Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Ganzheitliches Erfassen

 

Petra Lang ist ohne Zweifel eine der international hochgefragtesten Künstlerinnen, ehemals Mezzosopranistin und nun im großen Sopranfach zu Hause. Die Details ihrer Biographie sind auf ihrer website und in internationalen Kritiken nachzulesen. Spannender will uns ein Gespräch mit einer denkenden Künstlerin erscheinen, die sich – auf der Grundlage eigenen Erlebens und Werdens – Gedanken zum Gesang heute und zum Singen überhaupt macht. Wie kommt jemand (Petra Lang) zum Gesang, wie sieht sie sich und die Gesangsszene? Fragen an Petra Lang also.

 

Drei Worte zu Ihren Lernerfahrungen: Welche Musik hörten Sie als Kind in Frankfurt? Meine Eltern besaßen eine große Schallplattensammlung. So konnte ich schon früh Opern- und Operetten-Aufnahmen und Sängerportraits von z.B. Anneliese Rothenberger, Erna Berger, Maria Callas, Christa Ludwig,  Fritz Wunderlich, Jan Kiepura, Helge Rosvaenge, Jussi Björling und Dietrich Fischer-Dieskau hören. Ganz ehrlich: Diese Musik mit Gesang fand ich viel spannender als meine Märchenschallplatten.

Petra Lang/ Foto Ann Weitz , Düsseldorf/www.petralang.com/

Hat die Oper Sie schon immer angesprochen? Welches war die erste Oper, die Sie live sahen und was hat das bei Ihnen ausgelöst? Oper mit ihren schönen Bühnenbildern und meist farbenprächtigen interessanten Kostümen hat mich schon früh begeistert. Und vor allen Dingen die Dimensionserweiterung der Szene machte die Musik für mich noch viel direkter erlebbar und regte meine Fantasie an. Die Fledermaus hinterließ einen großen Eindruck. Mein Vater erzählte mir die Geschichte vorher, hörte mit mir gemeinsam die Aufnahmen an, und so konnte ich quasi „meine“ Fassung schon lange für mich in Gedanken durchspielen, bevor ich sie dann live auf der Bühne sehen konnte. Über die Jahre haben mich viele interessante Produktionen der Oper Frankfurt auf diese Weise inspiriert: Neuenfels’ Aida, eine viel diskutierte Götterdämmerung, Tristan  und Tannhäuser mit Spas Wenkoff, Turandot mit Birgit Nilsson, Plácido Domingo als Manrico und später  auch als Dirigent der Fledermaus. Die Liste der großen Namen ließe sich noch lange fortsetzen. Vor allen Dingen hatte ich die Möglichkeit viele Vorstellungen mehrmals zu besuchen, und so konnte ich schon früh lernen, dass Sänger in der gleichen Rolle an verschiedenen Abenden unterschiedlich disponiert sein können. Dies war für mein eigenes Singen und Unterrichten und vor allen Dingen für die Beurteilung von Sängerleistungen und den Prognosen für eine mögliche sängerische Entwicklung sehr wichtig. So lernte ich im Laufe der Zeit, Parameter für diese Beurteilung mit einzubeziehen und diese so weit wie möglich zu erweitern und so zu beeinflussen, dass meine eigene Leistung möglichst stabil wird. Diese Herangehensweise gibt dem Sänger Raum für die Entwicklung, die nun einmal nötig ist, um lange gesund zu singen und so seinen Weg zu finden und zu gehen. Das schien früher der Normalfall zu sein. Viele ältere Sängerkollegen sagten mir immer wieder, dass man eine Partie erst wirklich beherrsche, wenn man sie mindestens zwanzig Mal gesungen hat. Und dann erst beginnt die spannende Zeit, in der sich die Rolle entwickeln kann.

 

Wie haben Sie „entdeckt“, dass Sie eine Stimme haben, wie konnten Sie diese so konstant bis zum heutigen Tage weiterentwickeln?  Und ich habe immer gesungen. Noch bevor ich sprechen konnte, habe ich gesungen. Ich fand die Hüte meiner Großmutter sehr „anziehend“ und wickelte mich in ihre Tischdecken, die ich zum Kleid mit Schleppe umfunktionierte und zog so singend und spielend, „meine“ Geschichten erfindend, durch das Haus. Das war großer Spaß! Wir haben zu Hause und in der Schule viel gesungen. Jedoch war ich häufig erkältet, was das Singen einschränkte, und es war leichter mit Violine oder Viola in Orchestern oder in der Kammermusik „unterwegs“ zu sein. Ich habe Violine studiert und habe einen musikpädagogischen Abschluss mit Hauptfach Violine. So konnte ich ein breites Musik-Repertoire kennenlernen und vor allen Dingen Präzision und Disziplin als wichtige Faktoren für das Musizieren als selbstverständlich annehmen. Ich wurde Lehrerin für Violine, Viola, Musikalische Früherziehung und Musikalische Grundausbildung. Das Unterrichten und die Arbeit mit Kindern hat mich sehr erfüllt, jedoch auch vor das Problem gestellt, dass ich für diese Arbeit den richtigen Stimmgebrauch erlernen sollte. Durch eine Namensverwechslung bekam ich gegen Ende des Violin-Studiums Stimmbildung und dachte mir, dass ich die Chance nutze, zu lernen, wie man „richtig“ spricht, bevor man am Institut den Fehler bemerkt. Meine damalige Lehrerin Gertie Charlent meinte, dass es sich rentieren würde, weil ich eine schöne Stimme hätte und meldete mich einfach für die Aufnahmeprüfung zum zweiten Hauptfach an. Diese habe ich, wieder mit einer schweren Erkältung, bestanden. Mit Hilfe ihres alten HNO-Arztes konnten wir dann mein Gesundheitsproblem in den Griff bekommen. Er sagte, dass ich immer in der Praxis vorbeikommen könne, wenn ich „ein irgendwie komisches Gefühl im Hals“ hätte und dass ich so lernen solle, mein eigener Therapeut zu werden. So konnte ich in relativ kurzer Zeit lernen, meinen eigenen Zustand einzuordnen, meist die Nahrungsmittelauswahl anzupassen oder zu ändern und mit einfachen Hausmitteln dann selbst zum eigenen Wohlfühlen beitragen. Über die Jahre fand ich immer wieder HNO-Ärzte, die mich auf diese Weise anregten, mich mit meiner Gesundheit aktiv auseinander zu setzen, da man als Sänger sehr schnell wissen muss, ob man singen kann oder nicht, ob man einen banalen Infekt hat, eine Heilkrise oder vielleicht auch eine ernstere stimmliche Erkrankung hat. Diese „Gesundheitserziehung“ half mir in meiner Karriere sehr und hat mir vor allen Dingen geholfen, Schwierigkeiten zu erkennen, bevor sie zum echten Problem wurden. Ich habe dadurch auch einen viel bewussteren Umgang mit meiner Stimme angestrebt und versucht, schadhafte Methoden oder Techniken zu vermeiden.

