandenen Aufnahmen ist tadellos. Selbst die historische Einspielung von 1943 klingt sehr ordentlich. Sie ist neben dem Bartók-Violinkonzert von 1961 auch die einzige Monoaufnahme. Der Rest erklingt in astreinem Stereo, was bereits für die 70er-Jahre-Aufnahmen gilt. Besonders die Aufnahmen aus dem 21. Jahrhundert dürfen als audiophil gelten.

Ein informatives, über 100-seitiges dreisprachiges Booklet (Englisch, Französisch, Deutsch!!!) mit einer Einführung von Jean-François Monnard zur Orchestergeschichte, den Dirigenten und wichtigen Aufnahmen rundet diese empfehlenswerte Kollektion vorzüglich ab (Orchestre de la Suisse Romande: One Century of Music/Premier siècle 1918-2018; Pentatone PTC 5186 791/ 2019). Daniel Hauser.

Russisches

 

Auf Leopold Stokowski, Ferenc Fricsay und Hermann Scherchen verweist Gabriel Feltz, der Dirigent der vorliegenden Aufnahme von Glières Ilja Muromez (Dreyer Gaido CD 21112), in seinem informativen Vorwort, in welchem er nur schwer seine Begeisterung für das eingespielte Werk, die monumentale dritte Sinfonie in h-Moll „Ilja Muromez“ des in Kiew geborenen Komponisten mit deutschen Wurzeln Reinhold Glière (1875-1956), zurückhalten kann. Die genannten großen Dirigenten hatten sich dieses tatsächlich mehr oder weniger in Vergessenheit geratenen Werkes, das 1912 mit Erfolg uraufgeführt wurde, bereits vor vielen Jahrzehnten angenommen. Geht man allein nach der Diskographie, dann ist es dieser gewaltigen Sinfonie (die mit gut 83 Minuten die Spielzeit der CD bis zum Anschlag ausreizt) gar nicht so schlecht ergangen. Abgesehen von den drei schon angeführten Dirigenten haben auch Harold Farberman (Regis/Alto), Sir Edward Downes (Chandos), Leon Botstein (Telarc), Donald Johanos (Naxos) und zuletzt JoAnn Falletta (ebenfalls Naxos) von der Kritik mit Lob bedachte Einspielungen vorgelegt. Gleichwohl konnte sich das Werk in den Konzertsälen der Welt bis heute nicht etablieren. Dies dürfte keinen monokausalen Grund haben, doch bereits die Ausmaße der Sinfonie sind derart enorm, dass sie mit Mahlers längsten Sinfonien gleichzieht. Um dies vorweg zu nehmen: Die Neueinspielung ist deutlich langsamer als fast alle ihre Vorgängerinnen. Lediglich Farberman nahm sich für jeden der vier Sätze noch etwas mehr Zeit und kam insgesamt gar auf 93 Minuten. Die EMI-Einspielung von Stokowski wird auf dem Cover der alten CD-Ausgabe zurecht als Arrangement des Dirigenten angeführt: Die Striche sind teilweise erschreckend, er benötigt gerade einmal etwa 38 (sic) Spielminuten, weswegen die Aufnahme, bei allen ihren Meriten, heutzutage keine ernsthafte Alternative mehr darstellen kann.

Beim Titelhelden Ilja Muromez handelt es sich um eine westlichen Hörern schwerlich besonders geläufige legendäre Sagenfigur der sog. Kiewer Tafelrunde, ursprünglich ein Bauernsohn, der zahlreiche phantastische Abenteuer durchmacht, bevor er mit seinen Mitstreitern in Stein verwandelt wird. Als einzige Sagengestalt wurde er von der russisch-orthodoxen Kirche sogar heiliggesprochen. Im über 23-minütigen Kopfsatz dieser Programmsinfonie wird Ilja von zwei Pilgern aus einer 33 Jahre anhaltenden Lähmung erlöst, anschließend zum dritten Bogatyr (russ. Recke) und trifft auf Swjatogor, der ihm kurz vor seinem Ableben sein Schwert und magische Kräfte vermacht. Stellenweise drängt sich hier musikalisch ein Hauch Bruckner auf. Der sogar noch um zwei Minuten längere zweite Satz sich dem furchtbaren Briganten Solvej, den Ilja letztlich besiegt. Die Behandlung der Holzbläser ist ein besonderes Highlight dieses Satzes, der an Skrjabin und gar Messiaen denken lässt. Der scherzoartige dritte Satz – der mit knapp acht Minuten bei weitem kürzeste der Sinfonie – beschreibt den Palast des Fürsten Wladimir, der wegen Iljas Zauberkraft einstürzt. Gleichwohl hebt er sich durch seine Leichtigkeit von den übrigen Sätzen deutlich ab. Hie und da fühlt man sich an Strawinskys Feuervogel erinnert, ohne dass Glière seine ihm eigene Tonsprache dafür opfern würde. Im Finale schließlich werden wieder die Dimensionen der ersten beiden Sätze abermals erreicht (26:36). Glière erweist sich hier als genialer Tondichter, der keine Vergleiche zu scheuen braucht (Versteinerungsszene). Nach einem fulminanten Höhepunkt klingt das Werk unerwartet lyrisch aus, zuletzt mit einer Reminiszenz an den ruhig-verhaltenen Beginn.

Das kleine Label Dreyer Gaido aus Münster setzt zwar nicht auf die ganz großen Namen, doch darf das Ergebnis in allen Belangen aus überaus geglückt gelten. Mit Gabriel Feltz, GMD in Dortmund, konnte einer der herausragenden deutschen Dirigenten der jüngeren Generation gewonnen werden. Die 1923 gegründeten und bis dato hierzulande diskographisch kaum in Erscheinung getretenen Belgrader Philharmoniker, denen Feltz seit 2017 ebenfalls vorsteht, erweisen sich als ausgezeichneter Klangkörper. Die im Booklet erwähnten zahlreichen Proben haben sich jedenfalls ausgezahlt. Aus dem ansonsten sehr guten Beiheft (auf Deutsch, Englisch und Serbisch) gehen leider nicht der Aufnahmeort und das genaue Aufnahmedatum hervor; die Rede ist nur davon, dass sich die Studioproduktion an ein Konzert in Belgrad vom 2. März 2018 unmittelbar anschloss. Klanglich weiß diese Hybrid-SACD jedenfalls zu überzeugen und setzt bei diesem Werk tontechnisch die neuen Maßstäbe (Glière: Sinfonie Nr. 3 h-Moll op. 42 „Ilja Muromez“; Belgrader Philharmoniker/Gabriel Feltz 2018; Erscheinungsdatum: 2019) Daniel Hauser

 

Der in Ostpreußen geborene Dirigent Kurt Sanderling (1912-2011) hatte zeitlebens eine enge Verbindung zu russischen Komponisten. Von 1936 bis 1960 emigrierte er in die Sowjetunion und amtierte von 1941 bis 1960 als Co-Chefdirigent der Leningrader Philharmoniker neben dem berühmten Jewgeni Mrawinski, dem der Ruf eines Pultdiktators anhaftete. Allein dies bürgt schon für die außerordentliche Qualität seiner Dirigate. Nach seiner Rückkehr in die nunmehrige DDR hatte er (zeitweise parallel) die Leitung des Berliner Sinfonie-Orchesters und der Staatskapelle Dresden inne. Bis ins hohe Alter stand Sanderling auf dem Podium, wovon die kürzlich vom SWR herausgegebenen Rundfunkaufnahmen aus dem Jahre 1995 zeugen (SWR19050CD). Enthalten sind das Vorspiel zum ersten Akt der Oper Chowanschtschina von Modest Mussorgski sowie die dritte Sinfonie von Sergei Rachmaninov. Interessanterweise entschied sich Sanderling für die weniger geläufige Schostakowitsch-Orchestrierung des Chowanschtschina-Vorspiels. Mussorgski selbst konnte seine Oper nicht mehr vollenden, so dass sie zunächst Rimski-Korsakow orchestrierte. Schostakowitsch, der ein enger Freund Sanderlings war, orientierte sich bei seiner 1959 vorgenommenen Neuorchestrierung stärker an Mussorgskis Klavierpartitur, so dass hier den ursprünglichen Intentionen des Komponisten stärker Rechnung getragen wurde. Sanderlings gefühlvolle Interpretation überzeugt von der Qualität dieser Fassung vollkommen.

Zu den Werken Sergei Rachmaninovs hatte Sanderling eine besonders enge Verbindung. Bereits 1956 spielte er die zweite Sinfonie für die Deutsche Grammophon Gesellschaft ein. Seinen eigenen Worten zufolge wollte er die Musik Rachmaninovs im Westen in einer Art missionarischem Eifer populärer machen. Wie die zweite lag Sanderling auch die seltener aufgeführte dritte Sinfonie sehr am Herzen. Der Violinist Efim Belski von den Leningrader Philharmonikern meinte gar, Rachmaninovs Dritte sei Sanderlings brillanteste Leistung auf dem Felde der russischen Musik. Tatsächlich weiß der damals bereits über achtzigjährige Dirigent den Hörer vom ersten Takt an zu fesseln. Die 1935/36 entstandene und 1938 revidierte Sinfonie in a-Moll erinnert in ihrer Tonsprache zunächst noch völlig an die drei Jahrzehnte ältere e-Moll-Sinfonie, deren Stimmung sie in nostalgischer Verklärung im Kopfsatz aufgreift. Mit 17:45 ist dieser bei Sanderling außergewöhnlich lange geraten; die beiden anderen Sätze folgen mit 12:12 bzw. 13:08 eher der Norm. Freilich zeigen bedrohlichere Töne im weiteren Verlauf der Sinfonie unverkennbar an, dass sich die Zeiten verändert haben.

Sanderlings Lesart lässt einen die lauwarme Reaktion des Publikums der Uraufführung vergessen und darf als deutliches Plädoyer für dieses Spätwerk gelten. Die Einspielung findet sich in der illustren Gesellschaft so gelungener Aufnahmen wie derjenigen Jewgeni Swetlanows mit dem Staatlichen Sinfonieorchester der Russischen Föderation (Canyon, 1995) oder jener Lorin Maazels mit den Berliner Philharmonikern (DG, 1981). Die Tonqualität dieser zwischen 29. und 31. März 1995 im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle entstandenen Einspielungen ist tadellos. Die Wärme des Klangbildes unterstreicht vor allem die Opulenz der monumentalen Sinfonie. Eine höchst willkommene Bereicherung der Diskographie des 2011 im biblischen Alter von beinahe 99 Jahren verstorbenen Dirigenten Kurt Sanderling. Einziger Wermutstropfen: Die CD hat lediglich 49 Minuten Spielzeit.

 

Sergei Prokofjews Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution. Hundert Jahre Oktoberrevolution. Fast dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion muss das große Spektakel ausbleiben. Anders sah dies freilich zu Zeiten Stalins aus, der das Sowjetimperium zwischen Ende der 1920er Jahre und 1953 beherrschte – oder vielmehr terrorisierte. Zum 1937 anstehenden 20. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution (wie sie seinerzeit offiziell genannt wurde) komponierte niemand Geringerer als Sergei Prokofjew, zweifelsohne alles andere als ein Stalinist, eine Kantate für Sprecher, zwei vierstimmige gemischte Chöre, Akkordeon-, Blechbläser- und Schlagzeug-Ensemble und Orchester mit insgesamt zehn Sätzen. Ganze zwei Jahre dauerte die Arbeit an dem propagandistischen Werk, das dann freilich zum Jubiläumstag gar nicht zur Aufführung gelangte – Prokofjew war in Ungnade gefallen (offiziell wurde das Spektakel wegen „linksradikaler Abweichung und Vulgarität“ abgesagt). Ein riesiges Konzert auf dem Roten Platz in Moskau mit 500 Musikern und Sängern hätte die Feierlichkeiten am 7. November (julianisch 25. Oktober) 1937 krönen sollen. Für die Textauswahl war der seinerzeit in Paris lebende Philosoph und Musikwissenschaftler Pjotr Swutschinski zuständig. Freilich hätte man durchaus sarkastische Töne heraushören können, die Prokofjew auf dem Höhepunkt des Großen Terrors zum Verhängnis werden hätten können. Tatsächlich sollte es noch beinahe drei Jahrzehnte dauern, ehe die Kantate doch noch erklang, lange nach dem am gleichen Tag erfolgten Tode Stalins und des Komponisten. 1966 brachte sie der berühmte sowjetische Dirigent Kirill Kondraschin zur Uraufführung, allerdings in bearbeiteter Form (eine Einspielung erfolgte im Jahr darauf). Die beiden Sätze mit Stalin-Bezug (Nr. 8 und 10) wurden gestrichen, dafür am Ende der zweite Satz wiederholt. Stehen blieben die Texte von Marx, Engels und Lenin. In seiner Urfassung konnte man das Werk erst 1992, ironischerweise kurz nach dem Ende der UdSSR, in London unter Neeme Järvi hören.

