Archiv des Autors: Geerd Heinsen

In stratosphärischer Höhe

 

Seit vielen Jahren arbeitet eine eifrige Truppe von Musikwissenschaftlern und Musikern unter der Gesamtleitung von P. Nikodem Kilnar Osppe (d.h. Mitglied des Pauliner-Ordens) in Jasna Góra in Schlesien an der wissenschaftlichen und diskographischen Erschließung des überreichen Archivs dieses Klosters. Von den bis jetzt fast 60 CDs, die veröffentlicht wurden, haben nicht viele die Aufmerksamkeit des Publikums und der Kritiker außerhalb Polens erregt.

Zu Unrecht, denn Jasna Góra gehört zu jenen mitteleuropäischen Klöstern, die nicht nur dazu beigetragen haben, dass das musikalische Erbe vor allem des 18. und frühen 19. Jahrhunderts erhalten blieb, sondern es hat auch die damalige, vor allem die deutschsprachige Musikwelt mit Hauskomponisten bereichert, deren Werke z.T. auch außerhalb der Klostermauern gespielt und gedruckt wurden. Stams, die böhmischen und bayerischen Klöster oder Einsiedeln, um andere Beispiele zu nennen, waren zwar Sammelbecken fremder Kunstwerke, aber sie trugen auch aus eigener Kraft entscheidend dazu bei, den klassischen Stil zu etablieren, unter anderem, indem sie auch als Bildungsstätten für mehrere Generationen von Komponisten wirkten, die später in den Metropolen Europas Erfolge feierten. Wer weiß noch, dass Franz Xaver Süssmayr ein Stiftsschüler in Kremsmünster gewesen war? Oder dass Etienne-Nicolas Méhul sein Handwerk bei dem deutschen ChorherrenWilhelm Hanser gelernt hatte?

Jasna Góra kann sich solch berühmter Schüler nicht rühmen, aber seine Bibliothek ist eine Fundgrube seltener Kompositionen aus ganz Europa. Naturgemäß hat sich die Reihe der Musica Claromontana insbesondere der Kirchenmusik gewidmet. Die zahlreichen Folgen mit Werken des Pauliners Amando Ivancic, der 1758 verstarb, und des Beethoven-Zeitgenossen Josef Elsner (1769-1854), der selbst von Dominikanern und Jesuiten in Breslau ausgebildet wurde und und später in Warschau Chopins Lehrer war, seien hier empfohlen. Das Kloster verfügt über eine große Anzahl von Instrumentalwerken, darunter 180 Symphonien, welche unermüdliche Kopisten für ihre musizierenden Mitbrüder abschrieben.

In der schon vor etlicher Zeit eingespielten, aber erst jetzt zur Verfügung stehenden Folge 55 der Veröffentlichungsreihe werden vier davon vorgestellt: zwei ebenfalls aus anderen Quellen bekannte Symphonien von Johann Christian Bach und Carl Ditters von Dittersdorf, eine nur in Jasna Góra und Bratislava erhaltene, hinreißende viersätzige „Symphonia ex C“ von Dittersdorf sowie ein Concerto grosso des Pauliners Marcin Józef Zebrowski. Dieses Mitglied der Pauliner-Abtei war schon in den 1740er Jahren aktiv, veröffentlichte in Amsterdam um die Mitte des 18. Jahrhunderts Kompositionen und starb wohl erst um 1790 in Jasna Góra. Sein bizarres Concerto grosso mit seinem virtuosen Hornsolo (ausgezeichnet: Andrew Hale) lässt den beginnenden Übergang vom Barock zur Klassik nachvollziehen.

Die Produktionen aus Jasna Góra setzten schon lange auf Originalinstrumente und auf ein international besetztes, eigenes Orchester, die Cappella Claromontana, die hier unter der energischen Leitung des Geigers Tomasz Wabnic glänzt. Krönung dieser Produktion sind drei Arien von Dittersdorf („Preces humilitatis“, „Povera Beatrice“ aus Dittersdorfs Barone di Rocca antica sowie eine„Aria de tempore“). Sie zeigen, dass man in Jasna Góra Sänger allerersten Ranges zu engagieren und/oder auszubilden vermochte, denen die ehrfurchtgebietenden vokalen Schwierigkeiten zuzutrauen waren. Hervorragend gelingt das hier der in Olsztyn und Würzburg ausgebildeten Sopranistin Katarzyna Dondalska. Dem im Begleitheft versuchten Vergleich mit Mado Robin und Bogna Sokorksa muss man nicht folgen. Dondalskas Timbre wird nämlich nicht jedermanns Sache sein, und man hätte sich eine deutlichere Diktion gewünscht, aber ihre sicher geführte, quecksilbrig bewegliche und etwa in der Kadenz der dritten Arie stratosphärische Höhen erreichende Stimme beeindruckt nicht weniger als die lyrischen Töne, die sie für die zweite Arie findet. Freunde der Musikkultur im 18. Jahrhundert und die Bewunderer von Koloraturstimmen sollten sich diese liebevoll, durch einen hervorragenden Text von Agnieszka Drozdzewska bereicherte CD nicht entgehen lassen (Musica Claromontana Bd. 55: Werken von Zebrowski, J.C. Bach und Dittersdorf, K. Dondalska, Capella claromontana, T. Wabnic, Musicon Warschau).  Michele C. Ferrari

Gut gemeint, aber …

 

Im Laufe seiner fast 60 Jahre währenden Karriere hat sich Giacomo Meyerbeer nicht nur der Oper gewidmet. Von ihm stammt auch ein Korpus von im Allgemeinen als religiös zu bezeichnenden Kompositionen, die zum Teil bis vor kurzem unbekannt waren und die nun auf Initiative des Dirigenten und Musikwissenschaftlers Dario Salvi eingespielt wurden. Darunter befindet sich eine Anzahl von Psalmen, die der 16jährige Meyerbeer vertonte, noch bevor er mit Carl Maria von Weber ab 1810 in Darmstadt bei Abbé Vogler studierte. Es ist anrührend, diese schlichten Gesänge zu hören, für die Meyerbeer die deutsche Übersetzung von Moses Mendelssohn verwendete. Mit der Kantate „Gott und die Natur“ („Lyrische Rhapsodie“ benannt) aus dem Jahre 1811 und dem Singspiel „Jephas Gelübde“, das 1812 in München uraufgeführt wurde, näherte sich Meyerbeer der Opernbühne und zeigte seine Kompetenz im klassischen Stil moderner Prägung, die sich in der virtuos gehaltenen Stimmführung offenbart.

Die auf der CD versammelten späteren Werke wie ein Gloria und Halleluja von 1841, ein „Cantique tiré de l’Imitation du Christ“ aus 1859 (hier mit einem von Salvi wiederentdeckten Präldium von 1863 versehen, einem Jahr vor dem Tod des Komponisten) und ein „Pater noster“ tragen eher den Charakter von Gelegenheitskompositionen. Das soll aber nicht täuschen, genauso wenig wie die Tatsache, dass der Jude Meyerbeer christliche Texte in Musik setzte. Er war ein tief religiöser, doch überaus toleranter Mensch, und die hohe Qualität etwa des Cantique, das auf eine ursprünglich auf Latein verfasste Meditationsanleitung des frühen 15. Jahrhunderts zurückgeht, zeigt, dass das Vertonen solcher Texte vielleicht keine Herzangelegenheit, aber doch eine Aufgabe war, die Meyerbeer mit Ernst anging. Diese CD erlaubt somit, eine nicht unbedeutende, aber bis jetzt wenig beachtete Seite von Meyerbeers Schaffen kennenzulernen.

Dass sich die Begeisterung für das Unternehmen indes in Grenzen liegt, hängt an den Versionen und der musikalischen Wiedergabe. Salvi hat sich dafür entschieden, die Stücke für eine Kammerbesetzung zu bearbeiten (aus Kostengründen?), indem er etwa das Orchester, das für „Gott und die Natur“, „Jephtas Gelübde“ und die Psalmen vorgesehen war, durch Streicher und Klavier ersetzt. Der Hinweis im Booklet, man folge der Praxis der Zeit, in der „Chopin, Rossini, Liszt und viele mehr (…) Klavier-Arrangements, Transkriptionen, Potpourris oder Variationen über Lieder und Themen aus Opern Meyerbeers“ schreiben, führt in die Irre. Es geht hier nicht um eine wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit Meyerbeers Themen, sondern lediglich darum, das volle Orchester zu ersetzen. Das Ergebnis ist schwerfällig und stilistisch anachronistisch. Dass die Psalmen von der Großbesetzung mit Chor und Orchester auf eine Solo-Stimme mit Begleitung verkleinert werden, erlaubt keine Einsicht in die Kompositionsweise des jungen Meyerbeer. Angesichts des interessanten Programmes würden man sich wünschen, Positives über die Solistin berichten zu können. Andrea Chundak nennt einen engagierten Sopran ihr eigen, der allerdings nicht selten fahl und nicht nur in der Höhe gefährdet klingt. Insgesamt enttäuscht also diese gut gemeinte Produktion. Der fromme Meyerbeer wartet nach wie vor auf seine Wiederentdeckung.

Wer kann, möge auf die Gesamtaufnahme von „Gott und die Natur“ zurückgreifen, die 1996 in Bologna entstand und seitdem zu den Juwelen der Bootlegs-Sammler gehört; die anderen müssen hoffen, dass Naxos oder eine andere mutige Firma sich endlich der großbesetzten Werke annimmt (Giacomo Meyerbeer, Sacred Works. Ausschnitte aus Gott und die Natur, Jephtas Gelübde, Psalmen und Gesänge, Andrea Chudak (Sopran), Jakub Sawicki (Orgel und Klavier), Neue Preussische Philharmonie, Dario Salvi, CD Naxos 8.573907). Michele C. Ferrari

Nicola Vaccaj: „Giulietta e Romeo”

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Ob Norma, Liebestrank oder Lucia di Lammermoor: Belcanto-Opern sind beliebt und gehören inzwischen weltweit zum Opernrepertoire, besonders bei Festivals. Aber welches war eigentlich das Urmodell, die erste erfolgreiche romantische Belcanto-Oper?

Sie stammt nicht von Bellini oder Donizetti, sondern von Nicola Vaccaj – es war der Publikumserfolg Giulietta e Romeo, uraufgeführt 1825. Die Oper ließ sich selbst von Bellinis Neuvertonung von 1830 nicht verdrängen, oft spielte man perfiderweise sogar eine Mischung aus beiden Werken. An diese erstaunliche Oper hat das berühmte Opernfestival in Martina Franca 2018 erinnert (s. unten), und die Aufführung ist nun bei Dynamic auf CD zu haben (und als Bluray-DVD). Eine wirklich beeindruckende Vollblut-Belcanto-Oper mit einem Mezzosopran als Romeo.

Wuchtige Chöre: Dass erst 1825 wieder neue Töne jenseits der Formel aus Italien zu hören waren, liegt daran, dass die italienischen Komponisten sich alle in Schockstarre befanden, weil Rossini sie im Würgegriff hielt. Und dann ging Rossini 1824 nach Paris, und als dann allmählich klar wurde: der kommt so schnell auch nicht wieder, kamen die Mäuse aus ihren Löchern und trauten sich wieder, zu pfeifen. Und eine der ersten Opern, diesich moderat vom Rossini-Ton befreiten, das war diese Romeo- und Julia-Vertonung, übrigens nur Wochen vor einer zweiten erstaunlichen Reformoper, Pacinis Ultimo Giorno di Pompej.

Vaccaj nimmt sehr viel von dem vorweg, womit Bellini und Donizetti später ihre Hörer paralysieren große elegische Melodien, Einsatz von Harfe und anderen romantisch anmutenden Instrumenten, wuchtige Chöre, all das findet sich hier schon.

Vaccaj kreiert hier eine eigene Sprache, die genau zwischen Rossinis und Bellinis Meisterwerken auf die Welt kommt, er schreibt eine elegante und doch leidenschaftliche Musik, und für jeden, der den Belcanto liebt, dürfte das eine echte und erfrischende Abwechslung sein.

Viel Leidenschaft und Hingabe: Obwohl die Neuaufnahme in einigen Foren als Weltersteinspielung angekündigt wurde, hat es schon einen CD-Mitschnitt aus Jesi von 1996 gegeben. Da erschien mir das Werk unendlich langweilig, obwohl die Sängerriege gar nicht so schlecht war. Aber die Reprisen waren gekürzt und das Orchester zu tumultös. Und jetzt – das ist wirklich ein kleines Wunder – kann man in diesem Mitschnitt erleben, wie eine gut gemischte Sängergarde aus angehenden Stars und Kräften kleinerer Häuser mit viel Leidenschaft und Hingabe an ihre Grenzen geht und dem Werk echtes Leben einhaucht.

Gerade Leonor Bonilla als Julia gibt alles; Sie ist sicher keine primadonna assoluta, aber eine Sängerin, die mit ihrer Rolle verschmilzt und die Partie glaubwürdig gestaltet. Sehr hörenswert auch der Starauftritt des chilenischen Baritons Christian Senn als Pater Lorenzo. Rafaella Lupinacci als Romea fällt dagegen etwas ab, aber das kann auch subjektiver Eindruck sein; ihre Romeo-Hits haben schon große Diven auf der Platte gesungen, etwa Marilyn Horne. Insgesamt aber spürt man: wenn man es so zelebriert, macht auch eine Oper zweiten Ranges Vergnügen.

Sesto Quatrinis Stabführung hat mich nicht restlos überzeugt. Zwar kann er die großen bellinischen Bögen mit seinem Orchestra Accademia Teatro alla Scala überzeugend zelebrieren, oft bremst er aber die Schlussakte der Nummern aus, die dann unspektakulär in Zeitlupe vergurgeln (Nicola Vaccaj: Giulietta e Romeo; mit Leonor Bonilla, Raffaella Lupinacci, Paoletta Marrocu | Coro del Teatro Municipale di Piacenza | Orchestra Accademia Teatro della Scala | Sesto Quatrini; Dynamic 2 CDS 7832.02 und als DVD Bluray 57832). Matthias Käther

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Der Komponist Nicola Vaccaj/ Wikipedia

Und als Ergänzung zum Artikel meines jungen Kollegen – ein kurzer Blick auf Vaccajs nicht so bekannte Oper, wie er meint (wobei man die ungemein erfolgreiche Medea in Corinto Simone Mayrs nicht unerwähnt lassen sollte, ob nun wirklich eine Belcanto-Oper oder nicht…). Ich erinnere mich an die sehr temperamentvollen und gtar nicht langweiligen Aufführungen 1996 im bezaubernden Barock-Theaterchen von Jesi, ein reizendes Städtchen oberhalb von Martina Franca an der Adria-Küste. Davon gibt es auch den Mitschnitt (klanglich nicht aufregend) bei Bongiovanni (GB2195/96) Paula Almararez und Maria José Trullu in den Hauptrollen unter dem Pionier Tiziano Severini.  Vorher hatten sich Nicola Rescigno und Marilyn Horne der Oper angenommen und konzertant den fulminanten Schluss mit der langen Todeszene erst 1977 in Dallas und davor in New York (mit dem damaligen Ehemann Henry Lewis) nach alter Malibran-Manier statt des originalen Schlusses in die Capuleti e i Montecchi  eingebaut, unterstützt von Linda Zogby (who?) als bezaubernde  Giulietta. Die Horne braust durch diese wunderbare Musik wie ein slalomgeübter Treckerfahrer, absolut beeindruckend, ebenso in  den Capuleti e i Montecchi überwältigend, wenngleich wie meist ein wenig zu robust. Sammler habe diese Aufnahmen natürlich (bei ehemals Ponto, bei youtube et. al.).