Petra Lang: Brünnhilde in Wagners „Götterdämmerung“ am Grand Théâtre de Génève/ Foto Carole Parodi (mit Dank an die Pressestelle des Grand Théâtre)

Meine erste Lehrerin hat mich auch früh zu Meisterkursen geschickt, weil sie sagte, dass man als Sänger immer „im Entwicklungsprozess“ ist und offen sein sollte für Neues. Im Laufe der Jahre konnte ich wichtige Impulse von Sängern bekommen, die selbst lange aktiv auf der Bühne gestanden haben und mir so ihre Erfahrungen direkt weitergeben konnten: Judith Beckmann, Brigitte Fassbaender, Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Schreier, Hans Hotter und Ingrid Bjoner, die dann für 17 Jahre meine Lehrerin wurde. Großen Einfluss hatte auch Astrid Varnay, die schon früh meine Potenz für das dramatische Repertoire erkannte und mich sehr gut darauf vorbereitet hat – auch wenn ich zu dieser Zeit noch nicht den Schritt zu Wagners Heroinen sah. Ich hatte schon früh das Glück gehabt, mit guten Kollegen singen zu dürfen und auf gute Coachs und Repetitoren zu treffen – Kollegen, die ich fragen konnte, die mir auch einmal eine Warnung zukommen ließen oder mir ehrliche Wege zur Realisierung zeigten, die mir auch in der täglichen Arbeit zu einer Weiterentwicklung halfen. Ingrid Bjoner als auch Astrid Varnay betonten immer, dass man in diesem Beruf nur gesund „hinten“ ankommt, wenn man lernt, auf seine Stimme zu hören und wenn man versucht, sich nicht von Status und wirtschaftlichen Gesichtspunkten leiten zu lassen. Das kann eine schwere Prüfung sein – gerade, wenn es um Partien geht, die man gerne singen möchte. So wurde ich oft in meiner Karriere nach z.B. Elektra gefragt. Da gab es lange Gespräche mit Dirigenten und Regisseuren, die mir immer das Gefühl vermittelten, dass ich diese Partie mit „ihnen“  machen kann. Diese Frau auf der Bühne darzustellen, wäre ein großer persönlicher Wunsch. Die Töne kann ich singen. Jedoch verfügt meine Stimme nicht über das nötige Metall, um hier wirklich dauerhaft reüssieren zu können. Ich habe wirklich große Sängerinnen dieser Partie live gehört und weiß, welche stimmlichen Voraussetzungen man mitbringen muss, um hier erfolgreich zu sein. Das scheint heute Niemanden mehr zu interessieren. Ich hörte oft: „Wenn Sie keine Elektra singen wollen, dann wäre ja wohl der Weg ins Charakterfach mit Amme oder  Küsterin die Option.“ Diesem Denken liegen rein wirtschaftliche Interessen zu Grunde, ohne zu berücksichtigen, was meine Stimme wirklich leisten kann. Ich habe dank meiner Lehrer früh gelernt, auf mich aufzupassen und wirklich nur die Schritte zu gehen, die ich auch gehen kann. NEIN ist das wichtigste Wort für einen Sänger, und ich habe es häufig benutzt. Und es war auch sehr hilfreich zu wissen, dass ich immer eine andere Berufsoption hatte. Es kann mit dem Sängerberuf von heute auf morgen aus sein: durch gesundheitliche Beeinträchtigungen, durch stimmlichen Verschleiß, durch Erreichen des Rentenalters des entsprechenden Faches oder dass man einfach nicht mehr „flavour of the month“ ist. Da ist es immer gut, einen Plan B parat zu haben, der dann auch sofort greift.

Natürlich gehört auch eine ganz große Portion Glück dazu, dass ich dann trotzdem, die richtigen Partien zur richtigen Zeit singen darf und mit den richtigen Regisseuren und Dirigenten arbeiten durfte, um mich zu der zu entwickeln, die ich heute bin. Es war ein großes Glück, dass ich drei Jahre von Angelo Loforese lernen durfte und durch ihn noch einen Einblick in alte italienische Gesangstechniken bekommen konnte. Ich habe zwar immer, wenn ich in New York oder in London war, mit alten (italienischen) Coachs gearbeitet. Jedoch konnte mir keiner so plastisch und direkt diese eigentlich ganz einfachen Dinge zeigen. Wichtig war für mich auch, dass mein Mann, der als Vocal Coach arbeitet, mir immer konstruktiv und direkt gesagt hat, wo ich was verändern sollte. Es ist schon sehr hilfreich, einen vertrauensvollen Menschen mit Ohren zu haben, der ehrlich mit mir umgeht. Eigentlich ist für mich immer der Weg das Ziel. Wenn es Probleme zu lösen gibt, sehe ich diese immer als Aufgabe, der ich mich jetzt stellen sollte und bei der ich ein „gesundes“   Weiterkommen im Rahmen meiner Möglichkeiten anstreben sollte. Entscheidend ist, zu akzeptieren, dass man nicht auf einen Knopf drückt und dann entsteht sofort der fertige Sänger. Das Abrufen und Selbstverständlich-werden von muskulären Abläufen benötigt eine gewisse Zeit. Das kann man sehr gut bei Sportlern sehen, die auch eine Weile benötigen, bis sie Meister ihres Faches sind. Bei uns Sängern kommen noch die intellektuelle Auseinandersetzung mit Inhalt und der Projektion des Sinnes von Wort und Musik unter musikalischen und szenischen Gesichtspunkten dazu. Selbstverständlich sollte man dies alles in einem gewissen zeitlichen Rahmen realisieren können. Astrid Varnay sagte mir, dass man gut vorbereitet sein muss, um dann abzuliefern und dass man auch akzeptieren sollte, dass der Sängerberuf nichts für einen ist, wenn es nach einer gewissen Zeit nicht mit der Singerei klappt.