Nun also, zum 100. Jubiläum, besorgt mit dem Ukrainer Kirill Karabits ein weiterer renommierter Dirigent der jüngeren Generation eine Neueinspielung dieses zumindest problematischen Werkes im Zuge des Kunstfestes Weimar (Audite 97.754). Ihm zur Seite stehen der Ernst Senff Chor Berlin, die Staatskapelle Weimar und Mitglieder des Luftwaffenmusikkorps Erfurt. Es wurde also gewissermaßen alles in Gang gesetzt, um diesem wenig bekannten Werk eine neue Chance zu verschaffen und seinem künstlerischen Wert auf den Grund zu gehen. Vom Sturm auf das Winterpalais des Zaren über Lenins Tod bis hin zur Verabschiedung einer neuen Verfassung durch Stalin zieht sich das episch angelegte Opus. Dass es sich um eine Live-Aufnahme handelt, kann man gelegentlichen Publikumsgeräuschen entnehmen. Ansonsten ist der Klang ausgezeichnet eingefangen worden. Inwieweit der deutsche Chor den russischen Texten gerecht wird, müsste indes ein Muttersprachler beurteilen. Hervorgehoben werden sollte, dass die gerade erst im August erfolgte Aufführung bereits jetzt, im November, pünktlich zum 100. Jubiläum, auf CD erscheint.

Vergleicht man die Neuaufnahme mit der 50 Jahre alten unter Kondraschin (Melodija), fallen in den vergleichbaren Sätzen (damals entfielen ja derer zwei) die sehr ähnlichen, teilweise bis auf die Sekunde identischen Spielzeiten auf. Hat sich Karabits an Kondraschin orientiert? In einigen wenigen Abschnitten lässt dieser sich ein klein wenig mehr Zeit, so in der Zwischenmusik des dritten Satzes und beim Sieg der Revolution im siebten Satz. Dies allein ist freilich kein Qualitätsmerkmal. Dass die Moskauer Philharmoniker und der Staatliche Jurlow-Chor zu Breschnews Zeiten noch idiomatischer agieren als die gleichwohl sehr engagierten deutschen Kräfte, liegt auf der Hand. Besonders während des Revolutionssatzes (Nr. 6) geht Karabits gleichwohl aufs Ganze. Die ihm innewohnende Brutalität wird durch schrille Glocken und Sirenen und mörderische Maschinengewehrschüsse unterstrichen. Als Krönung des Ganzen dann noch ein Sprecher mit Megaphon, der die Stimme Lenins verkörpert. Karabits ließ es sich nicht nehmen, dies selbst zu übernehmen. Der dramatische Höhepunkt des Werkes darf hier verortet werden. Nach dem triumphalen Sieg sodann pathetisch verklärend der im achten Satz erfolgende Eid. Die an vorletzter Stelle platzierte, rein instrumentale, etwa sechsminütige sogenannte Sinfonie könnte aus einer derselben des Komponisten stammen. Zuletzt die von Stalin auf den Weg gebrachte Verfassung, die diesen Namen kaum verdiente und in der alten Sowjetaufnahme auch gestrichen wurde. Naturgemäß erreicht das Pathos im Finale seinen Höhepunkt. Schwere Kost, die man sich allenfalls anlässlich allfälliger Jubiläen antun sollte.

 

Tschaikowski: Sinfonie Nr. 6 „Pathétique“. Griechenland und Russland sind sich auf mancherlei Art verbunden. Das Zarenreich sah sich als legitimer Nachfolger von Byzanz, auf das sich die heutigen Griechen berufen. Die Orthodoxie ist beiden gemein. Der nicht unbedingt als orthodox geltende, exzentrische griechische Dirigent Teodor Currentzis erzielte seinen internationalen Durchbruch mit russischen Orchestern, allen voran sein in Sibirien gegründetes, völlig auf ihn abgestimmtes Ensemble MusicAeterna. Ganz behutsam erarbeitet sich Currentzis den wohl berühmtesten aller russischen Sinfoniker: Pjotr Iljitsch Tschaikowski. 2016 legte er dessen Violinkonzert bei Sony vor (Solistin: Patricia Kopatchinskaja), nun folgt die sechste und letzte Sinfonie, die Pathétique. Unumstritten ist Currentzis mitnichten. Unstrittig ist indes, dass er niemanden kalt lässt.

Warum ausgerechnet mit der Pathétique beginnen? Sie mag das berühmteste Werk Tschaikowskis sein, vielfach verklärt und von Mythen umgeben. War sie wirklich die musikalische Ankündigung eines Abschieds vom Leben? Diese Frage wird nie einwandfrei geklärt werden können. An Spitzenaufnahmen besteht kein Mangel. Vom nebulösen Furtwängler (DG, Kairo 1951) über den todnüchternen Klemperer (EMI, 1961) und den idiomatischen Swetlanow (Exton, 1993) bis zum hyperemotionalen Selbstbekenntnis des späten Bernstein (DG, 1986). Currentzis ist dafür bekannt, Werke selektiv auszuwählen. Von Schostakowitsch nahm er bislang nur ausgerechnet die schwierige Vierzehnte auf. Keine Scheu also vor Tschaikowskis komplexer Letzter.

Wie nun klingt Currentzis‘ Sichtweise? Im gewaltigen Kopfsatz (knapp 20 Minuten) lotet er die gefühlsmäßigen Extreme aus, setzt scharfe Kontraste, geht bis an die Grenzen. Düstere Abschnitte werden von hoffnungsvollen Passagen unterbrochen. Auffällig lange dehnt er die Generalpausen und hält eine gefühlte Ewigkeit inne. Umso unerbittlicher, geradezu aggressiv die orchestralen Ausbrüche, hervorragend umgesetzt vom Orchester, das sich hier einmal mehr als wendig erweist. Obgleich der Klang schlank anmutet, entsteht doch nie der Eindruck von Schmächtigkeit. Streicher und Holzbläser spielen ihre ganze Virtuosität aus. Für diesen Satz die Höchstnote.

Der an einen Walzer erinnernde zweite Satz verspricht einen Schimmer von Hoffnung, auch wenn im Hintergrund bedrohlich die Pauken dräuen und einen bereits eine üble Vorahnung beschleicht. Currentzis schlägt hier ein vorwärtsdrängendes Grundtempo an und benötigt keine acht Minuten. Auch in diesem Satz kann das Orchester seine Stärken voll ausspielen.

Eine Messlatte für eine gelungene Einspielung dieses Werkes ist gerade auch der die Grenzen eines klassischen Scherzos sprengende triumphale dritte Satz (8:35). Hier trumpft noch einmal die Zuversicht überbordend auf. Das MusicAeterna kann besonders in der ersten Hälfte durch hervorragende Durchhörbarkeit bis in die Nebenstimmen überzeugen. Die sich stetig steigernde Klimax verspricht das höchste der Gefühle – und enttäuscht doch in gewisser Weise. Am Höhepunkt (bei etwa 6:45) sind die sonst so präsenten Pauken aus unerfindlichem Grund zu sehr in den Gesamtklang eingebettet. Schade. Deutlich besser dafür wieder die abschließende Coda.

Nach diesem nervenzerreißenden Intermezzo folgt die Ernüchterung im Adagio lamentoso. Von Bernstein’schen Extremen (17 Minuten Spielzeit!) ist Currentzis mit etwas über 10 Minuten weit entfernt. Gleichwohl weiß er die Zeit zu nutzen. Larmoyantes Resignieren ist seine Sache nicht von vornherein. Es mutet eher so an, als versuchte der desillusionierte Verzweifelte noch ein paar hoffnungslose Ausbrüche. Großartig wieder das Orchesterspiel. Regelrecht knarzend. Das hat man so auch noch nicht gehört. Der Ausklang kommt ganz abrupt und, recht ungewohnt, ohne Zurücknahme des Tempos.

Fazit: Eine sehr gute, etwas exaltierte Neueinspielung. Currentzis hat tatsächlich etwas in Sachen Tschaikowski zu sagen. Besonders der Kopf- und der Finalsatz sind ausgezeichnet gelungen. Das Scherzo fällt ein klein wenig ab. Die Klangqualität ist exquisit (Sony LC 06868 88985404352; 2017; genaues Aufnahmedatum?)

 

Dmitri Schostakowitsch – Komplette Konzerte (Melodija CD 10 02465)Das traditionsreiche, ehemals sowjetische Label Melodija ist in jüngster Zeit so aktiv wie lange nicht. Nach einigen CD-Erstveröffentlichungen alter Schallplatteneinspielungen folgt nun ein neuer Coup: Eine Gesamtaufnahme sämtlicher Konzerte von Dmitri Schostakowitsch, sechs an der Zahl. Es handelt sich um jeweils zwei Klavier-, Violin- und Cellokonzerte, wobei beim ersten Klavierkonzert auch noch eine Trompete mit dabei ist.

Melodija unternimmt gar nicht den Versuch, auf etablierte große Namen zu setzen. Dies beginnt bereits beim Dirigenten Alexander Sladkovsky, 52, derzeit künstlerischer Leiter des Tatarstan National Symphony Orchestra. Vom Westen weitgehend unbeachtet, legte er eine beachtliche Karriere hin und hat seit 2013 einen Plattenvertrag mit Sony in der Tasche. Das in Kasan, der Hauptstadt der autonomen russischen Republik Tatarstan, ansässige Orchester dürfte sich wohl auch ethnisch aus zahlreichen Angehörigen der Volksgruppe der Tataren zusammensetzen, was dem Ganzen einen noch exotischeren Hauch verleiht.

Kurios an diesem Großprojekt ist auch die Auswahl der Solisten. Man setzt auf die Jugend, keiner ist älter als Mitte dreißig. Freilich handelt es sich gleichwohl um Preisträger internationaler Wettbewerbe, also erwiesenermaßen um Talente. Interessant auch, dass für jedes der sechs Konzerte ein anderer Solist ausgewählt wurde, offenbar ganz bewusst. Im Einzelnen handelt es sich um die beiden Pianisten Lukas Geniusas, 27, und Dmitry Masleyev, 29; die beiden Violinisten Sergey Dogadin, 29, und Pavel Milyukov, 33; sowie die beiden Cellisten Alexander Buzlov, 34, und Alexander Ramm, 29.

Die Konkurrenz auf Tonträger ist groß und bedeutungsschwer. Der Fokus sei in diesem Zusammenhang besonders auf sowjetische Interpreten gelegt. Eugene List spielte 1975 die beiden Klavierkonzerte mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR unter Maxim Schostakowitsch für RCA ein. Von Mstislaw Rostropowitsch liegen beide Cellokonzerte in Aufnahmen von 1966 und 1967 mit dem Staatlichen Sinfonieorchester der UdSSR unter Jewgeni Swetlanow auf Russian Disc vor. David Oistrach schließlich ist in Mitschnitten der BBC mit dem Philharmonia Orchestra unter Gennadi Roschdestwenski (Violinkonzert Nr. 1, 1962) bzw. dem UdSSR-Staatsorchester unter Jewgeni Swetlanow (Violinkonzert Nr. 2, 1968) tontechnisch dokumentiert. Von Leonid Kogan gibt es von 1976 zumindest das 1. Violinkonzert, ebenfalls unter Swetlanow mit seinem Orchester (Melodija). Gleichwohl scheinen sich die jungen russischen Kräfte in den Neueinspielungen davon nicht eingeschüchtert zu fühlen.