Rossini in Wilbad nahm sich ebenfalls Vaccajs an: seine Sposa di Messina gab es dort 2009, und die tüchtige Firma Naxos hat diese im Rahmen ihres Wildbad-Kanons mitgeschnitten (8660295-96, erschienen erst 2012; SWR).

„Gulietta e Romèo“: Marilyn Horne und Lindaa Zogby singen bei youtube das Finale aus Dallas 1977/ youtube

Zudem gibt es doch verschiedene Einspielungen mit Vaccajs Musik, wie ein Blick zu Google oder Amazon zeigt: Kammerarien mit Monica Carlett bei Concerto (naja), die Sammlung Grande Accademia vocale e strumentale bei Bongiovanni, Orgelmusik bei Elegia, Flötenquartette bei Tactus, die „Praktische Schule des italienischen Gesangs für mittlere Stimme – Lehrbuch von Nicola Vaccai mit CD“ von Ricordi. Denn Vaccaj war auch als Musikpädagoge renommiert. Aber sein Verona-Drama ist mit Abstand die schmissigste Musik von ihm, die wir bislang kennen. Und das Finale mit der Horne eine absolute Ober-Wucht… G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Eva Kleinitz

 

Die Staßburger Oper schreibt: In  tiefer Trauer müssen wir mitteilen, dass Eva Kleinitz,  bisherige Intendantin der Opera national du Rhin, am Donnerstag den 30. Mai 2019 nach langer Krankheit verstorben ist. Eva Kleinitz´ kühne und weltoffene Spielplangestaltung, ihre strahlende und großzügige  Menschlichkeit und ihr für alle Mitarbeiter unseres Hauses sehr inspirierender Ehrgeiz haben tiefe Spuren bei allen hinterlassen, die das Glück hatten mit ihr seit ihrer Ernennung im Frühjahr 1916 unter ihrer Leitung zu arbeiten. Auch in ihren früheren Funktionen an der Oper Stuttgart,  am Brüsseler Opernhaus La Monnaie /De Munt und bei den  Bregenzer Festspielen bestach sie durch ihre Herzlichkeit und ihre berufliche Kompetenz. Das aufrichtige Beileid der gesamten Opera national du Rhin  und unser tiefes Mitgefiühl gelten Eva Kleinitz‘  Angehörigen und ihren Freunden.

 

Biographie Eva Kleinitz wurde in Langenhagen geboren. Sie studierte Musikwissenschaft, Psychologie und italienische Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Mit einer Magisterarbeit über die Oper Francesca da Rimini von Riccardo Zandonai schloss sie ihr Studium 1998 erfolgreich ab.

Ab 1991 war sie Regieassistentin und Spielleiterin, unter anderem bei den Bregenzer Festspielen sowie in Theatern und Opernhäusern in Klagenfurt, Avignon, Nîmes, Paris, Straßburg, Spoleto, Köln und Schwetzingen und hatte dort die Gelegenheit mit verschiedenen Regisseur·innen zusammenzuarbeiten, darunter Daniele Abbado, Philippe Arlaud, Götz Friedrich, David Pountney und Jérôme Savary.

Im Rahmen ihres Engagements im künstlerischen Betriebsbüro der Bregenzer Festspiele ab 1998 leitete Eva Kleinitz die Projekte Oper am See und Oper im Festspielhaus. Sie war verantwortlich für Casting, Dramaturgie, Verträge, Werkstätten und die Redaktion des Programms. 2000 übernahm sie die Leitung des künstlerischen Betriebsbüros und war bis 2003 persönliche Referentin des Intendanten Alfred Wopmann. 2003 bis 2006 arbeitete sie als Operndirektorin und stellvertretende Intendantin der Bregenzer Festspiele sowie als Prokuristin unter dem neuen künstlerischen Leiter David Pountney.

In dieser Zeit arbeitete sie mit renommierten Regisseur·innen wie Robert Carsen, Francesca Zambello und Phyllida Lloyd sowie mit namhaften Dirigent·innen, darunter Sylvain Cambreling, Fabio Luisi, Yakov Kreizberg, Vladimir Fedoseyev, Ulf Schirmer und Marcello Viotti.

2006 bis 2010 übernahm sie die Direktion für künstlerische Planung und Produktion an der Brüsseler Oper La Monnaie / De Munt. Ab der Spielzeit 2007/2008 war sie dort ebenfalls künstlerische Referentin des neuen Intendanten Peter de Caluwe. In dieser Eigenschaft arbeitete Eva Kleinitz mit den Regisseur·innen Pierre Audi, Robert Carsen, Deborah Warner und Krzysztof Warlikowski, den Dirigenten René Jacobs, Hartmut Haenchen, Marc Minkowski, Kazushi Ono, Marc Soustrot, Carlo Rizzi, Christophe Rousset und Jérémie Rhorer sowie den Choreograf·innen Sidi Larbi Cherkaoui, Akram Khan, Ann-Teresa de Keersmaeker und Sasha Waltz.

Ab 2011/2012 war Eva Kleinitz Operndirektorin und stellvertretende Intendantin im Leitungsteam der Oper Stuttgart, zusammen mit Jossi Wieler (Generalintendant), Sylvain Cambreling (Generalmusikdirektor) und Sergio Morabito (Chefdramaturg). In der Spielzeit 2015/2016 erhielt die Oper Stuttgart unter anderen Auszeichnungen den Titel Opernhaus des Jahres von der Zeitschrift Opernwelt.

In Stuttgart arbeitete Eva Kleinitz mit Dirigenten wie Giuliano Carella, Teodor Currentzis, Gabriele Ferro, Hartmut Haenchen, Marko Letonja, Daniele Rustioni, Michael Schønwandt, Marc Soustrot und dem damaligen Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling sowie mit den Regisseur·innen Andrea Breth, Calixto Bieito, Andrea Moses, Peter Konwitschny und Kirill Serebrennikov, aber auch mit Jossi Wieler und Sergio Morabito aus dem eigenen Haus.

Im Oktober 2013 wurde Eva Kleinitz beim Herbstkongress in Wexford, Irland als erste Frau und erste Deutsche zur Präsidentin von Opera Europa gewählt; das Amt bekleidete sie bis Mai 2017. Seit 2005 hält sie regelmäßige Gastvorlesungen und Workshops an der Showa University of Music in Shinyurigaoka / Präfektur Kanagawa, Japan. Sie gibt ebenfalls regelmäßig Kurse an der Accademia della Scala di Milano.

Von Januar 2015 bis Mai 2017 war sie Mitglied der Editorial Group der Opernwebsite The Opera Platform, einem gemeinsamen Projekt von Opera Europa und dem Fernsehsender ARTE mit Unterstützung der Europäischen Union.

Darüber hinaus ist sie regelmäßig Jurorin bei internationalen Gesangswettbewerben, unter anderem bei der Francisco Viñas Competition, dem Concorso Lirico Internationale di Portofino, dem AsLiCo Como, der Paris Opera Competition etc.

Am 31. März 2016 wurde Eva Kleinitz einstimmig zur Generalintendantin der Opéra national du Rhin ab der Spielzeit 2017/2018 berufen. Es handelte sich um eine gemeinsame Entscheidung des französischen Kulturministeriums, der Städte Straßburg, Mulhouse und Colmar und der Region Grand Est. Am 1. September 2017 trat sie die Nachfolge von Marc Clémeur an, der seit 2009 als Intendant der Opéra national du Rhin tätig war.

Mit großer Kühnheit würdigte Eva Kleinitz in ihrer Zeit als Intendantin der Opéra national du Rhin immer wieder Werke, die in den Repertoires kaum Beachtung fanden, wie Francesca da Rimini von Zandonai, Der Tembelbrand von Mayuzumi, Barkouf! von Offenbach, La divisione del mondo von Legrenzi und jüngst Beatrix Cenci von Ginastera. Ihr Bestreben, die Opéra national du Rhin für neue Wege zu öffnen, verwirklichte sie unter anderem mit dem interdisziplinären Festival ARSMONDO, das sie in Zusammenarbeit mit ihrem künstlerischen Berater und Dramaturgen Christian Longchamp gestaltete. Nachdem die ersten Ausgaben des Festivals 2018 Japan und 2019 Argentinien gewidmet waren, wird 2020 Indien das Gastland sein.

Eva Kleinitz’ Begeisterung für große Künstler⋅innen kannte keine Grenzen und unter ihrer Leitung seit September 2017 wurde die Opéra national du Rhin zu einer bedeutenden Stätte des künstlerischen Schaffens, was unter anderen die Regisseur⋅innen Mariame Clément, Tatjana Gürbaca, Barrie Kosky, Ludovic Lagarde, Jetske Mijnssen, Amon Miyamoto, Mariano Pensotti, David Pountney, Nicola Raab, Pierre-Emmanuel Rousseau, Nicolas Stemann, Marie-Eve Signeyrole, Frederic Wake-Walker, Jossi

Wieler & Sergio Morabito bezeugen können. Durch die fruchtbare Zusammenarbeit mit Marko Letonja, dem musikalischen Leiter des Orchestre philharmonique de Strasbourg, sowie mit Patrick Davin und dann Jacques Lacombe, den Leitern des Orchestre symphonique de Mulhouse, entsprachen die von ihr programmierten Opernproduktionen stets einem anspruchsvollen musikalischen Niveau. Eva Kleinitz ermöglichte zahlreichen Sänger⋅innen in neuen Rollen zu debütieren und sie unterstützte und betreute die jüngsten unter ihnen, vor allem die Jahrgänge des Opernstudios, mit der allergrößten Herzlichkeit. Ihre Begeisterung und Unterstützung galt ebenfalls der Arbeit von Bruno Bouché an der Leitung des Balletts der Opéra national du Rhin. (Quelle Opéra national du Rhin/ Foto Klara Beck/ ONR)

Das Lächeln fehlt

 

Sol y vida nennt sich Elīna Garančas Ausflug ins Cross-Over-Geschäft bei DG und lässt Spanisches vermuten, was nur zum Teil zutreffend ist. Den umfangreichen Mittelteil bilden Canzoni von Tosti, de Curtis und Co, die gern für neapolitanisches Liedgut gehalten werden, eigentlich Salonmusik sind und vorzugsweise von Tenören, unlängst erst von Jonas Kaufmann, gesungen werden. Nun singen Soprane und Mezzosoprane seit einiger Zeit auch Die Winterreise, warum dann nicht italienische Canzonen. Der lettische Mezzosopran interpretiert sie nicht als naives Sichverschwenden kostbaren Materials wie einst beispielhaft Giuseppe Di Stefano, auch nicht als elegante Salonstücke, sondern wie Opernarien. Bei Cardillos Core ngrato trumpft auch das Orchester mächtig auf`, offenbart sich das Timbre als sehr preziös, wird sehr getragen gesungen, und auch bei de Curtis‘  Torna a Surriento erfreut natürlich die Stimmpracht, die Raffiniertheit des Singens, doch fehlt das Herz, das andere Interpreten in ihren Vortrag legten, erschlägt die allzu große vokale Geste fast das Stück. Non di scordar di me des selben Komponisten wird von einem unangenehm schmalzigen, überproportionierten Orchester begleitet, während die Sängerin der Canzone allzu viel Verinnerlichung angedeihen lässt, aber das Lächeln fehlt, das eigentlich diesen Stücken bei aller Traurigkeit innewohnen sollte. „Zu viel“ möchte man mit Tannhäuser ausrufen, wenn die zugegeben wundervolle Stimme viel Kunstvolles produziert, während doch der Charme von Musica proibita woanders liegt. Weniger dick wird Non t’amo più vom Orchester begleitet, doch der Mezzo bleibt tränenschwer, mit Überschwermut wird das Stück belastet. Auch Marechiare holt aus zu Operneffekten, alles klingt wunderschön, ist aber seines Charakters beraubt.

Die Stücke in spanischer Sprache, sei es aus Europa, sei es aus Südamerika, klingen schon einmal durch das härtere Idiom authentischer. Granada beginnt verinnerlicht, wo andere Sänger bereits aufdrehen, hier gibt es, und das ist gut, kein generelles Sichaufplustern der Stimme, sondern eine differenzierende Interpretation. Das Orquesta Filarmónica  de Gran Canaria unter Karel Mark Chichon ist hier hörbar in seinem Element. Eine schöne Verhaltenheit zeichnet La Llorona aus, viel Flexibilität und Leichtigkeit Vai lavar a cara. Besonders schön wird es, wenn sich die Begleitung fast nur auf die Gitarre beschränkt, so im Gracias a la vida von feiner Melancholie. Insgesamt wird sehr viel mehr vom Charakter der Musik erfasst als bei den italienischen Stücken. Zu Piazzollas Maria passt der kleine Schuss Ordinäres, den die Stimme der Garanċa hier annehmen kann, sehr schön geradlinig, sehr erfüllt hört sich Hermidas Lela an, und den angemessenen Zarzuela-Stil hält die Sängerin für No puede ser bereit. Recht weichgespült klingt Gardels El dia, und Barrosos Brazil beschließt die CD mit so unterschiedlichen Eindrücken auf den Hörer, dass er sie weder in ihrer Gesamtheit bejubeln noch verdammen mag (Deutsche Grammophon 483 6217). Ingrid Wanja  

Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter

 

 „Berlioz pour toujors“! möchte man ausrufen angesichts der Fülle an Aufnahmen, die es inzwischen von dem großen Komponisten unseres Nachbarlandes jenseits des Rheins gibt (wo er nachweislich am wenigsten geschätzt wird, wie man der jüngsten Aufführung seines opus summum an der Pariser Oper bei Arte TV entnehmen konnte). Das Berlioz-Jahr 2019 (Berlioz: * 11. Dezember 1803 in La Côte-Saint-André, Département Isère; † 8. März 1869 in Paris)  animiert die CD-Firmen, ihre Schatztruhen zu öffnen und uns mit ihren mehr oder weniger habenswerten  Dokumenten zu überschütten. Wobei Warner als EMI-Nachfolgerin die Nase vorn hat, geht sie doch besonders sorgfältig mit ihren Erbstücken um und steuert für die im wahrsten Sinne Gesamten Einspielungen auch noch neue bei, die als Erstaufnahmen wie in der Debussy-Box vor kurzem auch den Berlioz-Katalog vervollständigen. Im Ganzen ist die Warner-Box ein Meilenstein, ein unverzichtbarer.

Colin Davis hat seine Berlioz-Leidenschaft noch einmal und spät mit dem London Symphony Orchestra live ausgetobt und auf CD beim hauseigenen Label LSO festgehalten, mehr als diskutabel auch die Oper Les Troyens – da mag man wahrlich kritisch sein, denn seine immer noch unübertroffenen Philips-Großtaten mit Vickers und Veasey in den Troyens sind immer noch Maßstab setzend und von den neuen Live-Mitschnitten und anderen Aufnahmen durchaus nicht übertroffen. Dennoch: Auch er ist einer der ganz großen Berlioz-Kämpfer unserer Tage gewesen.