 

Petra Lang: Brünnhilde in Wagners „Siegfried“ am Grand Théâtre de Génève/ Foto Carole Parodi (mit Dank an die Pressestelle des Grand Théâtre)

Was bedeutet für Sie „gesund“ und speziell „stimmgesund“? Ich versuche, meine Ressourcen optimal zu nutzen und meine Möglichkeiten zu erweitern. Ich akzeptiere jedoch natürliche Grenzen, die ich nicht oder noch nicht überschreiten kann als gegeben. Mein Vorbild war immer meine alte Lehrerin, die im Alter noch eine völlig intakte und schöne Stimme hatte und ihren Schülern alles vormachen konnte. Ich hörte sie, siebenundsiebzigjährig, drei Wochen vor ihrem Tod, einer Studentin blitzsaubere, präzise Koloraturen der Königin der Nacht vorsingen. Das war schon sehr beeindruckend! Es gab früher viele Sänger, die stimmgesund aus dem Beruf schieden. Einfach weil sie immer im Rahmen ihres Faches und mit ihren stimmlichen Mitteln gesungen haben. Sicher besteht gerade bei den dramatischen Fächern eine größere Gefahr für einen frühen Verschleiß. Dieser ließe sich in den meisten Fälle durch kluge Rollenauswahl, zeitlich angepasste Planung und stabile Technik vermindern.

Für uns Sänger ist natürlich eine stabile Gesundheit wichtig. Neben einer entsprechenden Physis spielt auch die Ernährung eine große Rolle. Vielleicht kann man als junger Mensch noch einiges ausgleichen, jedoch mit fortschreitendem Alter wirken sich ernährungsbedingte Krankheiten im Sängerberuf noch stärker aus als bei der „Normalbevölkerung“. Wenn ich hier nur an die Auswirkungen der mit dem Metabolischen Syndrom verbundenen Krankheiten denke. Aus rein optischen Gründen ist es für adipöse Sänger heute mit den vielen Video-Mitschnitten sehr schwierig. Mit dem Übergewicht kommen häufig z.B. Atemnot, Probleme des Bewegungsapparates, Müdigkeit und mangelnde Ausdauer, Infekt-Häufigkeit und vieles mehr hinzu, erschweren die Belastbarkeit des Sängers und führen zu Einschränkungen in der Berufsausübung.

Die dramatischen Fächer, die großen physischen Einsatz, eine hohe Ausdauerleistung bei angemessener Flexibilität fordern, kann und sollte man beispielsweise erst in einem relativ fortgeschrittenen Alter nach entsprechender Entwicklung über lyrische Partien singen. Hier kann es hilfreich sein, ganz genau zu wissen, was man wann zu sich nehmen sollte, um die Leistungsfähigkeit zu optimieren. Ein Profi-Leistungs-Sportler ist in diesem Alter schon lange im wohlverdienten Ruhestand.

Petra Lang/ Foto Ann Weitz, Düsseldorf/ website Petra Lang

Ich durfte schon früh Systemische Tiefenentgiftung via Darm erlernen, habe mich viele Jahre mit Sporternährung beschäftigt, habe eine Food Coach Lizenz und einen Ernährungsberater-Abschluss, habe Ernährungsberatung in meinem privaten und beruflichen Umfeld gegeben und konnte so vor allen Dingen für mich selbst eine positive Stabilisierung mit relativ einfachen Ernährungsstrategien bewirken.

 

Welche Gesichtspunkte sind für Sie noch wichtig für eine lange und erfolgreiche Sängerkarriere und welche Methoden wenden Sie unterstützend an? Für mich als Sängerin war es immer wichtig, zu einem bestimmten Termin, an einem bestimmten Ort, meine Leistung auf den Punkt gebracht abrufen zu können. Dazu musste ich, neben der gesundheitlichen Stabilität, ein gutes, realistisches Zeitmanagement erstellen und durchführen und vor allen Dingen lernen, meinen Körper rasch zu regenerieren: Stimmlich, physisch und mental. Dies auch mit möglichst einfachen, natürlichen Mitteln und Methoden. So gehören für mich Krafttraining, Gymnastik, Schwimmen, Spaziergänge und Tai Chi als auch Massagen, Sauna und Bäder zur regelmäßigen Routine. Ich wende seit Jahren Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung nach Jacobson und Akupressur an und habe Abschlüsse als Entspannungstrainerin und Kursleiterin für PME, AT und Selbsthypnose. Ich habe in den vergangenen vierzehn Jahren Klangmassage Ausbildungen und viele Weiterbildungen in diesem Bereich absolviert und bin Zertifizierte Klangmassagepraktikerin der Steinbeis-Hochschule Berlin.