Das etwas ungenau als Klavierkonzert Nr. 1 bezeichnete, gut 21-minütige Werk mit der Opusnummer 35 heißt mit vollem Titel Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester in c-Moll (1933) und schwankt zwischen einem gewöhnlichen Klavier- und einem Doppelkonzert für Klavier und Trompete. Auch aufgrund seiner Viersätzigkeit weicht es von der Norm ab (auch wenn der dritte Satz extrem kurz geraten ist). Sladkovsky versucht gar nicht erst, die Trompete (gespielt von Dmitri Trubakov) gleichberechtigt oder gar dominierend in den Vordergrund zu rücken. Ausgezeichnet Lukas Geniusas am Piano, der sich dem herben Tonfall des Konzerts anpasst und auch die schwierige Kadenz am Schluss bravourös meistert. Bereits bei diesem leichtgewichtigen, fast kammermusikalischen Werk zeigt sich ein charakteristischer östlicher Klang. List/M. Schostakowitsch erzielen in der Coda vielleicht eine noch zupackendere Wirkung, was auch am aggressiver anmutenden Trompetensolo liegen mag.

Das 2. Klavierkonzert entstand deutlich später (1957) und ist Schostakowitschs Sohn Maxim gewidmet. Ihm wohnt ein freudiger Tonfall inne, der für diesen Komponisten eher untypisch ist. Hinsichtlich seiner Dreisätzigkeit ist es zumindest formal eher an klassischen Klavierkonzerten angelegt. Pianist Dmitry Masleyev setzt die heitere Grundstimmung durchaus um, wenngleich er sie eher jovial erscheinen lässt. Mit 18 Minuten Spielzeit ist die Einspielung auch fast zwei Minuten länger als der Klassiker von 1975 mit List am Klavier und dem Widmungsträger am Dirigentenpult, was praktisch ausschließlich auf den bei Masleyev/Sladkovsky bedeutend langsameren zweiten Satz zurückzuführen ist, der hier in kontemplativster Spätromantik erklingt. Näher an Rachmaninow war Schostakowitsch wohl nie. Eugene List geht dies deutlich nüchtern-sachlicher an. Im Finale kann das tatarische Orchester auch erstmals seine Qualitäten richtig ausspielen. Die Neueinspielung ist der alten Vergleichsaufnahme insgesamt durchaus ebenbürtig, im langsamen Satz m. E. sogar überlegen.

Keinem Geringeren als dem großen Geiger David Oistrach ist das Violinkonzert Nr. 1 gewidmet. 1947/48 komponiert, erfuhr es erst 1955, nach Stalins Tod, seine Uraufführung. Dieses Opus 77 (teilweise auch Op. 99 genannt) ist vermutlich das bekannteste von Schostakowitschs Konzerten. Mit der berühmten Passacaglia verfügt es über den wohl beeindruckendsten Satz in einem Schostakowitsch-Konzert überhaupt. Im verzweifelten Kopfsatz sehr verinnerlicht, entfacht das Scherzo etwas Dämonisches (so Oistrach) und beinhaltet das DSCH-Motiv. Eine Burlesque beschließt das Werk. Bereits von seiner Anlage her ist dieses Violinkonzert ungleich gewichtiger als die beiden Klavierkonzerte und kommt in dieser Einspielung auf über 38 Minuten Spielzeit. Damit ist diese deutlich getragener als sowohl die Oistrach- als auch die Kogan-Aufnahme (beide gut 34 Minuten). Das Beiheft geht nicht fehl, wenn es hier gar von einer Violinsinfonie spricht, ist der orchestrale Part doch stark aufgewertet worden. Sergey Dogadin erweist sich als vorzüglicher Solist, der durchaus seinen Anteil an der Tempogestaltung hat. Oistrachs und Kogans Interpretationen wirken im Vergleich noch zugespitzter, wohl auch durch die Zeitumstände bedingt – und weil es sich um Live-Aufnahmen handelt. Die Passacaglia wird – wenig verwunderlich – auch in der Neueinspielung zum Höhepunkt. Vom bedrohlichen, von den Pauken dominierten Anfang, der das Invasionsthema der Leningrader Sinfonie und das Schicksalsmotiv von Beethovens Fünfter zitiert, bis hin zum gleichsam totalen Ersterben des Orchesters und nachfolgendem, virtuosen und hochemotionalen Violinsolopart. Die nahtlos anschließende, furiose Burlesque bringt erneut das Orchester ins Spiel und lässt den Hörer im Unklaren darüber, ob das Werk desillusioniert oder doch hoffnungsvoll ausklingt. Das Tatarstan National Symphony Orchestra zeichnet sich wiederum als formidabler Klangkörper aus, auch wenn nicht ganz die an Brutalität grenzende Wucht des UdSSR-Staatsorchesters unter Swetlanow zu Beginn der Passacaglia und ganz am Ende erreicht wird.

Auch das 2. Violinkonzert ist enger Beziehung zu David Oistrach zu betrachten, widmete es ihm Schostakowitsch doch anlässlich seines 60. Geburtstages. Es handelt sich im gleichen Zuge um ein Spätwerk des Komponisten und ist sogar das letzte seiner Konzerte. Die Uraufführung erfolgte 1967 – natürlich mit Oistrach. Von jugendlichem Elan ist in diesem Werk nichts mehr zu spüren, eher vom sich bereits ankündigenden Abschied. Der Solist in der hier besprochenen Aufnahme heißt Pavel Milyukov, der das hohe Niveau dieser Gesamteinspielung fortsetzt. Die Hörner des Tatarstan National Symphony Orchestra dürfen in diesem Konzert glänzen und erinnern abermals an den rauen Ton alter Sowjetaufnahmen. Dass das 2. derartig im Schatten des 1. Violinkonzerts steht, ist sicherlich ungerechtfertigt, wie diese höchst gelungene Neuinterpretation beweist, die keinesfalls davor zurückschreckt, die Schroffheit der Partitur offenzulegen (exzellentes Schlagwerk mit Tomtom-Trommel).

Die auf der dritten und letzten CD versammelten beiden Cellokonzerte sind untrennbar mit Mstislaw Rostropowitsch verbunden. Beide hat Schostakowitsch für diesen legendären Cellisten geschrieben. Es handelt sich ebenfalls um späte Werke: Das viersätzige Cellokonzert Nr. 1 stammt von 1959, das dreisätzige Cellokonzert Nr. 2 von 1966. Das DSCH-Motiv taucht im 1. Cellokonzert ebenfalls auf. Die in den Jahren 1966 und 1967 entstandenen Aufnahmen mit dem Widmungsträger als Solisten und dem Staatlichen Sinfonieorchester der Sowjetunion (einmal mehr) unter Jewgeni Swetlanow werden schwerlich jemals übertroffen werden. Gleichwohl gelingt es sowohl Alexander Buzlov im ersten Konzert als auch Alexander Ramm im zweiten an der Seite des kompetenten Dirigenten Sladkovsky eine Art moderne Referenz einzuspielen. Die Schwierigkeiten, die beide Werke den Solisten abverlangen, erscheinen wie egalisiert angesichts der dargebotenen Leistung.

Summa summarum handelt es sich bei dieser Gesamtaufnahme um eine hervorragende, sehr willkommene Erweiterung der wahrlich nicht schmalen Diskographie. In gewisser Weise knüpfen Alexander Sladkovsky und sein Orchester an die alte sowjetische Tradition an und überraschen mit einem beinahe für ausgestorben gehaltenen rauen Tonfall, wie man ihn lange nicht mehr vernahm. Ausnahmslos exzellent sind alle sechs hier repräsentierten jungen Solisten und bilden gut die heutige russische Nachwuchsgeneration ab. Melodija knüpft an die glorreichen alten Zeiten an. Die Klangqualität ist durch die Bank exquisit, Nebengeräusche sind nicht vorhanden, das spieltechnische Niveau geradezu verblüffend. Weiter so!

 

Prières Russes – russische Gebete. So heißt die Neuveröffentlichung des französischen Labels Mirare. Enthalten sind insgesamt 18 Nummern mit Stücken von berühmten Komponisten wie Rachmaninow, Tschaikowski und Glinka/Balakirew, aber auch eher unbekannte Namen wie Tanejew, Dargomyschski, Gretschaninow, Swiridow, Aliabiew und Gawrilin. Allein dreimal ist die Liturgie des hl. Johannes Chrysostomos, eines der wichtigsten Heiligen der Orthodoxie, vertreten. Unverkennbar der typische östliche Tonfall, den westliche Hörer am ehesten durch diverse Kosakenchöre kennen. Es geht die Legende um, den großen Herbert von Karajan hätten diese spezifischen Eigenarten bei seiner Einspielung der Ouvertüre 1812 von Tschaikowski, in der er zu Beginn den Don-Kosaken-Chor Serge Jaroff a capella einsetzte, beinahe in den Wahnsinn getrieben. Tatsächlich muss man bereit sein, sich auf diesen für Westeuropäer doch sehr gewöhnungsbedürftigen Tonfall einzulassen. Dann aber wird man sich der Großartigkeit dieser Musik erst richtig bewusst. Diese neue Platte beweist, dass weniger manchmal mehr sein kann. Durch den Verzicht auf einen großen Orchesterapparat, der in der Kirchenmusik der Orthodoxie nicht vorgesehen ist, gilt die volle Konzentration selbstredend dem Chor. Der Philharmonische Chor Jekaterinburg unter der Stabführung von Andrey Petrenko meistert seine Aufgabe mit Bravour. Es ist immer wieder erstaunlich, welch eine Klanggewalt allein durch die menschliche Stimme erzielt werden kann. Am beeindruckendsten fand ich gerade die ebenfalls enthaltenen russischen Volkslieder, die man in unseren Breiten tatsächlich noch am ehesten kennt. Ein Déjà-vu bereitete mir das Lied von der weiten Steppe, das in Pier Paolo Pasolinis berühmtem Film Das 1. Evangelium – Matthäus von 1964 am Ende kurz vor der Auferstehung Christi auf sehr adäquate Weise verwendet wird. Eine insgesamt erfreuliche Neuerscheinung, auch wenn die Klangqualität ein klein wenig transparenter hätte sein können (Prières Russes ;  Choeur Philharmonique d’Ekaterinburg ; Andrey Petrenko ; Mirare, 2017). Daniel Hauser

Noch immer irritierend

 

Kontrovers aufgenommen wurde Michael Sturmingers Inszenierung von Puccinis Tosca bei den Osterfestspielen Salzburg 2018 – offenbar diesmal keine Koproduktion mit der Semperoper Dresden und in der Elbmetropole bislang auch noch nicht gezeigt. Nun bringt sie Cmajor als DVD/Blu-ray Disc heraus (748404), so dass man den Eindruck von der Premiere überprüfen kann.

Mit einem Vorspiel in der Tiefgarage beginnt das Geschehen, wo der flüchtende Angelotti (Andrea Mastroni mit verquollen klingendem Bassbariton) sich gegen ein Polizeikommando mit Schüssen wehrt und in die Kirche entkommen kann. Diese bestimmt eine riesige Madonnen-Statue im Zentrum (Bühne: Andreas Donhauser), umgeben vom Sagrestano (Matteo Peirone mit brummigem Bass) und sitzenden Kindern mit Zeichenblöcken. Cavaradossi mit Künstlerschal (Kostüme: Renate Martin) gibt ihnen kleine Korrekturen, bevor er seine Arie „Recondita armonia“ anstimmt. Aleksandrs Antonenko lässt einen ältlichen Tenor von gequältem Klang hören, der kein Salzburg-Niveau aufweist. Die langen Phrasen und Aufschwünge der Partie bereiten ihm hörbar Mühe. Die Tosca von Anja Harteros dagegen erfüllt alle Ansprüche, die man eine Interpretation bei diesen renommierten Festspielen stellt. Sie ist eine moderne, selbstbewusste Frau in einer weiten Hose, mit langem Mantel und Sonnenbrille ganz ohne divenhafte Allüre. Der Sopran ist dunkel und sinnlich getönt, bewältigt die Ausbrüche der Rolle ohne grellen Beiklang.