Natürlich fehlt viel, was man im Berlioz-Jahr wieder sehen möchte und vergriffen scheint (Amazon/ jpc), aber Decca (!)-Aufnahmen hat ihre antiken Aufbnahmen von Davis (ebenfalls Veasey und dann Watts unübertroffen in Béatrice et Benedict) neu herausgegeben, zusammen m9it weiteren Berlioz-Einspielungen des Dirigenten. Fehlen tun die Decca-Boxen von prèsque tout Berlioz unter  Dutoit.  Sony/RCA hatte ihre Schränke geöffnet und die Berlioz-Schätze unter Munch, Bernstein  und Co. wiederaufgelegt (alles in operalounge.de noch mal nachzulesen). Sony selbst hat als CBS-Columbia-Erbin Eleanor Stebers schöne Berlioz-LP im Schrank (und die aufregende Bidu-Sayao-LP/ CD mit mélodies francais ist m. W. auch nicht mehr greifbar) …

 

„Les Troyens“: die Beecham-Aufnahme der BBC bei Somm, hervorragend restauriert unter den Augen von Lady Beecham beim Beecham-Trust/ Somm-Beecham 26–8, 3 CDs

Glücklicherweise sind Les Troyens unter Beecham mit der hinreißenden Marisa Ferrer bei Somm in sensationeller Qualität neu erschienen, auch diese ein Meilenstein. Auf die DG-Köstlichkeiten mit Barenboim (Teile eines abgebrochenen Berlioz-Zyklus) kann man  getrost verzichten, hingegen ist die alte Damnation unter Markhevitch ein Muss. Ebenso die Westminster-Monteux-Aufnahme von Roméo et Juliette mit der wunderbaren Resnick im Alt-Solo. Die Decca hat unter ihren Juwelen Maazels Roméo et Juliette oder natürlich die bis auf den Tenor wirklich superben Troyens unter Dutoit mit der himmlischen Pollet als Didon und anderem, noch ein Doppel-Bloc unter eben Dutoit (die schöne Lieder-Zusammenstellung mit der Pollet und anderen bei DG nicht zu vergessen, die ist aber in Teilen nun bei Warner gelandet).

Und jemand sollte die amerikanischen Troyens mit Steber und Resnik offiziell herausgeben (eigentlich unter Beecham, aber er wurde just am Tage der Radioübertragung krank und sein Assistent Robert Lawrence dirigierte).  Natürlich gehören auch die Troyens Teil 2 unter Scherchen mit der hinreißenden Arda Mandikian auf den Markt, die japanische Scherchen-Tochter hatte die alten Ducretet-Thompson/ Westminster-LPs gut aufgearbeitet für Tahra ausgegraben (die bei einer ungenannten Billigfirma sind nicht zu empfehlen, da herrscht Dumpfes). Und natürlich gibt’s jede Menge Historisches von Coppola bis Dorati oder Gielen (naja) Luisi oder oder oder, was als Addenda vielleicht lohnend wäre.

„Les Troyens à Carthage“ unter Hermann Scherchen bei Ducretet/London – eine legendäre LP-Ausgabe, aber zwischen als CDs erhältlich

In jeden Fall stehen wir heute unendlich viel reicher an Berlioz-Dokumenten da als noch vor einigen Jahren. Auch an DVD-Live-Mitschnitten kürzlicher Aufführungen in London und andernorts. Und a propos Live-Mitschnitte: Davon gibt es wirklich inzwischen massenhafte, namentlich aus London unter Kubelik und Davis, aber auch in Englisch mit Janet Baker aus Edinburgh und London. Und auch die alte Scala-Aufnahme (Walhall) soll ebenso wenig vergessen werden wie die beglückende von der RAI mit einem unübertroffenen Trio Gedda, Horne und Verrett unter Prêtre (Arkadia u. a.). Sowie die Torsi mit der Crespin aus Boston (Sammlerglück).

 

Marie Delna war die Didon in der ersten (!!!) vollständigen Aufführung der „Troyens“ in Paris 1890 (!!!)/ Wiki

Daniel Hauser hat noch einmal auf die Berlioz-Gesamtausgabe bei Warner hingewiesen, die auch die Neuaufnahme der Troyens aus Strasbourg beinhaltet – diese wurde auch andernorts in operalounge.de von mir besprochen, mit unterschiedlicher Begeisterung, trotz der Hochachtung vor Dirigent John Nelson.  

Aber noch ein paar Worte zum opus summum von Berlioz, auf anderen Dokumenten, denn erstaunlicher Weise ist dieses Werk, das so aufwendig zu besetzen und erst in unserer Zeit fast Repertoire-mäßig zu hören ist, gut dokumentiert. In der Vergangenheit wurde es ja eher selten gespielt, in Frankreich fast gar nicht, in Paris erst 1890 erstmals vollständig, seitdem bruchstückhaft und barbarisch gekürzt – einzig Marseille und das Berlioz-Festival kurzjährig in Lyon -wetzen die Scharte aus. Paris eröffnete zumindest die Bastille 1990 mit den „Troyens“ (die Damen Bumbry und Verrett sowie Goerge Gray standen wieder mal für die absurden Besetzungspläne der Pariser Oper, die nun 2019 erneut „Les Troyens“ mit Russen und Amerikanern gibt. Was wieder für die Nichtachtung der Franzosen gegenüber ihren großen Komponisten spricht und mit dem Aussterben der Kenntnisse vom eigenen Repertoire und dem Verschwinden der großen Stimmen/Tenöre im eigenen Land zu tun hat. Aber wenn man eine Mezzosopranistin wie die fulminante Sylvie Brunet im Land besitzt und eine Russin (als Ersatz für die Garanca) für deren Partien verpflichtet, dann macht das doch nachdenklich.

Berlioz´Oper „Les Troyens“  Erato (0190295762209) auf 3 CDs mit einem DVD-Bonus-Hightlights-Mitschnitt; Nelson verwendet leider mal wieder das spätere Finale und lässt die Sinon-Szene im ersten Akt aus….

International hingegen sind die Troyens außerordentlich oft auf CD und Sammler-live festgehalten worden. Sogar in einer barbarisch gekürzten deutschen Version von 1961 mit Josef Traxel unter Hans Müller-Kray (Walhall) vom SWR. Und apropos deutsch:  Sogar Frida Leider sang die Dido vor dem Krieg neben Helge Rosvaenge 1930 an der Staatsoper in Berlin unter Leo Blech. Aber davon gibt es kein Dokument, nur ein Foto.

Die eigentliche und immer noch unangefochtene Studio-Einspielung ist die der Philips von 1969 unter Colin Daviserstmalig (fast) komplett und ein Meilenstein in der Werkgeschichte. Covent Garden hat in der Vergangenheit unendlich viel für Berlioz getan – zu Beginn Rafael Kubelik und dann Colin Davis sorgten unermüdlich für Aufführungen erst in Englisch und dann im Original, mit illustren Besetzungen von Veasey bis Baker, Silja, Meyer, Baltsa, Lear, Shuard und vielen, vielen mehr (um nur von den beiden weiblichen Hauptpartien zu sprechen; Dank auch an Freund Sandro für die Erinnerung an Rozhdestvensky mit Felicity Palmer als Cassandra konzertant in Lodon). Ronald Dowd, Gregory Dempsey und Jon Vickers wechselten sich als Enée ab. Die Philips-Aufnahme ist für mich klanglich immer noch beste Ware, hervorragend besetzt (einzig über Vickers mag man sich streiten).

Wichtig ist vorher noch die Rundfunkaufnahme im Original unter Thomas Beecham von 1947 (hervorragend neu restauriert unter Aufsicht von Lady Beecham beim Beecham-Trust/ Somm) – immer noch eine packende und überzeugende Aufnahme) mit der beeindruckenden Marisa Ferrer in beiden Partien (Cassandre und Didon) neben einem eher schüchternen  Jean Giraudeau, Enée vom Dienst auch auf der Ducretet-Aufnahme von Carthage unter Hermann Scherchen 1952 neben einer sensationellen Arda Mandikian, auch sie prachtvoll und so unendlich idiomatisch. Den EMI-Torso der gemeinen Kürzungen ziert nur Régine Crespin als bewegende Didon unter Georges Prêtre (die erstaunlicher Weise nicht in der Warner-Box vertreten scheint), Guy Chauvet bölkt  wie sein Landsmann Gilbert Py auf weiteren Dokumenten. Bemerkenswert und für mich neben Davis und Dutoit (Decca) auf dem Siegerpodium ist der leicht gekürzte RAI-Mitschnitt von 1969 mit einer mehr als befriedigenden All-round-Besetzung (Marilyn Horne, Nicolai Gedda, Shirley Verrett), wobei ich die Horne und Gedda als schlicht genial und unendlich beglückend empfinde. Gedda ist der gebrochene Held par excellence, hier in seiner Bestform, und das an einem Abend im Konzert (Arkadia ist da die beste Aufnahme).

Charles Dutoit machte bei Decca seine vor allem auch klanglich hervorragenden und hochidiomatischen Berlioz-Aufnahmen, Francoise Pollet als Didon nicht zu vergessen.

Der große Sprung führt dann zur Decca-Aufnahme unter einem, breite Tempi favorisierenden Charles Dutoit am Pult kanadischer Kräfte, aus denen ebenfalls unique Francoise Pollet als textwissende, cremige und erzfranzösische Didon herausragt – eine große Sängerin in einer kongenialen Partie. Kaum zu überbieten. Deborah Voigt und Gary Lakes sind nicht unrecht,die franco-kanadischen Kräfte eine Wucht. Sehr habenswert und ungekürzt (sogar den fiesen Boten im ersten Akt hat Dutoit eingebaut). Zudem klanglich absolut erste Decca-Ware. Was für ein Rausch! Und dies auch nach Hören der Nelson-Aufnahme…

Als Videos gibt es Eliot Gardiners Pariser Aufführung im TCE (mit dem auf einen Torso reduzierten 1. originalen Finale der Oper, wie es Hugh McDonald in einem weiteren Berlioz-Artikel später im Jubiläums-Jahr in operalounge.de ausführlich beschreibt und)  mit einer eher schlichten Susan Graham (mit dem Charme einer Arzthelferin) neben einer leidenschaftlichen, wenngleich verwaschen prononcierenden Antonacci und einem zu amerikanischen Kunde (opus arte 2010) sowie eine Aufführung aus Covent Garden mit erneut Antonacci und Eva-Maria Westbroek blusig-allgemein als Didon neben einem stentoralen Brian Hymel als Enée, der virile Kraft und kaum Zerrissenheit einbringt (opus arte). Vergessen will ich die Gergiev-DVD aus dem Mariinski von 2011: Lancy Ryan brüllt unerträglich, und die Damen sind doch recht …. robust (C-Major 2011). Und fast vergessen: Deborah Polaski ist die sicher auf der Bühne erfolgreichere Heldin auf dem Salzburger Mitschnitt bei Arthaus von 2002 in der vielgelobten, wenngleich gekürzten Wernicke-Produktion, die danach durch die Theater zog. Hingegen soll Plácido Domingo nicht unterschlagen werden, der bei der DG mit Jessye Norman und Tatjana Troyanos  den Enée stemmt (2002, aber die Produktion ist älter), die Kolleginnen achtungsgebietend (wenngleich auch nur im allgemeinen Opernpathos verharrend), er nicht so sehr und wie oft nur professionell im Instant-Modus. James Levine auch. Die Produktion schaut abgewetzt aus (ich erinnere mich auch an Abende an der Met mit der Pollet in der falschen Partie als Cassandre neben der bizarren Maria Ewing, die aus der Didon eine Cabaret-Nummer machte).

Live tummeln sich weiterhin fast unendlich viele Aufnahmen bei Sammlern und auf grauen CDs/LPs/MCs/Minidiscs und Open-reels. Und auch da macht unser Nachbarland keine gute Figur, denn die Troyens wurden nach dem Krieg kaum in Frankreich gegeben. Mal in Marseille, dann beim verstorbenen Berlioz-Festival in Lyon (riskante Besetzungen) und als fast rein-amerikanische Initiative am TCM in Paris. Seit dem Krieg fallen mir nicht mal eine Handvoll Produktionen in Frankreich  ein – im Gegensatz zu Deutschland.

Immer noch eine der aufregendsten Aufnahmen, die beste Ausgabe von „Les troyens“ mit Nicolai Gedda auf Arkadia, gekoppelt mit seiner „Damnation de Faust“/ inzw. vergriffen, aber doch noch auftreibbar.

Eleanor Steber und Regina Resnik sorgten für die amerikanische Erstaufführung in moderner Zeit (1960) und halten die nationale Glorie aufrecht (VA;, nach einem run in Washington unter Thomas Beecham sprang für New York sein Aisstent ein). Rafael Kubelik, der mit vielen Abenden in London dokumentiert ist, leitete auch die italienisch-sprachige Version an der Scala, wo sich Mario del Monaco, Giulietta Simionato und Nell Rankin an Berlioz abarbeiten. Aber die Übertragung ins Italienische macht daraus etwas ganz anderes, dichter an Mascagni vielleicht, zumal die Sänger mit voller Lunge eben diesen singen (Melodram u. a.).  Natürlich gibt es noch viele andere Dokumente: Christa Ludwig (Gala), die Silja, die Baltsa, Meyer (Caprice), Crespin, vor allem die ganz wunderbare und empfindsame Lorraine Hunt als Didon an der Met (wo ähnlich wie früher in London die Troyens ein festes Zuhause haben), die pastose Troyanos, Ewing, Elkins, Baker (Gala), Palmer, Thebohm, Shuard, Goerke, Elms, ganz sicher Nadine Denize mit ihrem schönen und melancholischen Ton, und viele, viele mehr neben einer knapp gehaltenen Riege an empfehlenswerteren Tenören (so Roberto Alagana in Berlin, aber nicht Heppner, Lakes, Grey und verschiedene Osteuropäer) finden sich in den Sammlungen, die ich hier nicht alle aufzählen kann. In Erinnerung bleibt für mich vor allem – weil live erlebt – die Aufführung an der Scottish Opera in Edinburg 1969, wo die Damen mit Helga Dernesch und Janet Baker besetzt waren, was für ein Rausch! Sicher habe ich bei der Aufzählung  einige vergessen. Mea culpa.

Nur die Gardiner-DVD-Aufnahme der „Troyens“ aus Paruis 2003 hat zumindest in Teilen das originale Finale der Oper von 1858.

Was also bleibt? Haben muss man die ältere Philips-Aufnahme wegen Davis, der Veasey und Vickers (egal wie man zu ihm steht) nebst Massard und vielen anderen der älteren Schule. Ganz sicher auch die Decca-Einspielung wegen des Klanges und der unglaublichen Pollet neben vielen Franco-Kanadiern. Und nun die neue von Erato? Wegen Michael Spyres als dem fast idealen Helden und wegen Nelsons erfahrener Leitung am Pult dieser bemerkenswerten Kräfte in einer wirklichen Original-Fassung. Aber ganz sicher auch die alte RAI-Aufnahme (Arkadia) wegen Gedda unvergleichlich in seiner Poesie und seinem Schmerz und wegen der Ideal-Besetzung der Cassandre mit Marilyn Horne. Das Werk ist so gewaltig und überragend, dass man nicht genug Aufnahmen haben kann. Finde ich (Foto oben: Roberto Alagna und Béatrice Uriah-Monzon sangen in den „Troyens“ 2010 an der Deutschen Oper Berlin, daraus oben ein optischer Ausschnitt/ Foto Bettina Stoeß mit freundlicher Genehmigung der DOB; dazu auch unsere Rezension in operalounge.de; Alagna ist zudem mit weiteren Berlioz-Stücken in der Warner-Berlioz-Box vertreten. Eben!)Geerd Heinsen.