Ich habe meine Partien immer neben und lange vor der eigentlichen Probenphase im Theater, mit Regieassistenten, Dramaturgen und Psychologen erarbeitet, alle möglichen Aspekte der Rolle und ihres Umfeldes durchleuchtet, versucht, meine Körpersprache in das zu kreierende Rollenportrait einfließen zu lassen oder wenn nötig, auch radikal zu verändern. So konnte ich auch psychische Belastungen, die sich durch Inhalte und Wirken bestimmter Rollen ergeben, gut be- und verarbeiten. Es war für mich anfangs nicht so einfach, als Cassandra gewissermaßen immer gegen Wände zu rennen, als Judith gegen die eigenen Wertvorstellungen für eine Partnerschaft und Liebe insistierend, jede Zukunft mit Blaubart unmöglich zu machen. Und es braucht ganz schön viel Mut als wirklich böse Ortrud auf die Bühne zu gehen! Aber nur so werden die Figuren lebendig. Darum geht es mir beim Theater. Diese Überhöhung ist für mich zwingend, sonst bleibt es Konzert im Kostüm. Das Singen als selbstverständliches Ausdrucksmittel einzusetzen ist immer mein Ziel. Das setzt auch hier stimmliche Kontrolle, regelmäßige Überprüfung und Anpassung der stimmlichen Mittel an die jeweilige körperliche Verfassung voraus.

 

Petra Lang: Ortrud im „Lohengrin“ unter Donald Runnicles an der Deutschen Oper Berlin, hier mit Gordon Hawkins/ Telramund/ Foto Marcus Lieberenz/bildbuehne.de/ mit Dank den Fotografen und an die Pressestelle der DOB

„Klangmassage“ – das klingt spannend! Peter Hess fand heraus, dass man mit auf dem Körper angeschlägelten Klangschalen einfach eine Entspannung erzeugen kann und entwickelte die nach ihm benannte Klangmethode. Sie fördert Gesundheit und Selbstwahrnehmung und steigert das körperliche Wohlbefinden und wird mit großem Erfolg in verschiedenen Bereichen wie Therapie, bei Demenzerkrankungen, in der Sterbebegleitung, bei Geburtsvorbereitung und Geburt, in Schule, Kindergarten, für Wellness und Entspannung  eingesetzt. Vereinfacht gesagt, sucht sich der Körper die Klänge der Schale aus, die er momentan benötigt. Man kann sehr leicht in einen Entspannungs-Zustand kommen und so z.B. die Sinne schärfen, die Regeneration fördern,  die Fantasie anregen, Ideen entwickeln und Probleme auf einer anderen Ebene bearbeiten. Mir erleichtern die Klangschalen das „Runterkommen“ nach einer Vorstellung, sie sind sehr hilfreich bei Jetlag und in Stress-Situationen und geben meinem Lernen eine andere Qualität. Ich verwende sie auch beim Unterrichten und kann hier bei Sängern eine leichtere Umsetzung durch das bewusstere Spüren des eigenen Körpers erreichen. Beim Singen setzen wir ja unseren Körper als Instrument ein, und die Schalen ermöglichen mit der Zeit eine andere Durchlässigkeit und Resonanz des Körpers. Und so nebenbei finde ich es einfach entspannend, sich zur Abwechslung mit Klängen zu beschäftigen, die man nicht selbst herstellen und auf „Richtigkeit“ überprüfen muss.

 

Was heißt das für Sie in der Praxis? Als Sängerin bin ich dem Komponisten verpflichtet, d.h., ich muss die Partitur genau umsetzen, die richtigen Töne zur richtigen Zeit singen, den Inhalt transportieren und diesen auch szenisch optimal präsentieren.

 

Wann haben Sie sich dann entschlossen, Sängerin zu werden und wie sah der Weg in den Beruf aus? Nach meinem Violin-Examen hatte ich eine sehr gute Stelle an der Musikschule in Rüsselsheim. Ich studierte gleichzeitig Gesang und besuchte Meisterkurse. So auch bei Ingrid Bjoner, die mich dann zur „Münchner Singschul’“ eingeladen hat. Nach dem Vorsingen für diesen Kurs wurde ich sofort ins Opernstudio der Bayerischen Staatsoper engagiert. So hat gewissermaßen das Schicksal entschieden, dass ich auf die Bühne gehen sollte. Mein Operndbüt war am 15. September 1989 das zweite Bauernmädchen im Figaro unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch an der Bayerischen Staatsoper München. Und Cherubino, Dorabella, Ramiro, Rosina, Octavian, Suzuki waren meine Lieblingsrollen in jenen Jahren. Ich habe gerne Annina in Verdis La Traviata gespielt und habe mir mein erstes eigenes Auto mit dem Gastieren mit dieser Partie verdient.

 

Und wie fing das an mit Ihren Wagner-Partien? Und mit Ortrud? Ich sang schon 1992 die Waltraute in der  Dortmunder Walküre. 1994 kam dann die Waltraute in der Götterdämmerung dazu, gefolgt von beiden Frickas. Von Braunschweig startete dann Brangäne ihre Reise in die Welt.  Über die Jahre konnte ich dann nach und nach meine anderen Wagner-Rollen hinzufügen: Venus, Adriano, Kundry, Sieglinde, Brünnhilde, Isolde und Ortrud.

Astrid Varnay hat mir schon im Opernstudio prognostiziert, dass die Ortrud einmal „meine“ Partie werden würde und gab mir schon früh sehr viele hilfreiche Tipps. 1996 habe ich dann mit Ingrid  Bjoner begonnen, an der Ortrud zu arbeiten und habe auch immer wieder Astrid Varnay kontaktiert, um mit dieser Rolle „weiter zu kommen“. 2003 habe ich dann beim Edinburgh Festival unter der Leitung von Donald Runnicles meine erste Ortrud gesungen. Die erste szenische Aufführung war dann 2006 in Wien, ein paar Tage nach dem Tod meiner beiden verehrten Lehrerinnen.

In der Folge hatte ich das große Glück, diese Partie mit großen Regisseuren arbeiten zu dürfen, die mich immer wieder dazu brachten, Grenzen zu überschreiten und mir Mut zum Extremen gaben. Über die Jahre und mit den Brünnhilde– und Isolde-Erfahrungen hat sich die Ortrud entwickelt. Sie wurde nicht leichter – aber noch differenzierter im Vergleich zu den ersten Anfängen.