Ludovic Tézier ist ein ungewöhnlich lyrischer Scarpia, auch als Figur im korrekten Anzug aus dem herkömmlichen Rollenschema fallend und in der Erscheinung einem prominenten Politiker unserer Tage fatal ähnelnd. Autoritär ist sein erster Auftritt mit „Un tal baccano in chiesa“ auf der Kanzel, hintergründig und voller perfider Nuancen das „Tre sbirri“  mit dem nachfolgenden „Te Deum“.  Das teuflische Wesen des Polizeichefs äußert sich hier weniger in brutalen stimmlichen Attacken denn in raffinierten, perversen Zwischentönen. Zu Beginn des 2. Aktes im Palazzo Farnese, das mit Gemäldesegmenten in der Manier Michelangelos und einem männlichen Torso prachtvoll ausgestattet ist, sieht man ihn im Turnhemd am Hometrainer. Strenge Assistentinnen sind ihm beim Ankleiden behilflich oder reichen ihm ein Glas Wasser. Fast gutmütig wirkt Scarpia in der Konfrontation mit Cavaradossi, bis er seine wahren Absichten mit umso infamerer Deutlichkeit zu erkennen gibt. Eine Wendeltruppe führt nach unten in die unterirdische Folterkammer, mit der Scarpia per Telefon verbunden ist. Tosca im leuchtend roten Konzertkleid hält ihm zunächst auf Augenhöhe stand, bis die Angst um das Leben des Geliebten sie überwältigt. In ihrer Verzweiflung wirkt Anja Harteros auch darstellerisch absolut glaubwürdig, singt das „Vissi d’arte“ auf dem Tisch liegend mit kantabler Linie und grandioser Steigerung. Dagegen kommen die triumphalen Ausbrüche des Cavaradossi von Antonenko mit vulgärer Tongebung. Seine Arie „E lucevan le stelle“ im 3. Akt, der zunächst in einem Schlafsaal angesiedelt ist, wo Knaben als Erschießungskommando ausgebildet werden und Benjamin Aster mit zittriger Stimme das „Io de’ sospiri“ des Pastore anstimmt, gelingt ihm dagegen zufrieden stellend. Auch der fiebrige Ausdruck im Duett mit Tosca überzeugt. In Hosen und Lederjacke wirkt sie hier wie eine Fidelio-Leonore.

Überraschend hatte sich Scarpia nach Toscas tödlichem Messerstich wieder erhoben, und tatsächlich erscheint er – schwer verletzt – auch auf der Engelsburg, um Tosca hinzurichten. Auf seinen tödlichen Schuss antwortet sie mit einem ebensolchen.

Der Bachchor Salzburg (Alois Glaßner) sowie der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor (Wolfgang Götz) sorgen im 1. Akt für ein turbulentes Spektakel der Allievi und ein machtvolles „Te Deum“. Christian Thielemann beweist mit der Staatskapelle Dresden auch seine Affinität für das italienische Fach, fächert die Komposition mit viel Gespür für die dramatischen Teile und die lyrischen Passagen  auf. Bernd Hoppe

Michael Gielen

 

Wenige Dirigenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden derart als Vertreter der Avantgarde angesehen wie Michael Gielen, geboren am 20. Juli 1927 in Dresden. Kurz nach Kriegsausbruch, 1940, musste seine Familie emigrieren und ging nach Argentinien, war sein Vater Josef Gielen, ein bedeutender österreichischer Burgschauspieler und Theaterregisseur, doch mit einer jüdischen Schauspielerin, Rosa Steuermann, verheiratet. Im Exil wurde Gielens musikalische Ader stark gefördert; er verkehrte dort mit solch bedeutenden Persönlichkeiten wie den Dirigenten Fritz Busch und Erich Kleiber und wurde von der Zweiten Wiener Schule beeinflusst. Die lebenslange Liebe zur Musik von Schönberg, Webern und Berg wird nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein. In Buenos Aires traf Gielen später auch auf Wilhelm Furtwängler, der einen völlig anderen Dirigententypus, ganz dem späten 19. Jahrhundert verhaftet, repräsentierte. Nach seiner Rückkehr nach Europa im Jahre 1950 arbeitete er zunächst an der Wiener Staatsoper unter Krauss, Böhm und Karajan (erstes Dirigat an der Staatsoper 1954), bevor er ab 1960 vier Jahre lang als Chefdirigent der Königlichen Oper in Stockholm amtierte (Zusammenarbeit mit Ingmar Bergman). Zwischen 1969 und 1971 leitete Gielen das Orchestre National de Belgique in Brüssel und zwischen 1973 und 1975 die Niederländische Oper in Amsterdam. Als besonders bedeutend sollte sich die Zusammenarbeit Gielens mit dem Südfunk-Sinfonieorchester ab 1964, mit dem Sinfonieorchester des Saarländischen Rundfunks ab 1966 sowie mit dem Südwestfunk-Orchester ab 1967 erweisen. 1965 dirigierte er die Uraufführung der bis dato als unaufführbar gegoltenen Oper Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann. Gielens erste Schallplattenproduktion datiert bereits in das Jahr 1952. Hauptsächlich für verschiedene Rundfunkanstalten folgten zahllose weitere Einspielungen im Verlaufe der nächsten Jahrzehnte. Unter seiner Führung als Generalmusikdirektor (1977-1987) wurde die Oper Frankfurt zu einem der wichtigsten Opernhäuser in ganz Europa, die keine Berührungsängste zum sog. modernen Regietheater verspürte (Zusammenarbeit mit Operndirektor Klaus Zehelein und Regisseuren wie Ruth Berghaus und Hans Neuenfels). In seiner Frankfurter Zeit dirigierte er zudem die Museumskonzerte. Seinen internationalen Ruf festigte Gielen während seiner Chefdirigententätigkeit beim BBC Symphony Orchestra in London (1978-1981) sowie beim Cincinnati Symphony Orchestra in Ohio (1980-1986). Seine in der Rückschau wohl prägendste Amtszeit als Orchesterleiter absolvierte Gielen beim SWF-Sinfonieorchester in Baden-Baden, dem er ab 1986 als Chefdirigent vorstand und nach seinem Rücktritt 1999 noch bis 2014 als ständiger Gastdirigent verbunden war. 2002 ernannte ihn das seit 1996 als SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg firmierende Rundfunkorchester zu seinem Ehrendirigenten. Eine enge Verbindung pflegte er zudem zum Konzerthausorchester Berlin sowie zur Staatskapelle Berlin. Bei all diesen Klangkörpern versuchte er das Klangverständnis für die Musik des 20. Jahrhunderts zu befördern. Gielens Repertoire war mannigfaltig und umfasste vom Barock bis zur Moderne zahllose Strömungen. Neben der Neuen Wiener Schule waren es gerade die großen Sinfoniker Beethoven, Bruckner und Mahler, denen er sich mit Nachdruck widmete und von der Kritik mit Lob überhäufte Gesamtaufnahmen vorlegte. Überhaupt lag Gielen an der Verbindung des scheinbar Unvereinbaren (etwa die Kombination von Beethovens Neunter mit Schönbergs Überlebendem aus Warschau). Im Alter wurden seine früher flüssigen Tempi ungewohnt breit, seine Lesarten fast „klemperesk“. Diese Widersprüchlichkeit zeigte sich u. a. auch darin, dass Gielen bis zuletzt kurioserweise auf längst als überholt geltende spätromantische Orchesterretuschen bei Schumann setzte. Daneben betätigte er sich bereits seit 1946 als Komponist. Nach seinem gesundheitlich bedingten Rückzug vom Podium im Februar 2014 (letztes Dirigat beim NDR-Sinfonieorchester) wurde es ruhig um Gielen, der am 8. März 2019 im 92. Lebensjahr stehend in seinem Haus am Mondsee im Salzkammergut an den Folgen einer Lungenentzündung starb (Foto Wikipedia/Wikiwand). Daniel Hauser

Ein „philosophischer Tonsetzer“

 

„Ach je, jetzt kehrt er den Komponisten-Kollegen heraus“, könnte man noch beim Lesen des Prologs zu Timo Jouko Herrmanns SalieriBiographie denken, um dann lange vor dem Ankommen im Epilog davon überzeugt zu sein, dass man es mit einem überaus redlichen, grundsoliden und ungemein informationsreichen Buch zu tun hat.  Hand in Hand geht sein Erscheinen mit einer bereits vor einigen Jahren begonnenen Salieri-Renaissance, für die nicht zuletzt Cecilia Bartoli und Diana Damrau, aber auch der nicht erwähnte Riccardo Muti stehen.

Das erste Kapitel befasst sich mit der Jugend und Ausbildung des in Legnago im Veneto geborenen Komponisten, dessen Eltern früh verstarben und der deswegen mit seinem Gönner und Lehrer Florian Leopold Gassmann nach Wien ging, dessen reiches musikalisches Leben anschaulich beschrieben wird. Bereits in diesem ersten Kapitel wird deutlich, wie eng  die Künstler Mittel- und Westeuropas miteinander vernetzt waren, denn nach Gluck und Metatasio, die der noch junge Antonio Salieri kennenlernte, kommen im Verlauf der Biografie noch so ziemlich alle Größen seiner Zeit in den Genuss seiner Bekanntschaft, seien  es seine Schüler Beethoven und Schubert, später Meyerbeer, oder auch Mozart, bei dessen Erwähnung man natürlich sofort an das Gerücht vom Giftmord an dem unliebsamen Rivalen denkt. Näher geht der Autor darauf am Schluss seines Buches ein und enthüllt dabei einen interessanten Aspekt, wenn er auf den Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Gerüchts mit dem Aufkommen des Nationalismus verweist, der der „welchen Tücke“, die angeblich Salieri leitete, die „deutsche Treue“ gegenüberstellte. Herrmann gelingt es überzeugend,  die Absurdität der für einen Giftmord sprechenden Argumente aufzuzeigen, mehrmals weist er auch darauf hin, dass Salieri sich durchaus als deutscher Komponist fühlte, von den Zeitgenossen auch für einen solchen gehalten wurde.

Im Kapitel über die Lehrjahre wird wie auch in den folgenden ausführlich auf seine Kompositionen eingegangen, besonders auf die Opern wie Armida, La secchia rapita, La locandiera, für die Wiedereröffnung der Scala nach einem Brand L’Europa riconosciuta. Joseph II., der den Komponisten sehr schätzte, bestellt bei ihm ein deutsches Singspiel, der Rauchfangkehrer, Gluck empfiehlt  ihn nicht nur für die Scala, sondern auch für Paris, dem er Les Danaides, später Tarrare beschert. Man möchte aus diesen so unterschiedlichen Aktivitäten, und das Buch legt das nahe,  den Schluss ziehen, dass Salieri ein europäischer Komponist war.

Interessant ist auch, dass einige Opern Salieris, so Cublai  gran Kan dei Tartari (mit der ganz jungen Diana Damrau in Würzburg) erneut in unserer Zeit uraufgeführt wurden.

Der Autor bietet dem Leser neben seinem Text auch eine Fülle von Zitaten, die zu Lebzeiten Salieris entstanden, so Kritiken seiner Werke oder Berichte von Besuchen bei dem offensichtlich äußerst gastfreundlichen Komponisten, der nicht nur zu allen Festen, Hochzeiten wie Begräbnissen der kaiserlichen Familie, dazu noch jeweils drei Krönungen (in Frankfurt, Pressburg und Prag) als Komponist wie Dirigent wirken musste, sondern auch zahlreiche Schüler teils unentgeltlich unterrichtete. Ein Brief Zelters an Goethe ist besonders hervorzuheben ebenso wie ein Bericht von Friedrich Rochlitz.