Ein Bedeutender

 

Mit Kirill Kondraschin verband mich eine nachhaltige Seelen-Freundschaft, die in jenen langen Wochen seiner Deutschlandtournee mit wechselnden Rundfunkorchestern im Frühjahr 1979 begann, als ich ihn für die deutsche Agentur Wolfgang Wiesbaden im Auftrag der russischen Zentralagentur betreute. Ich hätte ihn zwar am Ende des Sommer erwürgen können, als er plötzlich im besten Deutsch zu einem Gelage einlud, während er vorher sich stets von einem der vielen russischen Orchestermitgleider dolmetschen ließ und wir beide in seinem zweifelhaften Englisch kommunizierten. Aber er öffnete sich mir und sprach viel von seinen Gründen, in den Westen, Amsterdam, flüchten zu wollen. Wobei ich ihm half. Das war eine schwere Entscheidung – zumal seine Frau Nina wieder zurück nach Moskau wollte, wegen der Kinder. Später wurden sie geschieden und Kondraschin heiratete in Holland neu. Er war ein wunderbarer Mensch und Mann, durchdrungen von Musik wie nur Russen das sind. Seine Proben zu Schostakowitsch waren ein unvergessliches Erlebnis, das sich jedes Mal neu wiederholte, wenn er vor einem anderen Orchester stand. Seine Kommunikation mit den Musikern war eine unglaublich spontane, fast ein Liebesakt. Intensiv und mir bis heute eingebrannt in die Erinnerung. Wir blieben lange jahre im Kontakt, und ich besuchte ihn in Amsterdam einige Male. Er war wie John Barbirolli einer der bedeutendsten Musiker, den ich kennen durfte.

Deshalb ist es uns ein Anliegen, die nachstehenden Kollektionen auf BR Klassik vom Beyerischen Rundfunk und  bei Hänssler Profil vorzustellen und an ihn zu denken. Daniel Hauser berichtet. G. H. 

 

Kyrill Kondraschin/ European Collections

Kirill Kondraschin war fraglos einer der bedeutendsten sowjetischen Dirigenten überhaupt. Anders als seine wichtigsten Kollegen, der anderthalb Jahrzehnte ältere Jewgeni Mrawinski und die anderthalb Jahrzehnte jüngeren Jewgeni Swetlanow und Gennadi Roschdestwenski, wagte er am Ende seines Lebens, 1978, den Sprung in den Westen. Dort arbeitete er besonders mit dem Concertgebouw-Orchester in Amsterdam, dessen Zweiter Dirigent er wurde, sowie mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, zu dessen Chefdirigenten er bereits designiert war, als er im März 1981 völlig überraschend erst 67-jährig starb. Die vom BR-Eigenlabel vorgelegten Aufnahmen (BR Klassik 9007004) entstanden ein gutes Jahr zuvor, am 7. und 8. Februar 1980, im Herkulessaal der Münchner Residenz. Es handelt sich um die Konzertouvertüre Russische Ostern von Nikolai Rimski-Korsakow sowie um die Sinfonie in d-Moll von César Franck.

Mit beiden Komponisten setzte sich Kondraschin in seinen späten Jahren verstärkt auseinander. So spielte der Rimski-Korsakows Scheherazade in einer von der Kritik gefeierten Aufnahme mit dem Concertgebouw-Orchester 1979 für Philips ein. Die Sinfonie von Franck hatte er bereits 1977 ebenfalls in Amsterdam dirigiert; der Mitschnitt wurde von Tahra veröffentlich (vergriffen). Dass der russische Dirigent ein Händchen für die Musik seiner Landsleute hat, braucht an dieser Stelle wahrlich nicht näher belegt zu werden. So nimmt es nicht wunder, dass Kondraschins farbenprächtige Wiedergabe der Oster-Ouvertüre gerade auch wegen der Klasse des BR-Symphonieorchesters zu den empfehlenswertesten gerechnet werden darf.

Der gebürtige Belgier und spätere Wahlfranzose Franck legte gewiss eine der bedeutendsten französischen Sinfonien des 19. Jahrhunderts vor. Trotz aller Bemühungen tut sich dieses etwas sperrige Werk aber noch heute schwer, sich wirklich zum Standardrepertoire rechnen zu lassen. Sie ist vor allem auch ein Spätwerk dieses Komponisten, 1888 gerade zwei Jahre vor seinem Tode vollendet. Kondraschin, der nicht eben als Experte für französische Musik berühmt wurde, legt nichtsdestotrotz eine überzeugende Lesart vor, die im großformatigen Kopfsatz zwischen der stetig auftretenden Ruhelosigkeit einerseits und der Majestät des Hauptthemas zu kontrastieren versteht. Der gar nicht so langsame Mittelsatz mit seiner vergeistigten Aura bildet eine Phase der Verinnerlichung. Beschlossen wird die Sinfonie durch ein furios dargebotenes Finale, das das Werk mit seiner per aspera ad astra-Anlage freudig ausklingen lässt. An bedeutenden Vergleichsaufnahmen besteht kein Mangel, angefangen beim exemplarischen Pierre Monteux (RCA) über Ernest Ansermet (Decca) bis hin zu Leonard Bernsteins exzentrischer Interpretation mit breitem Zeitmaß (DG). Auch von Kondraschins Landsmann Jewgeni Swetlanow ist eine Aufnahme überliefert (Weitblick). Neben all diesen kann sich die BR-Einspielung sehr gut behaupten, die Francks nicht eben sofort zugängliche Sinfonie fast kurzweilig erscheinen lässt.

Die klangliche Qualität ist glücklicherweise insgesamt auf einem ähnlich hohen Niveau wie die künstlerische, so dass eine volle Kaufempfehlung für diese in allen wesentlichen Punkten überzeugende BR-Produktion ausgesprochen werden kann. Einzig die mit gerade 52 Minuten kurze Gesamtspielzeit der CD wäre anzumerken. Daniel Hauser

 

Kirill Kondraschin in Japan 1980/ youtube

Unter den großen russischen Dirigenten des 20. Jahrhunderts hat Kirill Kondraschin (1914-1981; in dieser Edition mit „y“ geschrieben) seinen festen Platz, gilt er doch als der bedeutendste Dirigent Russlands in der Generation zwischen Jewgeni Mrawinski (1903-1988) und Jewgeni Swetlanow (1928-2002). Was ihn von diesen unterscheidet, ist gerade auch, dass er 1978 die Sowjetunion verließ und in den Westen emigrierte. In den Niederlanden fand er eine zweite Heimat, heiratete und wurde bereits im selben Jahr zweiter Dirigent des renommierten Concertgebouw-Orchesters in Amsterdam. Sein früher Tod im März 1981 infolge einer Herzattacke setzte diesem neuen Lebensabschnitt leider unerwartet rasch ein jähes Ende.

Profil Edition Günter Hänssler (PH 18046) bedenkt ihn nun mit einer 13 CDs umfassenden Kollektion, welche Aufnahmen zwischen 1937 und 1963 beinhaltet, wobei der Schwerpunkt auf den späten 1950er und frühen 60er Jahren liegt. Tatsächlich erlangte Kondraschin besonders ab 1960 internationale Berühmtheit, stand er doch ab diesem Jahre den Moskauer Philharmonikern für anderthalb Jahrzehnte als Chefdirigent vor. Dass hier die letzten, künstlerisch so ertragreichen beiden Lebensjahrzehnte des Dirigenten völlig ausgespart wurden, ist erst einmal unverständlich, wohl aber nicht zuletzt auf Lizenz-Gründe zurückzuführen. Es werden hier also der frühe und mittlere Kondraschin abgedeckt, seine späteren Jahre indes ausgeklammert.

Bei der ältesten in der Box inkludierten Aufnahme handelt es sich um die Ouvertüre zur Verkauften Braut von Smetana aus Leningrad 1937. Hier ist sogar ein Vergleich möglich, ist doch auch eine (russisch gesungene) Gesamtaufnahme dieses Werkes von 1949 aus dem Moskauer Bolschoi-Theater enthalten. Sicherlich keine besonders idiomatische Angelegenheit, doch trösten das inspirierte Dirigat und das gute Sängerensemble (darunter Elisabeta Schumilowa, Georgi Nelepp, Anatole Orfenow und Nikolai Schtschelgolkow) darüber hinweg. Der Klang ist selbst in der 1937er Einspielung durchaus erträglich, wie übrigens in der gesamten Kollektion, in der etwa die Hälfte aus Monoaufnahmen besteht.

Außer dieser einzigen Oper sind ansonsten reine Instrumentalaufnahmen enthalten: Sinfonien, Konzerte, Serenaden und sonstige Orchesterwerke. Von besonderem Interesse ist die Welturaufführung der 13. Sinfonie Babi Jar von Schostakowitsch vom 18. Dezember 1962 aus dem Großen Saal des Moskauer Konservatoriums. Es spielten die Moskauer Philharmoniker, Bassist war Witali Gromadski. Bis heute muss sich wohl jede Neuaufnahme an dieser Interpretation messen, die (am Ende aufgrund des enthusiastischen Applauses hörbar) ein gewaltiger Erfolg war und mit zum Ruhm des Dirigenten Kirill Kondraschin beitrug. Der Klang ist, zieht man das Alter und die Live-Situation in Betracht, ganz ausgezeichnetes Stereo.

Nicht weniger überzeugend fällt Kondraschins Einspielung der Sinfonie Nr. 6 Pathétique von Tschaikowski aus, die bereits 1959 im Studio entstand. Sie darf sich ebenfalls einreihen in die bedeutenden Darbietungen dieses häufig aufgenommenen Werkes. Interessanterweise hat sich Kondraschin den übrigen Tschaikowski-Sinfonien nicht in offiziellen Studioproduktionen angenommen, auch wenn – abgesehen von der Zweiten – eine jede in mindestens einem Live-Mitschnitt vorliegt. Gleichwohl spielt dieser Komponist eine bedeutende Rolle in der Box, sind doch noch das Capriccio Italien, die Streicherserenade, die Suite Nr. 3, das Klavierkonzert Nr. 1 (Solist: Emil Gilels), das Violinkonzert (Solist: David Oistrach) und die weniger im Mittelpunkt stehende Sérénade mélancolique (wiederum mit Oistrach) sowie das Pezzo capriccioso (Solist: Mstislaw Rostropowitsch) berücksichtigt. Es ist hier also die illustre Crème de la Crème der bedeutenden seinerzeitigen sowjetischen Solisten versammelt, die zum Gelingen kongenial beiträgt. Besonders Oistrach kommt noch weiters zum Zuge, so in der Suite de Concert von Tanejew, im Violinkonzert von Strawinski und in Tzigane von Ravel. Swjatoslaw Richter steht im Klavierkonzert von Rimski-Korsakow zur Seite, Leonid Kogan im Violinkonzert Nr. 1 von Schostakowitsch sowie im Violinkonzert von Weinberg, Emil Gilels in Ravels Klavierkonzert für die linke Hand und Wiktor Pikaisen schließlich im 1. Violinkonzert von Paganini. Den Solopart im 1. Cellokonzert von Schostakowitsch übernimmt wiederum Rostropowitsch. Die enorme Bandbreite des Repertoires, welches Kirill Kondraschin abdeckte, wird bereits daraus ersichtlich.

Kirill Kondraschin in Japan 1980/ youtube

Abgerundet wird dies durch weitere Orchesterwerke wie das Capriccio Espagnol von Rimski-Korsakow, die Rapsodie Espagnole sowie La valse von Ravel und die Paganiniana von Alfredo Casella. Eher randständiges Repertoire wie Weinbergs Sinfonie Nr. 4 geht Hand in Hand mit Rachmaninows Sinfonie Nr. 3 und seinen Sinfonischen Tänzen. Dass Kondraschin sich gerade auch zeitgenössischen Komponisten widmete, zeigte bereits der Fall Schostakowitsch, doch auch Paul Hindemith (Sinfonische Metamorphosen von Themen Carl Maria von Webers) und Rodion Schtschedrin (Konzert für Orchester Nr. 1 Freche Orchesterscherze) sind in dieser Kollektion zu finden.Obwohl also die letzten achtzehn Jahre des Wirkens Kondraschins hier keine Berücksichtigung finden, darf die Box insgesamt als große Bereicherung gelten, sind in ihr doch neben einigen „Blockbustern“ vor allen Dingen ansonsten weniger beachtete Werke in tadellosen Interpretationen enthalten. Die etwa die Hälfte ausmachenden Stereoproduktionen sind klanglich über jeden Zweifel erhaben, aber auch die älteren Monoaufnahmen wurden bemerkenswert überzeugend aufbereitet. Insofern steht einer uneingeschränkten Empfehlung nichts im Wege (Fotos: Screenshots aus dem Japan-Konzert 1980 auf youtube) . Daniel Hauser

Jakov Gotovacs „Ero der Schelm“

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Wieder einmal widmete sich das Münchner Rundfunkorchester einem ebenso seltenen wie verdienstvollen Operntitel in einer konzertanten Aufführung im Mai 2019. Diesmal – nach Ausflügen in die französische Opernwelt jüngst beim Palazetto Bru Zane dokumentiert und nach Bruchs Loreley (bei cpo) sowie anderen Werken – dirigiert Ivan Repusic die Komische Oper Ero der Schelm (Originaltitel kroatisch Ero s onoga svijeta) von Jakov Gotovac (* 11. Oktober 1895 in Split – † 16. Oktober 1982 in Zagreb/ Uraufführung am 2. November 1935 im Kroatischen Nationaltheater Zagreb unter der Leitung des Komponisten). Es sangen in München erwartungsgemäß kroatische Kräfte: Valentina Fijačko Kobić, Sopran (Djula), Jelena Kordić, Mezzosopran (Doma), Tomislav Mužek, Tenor (Ero) Ljubomir Puškarić, Bariton (Mlinar Sima), Ivica Čikeš, Bass (Gazda Marko), der Kroatische Rundfunkchor, als Bayerisches Kind der Knabensopran Christoph Immler und das Ganze eben unter Ivan Repušić am Pult des Münchner Rundfunkorchesters.

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Was für eine Ehrenrettung dieses nur gelegentlich im Ausland aufgeführten Komponisten, dessen heitere Oper sich ein-zweimal in deutschen Rundfunkarchiven findet (Liane Synek und andere machten sich darüber her), und der auch im heimischen Kroatien nur mit zwei älteren Einspielungen und einem TV-Film vertreten ist, wenngleich Ero an der Adria so etwas wie eine Nationaloper ist und von Split über Zagreb bis Rijeka gern gespielt wird, in buten Kostümen namentlich vor Touristen. Ich erinnere mich an Aufführungen im schönen Helmer & Fellner-Opernhaus von Zagreb,  an einen bunte, sehr folkloristisch ausgestattete Darbietung noch zu Tito-Zeiten. Mütterliche, stark gebaute Damen in teppichartigen Folklore-Bekleidungen trugen an einer wippenden Bambusstange Maiskolben über die Bühne, mehrfach. Verstanden hatten wir gar nichts, aber es war ein unvergesslicher Abend. Die Fotos jüngerer kroatischer Aufführungen deuten auf eine ungebrochene Stilistik der bunten Teppiche und prallen Dorfszenen bis heute hin.