 

Petra Lang/ Foto Ann Weitz, Düsseldorg/ website Petra Lang

Offenbar entwickeln Sie  Ihre Partien immer weiter. Für mich steht die ganzheitliche Erfassung und Umsetzung der Vorgaben des Komponisten unter Berücksichtigung der Ideen und Übertragungen des jeweiligen Regisseurs im Vordergrund. Mein Opernschullehrer Harro Dicks sagte immer, dass das Herstellen der „Fliegenschisse“ – sprich der Noten – Voraussetzung für den Sängerberuf sei. Die große Kunst sei, durch die eigene Interpretation eine ehrliche, echte und wahrhafte Darstellung zu schaffen, die eine Überhöhung erzeugt. Nur dann hätte man ein „Recht“, auf die Bühne zu gehen und würden diesen Beruf auch lange ausüben  dürfen. Sicher sehr extrem gedacht – mit viel Wahrheit. Bei Harro Dicks durfte ich lernen, dass auf der Bühne eine andere Dimension hinzukommen muss. Astrid Varnay hat mir direkte Methoden an die Hand gegeben, wie man Rollen analysiert und wie man dies sängerisch umsetzt. Ingrid Bjoner hat mir gezeigt, wie man diese „Bühnen-Übermenschen“ für sich verständlich und nachvollziehbar mit ganz einfachen, praktischen Assoziationen umsetzen kann. Es war ein langer Weg des Suchens und Probierens, dass diese Ausbrüche auf der Bühne auch stimmlich stabil und abrufbereit wurden. Wie schon gesagt: der Weg ist das Ziel. Ich durfte mich mit meinen Rollen entwickeln und so neue Farben finden. Das ist schon ein großes Geschenk!

Die extremste Entwicklung hat sicher meine Kundry erlebt, die über die Jahre, dank guter Regisseure, sehr viele Facetten gewann. Jedoch habe ich bei allem „Spiel“ nie die Basis aus den Augen verloren: alle Töne richtig und zum richtigen Zeitpunkt abzuliefern.

Wichtig für meine Entwicklung war neben dem richtigen und vorsichtigen Aufbau meines Opernrepertoires auch immer der stimmliche Ausgleich im Konzertbereich. Hier hatte ich kein Kostüm zum Verstecken, stand gewissermaßen „nackt“ auf der Bühne und musste allein mit stimmlichen Mitteln den Inhalt transportieren. In Liederabenden viele verschiedene Rollenportraits ohne äußere Hilfsmittel und nur im Gesicht und mit der Stimme zum Leben zu erwecken war und ist immer eine große Herausforderung. Es war immer ein großes Kompliment, wenn man meiner Mahler-Interpretation nicht den Wagner anhörte und dass ich umgekehrt meinen Wagner-Partien viele Farben und dynamische Schattierungen hinzufügen konnte.

 

Petra Lang/ als Cassandre (neben Marcus Brück/ Chorebe) in „Les Troyens“ von Berlioz an der Deutschen Oper Berlin/ Foto Matthias Horn/ mit Dank an die Pressestelle der DOB

Sie haben sehr viele Mahler-Aufführungen im Laufe Ihrer Karriere gesungen. Was macht diesen Komponisten so besonders für Sie? Die Werke Gustav Mahlers haben mir immer geholfen, in Bescheidenheit und Demut in der Realität anzukommen. Ich konnte meinen Erfolg nur erreichen, weil ich seiner Musik „diente“, jegliche persönliche Eitelkeit hintanstellen konnte und so eine große Befriedigung erfahren durfte. Seine Lieder und Symphonien waren wie Medizin für mich und meine Stimme. Die vielen Nuancen und Dynamikabstufungen, die es herzustellen galt, halfen, meine Stimme flexibel  und jung zu halten. Man ist bei der Oper leicht versucht, nur auf Lautstärke und großen Ton zu gehen und vergisst, dass Muskulatur und Nerven, Stimme in Körper und Seele, einen Ausgleich und eine Regenerationsmöglichkeit benötigen. Und: Oper heißt nicht zwangsläufig nur: laut singen. Um alle Facetten einer Rolle und des Textes umzusetzen, bedarf es einer Stimme, die flexibel vom Mezza Voce zur Vollstimme in allen Registern an- und abschwellen kann. Kurz: eine gesunde, gut funktionierende Stimme!

Schreiben verschiedene Komponisten unterschiedlich für die Stimme? Gibt es für Sie verschiedene Ansatzpunkte? Ich versuche, immer dem Stil eines jeden Werkes gerecht zu werden, den Text gut zu transportieren und die jeweils benötigten Klang-Farben umzusetzen. Dies erfordert eine große Flexibilität. Rein technisch gesehen, entnehme ich diese Bandbreite einer Ausnutzung meiner stabilen technischen Möglichkeiten. Ich bin also flexibel in der Anpassung an den jeweiligen Stil, bei gleichbleibendem technischen Vorgehen. Der Pianist Jürgen Uhde sagte mir einmal, man müsse, vereinfacht gesagt, erkennen, ob eine Phrase Deklamation oder Melodie sei und sie dann entsprechend gestalten. Beethoven führt Stimmen oft sehr instrumental, während  sich die vielen Farben in Mahlers Werken über eine feine Bearbeitung der Worte ergeben. Bei Wagner dominiert die Deklamation neben wunderbar melodischen Phrasen. Strauss’sche Frauenrollen leben von herrlichen, lang gespannten Melodiebögen in hoher Lage. Ich versuche, nie zu vergessen, dass, bei allem „Klang-Management“, wir Sänger den Text als Transportmittel des Sinns nie vernachlässigen sollten. Hilft die richtige Projektion der Worte doch auch die Stimme richtig zu platzieren und eine künstlerische Aussage zu machen.