Dem Jahr 1795 und damit drei wichtigen Opern, die zu dieser Zeit entstanden, ist ein eigenes Kapitel gewidmet, Il Mondo alla Rovescia, Heraklit und Demokrit sowie Palmira, Regina di Persia. In den folgenden Jahren entstehen auch ein Falstaff und eine Komposition für den Landsturm (!), der allerdings nicht gleichzusetzen ist mit der Landbevölkerung, so wie Ludwig XVIII. nicht „wieder eingesetzt“ wurde.

Der Autor bringt dem Leser auch den Menschen Salieri nahe, der nicht nur seine Ehefrau, sondern auch den einzigen Sohn und einige seiner zahlreichen Töchter begraben musste, der eine rührende Liebe zu drei Bäumen hegte und der beitrug zur Gründung der Gesellschaft der Wiener Musikfreunde sowie zur Einführung des Metronoms.

Der Verfasser beschränkt sich nicht auf eine reine Biografie, sondern bietet dem Leser auch  musikalische Analysen der Hauptwerke Salieris, dazu eine Einordnung und Einschätzung durch Zeitgenossen und Nachgeborene und kommt zum Schluss, dass die Bezeichnung „philosophischer Tonsetzer“ eine durchaus angemessene sei. Dem kann man nur zustimmen und sich über die Bereicherung, die das Buch für den Leser bedeutet, freuen (Morio Verlag, 315 Seiten, ISBN 978 3 945424 70 4; Im Anhang Abkürzungen, Währungen, Bildnachweis, Literatur, Index; . oben: Der berühmte Adolphe Nourrit als Salieris Tarare (Wiki)). Ingrid Wanja

 

Wieder mal Tenor

 

Nicht leicht macht es die neueste CD Plácido Domingos, sich mit ihr anzufreunden, denn bereits der Titel gibt dem nicht Spanichsprechenden Rätsel auf: Volver nennt sie sich, was, wie ein Blick ins Wörterbuch beweist, „Komm zurück“ bedeutet. Das ist der Titel des letzten, des zwölften Tracks, und auch die restlichen elf geben Rätsel auf, wenn sie nicht geläufig sind wie Adiós Granada oder Guantanamera oder sich leicht übersetzen lassen wie Historia de un amor oder Gracias a la vida. Das dünnleibige Booklet verschwendet eine der wenigen Seiten an das Foto eines Blätterdachs, statt wenigstens die spanischen Texte zu veröffentlichen. Immerhin äußert sich der Begleiter des Sängers auf der Gitarre, Pablo Sainz-Villegas, in vier Sprachen über die Zusammenarbeit mit Plácido Domingo, preist ihn und die Canzonen aus eher jüngerer Zeit und aus Spanien wie auch aus Mittel- und Südamerika.

Die Stimme des Sängers erweist sich sicherlich nicht als eine junge, aber auch nicht als eine alte und hinfällige, sie ist die eines Tenors, der die Mittellage liebt und besitzt durchaus noch erotisches Potential. Je höher, aber nie hoch, der Tenor klettert, desto härter klingt er, Geschmeidigkeit ist seine Sache nicht mehr, aber ab und zu ist, so bei Caimbra, ein Lächeln in der Stimme, kann sie angenehm lässig klingen, aber auch opernhafte Ausmaße annehmen, was bei dieser Musik kein Manko sein muss. Dass die Geschichte einer Liebe tragisch ausgeht, daran lässt der Klang des Tenors keinen Zweifel aufkommen, die CD, von der man vor dem Hören dachte: „Muss das sein?“ macht dann doch Spaß mit ihrem uneingeschränkten Bekenntnis zu corazón, amor und pasión. Dazu trägt ganz wesentlich der Begleiter auf der Gitarre bei, der mal straff, mal lässig, mal in Gefühl schwelgend, mal hart und unerbittlich ein geradezu genialer Begleiter ist. Die Tracks ohne den Sänger sind deshalb durchaus nicht die weniger interessanten. Man wird beim nächsten Besuch in einem Plattengeschäft nach seinem Namen Ausschau halten (Sony 8895416852). Ingrid Wanja

André Previn

 

Er war ein Mann der Rekorde. Nicht weniger als vier Oscars (bei elf Nominierungen) und zehn Grammy Awards (plus einen weiteren für sein Lebenswerk) heimste André Previn ein, der am 6. April 1929 (oder 1930, wie er selbst sagte) in Berlin als Andreas Ludwig Priwin geboren wurde und weit mehr war als bloß Dirigent. Er starb am 28. Februar 2019. Tatsächlich startete er seine Karriere als Arrangeur und Komponist für Hollywood-Filme. Insgesamt war er an mehr als 50 Filmen beteiligt. Diese großen Erfolge waren keineswegs absehbar gewesen, als seine jüdische Familie 1938 Deutschland verlassen musste und sich nach Zwischenstationen in Paris und New York schließlich in Los Angeles ansiedelte. Sein Vater Jack Previn alias Jakob Priwin (1885-1963) war Anwalt, Richter und Musiklehrer gewesen, seine Mutter Charlotte eine gebürtige Epstein (1891-1986). Die Niederlassung in L.A. beförderte freilich Previns Einstieg bei Metro-Goldwyn-Mayer, dem Studio, für welches er bereits ab 1946 anderthalb Jahrzehnte arbeitete. In rascher Abfolge heimste er Academy Awards für die Filmmusik zu Gigi (1958), Porgy & Bess (1959), Irma la Douce (1963) sowie My Fair Lady (1964) ein und war gar die bis heute einzige Person in der Geschichte der Oscar-Verleihungen, die im selben Jahr dreimal nominiert war (1961).

Seine Dirigentenlaufbahn ergab sich erst mit der Zeit, obschon er bereits zwischen 1946 und 1952 Dirigierunterricht bei Pierre Monteux nahm. 1967 wurde der Musikdirektor des Houston Symphony als Nachfolger von Sir John Barbirolli, um bereits im Folgejahr beim berühmten London Symphony Orchestra auf István Kertész zu folgen. Seine Wahl fiel 1968 überaus knapp aus, gab es doch teils erhebliche Vorbehalte gegen Previn, der sich bis dato vorwiegend einen Namen als Komponist, Arrangeur und Jazzpianist gemacht hatte. Allerdings sollte sich Previns Berufung für das LSO bald als Glücksfall erweisen, erreichte man mit der BBC-Sendereihe André Previn’s Music Night doch in der hektischen Umbruchszeit der späten 60er und 70er Jahre ein solch großes Publikum wie nie zuvor. Insgesamt elf Jahre, bis 1979, blieb Previn dort Chefdirigent und wurde anschließend 1992 Conductor Laureate und 2016 Conductor Emeritus. Bereits 1976 war er zusätzlich Musikdirektor des Pittsburgh Symphony Orchestra geworden (bis 1984). 1985 kehrte er als Chefdirigent des Royal Philharmonic Orchestra nach London zurück (bis 1988), übernahm jedoch auch gleichzeitig die künstlerische Leitung des Los Angeles Philharmonic. Die sich zuspitzende Auseinandersetzung mit Ernest Fleischmann, den Generalmanager des LA Phil, führte bereits 1989 zu Previns Rücktritt. Nur noch ein weiteres Mal übernahm er in der Folge die Leitung eines Orchesters, als er zwischen 2002 und 2006 den Osloer Philharmonikern vorstand. 2009 wurde er zumindest noch zum Ersten Gastdirigenten des NHK Symphony Orchestra in Tokio berufen. Sein letztes Konzert dirigierte er 2015 mit dem London Symphony Orchestra und Anne-Sophie Mutter. Auf dem Programm standen sein eigenes Violinkonzert und die von ihm geliebte zweite Sinfonie von Sergei Rachmaninow, welche er zweimal einspielte.

Anders als viele seiner Dirigentenkollegen, wusste sich André Previn bereits frühzeitig des Mediums Fernsehen zu bedienen. In unterschiedlichen Formaten wie Meet André Previn (1969), als „Mr. Andrew Preview“ in der Morecambe and Wise Christmas Show (1971 und 1972), durch die bereits genannte André Previn’s Music Night (1973, 1975 und 1976), Previn and the Pittsburgh (1977), zahllose Fernsehinterviews und Gastauftritte in Fernsehshows und Dokumentationen über Klassik, Pop und Jazz während der 1970er und 80er Jahre wurde er einem Millionenpublikum bekannt. Berührungsängste zu anderen Genres kannte er mitnichten und passte somit ideal in diese Ära.

André Previn war fünfmal verheiratet, zunächst mit der Jazzsängerin Betty Bennett (zwischen 1952 und 1957), anschließend mit der Songschreiberin Dory Langan (zwischen 1962 und 1969), mit der Schauspielerin Mia Farrow (zwischen 1970 und 1979), mit Heather Sneddon (zwischen 1982 und 1999) sowie mit der Violinistin Anne-Sophie Mutter (zwischen 2002 und 2006). 1996 wurde er von Königin Elisabeth II. zum Knight Commander of the Order of the British Empire (KBE) ernannt, durfte sich aber als Nichtstaatsbürger eines Commonwealth-Landes nicht Sir nennen. 2011 wurde er mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet und 2012 in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. André Previn starb am 28. Februar 2019 knapp 90-jährig nach langer Krankheit in seiner Wohnung in Manhattan. Er hinterlässt fünf Kinder und eine gewaltige Diskographie mit mehreren hundert Aufnahmen von klassischer, zeitgenössischer, Film- sowie Jazzmusik. Sein Œuvre als Komponist ist ebenfalls sehr umfangreich und umfasst u. a. zwei Opern, Theatermusik, Orchesterwerke (darunter sein Anne-Sophie Mutter gewidmetes Violinkonzert), Kammermusik, Soloklavierstücke und Kunstlieder. Gerüchten zufolge sollte er ein Stück für das Konzert zur Jahrhundertfeier des 1919 gegründeten Los Angeles Philharmonic komponieren. Dies wird nun vermutlich unaufgeführt bleiben müssen (Foto DG). Daniel Hauser

Frau singt Frau

 

„Du bist wie eine Blume“ würde man wohl schwerlich auf einer Sammlung kroatischer Kunstlieder erwarten. Neben der Heine-Vertonung finden sich unter den Vorlagen auch Gedichte Goethes, Lenaus, „An die Tanne“ aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn und ein viergliedriger Zyklus von Anna Ritter, die um 1900 erste Gedichtsammlungen veröffentliche und sich als Mitarbeiterin der „Gartenlaube“– und der Stollwerck-Sammelalben einen Namen machte. Die sieben Komponisten, den sich die kroatische Mezzosopranistin und Pädagogin Nataša Antoniazzo zusammen mit ihrer Begleiterin Mia Elezvić in September 2018 in Zagreb widmete, dürften hierzulande weitgehend unbekannt sein (Antes BM319302). Mit Ausnahme vielleicht von Ivan Zajc (1832-1914), dessen Nikola Subic Zrinjski von 1876 heute noch zum Standardrepertoire kroatischer Bühnen gehört, und dem Begründer der kroatischen Oper Vatroslav Lisinski (1819-54), dessen Liebe und Arglist von 1846 als Antwort auf die kulturelle Vorherrschaft Ungarns eine eigenständige kroatische Oper begründete.