Gotovac ist neben Ivan Zajc der große nationale Komponist Kroatiens, wie Florian Heurich im nachstehenden Artikel ausführt (den wir mit großem Dank an den Autor und das Müncher Rundfunkorchester aus deren Programmheft für die konzertante Aufführung im Mai 2019 entnommen haben). Und es ist gut und richtig, dass wir uns nicht nur dem internationalen, zu sattsam bekannten Opernkanon widmen, sondern eben auch die Musik unserer europäischen Nachbarn kennen lernen und ehren. „Mehr davon!“, ruft der begeisterte Europäer. G. H.

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„Ero s onoga svijeta“/ Szene aus der Aufführung am Kroatischen Nationaltheater Zagreb/ Foto HNK/  Mara Bratos/ Foto oben Szene aus der gleichnamigen Oper in Split/ HNS Split

Ein Wort zum Erwachen des kroatischen Bewusstseins: Das Phänomen einer nationalen Schule in der Musik ging in Kroatien einher mit einer allgemein nationalkroatischen Bewegung in Literatur, Kunst und Kultur, der sogenannten Illyrischen Bewegung. Zur Zeit der k. und k. Herrschaft wandte man sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert etwa durch Dichtung in der eigenen Sprache gegen eine Dominanz des Deutschen bzw. des Ungarischen in der Kultur, die durch das Habsburgerreich kam. 1840 wurde in Zagreb die erste Illyrische Musikgesellschaft gegründet, mit dem Ziel, die kroatische Musik auf akademischer Ebene zu fördern. Im Bereich der Oper schuf der Komponist Vatroslav Lisinski daraufhin mit Ljubav i zloba (Liebe und Arglist, 1846) das erste Musiktheaterwerk in kroatischer Sprache, eine in Split spielende Liebesintrige mit einer noch weitgehend vom italienischen Stil geprägten Musik. Als eigentliche Nationaloper schrieb schließlich Ivan Zajc 1876 mit Nikola Šubić Zrinjski ein historisches Werk über den gleichnamigen Freiheitshelden, der im 16. Jahrhundert gegen die türkischen Belagerer kämpfte − eine Oper, in der nun auch musikalisch ein nationales Idiom realisiert wurde. 1860 wurde das Kroatische Nationaltheater in Zagreb gegründet, 1870 die dazugehörende Opernkompanie, deren Leiter Zajc wurde.

„Ero der Schelm“/ Plakat für das Gastspiel der Zagreber Oper in Berlin 1943/ Klasika.hr/ Marija Barbieri

Jakov Gotovac setzte diese mit Lisinski begonnene und mit Zajc gefestigte Strömung der kroatischen Nationalmusik in der nächsten Generation fort, zu einer Zeit, als das Nationale jedoch nicht mehr als Abgrenzung von fremden kulturellen Einflüssen verstanden wurde (die k. und k. Herrschaft auf dem Balkan war mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gegangen), sondern als Identitätsmerkmal des neuen Jugoslawien. Hier wurde gerade eine Musik mit ausgeprägten Volksmusikelementen und nationalen Themen besonders gefördert und oft auch ideologisch aufgeladen im Sinne einer Einheit stiftenden Größe. Dank ihres folkloristischen Einschlags, der auf die Klangsprache des 20. Jahrhunderts trifft, haben sich indessen viele dieser Werke bis heute ihre emotionale Überzeugungskraft bewahrt und sind lohnende Entdeckungen in einem weitgehend unbekannten Repertoire.

 

Als einer der wichtigsten Komponisten des früheren Jugoslawien hat der Kroate Jakov Gotovac mit Ero der Schelm (Originaltitel kroatisch Ero s onoga svijeta) eine Oper geschaffen, die schon bei ihrer Uraufführung 1935 am Kroatischen Nationaltheater Zagreb vom Publikum begeistert aufgenommen wurde und die dann zu einer Art kroatischen Nationaloper geworden ist. Mit inzwischen über 700 Aufführungen ist Ero der Schelm immer noch im Repertoire des Zagreber Opernhauses und steht regelmäßig auf dem Spielplan. Das Sujet, eine heitere Episode aus dem ländlichen Leben in Dalmatien, die bauernschlaue Hauptfigur, ein Volkstypus dieser Region, und Gotovacs Musik voller Lokalkolorit, voller Melodien und Rhythmen des Balkans haben zur großen Popularität dieser Oper vor allem in Osteuropa, aber auch weit darüber hinaus beigetragen.

„Ero s onoga svijeta“/ Szene mit Josip Gosic und Sonja Mottl-Dula 1957 / Foto Klasika.hr/ Marija Barbieri

Jakov Gotovac wurde am 11. Oktober 1895 in Split in Dalmatien geboren. Auf Wunsch seines Vaters musste er zunächst Recht studieren, ging dann aber im Alter von fünfundzwanzig Jahren nach Wien und nahm sein Musikstudium bei dem Komponisten und Pädagogen Joseph Marx auf. Seine musikalische Karriere begann in Šibenik an der kroatischen Adriaküste, wo er in der dortigen Philharmonischen Gesellschaft tätig war. 1923 wurde er als Dirigent an die Oper von Zagreb berufen, wo er bis 1957 blieb; daneben leitete er mehrere der in Zagreb beheimateten Chorgesellschaften und Gesangsvereine. Jakov Gotovac starb im Jahr 1982 in Zagreb, sein Leben umspannt also die Zeit von der ausgehenden k. und k. Herrschaft auf dem Balkan über das Königreich Jugoslawien zwischen den beiden Weltkriegen bis hin zum sozialistischen Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg.

Gotovacs erste Werke sind Lieder und Chorkompositionen, in denen sich schon eine stark nationale Note zeigt. Diese setzt sich in seinen Orchesterstücken wie etwa einem Symphonischen Kolo fort. Der Kolo ist ein typischer Reigentanz des Balkans und zugleich einer der Rhythmen, die in Ero der Schelm eine zentrale Rolle spielen. Auch Gotovacs weitere Bühnenwerke schöpfen aus dem Volksleben und der Geschichte des Balkans und insbesondere Kroatiens, etwa seine Musik zu der Pastorale Dubravka (1928) des kroatischen Barockdichters Ivan Gundulić, seine Oper Morana (1930) nach einer bosnischen Volkslegende, die tragische Oper Kamenik (Der Steinbruch, 1946), das historische Musikdrama Mila Gojsalića (1951) über eine kroatische Volksheldin und Märtyrerin während der Türkenherrschaft auf dem Balkan, das Singspiel Đerdan (Die Halskette, 1954/1955), die Opernlegende Dalmaro (1958) und der Einakter Stanac (Ein harter Felsen, 1959).

Mit seinem Nationalstil in Musik und Inhalt traf Gotovac genau den Trend, der das Musikleben des Landes seinerzeit beherrschte. Sowohl während des Königreichs Jugoslawien als auch während der sozialistischen Republik Jugoslawien waren die Künste stark national geprägt, nicht zuletzt um eine Einheit dieses Vielvölkerstaates zu suggerieren. In seiner Kompositionsweise fügt sich Gotovac jedoch nahtlos in die Linie der nationalen Schulen ein, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts gerade die osteuropäische Musik prägten. Was in Russland mit Glinka und Borodin oder in Tschechien mit Smetana begonnen hatte und dann von Dvořák und Janáček weitergeführt wurde, setzte Gotovac sozusagen in dritter Genration in seinem eigenen Land fort. Insbesondere mit Janáček verbinden ihn einige Charakteristika in der Klangsprache, etwa wenn gerade durch den Rückgriff auf die alte Folklore ein Weg in die Moderne gewiesen wird. Allerdings werden von Gotovac die kroatischen Melodien und Rhythmen wesentlich direkter zitiert und in die Werke eingearbeitet als bei seinem tschechischen Kollegen. In Bezug auf Ero der Schelm liegt aber auch der Vergleich mit Smetanas Verkaufter Braut nahe, obschon die beiden Werke rund siebzig Jahre auseinanderliegen. In beiden Stücken geht es darum, wie im bäuerlichen Milieu ein listiger Mann durch einen Trick seine Geliebte für sich gewinnen und alle anderen überlisten kann. Sehr ähnlich sind Schauplatz, Figurenspektrum und die musikalische Milieuschilderung.

„Ero s onoga svijeta“/ Szene aus dem Film 1982/ OBA

Gerade in Gotovacs Bühnenwerken zeigt sich ein breites inhaltliches Spektrum, das von literarischen Quellen über historische Epen bis hin zu Volksdichtung, Legenden und heiteren Schwänken reicht. Dadurch bringt er Kultur, Brauchtum und Geschichte seines Landes in vielen verschiedenen Facetten und Ausformulierungen auf die Bühne. Dies spiegelt sich auch in einer großen musikalischen Bandbreite von einfachen Liedformen und Tänzen bis hin zu großen Arien, Chornummern und einem spätromantisch inspirierten Klangreichtum wider.

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In der zwischen 1926 und 1927 komponierten komischen Oper Ero der Schelm bringt Gotovac einen Volkscharakter auf die Bühne, der in vielen Erzählungen und Legenden auftaucht, Archetypus des gewitzten und freien Menschenverstandes. Der Name ist abgeleitet von Hero, der Koseform des Wortes „Hercegovac“, also Herzegowiner, da die Leute aus der Herzegowina als besonders schafsinnige und listige Menschen galten. Die der Oper zugrundeliegende Volkserzählung dreht sich um die Streiche eines Bauernburschen während der Türkenherrschaft auf dem Balkan, der insbesondere die fremden Machthaber immer wieder hinters Licht führen und sich mit List und Tücke aus jeglicher Bedrängnis herausretten konnte. Damit ist dieser Ero so etwas wie die kroatische Variante eines Till Eulenspiegel oder Nasreddin Hodscha. Gerade letzterer, diese komische Figur aus dem türkischen Kulturkreis, ist auch auf dem Balkan sehr populär, und so wird Ero zu einer Art Gegenstück zu Nasreddin Hodscha aus der kroatischen Kultur, die ursprünglich in dieser Region beheimatet war, bevor die Türken kamen.

„Ero s onoga svijeta“ angekündigt als „Ero lo sposo caduto dal cielo“ beim Gastspiel der Zagreber Oper in Rom 1941/ Foto Archivio Storico – Teatro dell’Opera di Roma

Gotovac und sein Librettist Milan Begović strichen jedoch alle türkischen Elemente aus dieser Erzählung und verlegten die Geschichte ins Hinterland von Dalmatien nahe der Grenze zur Herzegowina, wo Begović geboren wurde. Diese Gegend im Dinaragebirge galt als besonders traditionsbewusst; die kroatische Folklore hatte sich in dieser Region sehr unverfälscht erhalten und wurde noch mit Leidenschaft gepflegt. Und Ero als solcher existiert bei Gotovac und Begović gar nicht, sondern ist eigentlich Mića, der Sohn eines reichen Gutsbesitzers, der unter falschem Namen die Liebe des Dorfmädchens Đula gewinnen will und allen anderen weismacht, er komme vom Himmel und überbringe die Grüße der verstorbenen Angehörigen. Dieses Motiv eines vom Himmel Gefallenen hat Begović aus einem Fastnachtspiel von Hans Sachs, Der farent Schueler ins Paradeis, übernommen, das ihm neben den Quellen aus dem kroatischen Volksgut als literarische Vorlage diente.

Die bislang einzige CD-Aufnahme in der Originalsprache ist ein Mitschnitt vom Zagreber Theater 1962 mit Marianna Radev, Branca Oblak-Stilinovic und Josip Góstic unter Leitung des Komponisten, aber es gibt noch ein-zwei frühere LP-Aufnahmen auf Jugoton und verschiedene Rundfunkmitschnitte.

„Eine Volksoper soll klar und gesund auf Melodie und Rhythmik der Volksmusik aufbauen. Sie soll Melodie und Harmonie mit einer reichen Orchesterpalette malen und echten Volkshumor mit Lied und Tanz zu einem harmonischen Ganzen vereinen“, so formulierte Gotovac sein künstlerisches Credo, wie er es in Ero der Schelm verwirklichte. Dabei bediente er sich trotz der stark folkloristischen Anklänge, den vielfach ganz unmittelbaren rhythmischen Strukturen und der sich breit entfaltenden Melodik einer gemäßigt modernen Klangsprache, die sich vor allem in den rezitativischen Passagen und den Orchesterüberleitungen bemerkbar macht. Hier verleihen die Instrumentierung und insbesondere das gezielt eingesetzte Schlagwerk der Musik eine expressive Note. Während die Folklore in solchen Momenten eher als Kolorit zu spüren ist, zitiert sie Gotovac an anderen Stellen ganz direkt, etwa im liedhaften Chor der Dorfmädchen, mit dem die Oper beginnt und in den sich Đulas sehnsuchtsvoller Gesang mischt, in den weiteren Chorszenen, in Mićas Auftrittslied, in dem er sich als vom Himmel gefallener Ero ausgibt, oder im lyrischen Duett von Đula und Mića im I. Aufzug. Die Szene zwischen Mića und Doma, in der dieser ihr Geld abluchst (angeblich für ihren verstorbenen Mann im Himmel), hat einen betont komödiantischen Charakter, während dem Chorfinale des I. Aufzugs durch seinen stampfenden Rhythmus sogar etwas Aggressives anhaftet.

„Ero s onoga svijeta“ am Kroatisches Nationaltheater Jakov Gotovac in Osijek / Szene/ KNO

Der II. Aufzug beginnt mit einem Lied des Müllers Sima, worauf wenig später ein Lamento Đulas folgt, in dem sie in einer weit ausladenden Arie den Tod ihrer Mutter beklagt. Im Verlauf dieses Aufzugs, in dem Mića mit Sima die Kleider tauscht, imitieren ein kreisender Rhythmus im Orchester und hämmerndes Schlagwerk immer wieder das Rotieren der Mühle − ein Effekt, den zuvor Janáček in ähnlicher Weise in Jenufa angewandt hat. Auf Mićas ariose Ausbrüche folgt ein weiteres Liebesduett mit Đula.Im III. Aufzug herrscht schließlich Fest- und Tanzstimmung vor. In die Jahrmarktsatmosphäre mit ihren Volkstänzen sind immer wieder rezitativische Abschnitte und lyrische Passagen eingearbeitet, wie Đulas Szene, die in ein großes Ensemble überleitet, oder Mićas finales Triumphlied. Die Oper endet jedoch mit einer breit angelegten, fast zehnminütigen Tanzszene, einem Kolo, als Sinnbild der kroatischen Musik und Folklore. Dieser Kreistanz, der in seiner ursprünglichen Form in Kroatien, Bosnien und Serbien, aber auch in anderen Regionen des Balkans sehr populär ist, gipfelt in einem großen Chorfinale, mit dem das Paar Mića und Đula gefeiert wird.