 

Petra Lang/ Foto Ann Weitz, Düsseldorf/ website Petra Lang

Sie wurden sicher schon oft nach der Isolde gefragt. Warum haben Sie sich erst relativ spät entschieden, diese Partie zu singen? Ich hatte großen Respekt vor jeder Sängerin, die mit der Isolde auf die Bühne geht. Ich war immer vorsichtig und bin immer nur die Schritte gegangen, die ich auch wirklich gehen konnte. Die Isolde bekam ich schon früh angeboten – für mich zu früh. Als ich dann so langsam meiner Agentur grünes Licht für diese Rolle gab, wurde mir signalisiert, dass es genug Isolden gäbe und dass man mich nicht in dieser Partie sehen würde. Glücklicherweise verlor man in Bayreuth 2015 in der Probenzeit die Isolde, und Katharina Wagner fragte mich am Abend nach den Lohengrin-Sitzproben, ob ich die kommenden Tage die Isolde in den Tristan-Sitzproben übernehmen könnte. Ich sagte, dass man dann hören könne, wie Jemand diese Rolle singt, der halt 19 Jahre daneben gestanden hat. Ich bekam noch am Abend eine Probe mit dem Assistenten von Christian Thielemann und lernte die halbe Nacht die Partie. Nach der Probe für den ersten Akt hat man mir die Isolde in Bayreuth für die nächsten vier Jahre angeboten. Ich bekam noch die Chance, die Hauptprobe von der Seite mit Noten zu singen. Dies war für mich wichtig, um zu sehen, ob ich das überhaupt „überleben“ würde. Die Tristan-Hauptprobe fand ebenfalls wieder einen Tag nach der Lohengrin-Orchesterhauptprobe statt. Und es hat einen riesen Spaß gemacht. Dann kam die schwierige Phase des Studiums, während ich meinen vollen Kalender zu erfüllen hatte. Ich habe einige Male gedacht, dass ich vielleicht besser bei der Kundry geblieben wäre, worauf mein Mann immer wieder sagte: „Geh ans Klavier und studiere Isolde.“ In 2016 war dann die öffentliche Generalprobe in Bayreuth mein erster „Durchgang“ dieser Partie. Da braucht es schon gute Nerven. Kolleginnen haben mir immer wieder gesagt, dass man bei der Isolde nicht darüber nachdenken dürfe, wie lange und schwer diese Partie wirklich ist. Man sollte wissen, was man tut und darauf vertrauen, dass der Körper dann das Richtige macht.

 

Und die Brünnhilde? Bei der Brünnhilde muss ich eigentlich drei verschiedene Frauenstimmen abdecken: „Die Walküren-Brünnhilde ist bis auf die Hojotohos eine Mezzo-Partie“ (Originalton Ingrid Bjoner). Für die Siegfried-Brünnhilde, die eher eine jugendlich-dramatische Stimme voraussetzt, benötigt man neben der Tragfähigkeit auch sehr viele Pianofarben. Und die Götterdämmerungs-Brünnhilde ist ein ausgewachsener dramatischer Sopran mit einer guten Mittellage und einer stabilen, durchschlagkräftigen Höhe. Das eigentliche „Problem“ ist aber, dass Brünnhilde aus eben diesen drei Partien besteht und dass man einen Weg finden muss, diese aufeinanderfolgend, mit einem Tag Pause, zu singen. Das geht nur mit viel Disziplin und dem Wissen, wie man das herstellen kann und die richtigen stimmlichen Voraussetzungen für diese Umsetzung besitzt. Das erfordert schon Erfahrung im Sinne von wirklich gesungenen Partien auf der Bühne. Astrid Varnay sagte mir, dass die Walküre nichts mit dem Säugetier Wal oder Walross zu tun hat und damit auch keine Entschuldigung für übergewichtige Sängerinnen gegeben ist, die in ihrem eigentlichen, vermutlich deutlich lyrischeren Fach auf Grund ihres Körperumfangs nicht engagiert werden und sich in dieses Repertoire wagen. Brünnhilde ist ein junges, sportliches, energiegeladenes Mädel, das mit ihrem Pferd Grane durch die Lüfte reitet. Zum Kämpfen benötigt eine Amazone Muskeln – es braucht viel zu viel Energie und Zeit, um aus Fett Energie zu gewinnen – womit wir wieder bei der Ernährung angekommen wären.

 

Wie lernen Sie eine neue Partie wie Brünnhilde? Mit viel Zeit!  Ich habe immer schon früh angefangen, meine Partien vorzubereiten, sie zu studieren, sie in die Stimme zu singen und in den Körper zu bekommen – lange bevor ich die Rollen akzeptiert hatte. Ingrid Bjoner riet mir immer, dass ich vorher wissen muss, ob und wann ich eine Partie singen kann, bevor ich einen Vertrag unterschreibe. Ich hatte das große Glück, dass ich über die Jahre in der Walküre Waltraute, Fricka und Sieglinde, in der Götterdämmerung Floßhilde, 2. Norn und Waltraute sang und so von den Brünnhilden-Sängerinnen viel lernen durfte. So war ich 20 Jahre mit Walküre und Götterdämmerung beschäftigt, bevor ich selbst meine erste Brünnhilde sang. Ich sang 19 Jahre lang Brangäne vor der Isolde. Die Erfahrung mit den anderen Partien im jeweiligen Stück ersetzt nicht die Arbeit an der großen Partie. Denn auch hier galt für mich immer, dass man Rollen nicht vom Zuhören lernt. Ich musste sie mir immer gut für mich zurechtlegen und durch effizientes Wiederholen stabilisieren. Das braucht Zeit und wiederum Vorstellungen, um sich die Rollen wirklich zu eigen zu machen.

Grundsätzlich fange ich mit dem Rollenstudium am Klavier an. Das heißt, ich lerne die Partie eine ganze Weile, ohne zu singen. Dann spreche ich die Texte – frei und im Rhythmus der Musik. Gleichzeitig vokalisiere ich die Töne und suche die passenden Resonanz-Räume für einen optimalen Klang. Wenn das einzeln funktioniert, setze ich Text und Musik zusammen – Phrase für Phrase. Das braucht Zeit, rentiert sich, weil ich so eine Stabilität erreiche, auf die ich später leicht zurückgreifen kann. Die langjährige Dresdner und Bayreuther Souffleuse Gaby Auenmüller hat  mir gesagt, dass Sänger, die sehr schnell zu lernen scheinen, häufiger Text-Probleme haben und auch aufgrund der Tatsache, dass sie schnell lernen auch schneller mehr Repertoire singen und durch die nicht wirkliche Durchdringung und stabile körperliche Umsetzung eher technische Probleme bekommen.