Als Vertreter der Moderne werden Gräfin Dora Pejačević und Blagoje Bersa bezeichnet, deren Werke zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals erklangen und dem Klavierpart eine wichtige Stimme geben. Der Schwerpunkt mit der Auswahl deutscher Gedichte soll das kroatische Kunstlied einem internationalen Publikum schmackhaft machen, was den Liedern, die im Stil der romantischer Salonlieder des 19. Jahrhunderts gehalten sind, ohne weiteres gelingt. Antoniazzos schwerer Mezzosopran schattiert den schwermütigen Stimmungshalt dunkel ab – darunter Bersas „La fête des morts“ und als umfangreichstes Beispiel Bersas Allerseelen-Lied „Seh duš dan“ – und verstärkt die oftmals melancholische Grundierung der Lieder.
Eine sehr schöne – klug zusammengestellte, ansprechend gestaltete und illustrierte – Auswahl von Liedern Bohuslav Martinůs kommt aus Prag (Supraphon SU 4235-2), wo die Sopranistin Martina Janková und der Bariton Tomás Král mit dem Pianisten Ivo Kahánek im Juni 2017 im Martinů-Saal der Musikhochschule vier Lied-Zyklen Martinůs nach slowakisch-mährischer Volkspoesie aufnahmen. In der Kürze liegt die Würze. 52 Lieder auf einer CD! Möglich wird dies durch die Liedchen auf einer Seite und die Liedchen auf zwei Seiten, prägnanten und überaus reizvollen Minutenliedern aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die Martinů 1943 bzw. 1944 zu Zyklen mit jeweils sieben Liedern und 8 Minuten Aufführungsdauer zusammenband. Außerdem die dreißig im Entstehungsjahr 1920 uraufgeführten Slowakischen Lieder und die acht 1942 Jan Masaryk gewidmeten in New York entstandenen und im Folgejahr dort von Jarmila Novotná – die in ihrer Autobiografie schrieb, „I wore a folk costume, which the audience loved“ – erstmals aufgeführten Lieder Der neue Spaliček; Spaliček war Martinůs 1933 in Prag uraufgeführtes Ballett nach volkstümlichen Motiven. Der auch in seinen Bühnenwerken niemals geschwätzig ausholende Martinů zeigt sich in den Liedern von einer ausgesprochen liebenswürdigen Seite. Geradezu berührend die Schlichtheit, der gerade Ausdruck und die dennoch equilibristische Vielseitigkeit der Lieder, über die Martinů sagte, dass er sie „schrieb, wenn er nicht komponierte“. Allein die ungemeine Fülle seiner Lieder zeigt, dass sie für ihn schwerlich zweitrangig waren, sondern eher ein Feld experimenteller, kühner Fingerübungen darstellten. Janková und Král bringen die Lieder ausgezeichnet zur Geltung, sie mit einem reschen Sopran, er mit einem sprechenden Bariton. Gerade in den lapidaren, durchaus originellen im amerikanischen Exil entstandenen Liedchen auf einer Seite bzw. Liedchen auf zwei Seiten bestechen sie durch rhythmische Flexibilität und hüpfende Hurtigkeit; leider hat meine CD immer wieder Aussetzer. Die während eines Sommers in der Slowakei 1920 entstandene Bearbeitung einer Sammlung von Volksliedern für Klavier und Gesang, die Slowakischen Lieder, verlangen den Solisten expressiveren Ausdruck und größere stimmliche Reichweite ab, was der Sopranistin mit drallem Temperament oder kräftigem Ausdruck (Nr. 51) und dem Bariton im zartesten Piano, beispielsweise im „Abendstern“ (Nr. 23) und „Verlassenen Liebhaber“ (Nr. 46), am schönsten gelingt; stets unterstützt vom musikantisch prachtvollen Klavierton des Ivo Kahánek. „Im Unterschied beispielsweise zu Janacek, der sein ganzes Leben lang mit Volksliedern in Berührung stand und diese auch selbst sammele und theoretisch auswerte“, so im Beiheft, „kannte Martinů Volkslieder praktisch nur aus gedruckten Sammlungen“.
Frau singt Frauen.

 

Neben fünf Liedern Clara Schumanns heißt das für die polnische Mezzosopranistin Urszula Kryger in ihrem Vierländer-Umblick „Women of Music“ Lieder von Irène Wieniawski, Cécile Chaminade und Agathe Backer-Grøndahl. Die in Belgien geborene jüngste Tochter des polnischen Geigers Henryk Wieniawski, die sowohl unter ihrem Geburtsnamen Wieniawski wie unter ihrem Pseudonym Poldowski veröffentlichte, wurde ausgebildet in Brüssel, Paris und London, wo sie sich niederließ und 1901 einen Nachkommen des Duke of Marlborough heiratete. Von ihren knapp zwei Dutzend Verlaine-Vertonungen finden sich auf der CD (Dux 1524) die impressionistisch durchwobenen „L’heure exquise“ und „Cythère“, dazu die nach dem Tod ihres Erstgeborenen entstandene „Berceuse d’amorique“ mit dem Text von Anatole le Braz. Wie im Fall der künstlerisch umtriebigen, kosmopolitischen Komponistin und Salonière Irène Wieniawski, sind auch die Biografien der Französin Cécile Chaminade (1857-1944) und der Norwegerin Agathe Backer-Grøndahl (1847-1907, die ebenso wie Wieniawski sehr früh ihre musikalische Begabung unter Beweis stellten und als Pianistinnen international gefeiert wurden – die von Grieg geförderte Backer-Grøndahl bezeichnete Shaw als Nachfolgerin Clara Schumanns – geradezu aufregend und zeigen wie vernetzt die Musikwelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts war. Während Chaminades Oeuvre, darunter die wirkungsvollen und brillanten Lieder, eine kleine Renaissance erfahren hat, gilt es die durchaus anspruchsvollen, zwischen 1872 und 1907 entstandenen Lieder der Backer-Grøndahl zu entdecken, darunter die vier Lieder op. 65 von 1904. Alle Lieder sind weit mehr als Gelegenheitsstücke, deren Klavierpart Agata Górska-Kolodziejska mit großer Achtsamkeit spielt, Kryger zeigt als vielseitige und stilistisch versierte Liedsängerin. Die nur knapp 40 Minuten Spielzeit verhindern, dass unser Interesse nachlässt.
Zu Krygers umfangreicher Diskographie gehört auch eine Einspielung der Lieder Chopin. DUX stellt jetzt eine bereits 1988 entstandenen Aufnahme ihrer Landsmännin Henryka Januszewska zur Verfügung (Dux 1497), die wegen der stimmlichen Delikatesse und des sprechenden Ausdrucks Januszewskas sowie Marek Drewnowskis sensibler Klavierbegleitung eine Wiederveröffentlichung verdient hat. Der Reiz der über einen Zeitraum von zwanzig Jahren entstandenen und nach Chopins Tod als Sammlung veröffentlichten Lieder entfaltet sich in dieser aparten Aufnahme auf besondere Weise. Rolf Fath

Vielsaitiges und Mehrstimmiges

 

Endlich. Vor nicht allzu langer Zeit konnte man noch zurecht die heutzutage schon auffällige Missachtung des französischen Komponisten François-Adrien Boieldieu (1775-1834) durch die Schallplattenfirmen beklagen. Von André Grétry (1741-1813) kurz vor seinem Tode zu seinem würdigen Nachfolger auf dem Musiktheater erklärt, prägte der in Rouen geborene Boieldieu das Genre der opéra comique zur Zeit des Empire, der Restauration und der beginnenden Julimonarchie wie kaum ein anderer. Eine Art Wunderkind, wurde er von seinen Zeitgenossen gar respektvoll „der französische Mozart“ genannt. Seine erste abendfüllende Oper schrieb er 1793 mit kaum achtzehn Jahren und drückte dem Musikleben Frankreichs und zeitweilig auch Russlands von da an bis in die frühen 1830er Jahre seinen Stempel auf.

Dass das Interesse an Boieldieu derart nachlassen würde, war noch vor einem halben Jahrhundert völlig undenkbar erschienen. In den 1960er und frühen 1970er Jahren legte die französische Rundfunkanstalt ORTF ein paar Gesamteinspielungen seiner Opern vor, darunter Le Calife de Bagdad unter Louis Fourestier, Jean de Paris unter Jean-Paul Kréder und Les Voitures versées unter Jean Brébion. Besonders La Dame blanche, sein größter Erfolg, war lange Zeit ein Dauerbrenner, wurde in Deutschland in Übersetzung gespielt und wurde häufig aufgenommen, so etwa 1962 in Paris mit Michel Sénéchal unter Pierre Stoll, 1964 mit Nicolai Gedda in Hilversum unter Jean Fournet und zuletzt 1996 wiederum in Paris mit durchaus namhafter Besetzung in einer EMI-Produktion unter Marc Minkowski.

Viel mehr ist in Sachen Boieldieu seither tatsächlich nicht erschienen, so dass diese neue cpo-Produktion (cpo 555 244-2), welche nicht nur sechs Opernouvertüren, sondern auch das Klavierkonzert beinhaltet, mit Freude begrüßt werden darf. Es brauchte wohl wirklich ein deutsches Label, einen englischen Dirigenten sowie ein italo-schweizerisches Orchester, um diesem französischen Compositeur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der heute selbst auf Frankreichs Opernbühnen ein unverständliches Schattendasein führt.

Die ältere EMI-Aufnahme, wieder bei Warner erschienen: Boieldieus „Dame Blanche“ unter Minkowski

Inkludiert wurden auf der knapp 70-minütigen CD die Ouvertüren zu den Opern Le Calife de Bagdad, Emma ou La Prisonnière, La Dame Blanche, Jean de Paris, Les Voitures versées sowie Ma Tante Aurore, was einen Zeitraum von 1800 bis 1825 und damit den Höhepunkt des Wirkens Boieldieus abdeckt. Mit dem Calife de Bagdad widmete sich der Komponist der an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert besonders beliebten sogenannten „Türkenoper“. Während der gesamten napoleonischen Ära konnte ihr keine andere opéra comique den Rang als meistgespielte streitig machen, was Boieldieu mit einem Schlage zu einem der erfolgreichsten Komponisten in Paris machte. Bei der bereits im Vorjahr 1799 fertiggestellten Oper Emma ou La Prisonnière handelte es sich um die erste Kooperation zwischen Boieldieu und dem deutlich älteren Luigi Cherubini, von dem auch die Ouvertüre stammt. (Noch Boieldieus letzte Oper La Marquise de Brinvilliers von 1831 war übrigens eine Gemeinschaftsproduktion mit Cherubini und Auber.) In gewissen Details wie den nach der Durchführung wiederkehrenden Einleitungstakten ist ein deutlicher Unterschied zu Boieldieus eigenen Ouvertüren feststellbar. Dass diese aus Cherubinis Feder stammende Introduktion gleichwohl hier aufgenommen wurde, ermöglicht den nicht uninteressanten Direktvergleich. Mit der besonders spritzigen und an Mozart erinnernden Ouvertüre zu Les Voitures versées ist auch Boieldieus Sankt Petersburger Zeit (1803-1810) am Hofe des Zaren Alexander I. berücksichtigt worden. Die ursprüngliche Komposition von 1808 wurde 1820 für Paris freilich noch einmal überarbeitet und hielt sich bis 1868 ununterbrochen im Repertoire. Der ungewöhnliche und zunächst unverständliche Titel Die umgeworfenen Kutschen referiert auf die zum Schmunzeln anregende Handlung, in der ein gelangweilter Schlossherr in Anjou durch den bewusst beibehaltenen schlechten Zustand der angrenzenden Straße dafür sorgt, dass Reisende dort regelmäßig unfreiwillig liegenbleiben und ihm gezwungenermaßen Gesellschaft leisten. Jean de Paris von 1812 mit seiner ins Spätmittelalter gelegten Handlung markiert Boieldieus Wiederkehr in die französische Hauptstadt und erwies sich ebenfalls als sensationeller Erfolg. Dies gilt schließlich noch mehr für die landläufig noch heute bekannte Oper La Dame blanche mit ihrer, dem damaligen Publikumsgeschmack entgegenkommenden Spukgeschichte auf einem schottischen Schloss. Mit diesem Werk konnte Boieldieu auf dem Höhepunkt der Restauration im Jahre 1825 den größten Triumph seines Lebens feiern; es wurde geradezu zum Musterbeispiel für eine opéra comique. Kein anderes Werk dieser Gattung konnte auch international solche Begeisterungsstürme hervorrufen, wovon die überaus positive Aufnahme durch Carl Maria von Weber, Franz Liszt und selbst Richard Wagner zeugt. All diesen Ouvertüren ist das Melodiöse und Kantable gemein, was wiederum den Mozart’schen Einfluss offenbart, ohne dass Boieldieu Gefahr liefe, als bloßer Epigone zu gelten.