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Der Autor: Florian Heurich ist freier Autor und Musikjournalist, schreibt und produziert Radiofeatures und Reportagen für BR-Klassik und gestaltet das Online-Format Opern.TV sowie die Audio-Podcasts der Bayerischen Staatsoper. Dabei versucht er immer seine Opernleidenschaft, seine Reiselust nach Asien und Lateinamerika und seine Arbeit unter einen Hut zu bringen/ Quelle Bayr. Staatsoper

Im Nebeneinander von eher einfachen Liedformen und größer angelegten Arien, Duetten und Ensembles mischt sich der slawische Volkston überdies mit dem Schmelz der großen Oper italienischer Provenienz. Auch dies ein Hinweis auf einen der vielen kulturellen Einflüsse auf dem Balkan, da die kroatische Adriaküste lange Zeit von der Dogenrepublik Venedig beherrscht wurde.

Vor allem aber schwingt in der Volksmusik des Balkans, wie sie Gotovac verwendet, die Musik des Orients mit. Viele hundert Jahre Osmanisches Reich auf dem Balkan haben auch musikalische Spuren hinterlassen. Auf harmonischer Seite kommt dies etwa durch die „orientalische Tonleiter“ zum Ausdruck, die durch zwei übermäßige Sekundschritte charakterisiert ist. Dadurch bekommt die Musik etwas „Exotisches“. Auch in Ero der Schelm sind solche Klänge von entscheidender Bedeutung, das Thema des Marko etwa fußt vollständig auf solchen Harmonien.

Ero der Schelm begründete den Ruhm von Jakov Gotovac in seinem Heimatland und in anderen Ländern Osteuropas. Gotovac traf damit genau den Nerv seiner Zeit im noch jungen Jugoslawien, sodass dieses Werk zu einer der populärsten Opern Kroatiens und des Balkans wurde und mit seinem besonderen Kolorit und seiner originellen, über den reinen Folklorismus hinausgehenden Musik auch das internationale Publikum begeisterte. Florian Heurich

 

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Dank an den Autor Florian Heurich und Doris Sennefelder für die Genehmigung zu Übernahme des Artikels aus dem Programmheft des Münchner Rundfunkorchesters zur konzertanten Aufführung am 19. Mai 2019.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Vom Ort der Uraufführung

 

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ So beginnt einer der meistinterpretierten Romane der Weltliteratur. Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ beginnt mit dem 30. Geburtstag von Josef K. und endet am Vorabend seines 31. Geburtstages. Nie wird Josef K. wissen, wer den Prozess gegen ihn führt, worin die Anklage besteht und wessen er sich schuldig gemacht hat. Die Beteuerungen seiner Unschuld werden als Schuld gewertet. „Die quälende Angst, die uns aus dem Buch anweht, ist in manchen Augenblicken fast unerträglich“, sagte André Gide, der gemeinsam mit Jean-Louis Barrault eine Dramatisierung vorgenommen hatte, „denn wie sollte man sich der Empfindung erwehren, dieses gehetzte Wesen bin ich?“ Alles ist bei Kafka so penibel beschrieben, dass kein Zweifel an den Vorgängen aufkommen kann. Allerding ist das Beschriebene so ungewöhnlich zusammengesetzt, dass jede Logik außer Kraft getreten scheint. Die Vorgänge in Kafkas Roman sind keineswegs real im Sinn einer Opernhandlung, „aber gerade dies muss zur Musik führen“, wie Gottfried von Einem im Vorfeld der Salzburger Uraufführung 1953 ausführte, denn „sie drückt das Irreale oder besser das Imaginäre des Stoffes aus“. Am Stoff des Romans musste nichts geändert werden, einige Stationen wurden ausgewählt, die Dialoge sind wörtlich die Kafkas, einzig die indirekte Rede wurde einige Male in die direkte Rede verwandelt. Die Musik dient der Verdichtung der neun Bilder, die durch formale und instrumentale Mittel die Besetzung mehrer Rollen mit einem Sänger verklammert sind. Die Tenorpartie des Josef K. ist die einzige durchgehende Partie der Oper.

Mit dem sensationellen Erfolg seiner Oper Dantons Tod hatte sich der knapp 30jährige Operndebütant Gottfried von Einem 1947 derart glänzend bei den Salzburger Festspielen eingeführt, dass er umgehend in das Festspielpräsidium berufen wurde. Allerdings musste er den Posten nach seinem Einsatz für die Einbürgerung Bertolt Brechts 1951 abgeben. An den Prozess-Erfolg musste rasch angeknüpft werden, jedoch verzögerte sich die für 1950 angedachte Uraufführung des Prozess, da von Einem die von seinem Freund Boris Blacher verfassten sechs Szenen durch drei weitere Szenen von Heinz von Cramer ergänzen ließ. Wieder war die Premiere am 17.8.1953 prominent besetzt: Karl Böhm dirigierte, Max Lorenz sang den Josef K., Lisa della Casa die in drei Frauen aufgespaltene Sopranpartie, die Nachbarin Fräulein Bürstner, die Frau des Gerichtsdieners und die Advokatenpflegerin Leni. Doch mehr als die Musik wurden die realistische Inszenierung Oscar Fritz Schuhs und die atmosphärischen Bühnenbilder von Caspar Neher gelobt. Relativ rasch lahmte die Erfolgsserie des Prozess. Als Referenz vor der eigenen Festspielgeschichte wurde er 1988 und zuletzt 2018 zum hundertsten Geburtstag von Einems konzertant in Salzburg gegeben. Der Mitschnitt des Aufführung (2 CD Capriccio C5358, mit Libretto) aus der Felsenreitschule unter seinem Schüler HK Gruber von 13./14. August 2018 bestätigt einerseits die einstigen Vorbehalte gegen die durchaus eingängige, in ihrer lyrisch melodische Weise und dem klobig deklamatorischen Stil oft ein wenig zu banal wirkende Musik, um das Grauen zu fassen. Zeigt andererseits auch in Grubers virtuoser Umsetzung mit dem Wiener Radio-Sinfonieorchester von Einems instrumentale Brillanz mit ihren rhythmischen Ostinati, den Bläsersignalen, der Passacaglia und den trockenen Gruselmomenten. Sicherlich hat diese Literaturoper Staub angesetzt. Als präsentables Dokument der Opern-Avantgarde der 1950er Jahre taugt sie immer noch. Der mit Partien des Spiel- und Charaktertenors befasste Michael Lorenz bringt – mit ganz anderen stimmlichen Möglichkeiten als Max Lorenz – für den Josef K. durch seinen intensiven, flexiblen, jugendlich verletzlich klingenden Tenor eine intensive Kafka-Nähe mit. Ilse Eerens singt Fräulein Bürstner und Co. ohne Fehl, Anke Vondung macht viel aus der Frau Grubach. Die teilweise für drei oder vier Partien zuständigen Jochen Schmeckenbecher, Matthäus Schidlechner, Lars Woldt, Johannes Kammler und Tilmann Rönnebeck und der nur für den Maler Titorelli verantwortliche Jörg Schneider bilden ein gutes Ensemble.  Rolf Fath

Nachgeschoben

 

„Wir Opernhäuser sind dazu da, die Gesellschaft zu sensibilisieren, die Welt zu verbessern“, beendet Dietmar Schwarz, Intendant der Deutschen Oper sein am 18.5. 2019 in der Berliner Morgenpost erschienenes Interview, in dem es hauptsächlich um political correctness, darum, ob man einen schwarz geschminkten Otello oder Monostatos, einen Rigoletto mit Buckel oder einen kleinwüchsigen Menschen als Double für den Sänger in Der Zwerg auf die Bühne bringen dürfe, geht. Ob die Welt durch die Aufführung von Korngolds Oper Das Wunder der Heliane, in der vergangenen Spielzeit an der DOB gespielt und vor jetzt von Naxos auf DVD herausgebracht (komplimentär zur CD der Oper aus Freiburg bei Naxos), auch nur ein wenig verbessert wurde, ist kaum nachprüfbar, die Ingredienzien dafür müsste das Werk voller Sendungsbewusstsein eigentlich haben, auch wenn es bereits zur Zeit seiner Uraufführung 1927 in seiner Mischung von Pseudoreligiosität und schwüler Erotik nicht mehr den Geist der Zeit traf und trotz oder vielleicht auch wegen der Polemik des Kritikervaters des Komponisten im Verhältnis zum  zeitgleichen Jonny spielt auf wenig erfolgreich war. Die Deutsche Oper allerdings führte das Werk zu einem sensationellen Erfolg, was sicherlich vor allem dem Wie der Umsetzung, weniger dem Was der kruden Story, sicher nicht der altertümelnden, genitivgesättigten Sprache, eher schon, wenn auch nicht für jedermanns Geschmack, der rauschhaften, durchaus bereits den Filmkomponisten verratenden Musik zu verdanken war.

Regisseur Christof Loy, Spezialist für psychologisch vertrackte Stories, wählte mit Ausstatter Johannes Leiacker für alle drei Akte bewusst eine karge Optik, einen Gerichts- oder Kongresssaal mit großem Tisch, Stühlen, einer Uhr, die durchweg 14.05 Uhr anzeigt, die Kostüme von Barbara Drosihn sind dunkle Alltagskleidung, nur der Fremde in Hellgrau, für Heliane eine Art Brautkleid, ansonsten Kostüm oder Kleines Schwarzes, wie es sich für die Gattin eines wohlhabenden Geschäftsmanns oder Politikers gehört. Loy wollte mit dieser Ausstattung Erinnerungen an Marlene Dietrich in Zeugin der Anklage“wachrufen, die sich aber nicht zwangsläufig einstellen. Immerhin bildet die Nüchternheit der Ausstattung einen willkommenen Kontrast zur sonstigen Üppigkeit. Die Personenführung ist durchdacht, nimmt dem Libretto einiges von seiner Peinlichkeit, der Chor wird exzellent geführt. Die Nacktszene, die es so sicherlich mit der ursprünglich für die erste Wiener Aufführung vorgesehen Maria Jeritza nicht gegeben hätte und die es mit Lotte Lehmann nicht gab, ist ohne jede Peinlichkeit inszeniert, was auch für die Video-Gestaltung durch Götz Filenius gilt.

Herausragend und damit verantwortlich für den großen Erfolg war das Sängerensemble, das auch optisch ideal den Intentionen des Komponisten entsprechen dürfte. Allen voran Sara Jakubiak in der Titelpartie, eine wahre Lichtgestalt nicht ohne ein angenehmes Maß von Kühle, mit leuchtendem Sopran im Hit „Ich ging zu ihm“, aber auch herbere, strengere vokale Züge offenbarend. Einen unermüdbaren, in allen Lagen höchst präsenten, baritonal grundierten Tenor und viel darstellerische Delikatesse setzt Brian Jagde für den Fremden ein und wurde dementsprechend am Premierenabend bejubelt. Keinen wirklich schöntimbrierten, aber einen vokale Autorität verbreitenden Bariton hat Josef Wagner für den Herrscher und ist damit eine ideale Besetzung, auch in der Intensität der Darstellung des verzweifelt Zuneigung Einfordernden. Wärme und Farbigkeit zeichnen die Stimme von Derek Welton in der Partie des mitleidigen Pförtners aus. Etwas stiefmütterlich von der Regie behandelt wurde die Botin von Okka von der Damerau, die mit einem Aktenordner bewaffnet oft nur herumstehen muss, aber mit dunkel loderndem Mezzo akustisch hochpräsent ist. Hinter seinen sonstigen vokalen Möglichkeiten zurück bleibt Burkhard Ulrich als Schwertrichter. Einen angenehmen Tenor hat Gideon Poppe für den Jungen Mann. Marc Albrecht bändigt nicht nur das Riesenorchester der DOB, sondern entlockt ihm alles an Pracht und Prunk, was der Komponist in seine Partitur gelegt hat und dem man während mehrfach heruntergelassenen Vorhangs (Genitiv!) besonders genussvoll lauschen kann.

Ob die Welt etwas besser war nach der Aufführung als zuvor, wird sie es nach dem Erscheinen der Blu-ray auf dem Markt sein? Dem gemeinen Opernbesucher genügt es wohl, wenn ihn Musik und Darstellung berührt haben, wenn er ein geliebtes Werk nicht entstellt sah, wenn der Genuss von Schönheit ihm Kraft für die Bewältigung des Alltags gegeben hat (Naxos DVD Bluray NBD0083V ). Ingrid Wanja  

Interessante Alternativen

 

Bekanntschaft mit einer neuen Stimme durch eine Recital-CD zu machen, ist immer eine spannende Angelegenheit, die des Tenors Michael Fabiano erweckt das besondere und zusätzliche Interesse jedoch dadurch, dass auf der neuen CD bei Pentatone („Donizetti & Verdi“) zwei der dargebotenen Arien, die des Alvaro aus La Forza del Destino und die des Ernani aus der gleichnamigen Verdi-Oper nicht den Erwartungen entsprechen, sondern einmal aus der Petersburger Fassung des Werks und zum anderen aus der von Verdi für den Tenor Nicola Ivanoff, den Sänger der Pariser Wiederaufnahme, komponierten Abwandlung stammen. Die CD bietet zudem drei Donizetti-Arien und vor allem Kompositionen des frühen und mittleren Verdi an, die Stimme Fabianos ist nicht die eines tenore di grazia, hat aber auch noch nicht die dunkle Farbe für einen typischen Verdi-Tenor oder die Brillanz eines Duca, sondern ist eher ein lyrischer Tenor mit sicherer Höhe.

Für den ersten Teil der Schlussszene des Edgardo aus Donizettis Lucia di Lammermoor überzeugt der Sänger mit viel Sinn für die Bedeutung eines Rezitativs, in der Arie erfreuen ein gutes Legato und eine intelligente Phrasierung. Nur selten gibt es leichte Intonationsprobleme. Die heldische Attacke eines Donizetti-Helden wie des Poliuto gelingt ihm besser als  die eines Verdi-Tenors, dazu ist die Stimme angemessen hell und leichtgängig. Viel dolcezza zeichnet den Chalais  aus Maria di Rohan aus.

Dass die Stimme noch nicht ganz bei den Verdi-Helden angekommen ist, zeigt die Arie des Rodolfo aus Luisa Miller, wo dem Rezitativ der Aplomb fehlt, der Arie der canto elegiaco dunkler Färbung noch abgeht, alles eher ein wenig weinerlich als tragisch klingt. Die große Arie des Ballo-Riccardo aus dem letzten Akt könnte ebenfalls eine dunklere Farbe vertragen, obwohl die Partie durchaus im Bereich der vokalen Möglichkeiten des Tenors liegt, durch eine reiche Agogik des Singens zwischen Piano und Forte, einem hochsensiblen „del nostro amor“ und einem beeindruckenden Squillo für die Cabaletta überzeugt. Die Petersburger Arie des Alvaro bietet eine versione leggera der heldischen Figur, auch die des Ernani „Sprezzo la vita“ ist der jetzigen Verfassung der Stimme Fabianos angemessen, sogar das eher heldische „Giuriam“ der Cabaletta wird gut bewältigt. Ein Jacopo Foscari mit so heller Stimme wie die seine ist wahrlich Geschmackssache, beim Riccardo aus der Erstlingsoper Oberto kann sich der Sänger darauf berufen, dass die Partie für einen tenore di grazia komponiert wurde, der Corrado aus Il Corsaro hat eine wundervoll elegische Arie, die ebenso gut bewältigt wird wie die mit einem strahlenden Spitzenton gekrönte Cabaletta.  Das London Philharmonic Orchestra mit dem Spezialisten Enrique Mazzola am Dirigentenpult erweist sich als kompetenter Begleiter. Das Booklet enthält die Texte der Arien auf Italienisch und Englisch, ein Artikel von Geoffrey Riggs unterrichtet kompetent über die Entstehungsgeschichte der einzelnen Arien (Pentatone PTC 5186 750). Ingrid Wanja

Hamburger Vokales

 

Auf zwei Aufnahmen mit Werken von Reinhard Keiser sei bei  cpo  unbedingt hingewiesen. Der 1674 im Herzogtum Sachsen-Weißenfels geborene Komponist ist ein Zeitgenosse von J. S. Bach, aber im Gegensatz zu ihm vor allem durch seine Opern bekannt. An der Hamburger Oper am Gänsemarkt, die er leitete, wurden seine Werke regelmäßig gespielt. 1702 wurde dort die Operetta auf den Geburtstag Friedrichs IV. mit dem Titel Pamona uraufgeführt.