Parallel zum technischen Ausarbeiten lerne ich die komplette Oper, arbeite die Orchester-Partitur durch, um zu wissen, wo ich wann mit welchen Instrumenten korrespondiere, lese Sekundär-Literatur, besuche Vorstellungen, um zu überprüfen, wo vielleicht noch Schwierigkeiten sein könnten, die ich nicht bedacht hatte. Wenn diese Arbeiten abgeschlossen sind und ich meinen technischen und interpretatorischen Ansatz habe, gehe ich zu einem Korrepetitor und/oder Regieassistenten und vertiefe die Rolle. Und dies lange bevor die Proben beginnen. Bei manchen Partien schon lange bevor ich einen Vertrag unterschreibe. Bei der Brünnhilde musste ich mir schon sehr sicher sein, dass ich dies auch wirklich kann. Und selbst bei aller Vorbereitung habe ich mir diese Partie erst im Laufe von Aufführungen er-singen können.

Eine sehr strategische Vorgehensweise!  Ja! In der 8. Klasse bekam ich in meinem „Star-Fach“ Mathematik eine 5 im Zwischenzeugnis, weil ich auf Grund von krankheitsbedingtem drei-wöchigen  Fehlens, wichtiges Basiswissen verpasst hatte und so den Anschluss nicht herstellen konnte. Ich setzte mich im folgenden Vierteljahr hin, habe mir den mir fehlenden Lernstoff einverleibt und mich gleichzeitig mit Lern- und Lehrtechniken autodidaktisch beschäftigt. Die Jahres-Mathematik-Note war dann wieder eine 2. Seit dieser Zeit habe ich mich in meiner freien Zeit mit pädagogischen, didaktischen und psychologischen Themen mit viel Freude  intensiv beschäftigt.

Praktische Erfahrung konnte ich schon während der Schulzeit bei der Mathematik-Nachhilfe sammeln. Ich konnte hier schon auch direkt überprüfen, wie zielführend meine Herangehensweise war. Individuell auf den einzelnen Schüler abgestimmt, ihm die Angst vor den Zahlen nehmen und ihm Wege zu zeigen, wie er „seine“ Denkweise und deren praktische Umsetzung positiv in die Tat umsetzen kann

Noch begleitend zum Violinstudium unterrichtete ich Violine und Viola und kam durch ein Missverständnis zum Unterrichten der Musikalischen Früherziehung. Hier habe ich in kurzer Zeit  ein eigenes Unterrichtskonzept entwickelt und konnte auch hier in der Praxis überprüfen, was funktioniert und was nicht. Mit diesen Erfahrungen habe ich dann, beim Wechsel an eine größere Musikschule, mit Erlaubnis der Schulleitung und des Früherziehungslehrkörpers, das von der Schule verwendete Programm „Musik und Tanz für Kinder“ entschlackt und den Bedürfnissen der „vorhandenen“ Schüler angepasst. Mit dem Ergebnis, dass die Einschätzungen und Instrument-Empfehlungen zu 98 Prozent trafen und die Instrumentallehrer glücklich waren ob der körperlichen Vorbereitung, der rhythmischen Sicherheit, der präzisen Hörfähigkeit und vor allen Dingen der Freude der Kinder an der Musik. Hier hatte man mich auch gefragt, ob ich das „Experiment“ eingehen würde,  jeweils ein behindertes Kind in den Früherziehungskurs einzubinden.  Da ich im Bekanntenkreis Psychologen und Psychiater hatte, konnte ich mir hier direkt praktisches Wissen aneignen, im Zweifelsfalle Antworten auf meine Fragen bekommen und dieses Experiment wurde zum großen Erfolg. Die autistischen bzw. gehirngeschädigten Kinder konnten eine deutliche positive Entwicklung durchmachen und das soziale Gefüge im einzelnen Kurs wurde deutlich durch Rücksichtnahme und Sinn für gemeinsames Musizieren und Lernen gestärkt. Interessanterweise war in diesen Kursen der Lernerfolg gesteigert. Auch durch verstärktes Engagement der Eltern und vielleicht durch Besinnung auf höhere Inhalte des Lebens. Diese Erfahrungen konnte ich sehr gut in meine eigene sängerische Arbeit einbinden. Meine nun 30 Jahre dauernde Karriere und meine heutige stimmliche Verfassung sprechen deutlich für die Richtigkeit dieser Herangehensweise.

Heute gibt es viele wunderbare „Lern-Strategien“, die durch Forschungen in den Bereichen Neurologie und Psychologie mehr Verständnis über die Arbeitsweise des Gehirns liefern.

 

Petra Lang/ Foto Ann Weitz , Düsseldorf/website Petra Lang

Sie geben schon seit Jahren viele Meisterkurse für Gesang und werden ab dem Herbst 2019 mit einer Dozentur beginnen. Was möchten Sie den jungen Sängern vermitteln? Ich habe während meiner gesamten Karriere immer unterrichtet. Da kamen meist Kollegen, die Rat suchten in Bezug auf Rollenauswahl oder die vor einer Nicht-Verlängerung standen, wo es galt, relativ schnell sängerische Probleme zu lösen oder Studenten, die sich durch ihren Hauptfach-Professor unzureichend betreut fanden. Meisterkurse sind eher als kleine Vitaminspritze zu verstehen, die dem Sänger helfen sollen, neue Anregungen für seine Weiterarbeit zu bekommen. Man hat mir über die Jahre verschiedene Professuren angeboten. Jedoch fand ich den Zeitpunkt immer verfrüht. Solange ich noch quasi rund um die Uhr als Sängerin unterwegs war, konnte ich mir nicht vorstellen, für eine Gesangsklasse Verantwortung zu übernehmen. Auch konnte ich einige technische Zusammenhänge erst mit dem Singen erkennen. Ich wollte auch immer wissen, wie sich das Klimakterium auf die stimmliche Leistung auswirkt. Meine Ärztin hat auch schon früh begonnen, den Hormonspiegel zu kontrollieren, so dass meine „Wohlfühl“-Werte bekannt waren, um bei Problemen eventuell mit bioidentischen Hormonen auszugleichen. Ich konnte mit Ernährungsstrategien sehr viel für mich bewirken, so dass ich dieses Notfall-Programm glücklicherweise nie aktivieren musste. So konnte ich noch viele Punkte „abarbeiten“, die sich sicher als nützlich für die Sängerausbildung erweisen werden.