Repräsentiert La Dame blanche den gereiften Boieldieu auf der Höhe des Lebens, vermittelt das ebenfalls enthaltene knapp halbstündige Klavierkonzert in F-Dur einen guten Eindruck von den Anfängen dieses Komponisten in seiner Heimatstadt Rouen. Bereits die Uraufführung 1792 vermittelte einen Eindruck vom Können des gerade Siebzehnjährigen. Obwohl nur zweisätzig – und damit von seinem bekannteren Harfenkonzert in drei Sätzen von 1800 verschieden –, erweist sich dieses Konzert als schönes Beispiel für die von den Wirren der Französischen Revolution musikalisch offenbar noch nicht beeinflussten Musik der frühen 1790er Jahre. Der gewichtige, nicht weniger als 17 Minuten lange erste Satz nimmt fast zwei Drittel des Konzertes ein. Mittels einer flotten Coda am Ende des neunminütigen zweiten Satzes wird gleichsam der fehlende Rondo-Satz ausgeglichen.

Lange Jahre die einzige Aufnahme: Boieldieus „Dame blanche“ von Vega, später bei Accord/Universal

Für Vergleichsaufnahmen muss man weit zurückgehen. So liegen Le Calife de Bagdad, Jean de Paris und Les Voitures versées wie auch das Klavierkonzert lediglich in mittlerweile doch betagten Einspielungen vor, die ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel haben. So verwundert es mitnichten, dass diesen die Frische fehlt, welche das bestens disponierte Orchestra della Svizzera italiana unter Howard Griffiths herüberbringt, der für cpo bereits u. a. einen kompletten Zyklus der Sinfonien von Ferdinand Ries, die sämtlichen Ouvertüren von Weber sowie die Sinfonien von Louis Spohr vorlegte. Das dort gezeigte hohe künstlerische Niveau wird ohne Einschränkungen auch bei den hier vorliegenden Boieldieu-Aufnahmen erreicht. Bei den Ouvertüren zu Emma ou Prisonnière und Ma

Tante Aurore dürfte es sich sogar um Weltersteinspielungen handeln, auch wenn dies nicht gesondert gekennzeichnet wurde. Erstaunlicherweise haben die Musiker aus der italienischsprachigen Schweiz unter Griffiths aber auch die diskographisch vergleichsweise gut dokumentierte Ouvertüre zu La Dame blanche derart mustergültig zustande gebracht, dass diese vollblutige und paukenstarke Interpretation alle mir bekannten Vergleichsaufnahmen überflügelt. Tatsächlich nimmt sich Griffiths Zeit, hat bei eigentlich jedem der vergleichbaren Werke langsamere Spielzeiten als bis dato üblich. Mit neun Minuten benötigt er bei La Dame blanche etwa fast zwei Minuten mehr als anderswo, doch weiß er die gewonnene Zeit zu nutzen und überzeugend auszugestalten.

Die in Wien als Professorin wirkende und diskographisch bereits breit aufgestellte serbische Pianistin Nataša Veljković zeigt sich als profund agierende Solistin im stiefmütterlich behandelten Klavierkonzert Boieldieus. Das Orchester aus Lugano, obwohl auf modernem Instrumentarium spielend, hat sich doch merklich einer historisch informierten Spielweise angenähert, was sich als weiterer großer Pluspunkt dieser Produktion erweist, die mit einem lehrreichen deutsch-englischen Beiheft ausgestattet wurde (Einleitung: Markus Schneider). Verbunden mit dem formidablen Klangerlebnis kann man hier nur von referenzträchtigen Einspielungen sprechen, die wohl auf lange Zeit die neue Messlatte gesetzt haben. Unbedingt empfehlenswert (Boieldieu: Klavierkonzert; Opernouvertüren/ Nataša Veljković, Klavier/ Orchestra della Svizzera italiana/Howard Griffiths/ cpo 555 244-2/Aufnahmedatum: 2015/Erscheinungsdatum: 2018).

 

Sogar eine deutschsprachige Aufnahme gibt es von der „Weißen Dame“ Boieildieus, vom Jugendtreffen in Schloss Rheuinsberg 2010 (Genuin GEN 10534)

Da passt eine Erinnerung an die bislang einzige „offiziell“ herausgegebene deutschsprachige Aufnahme der Weißen Dame vom Jugendtreffen in Schloss Rheinsberg 2008 bei der Firma Genuin (2 CD GEN 10534)  sehr gut, die Daniel Hauser noch einmal vorstellt:  Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat es mit dem einstmaligen Vorzeigestück der französischen opéra comique des 19. Jahrhunderts, La Dame blanche von François-Adrien Boieldieu, nicht allzu gut gemeint. Aufführungen dieses Werkes muss man heutzutage gleichsam mit der Lupe suchen, von Einspielungen gar nicht zu reden. Die meisten derselben datieren in die 1940er bis 60er Jahre. Bereits die EMI-Aufnahme unter Marc Minkowski von 1996 war ein später Nachzügler. So betrachtet, ist es wirklich begrüßenswert, dass das Label Genuin 2010 eine deutschsprachige Einspielung der Kammeroper Schloss Rheinsberg vorlegte (GEN 10534). Tatsächlich stellt diese die einzige greifbare Gesamtaufnahme der Weißen Dame auf Deutsch dar (sieht man von einer Verfilmung von 1960 ab, der eine gekürzte deutschsprachige Fassung unter dem Dirigat von Siegfried Köhler zugrunde liegt). Dies erschwert die direkte Vergleichbarkeit mit Aufnahmen in Originalsprache, zumal es sich bei der vorliegenden Produktion noch dazu um eine mit Amateuren handelt. Dies muss kein grundsätzlicher Makel sein, handelt es sich doch um ein durchaus renommiertes Festival für Nachwuchsstimmen. Da man sich zu einer Veröffentlichung entschieden hat, muss man sich allerdings auch der Konkurrenz stellen. Die vorliegende Aufnahme ist eine Koproduktion mit dem Deutschlandradio und wurde zwischen dem 23. und dem 26. Juli 2008 im Schlosstheater Rheinsberg mitgeschnitten. Man hat also eine Live-Montage mit allen Vor- und Nachteilen vor sich: Studiosterilität kann ausgeschlossen werden, doch wird man mit Bühnengeräuschen leben müssen. Insgesamt ist das Klangbild aber ohne Fehl und Tadel.

Deutlich problematischer und wirklicher Schwachpunkt dieser Einspielung ist die hier gewählte Lösung hinsichtlich der gesprochenen Texte, die weggelassen wurden (vielleicht auch wegen der vielen nicht-deutschsprachigen Mitwirkenden, was für eine in Deutsch gesungene Oper doch sicher problematisch ist/ G. H.). Dies wäre noch verkraftbar, hätte man sich nicht einer fragwürdigen Alternative mittels eines Schauspielers in der Rolle des Librettisten Eugène Scribe bedient, der durch den Handlungsablauf führt. Matthias Hinz, der auch den Erzähler, die Statue und den Friedensrichter gleich mit übernimmt, neigt nämlich zu einem auf die Dauer nervtötenden Overacting, welches sich schnell abnutzt und weitere Steigerungen gar nicht erst ermöglicht. Ob es sich hier um einen sonderbaren Regieeinfall (Inszenierung vom ehemaligen Counter Axel Köhler, der auch für die deutsche Übersetzung verantwortlich zeichnet) handelt, kann nicht abschließend geklärt werden. Dass sogar die hübsche Ouvertüre – Boieldieus vermutlich beste – dafür unterbrochen wird, ist eigentlich indiskutabel. Zumindest für die reine Tonaufnahme hätte man besser ganz darauf verzichtet und es allein bei den Gesangsnummern belassen.

Die Besetzung mit jungen Stimmen ist soweit sehr ordentlich, wenn auch in keinem Falle maßstabsetzend, was man bei einer solchen Produktion ehrlicherweise aber auch nicht voraussetzen darf.  Amar Muchhala als George Brown steigert sich nach Startschwierigkeiten im Verlaufe der Oper doch glücklicherweise noch. Direktvergleiche in der Cavatine Komm, o holde Dame mit so berühmten Vorgängern wie Nicolai Gedda, Michel Sénéchal oder gar David Devriès sollte man indes gar nicht erst bemühen, was nicht nur an der deutschen Übersetzung liegt, wie man bei Fritz Wunderlich oder Josef Traxel nachhören kann. Alles in allem bewältigt Muchhala die Partie aber zufriedenstellend.

Die übrige Besetzung ist durchaus solide, wobei Mara Mastalir in der Rolle der Jenny vielleicht am meisten überzeugen kann. Paola Leggeri als Anna versucht ihrer eigentlich lyrischen Stimme gelegentlich etwas forciert Dramatik aufzuerlegen. Rollendeckend Anne Catherina Wagner als Margarethe, Christopher O’Connor als Dikson und Dionisos Tsantinis als Gaveston.

Der Chor und das RIAS Jugendorchester unter Gernot Schulz liefern zwar keine neue Referenz ab, beweisen aber doch das überwiegend hohe künstlerische Niveau der Nachwuchskräfte. Im direkten Vergleich wäre indes der alten Live-Aufnahme unter Jean Fournet von 1964 (Melodram; bereits in Stereo) der Vorzug zu geben, die summa summarum bis heute die überzeugendste Gesamtaufnahme dieser mittlerweile etwas verkannten Oper bleibt. Freunde deutschsprachiger Aufnahmen französischer Opern kommen trotz der benannten Einschränkungen nicht an dieser Produktion vorbei. Daniel Hauser

 

Auf den ersten Blick wundert man sich womöglich, dass diese – so viel vorweg – wichtigen Einspielungen gerade jetzt erscheinen, ist doch gar kein Jubiläumsjahr für Albert Lortzing (1801-1851), berühmt geworden als Hauptrepräsentant der deutschen Spieloper, in Sicht. Einmal mehr steht Naxos (8.573824) hinter dem Vorhaben, einmal mehr wurde ein eher untypischer Klangkörper, das Opernorchester von Malmö in Schweden, dafür ausgewählt. Mit Jun Märkl hat man indes einen mittlerweile altbekannten Dirigenten für das Projekt gewinnen können, der für Naxos u. a. bereits einige seltene Wagner-Ouvertüren einspielte.

Geht man vorbehaltlos an das vorliegende Projekt heran, so kann man es nur würdigen, wurden doch nicht weniger als neun Ouvertüren zu Lortzings Opern vorgelegt, davon einige selten oder gar bis dato überhaupt nicht eingespielt. Tatsächlich schrieb der Komponist sogar noch weitere Bühnenwerke, so dass man sich gewünscht hätte, Naxos hätte lieber ein paar derselben berücksichtigt (darunter Ali Pascha von Janina, Casanova oder Rolands Knappen), anstatt die vergleichsweise gut dokumentierten Opern Der Wildschütz und Zar und Zimmermann mit aufzunehmen. Geschenkt. Jedenfalls gäbe es noch Potential für eine zweite CD.

Die deutschsprachige Spieloper leidet heute unter einer ähnlichen Problematik wie die französische opéra comique, ihr eigentliches Vorbild, da sie mit ihrem kleinbürgerlich-biedermeierlichen Ambiente und den gesprochenen Dialogen international einen schweren Stand hat und sich zudem für das zeitgenössische Regietheater nur sehr bedingt anbietet. Rein diskographisch sieht die Situation bei genauerem Hinsehen gar nicht einmal so trostlos auch, wenngleich nahezu alle vorliegenden Gesamtaufnahmen in etwa ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel haben.