Bereits 2010 wurde das Werk in Berlin für cpo aufgenommen (777 659-2). Am Pult der Capella Orlandi Bremen steht Thomas Ihlenfeldt, ein Barock-Spezialist, der bei dem renommierten Dirigenten und Lautenisten Stephen Stubbs studierte. Er beweist schon in der munteren Ouvertüre im Idiom Telemanns sein Gespür für Farben und dynamische Kontraste. Das Stück behandelt einen Disput der Götter, welcher Jahreszeit der Vorzug zu geben sei. Schließlich erscheint der Göttervater Jupiter und verkündet, dass der Geburtstag des Königs von Dänemark der eigentliche Anlass der Zusammenkunft sei. Und er preist die Schönheit und Tugend der Königin Luise, die mit ihrem Gatten Friedrich das ideale Ehepaar darstelle. Er setzt beide dem Götterpaar Pamona und Vertumnus gleich, womit der Herbst als Sieger aus dem Wettstreit hervorgeht.

Die Titelheldin, die erst am Ende des ersten Teils auftritt, ist mit Melanie Hirsch besetzt, deren Sopran in der beschwingten Eingangsarie „Zuviel Verwegenheit“ jubiliert und in der getragenen „Kindheit ist wie Frühlingsstunden“ mit lyrischer Empfindsamkeit aufwartet. Gelegentlich kann die Stimme auch einen spitzen Klang annehmen („Rühmet ihr Himmel“) oder larmoyant wirken („Ich komm“). Den ersten Teil beendet sie jubilierend mit „Der Sieg ist mein“. Und ihr gebührt auch das finale Solo mit „Grünet und blühet“ als feines Sopran-Gespinst. Der Vertumnus ist gleichfalls eine Sopranpartie, die Magdalena Harer wahrnimmt. Die Stimme von schmalem Volumen klingt verzärtelt und in der Höhe bohrend. Beide Soprane vereinen sich in der Aria à 2 „Endlich, endlich find ich dich“ zu harmonischem, von Koloraturen umspieltem Zwiegesang.

Der Tenor Julian Podger ist ein leichtstimmiger Mercurius, der mit zwei lebhaften Arien („Was das Leben“ und „Ich werde heut anschauen“) die Handlung eröffnet. Danach haben die Sopranistin Doerthe Maria Sandmann und der Tenor Knut Schoch als Flora und Zephyrus eine Aria à 2, „Sei willkommen, meine Lust“, in der sie ihren kultivierten Gesangsstil ausstellen können. Besonders in der wiegenden Arie „Sollten holde Frühlingskinder“ kann die Sopranistin mit delikater Tongebung gefallen. Olivia Vermeulen singt den Ceres mit leichtem, flexiblem Mezzo, der in den beiden Arien „Amor scherzt“ und „Komm Schönster“ zur Wirkung kommt. Der Tenor Jan Kobow, bei cpo oft verpflichtet, gibt mit lyrischer Kultur eine Doppelrolle als Jasion und Jupiter. Mit der von Ceres vereint er seine Stimme in der klangvollen Aria à 2 „Wir werden in gar kurzer Zeit“. Der Bariton Raimonds Spogis als Bacchus gefällt mit lautmalerischem Gesang in seinen beiden Arien „Du edler Saft der Reben und „Wen du füllst mit deinen Tropfen“. Auch „Wer fröhlich will leben“ im zweiten Teil ist getragen von lebensfroher  Stimmung. Solide nimmt Jörg Gottschick den Vulcanus wahr. In „Fachet die Kohlen auf“ und „Sollt’ ich ermüden“ kann er mit lebhafter Tongebung besonders gefallen.

 

2018 kam es in Weimar zur Einspielung des Oratorium Passionale Der blutige und sterbende Jesus, das Keiser 1705 komponierte. Mit der Capella Thuringia hat der Dirigent Bernhard Klapprott die revidierte Fassung von 1729 aufgenommen und findet in seiner Interpretation reiche Farben und Kontraste (555 259-2). Das Werk beginnt mit dem Choral der christlichen Kirche „Jesu Leiden“, dem der Chor der Jünger „Unendlich preist das Herze“ folgt. Der Cantus Thuringia überzeugt mit kultiviertem, klangvollem Gesang. Den ersten Teil des Oratoriums beendet er eindrucksvoll mit dem Choral „Zu dir flieh ich“. Gebührend spöttischen Tonfall findet er für den Chor der Jüden „Der du in dreien Tagen“ und den der Hohepriester und Schriftgelehrten „Den andern konnt er Hilfe geben“ im zweiten Teil. Die Titelrolle ist mit dem Bassisten Dominik Wörner besetzt, der keinen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Die Stimme von schmalem Volumen klingt oft zu larmoyant. In der Arie mit Maria im zweiten Teil, „Schreib diesen Trost“, mischt er sich mit sanfter Stimmgebung ideal mit dem zarten Sopran von Anna Kellnhofer, die in den kantablen Arien „Fürst verklärter Engelsorden“, „Ach, ungemeine Liebe“ und „Schau, Seel“ mit empfindsamer Zeichnung gefallen kann.

Die Sopranistin Monika Mauch und die Altistin Anne Bierwirth geben die Töchter Zions. Erstere interpretiert ihre Arien, ob „Erwache, felsenhartes Herze“ oder die mit Koloraturen geschmückte „Besiege diese Nacht“, sehr schlicht und mit klarer, flexibler Stimme. Mit Jesus singt sie das liebliche Duett „Süßer Trost“. Die Altistin hat mit „Speit, ihr giftgen Nattern“ ein wirkungsvolles Solo mit ausgedehnten Koloraturläufen. Ganz schlicht und entrückt erklingt dagegen ihr Arioso im zweiten Teil, „Nimm, Seele, dieses Kreuz“.

Der Tenor Mirko Ludwig ist Petrus, der in der energisch auftrumpfenden Arie „Waffnet euch“ mit vehementer Stimmführung aufhorchen lässt, in „Ach! Jammer“ aber auch mit klagender Tongebung aufwarten kann. Gleichfalls für einen Tenor ist der Judas geschrieben, dem Hans Jörg Mammel in der furiosen Arie  “Nun verschlingt, ihr Höllenscharen“ starken Charakter verleiht. Dem Caiphas dagegen könnte der Bassist Matthias Lutze mehr Gewicht geben. Das Oratorium endet mit dem ernsten Schlusschor der Weiber und Jünger, „Ach, Gott, lass täglich unsere Seele“, mit dem der Cantus Thuringia noch einmal beeindrucken kann. Bernd Hoppe

 

Klagen über den Genozid

 

 

 Ob Ian Krouse dereinst auch in Armenien auf einem Schlachtengemälde verewigt oder in anderer Form geehrt wird? Wie Franz Werfel, dem 2006 in Wien posthum die armenische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, weil er, wie ein armenischer Priester in den USA von der Kanzel predigte, der Nation eine Seele gegeben hatte. Mit seinem Roman über die 40 Tage des Musa Dagh, der den Überlebenskampf der Armenier während der Verfolgung durch das Osmanische Reich in den Jahren 1915-17 feiert, lieferte Werfel das literarische Nationaldenkmal Armeniens. Jedes Jahr kommt eine Viertelmillion Menschen auf den Hügel über Eriwan zum Genozid-Museum und der ewigen Flamme inmitten mächtiger Stelen, um an das Massaker zu erinnern und der Opfer zu gedenken. Anlässlich der 100. Wiederkehr des Völkermords gelangte als Auftragswerk der armenischen Gemeinde in der Diaspora in Los Angeles das Armenian Requiem des 1956 geborenen, vornehmlich durch seine Kompositionen für Gitarren-Quartett bekannt gewordenen Ian Krouse zur Uraufführung. Im Beiheft schildert der Dirigent und Musikologe Vatsche Barsoumian die Erstehung des zweiteiligen, 95minütigen Werkes, das auf keine entsprechende Tradition in der geistlichen armenischen Musik aufbauen kann und sich an die Struktur von Brittens War Requiem anlehnt. Er verweist auf die von ihm besorgte Auswahl und Bedeutung der insgesamt 15 Texte, darunter am Anfang und am Ende, im Prelude und Postlude, die Stimme der Opfer in Form zweier Gedichte der 1915 ums Leben gekommenen Atom Jartschanjan, bekannt unter seinem Pseudonym Siamanto, und Daniel Varoujan; außerdem Texte aus dem zehnten und elften Jahrhundert, die in den sechs Interludes mit Texten aus dem 19. und 20. Jahrhundert durchsetzt sind. Das Werk ist Rückbesinnung auf armenische Muster, eine Verbeugung vor Komitas Vardapet, dem Begründer der modernen klassischen Musik Armenien um 1900, und bewusste Hinwendung zur westlichen Formen von der Renaissance bis Brahms und Britten, wie sie ein Außenstehender wohl kaum erkennen und gebührend würdigen kann.

Der Eindruck des spektakulären Werks (2 CDs Naxos 8.559846-47), das dem armenischen Nationalinstrument Duduk eine besondere Aufgabe zuteilt (Ruben Harutyunyan), ist gewaltig. Vier Solostimmen, zwei off-stage-Trompeten (Jean Lindemann, Bobby Rodriguez), Orgel (Christoph Bull), Streichquartett, Kinderchor (Tziatzan Children’s Choir) sowie Chor und Orchester – die Lark Masters Singers (unter Leitung von Barsoumian) und das UCLA Philharmonia, das Orchester der University of California in Los Angeles – sind aufgeboten, um Anspruch und Bedeutung des Armenian Requiem zu unterstreichen. Neal Stulberg bringt dieses Bekenntnis zu plastischer Wirkung. Krouse hat eine Form gewählt, die den Wünschen an ein erstes Requiem in armenischer Sprache gerecht wird, kein dezidiert avantgardistisches Werk, aber dennoch eine ernsthafte zeitgenössische Musik, wirkungsvoll, großformatig, packend im Solo für die Mezzosopranistin, in dem sich Garineh Avakian aufreibt, im dem kurzen Gebet für den Tenor (Yeghishe Manucharyan) oder der zeremoniellen Würde des Baritons, mit der Vladimir Chernov gleich zu Beginn zu vernehmen ist.   Rolf Fath

David Devriès

 

Und nun ein Exkurs über eine der schönsten lyrischen Tenorstimmen des französischen Repertoirs, die in ihrer Süße und Ausdruckskraft ihres gleichen sucht und die bis heute als Maßstab für Interpretation und Diktion gelten kann. Zugegeben: Selbst unter eingefleischten Melomanen werden heute nur mehr die wenigsten etwas mit dem Namen David Devriès anfangen können. Dies liegt zum einen daran, dass Devriès seit über 80 Jahren tot ist, zum anderen aber wohl auch am Niedergang des alten französischen Gesangsstiles, der heutzutage als praktisch ausgestorben gilt. Da die Anhängerschaft desselben stetig kleiner wird, schwindet auch das Wissen um seine großen Repräsentanten. Dies ist überaus bedauerlich, doch liegt es an uns, dem entgegenzusteuern.

Elegant und sexy: Daniel Devriès/ OBA

Es gilt hier zunächst etwas auszuholen. Bei der Familie Devriès handelt es sich um eine wahrhaftige Sängerdynastie, die ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte. Ursprünglich aus Holland stammend, darf die Sopranistin Rosa de Vries-van Os (1828-1889) als Stammmutter des Hauses gelten. Die in Den Haag geborene Sängerin machte sich vor allem am Théâtre d’Orléans im amerikanischen New Orleans, Louisiana, einen Namen. Sie sang auch in Kanada und Italien und starb schließlich in Rom. Ihre vier Kinder (alle in Amerika geboren) brachten es zu beachtlichen Gesangskarrieren. Die ältere Tochter Jeanne Devriès (1850-1924) wurde eine berühmte Sopranistin, die sich insbesondere in Paris einen Namen machte und 1875 den Tenor Étienne Dereims (1845-1904) heiratete. Die jüngere Tochter Fidès Devriès (1851-1941), ebenso Sopran, hatte ihren Schwerpunkt gleichfalls in der französischen Hauptstadt und war u. a. 1887 die Elsa in der Pariser Erstaufführung des Lohengrin. Der Bassbariton Hermann Devriès (1858-1949) etablierte sich besonders in den USA, fungierte nach seiner aktiven Gesangskarriere als einflussreicher Musikkritiker in Chicago und betätigte sich auch als Komponist. Maurice Devriès (1854-1919) schließlich, seines Zeichens Bariton, konnte ebenfalls eine glanzvolle internationale Karriere vorweisen, ehe er sich in Chicago als Gesangslehrer niederließ. Er war der Vater von David Devriès, mit dem die Familie schließlich auch einen großen Tenor hervorbrachte.

Daniel Devriès als Jean in Massenets Oper „Le Jongleur de Notre-Dâme“/ operas.org

Am 15. Februar 1881 im okzitanischen Bagnères-de-Luchon in den Pyrenäen nahe der französisch-spanischen Grenze geboren, erfolgte David Devriès‘ Ausbildung bei Lhérie und Duvernoy am Pariser Konservatorium. An seinem zwanzigsten Geburtstag debütierte er, noch während seiner Ausbildung, in einer kleinen Nebenrolle in der Uraufführung der Oper Astarte von Xavier Leroux an der Opéra-Comique in Paris. Sein eigentliches Debüt erfolgte drei Jahre später am selben Hause in Delibes‘ Lakme als Gérald. Ebenfalls 1904 sang er dort bereits den Belmonte sowie den Fischer in Guillaume Tell. In den nächsten zwei Jahrzehnten blieb die Opéra-Comique sein Stammhaus, an dem er in weiteren Uraufführungen von Opern der Komponisten Camille Erlanger, Henri Février, Gustave Doret sowie der Gebrüder Hillemacher mitwirkte. Den vielleicht größten Erfolg seiner Karriere konnte er bereits 1909 als Georges Brown in Boieldieus La Dame blanche feiern. Gastspiele führten ihn nach New York (Manhattan Opera), London (Covent Garden), Monte Carlo und Brüssel (La Monnaie). Seine künstlerische Heimat blieb indes Paris, wo er auch am Théâtre Gaîte Lyrique zu hören war. Zu seinen weiteren großen Rollen gehörten der Jean in Le Jongleur de Notre-Dame von Massenet, der Ange Ange-Pitou in La Fille de Madame Angot von Charles Lecocq, der Ägisth in Elektra und der Narraboth in Salome von Richard Strauss, Graf Almaviva im Barbiere di Siviglia, der José in Carmen, der Pinkerton in Madama Butterfly, der Rodolfo in La Bohème, der Cavaradossi in Tosca und der Alfredo in La Traviata.

Daniel Devriès als Don José/ forgottenoperas.blogspot.com

Besonders in den Opern von Jules Massenet brillierte Devriès, so auch als Armand in Thérèse, Jean-Gaussin in Sapho, Araquil in La Navarraise und gerade auch als Werther im gleichnamigen Werk. Er trat auch als geschätzter Oratorien- und Konzertsänger in Erscheinung, so in den Passionen und in der h-Moll-Messe von Bach, in La Damnation de Faust und L’Enfance du Christ von Berlioz sowie in Beethovens neunter Sinfonie. David Devriès starb am 3. Juni 1934 in Neuilly bei Paris im Alter von gerade 53 Jahren. Sein Sohn Ivan Devriès (1909-1997) betätigte sich als Komponist.

Der Autor: der frischpromovierte Historiker Daniel Hauser, lebt in Wien. Glückwünsche!

David Devriès‘ eleganter Stil mit einem charakteristischen, süßen Tonfall, verbunden mit vorbildlicher Stimmbildung und außerordentlicher Flexibilität, macht ihn zu einem Musterbeispiel eines ténor-légère der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Akustische Aufnahmen erfolgten bereits ab 1904 zunächst für Pathé und Victor. Zwischen 1927 und 1931 entstanden elektrische Schallplattenaufnahmen für Odeon. Diese Tondokumente berücksichtigen die Komponisten Boieldieu, Massenet, Messager, Leroux, Bizet, Gounod, Lalo, Lecocq, Fauré, Verdi, Léhar, Hahn und Nérini. Sie sind Zeugnis einer der beeindruckendsten lyrischen Tenorstimmen der altfranzösischen Schule. Auf CD sind sie digitalisiert beim Label Symposium erschienen (Symposium 1220). Daniel Hauser

Dorme la mia diletta

 

Seltenes von Boccherini bei Naxos: Eine 2014/15 aufgenommene CD von Naxos (8.573958) versammelt  Kompositionen von Luigi Boccherini, darunter die 1. Fassung seines 1781 entstandenen Stabat Mater, G. 532 in der ungewöhnlichen Besetzung für Sopran und Streichquintett. Viele Meister haben die Anfangsworte „Stabat mater dolorosa“ des mittelalterlichen Reimgebetes vertont. Zu den bekanntesten Schöpfungen zählen die Versionen von A. Scarlatti, Vivaldi, Pergolesi, Rossini und Dvorák. Weniger populär ist Boccherinis Werk, das aus unbekanntem Anlass entstand, möglicherweise aber die Gattin des Komponisten, die Sopranistin Clementina Pelicho, bei der Uraufführung als Solistin sah. Die kammermusikalische Besetzung verleiht dem Stück einen intimen Charakter, dennoch finden sich in den elf Sätzen auch Passagen von Leidenschaft und Pathos. Der Solostimme werden Geläufigkeit und die Fähigkeit zur Improvisation von virtuosen Kadenzen abverlangt. Dominique Labelle ist eine renommierte Interpretin im barocken Repertoire und meistert diese Anforderungen Respekt gebietend. Ihre Wiedergabe muss sich mit der von Núria Real bei Coviello CLASSICS messen, die 2018 aufgenommen wurde. Labelle mit ihrem klaren, leuchtenden Sopran hält dem Vergleich Respekt gebietend stand. Im Eingangssatz und in „Quis est homo“ findet sie zu innigen Tönen der Trauer, in „Quae moerebat“ schwingt sich die Stimme zu Hoffnung auf. „Pro peccatis“ wird von jubelnden Koloraturen bestimmt, während das nachfolgende „Eja, mater“ ganz beseelt und verinnerlicht ertönt. Mit inbrünstigem Willen wird dann in „Tui nati“ formuliert, die Leiden mit Christie teilen zu wollen. Mit den feinsinnigen und überaus schlichten Wiedergaben des wiegenden „Virgo virginum“ und des tröstlichen „Fac ut portem“ nimmt Dominique Labelle besonders für sich ein. Der letzte Satz, „Quando corpus“, wird von verhaltenen Akkorden der Streicher untermalt und ist ein nachdenklicher Ausklang. Das Sarasa Ensemble, welches die Geigerin Elizabeth Blumenstock anführt, begleitet die Solistin sehr empfindsam.

Das Gemälde von Luigi Boccherini entstand 1765 und befindet sich in der National Gallery Melbourne/ Arcana

In der Programmfolge wird das sakrale Werk eingerahmt von einem Streichquartett und einem Streichquintett. Boccherini, seit seiner frühesten Jugend ein virtuoser Cellist, leistete kompositorisch in diesem Genre Enormes, komponierte nicht weniger als 90 Streichquartette, über 120 Streichquintette und sechs Streichsextette. Auf der CD erklingt zuerst das Streichquartett in G-Dur op. 52, Nr.3 aus dem Jahre 1795. Es wurde für den preußischen König Friedrich Wilhelm II. geschrieben, der ein anerkannter Cellist war. Auch Haydn, Mozart und Beethoven komponierten Kammermusik für ihn, doch zog der König Boccherinis Werke allen anderen vor. Die vier Sätze von op. 52, Nr. 3 bieten vielfältige Kontraste und reiche motivische Ideen.

Im Streichquintett in f-Moll op. 42, Nr. 1 am Ende der CD findet man musikalisches Material aus dem Stabat Mater wieder. Der erste Satz, Allegro moderato assai, stammt aus dem „Pro peccatis“ des Oratoriums. Das Adagio cantabile enthält die „Lacrimosa“-Melodie aus dem ersten Satz. Das Solo-Cello in diesem Teil hat früher Boccherini selbst gespielt, hier nimmt es Timothy Merton in souveräner Manier wahr. Bernd Hoppe

 

 Alessandro Scarlattis L’Assunzione della Beata Vergine: „Solche Zuneigung empfinde ich zu Signor Arcangelo, dass ich in der Leidenschaft für meine eigenen und seine Ziele keinen Unterschied mache.“ Doch der Kardinal war nicht nur ein Bewunderer Corellis, den er zusammen mit dessen Lebenspartner in seinem Kreis und Palast aufnahm, sondern ein eifriger Mäzen und Kunstförderer. Kardinal Pietro Ottoboni, Großneffe von Papst Alexander VIII., hat sie alle unterstützt und bezahlt: Händel und Caldara, Pasquini und Corelli, und auch Alessandro Scarlatti, der hauptsächlich zwischen Rom und Neapel pendelte, mit Abstechern in Venedig und Florenz, und sich 1703 bis 1708 in Rom aufhielt, Kapellmeister an Santa Maria Maggiore wurde und sich nach dem von Innozenz XII. ausgehenden Verbot von Theater- und Opernaufführungen vor allem der geistlichen Musik widmete. Auf der Suche nach verlorenen Perlen jener Epoche stieß der Countertenor und Orchesterleiter Matthieu Peyrègne in der Diözesanbibliothek Münster auf Scarlattis am 1. April 1703 im Oratorio dei  Fillipini di Sancti Cantici – in unmittelbarer Nähe von Santa Maria di Vallicella, wo 1600 Emilio de Cavalieris Rappresentazione di Anima e di Corpo erstmals erklungen war – uraufgeführtes Oratorium L’Assunzione della Beata Vergine, das seither nicht mehr gespielt wurde. Peyrègnes Aufführung mit dem Ensemble Baroque de Monaco ist die erste komplette Aufführung seit Scarlattis Tagen (paraty 118176).

Ottoboni förderte nicht nur, sondern betätigte sich auch selbst literarisch und verfasste zahlreiche Libretti zu Oratorien und Kantaten, so auch den Text zu Scarlatti Oratorium, in dem die Himmelfahrt Mariens als Dialog zwischen Sposa und Sposo und Amore und Eternità in 32 kurzen Abschnitten auf theatralische Weise geschildert wird. Keine Chöre, kein Quartette, nur Soli und Duette, wozu das gesamte Kompendium an Rezitativen, begleiteten Szenen, Bravourarien und langsamen Arien gehört, begleitet von Streichern und basso continuo, den Peyrègne instrumental abwechslungsvoll auffüllte und mit dem Ensemble Baroque de Monaco ebenso abwechslungsreich schattiert. Die zarte Melodik, die sensible Poesie und die durchaus barocke Dramatik spielen Peyrègne und seine beiden Sopranistinnen Béatrice Gobin und Aurora Pena sowie Mélodie Ruvio und er selbst in den Altpartien auf sehr inspirierte Weise aus. Rolf Fath

 

Louis-Nicolas Clérambault (1676-1749) kam aus einer Pariser Musikerfamilie, sein Leben spielte sich am linken Seine-Ufer ab. Er war Organist in Saint-Sulpice und Saint-Cyr und zu Lebzeiten für seine Motetten bekannt. Zwischen 1710 und 1725 komponierte er 25 französische Kantaten, die ein- oder zweistimmig oft mythologische Themen aufgreifen. Für heutige Hörer klingen sie wie exemplarische Kurzopern und Freunde der französischen Barockoper werden hier viel schöne Musik entdecken können. Der belgische Tenor Reinoud van Mechelen hat für die CD „Cantates françaises“ vier Kantaten ausgesucht, die von Liebe, Macht und Eifersucht erzählen. Bei „Apollon“ (1716) handelt es sich eigentlich um einen Lobgesang für den König, der durch Apollo dargestellt wird und einem klagenden Hirten Frieden verspricht. Einer langsamen, zärtlichen Eingangsarie, folgen der majestätische Auftritt und dann ein zuversichtliches Ende. „Le Jaloux“ (1710) ist quasi handlungsloser Affekt, lebendig und schnell interpretiert. In „L’amour, guéri par l’amour“ (1720) wird unglückliche Liebe durch eine neue Verliebtheit überwunden, „Pyrame et Thisbé“ (1713) ist eine kurze Tragédie lyrique, eine Tragödie als Mini-Oper. Reinoud van Mechelen ist für diesen Gesang eine ideale Wahl, ein kultivierter Tenor, elegant geführt, ein weiches Timbre, hingebungsvoll deklamierend und singend. Die vier Musiker (Cembalo, Violine, Viola da gamba und Flöte) des Ensembles A Nocte Temporis musizieren mit Emphase und einigen bemerkenswert konzertanten Momenten. Eine rundum gelungene Aufnahme, bei dem das Engagement der Künstler hör- und spürbar ist. (Alpha 356)

 

Im Zentrum der CD Dolorosa Partenza steht das Claviorganum, eine Kombination von Cembalo und Orgel-Positiv, die Bart Naessens – ein Experte für dieses Instrument – spielt und dabei die Effekt- und klangliche Bandbreite des Instruments in einer interessanten Zusammenstellung zur Geltung bringt. Die Charakteristiken der Einzelinstrumente bleiben beim Claviorganum erhalten, die Artikulationsmöglichkeiten gewinnen dazu, nur der Anschlag beim Cembalo ist verändert, das leichte bzw. geringfügige Anschlagen der Seite mit dem Plektrum ist nicht möglich. Um dies dem Zuhörer vorzuführen, hat Naessens drei instrumentale Stücke ausgesucht, ein anonymes „Ricercar“ und die anonyme „Aria di Fiorenza“ – beide aus Handschriften des 17. Jahrhunderts, die im römischen Archiv Doria Pamphilj aufbewahrt werden – sowie die wirbelnde „Toccata per cembalo d’Ottava stesa“ von Alessandro Scarlatti. Ansonsten steht Vokalmusik für Singstimme und Basso Continuo im Mittelpunkt, und zwar Werke, die Theatralik aufweisen. Die Orgel sorgt in den weltlichen Kantaten für gelegentlich sakral anmutende Passagen, deren Kirchenduft kurzzeitig etwas befremdlich wirken kann. Von Johann David Heinichen ertönt die Kantate  über unglückliche Liebe „Là, dove in grembo al colle“ mit einem vokal und instrumental hochvirtuosen „Auguletti“. Von Giovanni Felice Sances hört man die ausdrucksstark interpretierte Ostinato-Komposition „Usurpator tiranno“ mit affektreicher Ornamentik der Gesangsstimme und das unprätentiöse „I miei desir“. „Partenza“ von Antonio Caldara beschreibt den verzweifelten Abschied zweier Liebende, die titelgebende „Dolorosa Partenza“ stammt von Francesco Antonio Mamiliano Pistocchi und ist eine Kantate, die mit einem kummervolles Lamento beginnt  und mit Tränen und Todesgedanken endet. Die belgische Sopranistin Amaryllis Dieltiens trumpft mit schlanker, flexibler Stimme auf, stets am Ausdruck orientiert, souverän in den Koloraturen, klar im Timbre. (AE 10103)

 

Der aus einer venezianischen Patrizierfamilie stammende Benedetto Marcello (1686-1739) war nicht nur Komponist, sondern auch Advokat und im Dienste Venedigs, als dessen Gesandter er in Brescia starb. Sein umfangreiches künstlerisches Werk besteht u.a. aus Oratorien, Messen, Kantaten, Madrigalen, Konzerten und Sonaten sowie wenigen Bühnenwerken. Sein Name verblasste erst, als der eines anderen Venezianers aufstieg – Antonio Vivaldi gilt heute als der wichtigere Vertreter seiner Zeit. Marcellos zwischen 1724 und 1726 erschienener Estro poetico-armonico besteht aus vertonten Paraphrasen zu fünfzig Psalmen in einer freien italienischen Versübertragung; das Werk war nicht liturgisch gedacht, sondern als spirituelle Musik für Musikakademien und gehobene Kreise. Bei 48 der 50 Psalmen ist nur der Basso Continuo ausgearbeitet, für die Psalme 21 und 50 (in der Nummerierung des Estro poetico-armonico) sind auch zwei  Streicher vorgesehen. In der vorliegenden Aufnahme spielt der renommierte Bratschist Guido Balestracci eine historische siebensaitige Viola da gamba und leitet das Ensemble L’Amoroso, das weiterhin mit einer zweiten historischen Viola, Violone, Cello, Theorbe, Laute, Cembalo und Positivorgel besetzt ist. Als Einleitung spielt man zur Einstimmung Marcellos noble „Sonata a tré“ (op.2, Nr.2), es folgen vier Psalmen Nr. 14 und 38 für Sopran, Nr. 21 für Alt und die zweistimmige Nr. 27. Musikalisch gelingt bei dieser Aufnahme ein intimes, klangschönes Zusammenspiel, das nicht auf Affekte, sondern auf Poesie setzt und dessen rhetorische Sinngebung dem erbaulichen Zweck ohne Operntheatralik folgt und von zwei sehr guten Sängerinnen stimmschön dargeboten wird. Die Sopranistin Caroline Pelon übernimmt den heiteren Psalm Nr. 14 über den Weg des Aufrichtigen zum Glück sowie Nr. 38 über die VergänglichkeitDer Kontra-Alt von Mélodie Ruvio übernimmt den umfangreichen, fast dreißigminütigen Psalm Nr. 21, der im Zentrum der CD steht und durch seine Kontraste auffällt, die sich zwischen Pathetik, Demut, Läuterung und Zuversicht bewegen. Der Psalm Nr. 27 ist ein Anfechtungs- und Klagepsalm mit schönen Duetten. (Arcana, A441) Marcus Budwitius