Losgelöst von den jeweiligen Bühnenwerken, gleichsam als reine Instrumentalmusik und dergestalt vom Komponisten gar nicht vorgesehen, üben diese Ouvertüren gleichwohl einen ganz eigenen Reiz aus, wie man dies unlängst bei der Naxos-Produktion mit Opernouvertüren von Daniel-François-Esprit Auber, einem französischen Zeitgenossen Lortzings und dem neben François-Adrien Boieldieu wohl bedeutendsten Vertreter der opéra comique in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nachvollziehen konnte (auch wenn dort ausgerechnet der Esprit fehlte – nomen est omen).

Zumindest vom Wildschütz und Waffenschmied, von Zar und Zimmermann, Hans Sachs und Undine, ja selbst von Regina und der Opernprobe gibt es Gesamteinspielungen in Stereo. Märkls Neueinspielungen können sich durchaus gut behaupten, selbst wenn Lortzing-erfahrene Dirigenten wie Robert Heger, Heinz Wallberg und Fritz Lehan womöglich noch einen Hauch idiomatischere Ergebnisse erzielt haben mögen. Gar keine Konkurrenz gibt es beim hier erst kürzlich besprochenen Weihnachtsabend, wo nun mit der beinahe kammermusikalisch anmutenden Ouvertüre (ohne Posaunen, Hörner und Schlagwerk) endlich ein erster musikalischer Auszug vorliegt. Allein dies ist die CD schon wert. Und auch die Ouvertüre zu Andreas Hofer wurde zumindest im Stereozeitalter augenscheinlich noch nicht vorgelegt.

Was fällt interpretatorisch auf? Vergleich man die Spielzeiten mit den älteren Aufnahmen, dann lässt es Märkl (durchaus nicht zum Nachteil) gemessener und dadurch auch gewichtiger angehen. So dirigiert etwa Fritz Lehan die Waffenschmied-Ouvertüre anderthalb Minuten flotter, ist Otmar Suitner bei der (sehr kurzen) Ouvertüre zur Opernprobe eine halbe Minute schneller, Heinz Wallberg in jener zum Wildschütz gar fast zwei Minuten und Max Loy bei derjenigen zu Hans Sachs eine Minute. Wie gesagt, ist das per se kein Qualitätsmerkmal, doch ist es erfreulich, dass weithin verkannten Werke nun in einer deutlich anderen Lesart zu hören sind. Unter den inkludierten Werken sticht Regina, die zu Lortzings Lebzeiten nie aufgeführte „Freiheitsoper“, einigermaßen hervor, handelt es sich doch um sein ungewöhnlichstes Bühnenwerk mit deutlicher politischer Aussage in der Gemengelage der Revolution von 1848 – und hübschem Cellosolo in der Ouvertüre. Dies zeigt auch, dass der häufig unterschätzte Komponist durchaus zu dramatischen Werken imstande war, was bereits insbesondere in der wuchtigen und bedeutungsschweren Undine-Ouvertüre anklang.

Auch aufgrund der tadellosen Darbietung durch das Malmöer Opernorchester (wunderbar strahlende Blechbläser und sehr knallige Pauken) und der überzeugenden Klangqualität dieser im Juni 2017 im Opernhaus von Malmö entstandenen Einspielungen darf diese diskographische Erweiterung des Lortzing‘schen Œuvre als geglückt bezeichnet werden (Lortzing: Opernouvertüren/ Malmö Opera Orchestra/Jun Märkl/ Naxos  8.573824/ Aufnahme: 2017/ Erscheinungsdatum: 2019) Daniel Hauser

 

In Erinnerungen schwelgen kann wer die mittlere der drei CDs (Opera Ouvertures, Choruses and Duets) mit Chören aus der Berliner Staatsoper vor allem der Siebziger  des vergangenen Jahrhunderts stammenden Aufnahmen hört. Damals konnte man sich für 15 der 25 im Zwangsumtausch erworbenen Ostmark an der Kasse unter den Linden bei Tante Ernestine eine Karte auf dem besten Platz des Hauses kaufen, für die restlichen zehn Ostmark im Kronprinzessinnenpalais ein Menu mit der immer gleich bleibenden Wahl zwischen Weißkraut- und Rotkrautsalat als Sättigungsbeilage verzehren oder Noten, und die sogar von in der DDR nie gespielten Werken wie Adriana Lecouvreur, kaufen. Einheitsmenu und billige Klavierauszüge gehören der unwiederbringlichen Vergangenheit an, die Aufnahmen mit dem Chor der Staatsoper unter Ernst Stoy und der Staatskapelle unter Otmar Suitner erfreuen auch 2019 durch ihre Frische, ihren Elan, weniger durch die Bereitschaft, den Hörer erkennen zu lassen, in welcher Sprache gesungen wird, denn was wohl Italienisch oder Französisch sein soll, ist unverständliches Kauderwelsch, während die Tracks mit Wagner- oder Mozart (Zauberflöte), von Flotow und Nicolai gerade auch durch die Textverständlichkeit ein Genuss sind. In  den Lustigen Weibern von Windsor, die in der nächsten Spielzeit aufgeführt werden sollen, was nach Jahren der Vernachlässigung der deutschen Spieloper nur zu begrüßen ist, wird viel nächtlicher Zauber entfaltet, im Brautchor aus Lohengrin wird jedes Abgeleiertsein vermieden, die Spinnerinnen aus dem Fliegenden Holländer drehen nicht nur ihre Rädchen munter, sondern gehen genauso beschwingt mit ihrem Mundwerk zu Werke, so wie die Herren des Jägerchor unbekümmert und dabei doch diszipliniert schmettern. Das deutsche Fach könnte nicht besser aufgehoben sein, auch der Einzug der Gäste aus Tannhäuser ist purer Ohrenschmaus.

Das gilt auch für die CD mit Ouvertüren, die vorwiegend von der Staatskapelle Dresden, ebenfalls unter Otmar Suitner, gespielt werden. Auf beider Konto gehen Die verkaufte Braut, Hänsel und Gretel und zwei Ouvertüren von Franz von Suppé, letztere gern als Konzertstücke gespielt. Da wird einmal zauberhafte Märchenstimmung erzeugt, mal ein Feuerwerk guter Laune entzündet. Giuseppe Patané spielt mit der Staatskapelle ein Vorspiel zum 3. Akt von Traviata von schmerzlicher Eindringlichkeit, Franz Konwitschny eine Holländer-Ouvertüre mit edlem Bläserklang und leuchtendem Schluss, Herbert Kegel und die Dresdner Philharmonie eine rasante Donna-Diana-Ouvertüre. Die Staatskapelle Berlin unter Bernhard Klee ist mit zauberhaftem wenn nicht Wald- ,so doch Parkweben der Lustigen Weiber vertreten. Schließlich gibt es noch die Bamberger Symphoniker unter Manfred Honeck mit einer flotten Fledermaus.

Kritisch wird es mit der dritten der CDs mit von den beiden Stars der DDR, Peter Schreier und Theo Adam, bestrittenen Duetten, die für bei Berlin Classics 1974 aufgenommen wurde. Natürlich gönnt man den beiden hochverdienten Herren den Spaß, im völlig falschen Fach zu singen, aber Peter Schreier hat für den Hans nicht die Zwischenfachqualitäten, für Nadir und Faust nicht die Süße des Timbres, für den Alvaro nicht die Verdi-Glut in der Stimme und gefällt so nur als Pedrillo, bei Lortzing und mit Abstrichen als Tamino. Viel besser schlägt sich da Theo Adam, auch wenn dem Kezal das Schlitzohrige abgeht, für die Baritonpartien die Stimme künstlich aufgehellt wird oder wie für Papageno, den er neben dem Sprecher und dem 2. Priester singt, einfach zu ausladend ist. Belustigend sind diese Ausflüge in ungewohnte  Opernlandschaften allemal, die zu ungewohnten Hörerlebnissen führen und einmal mehr zusätzlich die Meinung bestätigen, dass einzig das Singen in der Originalsprache wünschenswert ist (Brilliant Classics 95414). Ingrid Wanja

 

Santuzzas Schwester

 

1975 vom Opernpapst Rodolfo Celletti gegründet, widmete sich das Festival della Valle d’Itria in Martina Franca vor allem den unbekannteren Barock- und Belcantoopern, die gerade zuvor durch Sänger wie Maria Callas oder Leyla Gencer neue Beachtung gefunden hatten. 2007 standen hingegen zwei Verismo-Werke auf dem Spielplan: Umberto Giordanos Marcella und Pietro Mascagnis Amica. Der Zweiakter des Komponisten aus Livorno erinnert im kompositorischen Aufbau stark an seine Cavalleria Rusticana mit der in die Sinfonia integrierten Gesangseinlage und dem atmosphärestiftenden Interludio.  Uraufgeführt wurde die französische Originalfassung mit Geraldine Farrar in der Titelpartie 1905 im Opernhaus von Monte-Carlo, in Italien setzte sich die italienische Fassung durch, nicht jedoch in Martina Franca, wo man immer Wert auf die Originalfassungen legt. Von der Aufführung gibt es nicht nur die hier besprochene CD von Dynamic, sondern auch eine DVD. Auf der kann man sehen, warum es insbesondere im zweiten Akt so viel Getrampel auf der Bühne gibt. (Und im Gesamteindruck nimmt sich dies nichts mit der anderen Live-Einspielung – eine ausgesungene Katia Ricciarelli – des Werkes bei Kicco. G. H.)

Das Werk spielt im verismotypischen Kreis kleiner Leute, eines Brüderpaars, das von einem Landbesitzer aufgenommen und zusammen mit dessen ebenfalls verwaister Nichte aufgezogen wurde. Der attraktivere der beiden Brüder, Rinaldo, wird vom Ziehvater verstoßen, den eher unscheinbaren, Giorgio, will dieser mit der Nichte Amica verheiraten, weil seine Geliebte, Magelone, in dem schönen Mädchen eine Rivalin um die Herrschaft über den Haushalt  sieht. Amica liebt jedoch heimlich Rinaldo, der pünktlich erscheint, um die Hochzeit zu verhindern und mit Amica in die piemontesischen Berge zu fliehen. Giorgio verfolgt rachsüchtig die beiden, und erst beim Aufeinandertreffen erkennen die beiden Brüder entsetzt, dass sie zu Rivalen geworden sind. Rinaldo will als der Stärkere auf Amica verzichten, weil er erkennt, dass der Bruder ohne sie nicht leben kann. Amica folgt verzweifelt dem Fliehenden und stürzt in einen Abgrund.

Inzwischen vergriffen: die „andere“ Einspielung der „Amica“ von Mascagni aus Budapest bei Kicco

Insbesondere das sinfonische Zwischenspiel mit seinem Vorausahnen der Tragödie zeigt in der Behandlung des Orchesters wagnerverwandte Züge. Die Gesangspartien sind anspruchsvoll, Amica könnte in dieser Hinsicht eine Schwester der Santuzza sein und wird hier von Anna Malavasi gesungen, die einen vollmundigen Mezzosopran mit allerdings recht spitzer Höhe für die Partie einsetzt und die sehr angenehm geschmeidig in den zärtlichen Momenten klingt. Ihre weitere Karriere führte kaum über Maddalenen und Suzukis hinaus, aber hier erscheint die Stimme als sehr vielversprechend. Ausnahmsweise ist einmal der Bariton der Sieger im Kampf um die Liebe der Heldin, und angesichts des virilen, dunkel getönten beinahe schon Bassbaritons von Pierluigi Dilengite kann man das nachvollziehen, umso mehr als der Tenor David Sotgiu nur über eine helle, in der Höhe enge Tenorstimme für den Giorgio verfügt, allerdings im Duett mit Amica eine ansprechende Mittellage vorweisen kann. Einen brüchigen, flachen Bariton setzt Marcello Rosiello für den Camoine ein, kaum auf sich aufmerksam machen kann Francesca De Giorgi mit der Magelone. Der eigentliche Star der Aufführung ist der Bratislava Chamber Choir, nicht immer im Einklang mit den Sängern befindet sich das Orchestra Internazionale d’Italia unter Manlio Benzi. Mit drei wirklich  hervorragenden Solisten könnte mit diesem Werk ein atemberaubender Opernabend gestaltet werden (Dynamic CD 574). Ingrid Wanja