Über die Jahre kam ich immer mehr zu dem Schluss, dass man versuchen sollte, in der Ausbildung der Sänger Dinge so anzulegen, dass sie später, bei eventuellen Problemen, in der Lage sind, sich eigenständig zu helfen oder zumindest zu wissen, wo sie Hilfe bekommen können. Dies schien mir nur in einer festen Lehrposition möglich und mit Sängern in deutlich jüngerem Alter. Wenn es bei einem Sänger „irgendwie“ funktioniert, will er eigentlich meist nur die Abkürzung zum Ziel, ohne den Umweg seines Problems zu bearbeiten. Denn er möchte weiter Geld verdienen und solange er engagiert wird, wird ihm die Wirklichkeit oft viel zu spät bewusst.  Einige Kollegen, denen ich so über die Jahre weiterhelfen konnte, haben mich bestärkt, endlich „fest“ zu unterrichten, um meine, in der Realität des harten Berufsalltags gesammelten Erfahrungen, an den Nachwuchs weiter zu geben.

Ich freue mich sehr, dass mich das Schicksal wieder zurück an das Institut geführt hat, an dem ich selbst ausgebildet wurde und wo der Grundstein zu meiner internationalen Karriere gelegt wurde. An der Akademie für Tonkunst Darmstadt werde ich zum September 2019 eine halbe Dozentur für Hauptfach Gesang erhalten und mir meinen großen Traum eines Seminars „Klangentspannung für Musiker“ erfüllen dürfen. Mein Unterrichtskonzept für Gesangs-Meisterkurse PetraLangKlang® wird hier in erweiterter Form Anwendung finden.

Petra Lang: Ortrud im „Lohengrin“ unter Donald Runnicles an der Deutschen Oper Berlin/ Foto Marcus Lieberenz/bildbuehne.de/ mit Dank den Fotografen und an die Pressestelle der DOB

Hauptaugenmerk des Gesangsunterrichts ist natürlich auf die technische Basis des Singens der Studenten zu legen, auf die dann ihre Interpretation zurückgreifen kann. Die jungen Sänger sollen möglichst rasch selbstständig Eigenverantwortung für ihr Singen übernehmen können und ein Wissen erwerben, dass ihnen hilft, IHREN Weg zu finden und zu gehen. Mir ist immer wichtig, dass die Sänger fokussiert und mutig mit positiven Erfahrungen aus der Gesangsstunde gehen. Die neuen Anregungen, die sie weiterverfolgen können, sollen sie motiviert weiter arbeiten lassen und ihr Ziel, lange Stimm-gesund den Sängerberuf ausüben zu können, erreichen lassen (http://www.petralang.com/Studium-Education)

 

Waren Wettbewerbe und Meisterkurse hilfreich zu Beginn Ihrer Karriere? Meisterkurse halfen mir, neue Eindrücke zu sammeln und von den praktischen Erfahrungen der berühmten Sänger zu lernen und so meine eigenen Singing-Tools zu erweitern. Wettbewerbe habe ich in erster Linie dazu benutzt, um Auftritts-Erfahrung zu sammeln, meine Belastbarkeit in solchen Situationen zu trainieren und auch, um mich im Business vorzustellen. Schön waren natürlich die ersten Preise beim IVC s’Hertogenbosch, beim Robert-Stolz-Wettbewerb Hamburg oder beim Alexander-Girardi-Wettbewerb in Coburg. Die Aufbesserung der “Kasse“ hat mir sehr geholfen – konnte ich so Noten und Abendkleider kaufen, konnte Vorstellungsbesuche machen und meine Vorsingen finanzieren.

 

Was ist für Sie die Quintessenz für langes, erfolgreiches berufliches Singen? Qualität ist für mich das Schlüsselwort. Auch wenn mir ein Agent weismachen wollte, dass es heute nicht mehr um Qualität ginge, ist für mich Qualität und deren Erhaltung der Motor meines Tuns. Bei aller Technik, allen optischen Äußerlichkeiten, bei allem Ringen um die „wahre, richtige“ Interpretation, war für mich immer entscheidend, dass es aus mir heraus entstand und nicht aufgesetzt war. Dies war und ist nur mit seelischer Beteiligung und Ehrlichkeit gegenüber Kollegen, dem Werk und mir selbst möglich. Man kann vielleicht mit Emotion einiges erreichen. Für mich besteht die große Kunst jedoch darin, die Mittel, die man gewissermaßen unsichtbar einsetzt, in den Dienst der Aussage zu stellen, der Seele ihren Platz zu geben und so die Bühnenfigur zum Leben zu erwecken. Das Gespräch führte Stefan Lauter.

 

http://www.petralang.com/PetraLangKlang/Mein-Leitfaden

Tiefsinniges

 

Dass der Bariton Christian Gerhaher ein nachdenklicher Sänger ist, das wusste man längst, dass er geradezu ins Grübeln, so über die Anordnung einzelner Lieder in einem Liederkreis, kommen kann, zeigt sich bei seinen Ausführungen im Booklet zu seiner neuen CD mit dem Titel Frage. Hier sind ausschließlich Schumann-Lieder und zwar vornehmlich der unbekannteren Art versammelt. Besonders die Ironie, durchaus ein romantisches Stilmittel, hat es Gerhaher angetan, auch wenn sie in Heines Die beiden Grenadiere und Fröhlichs „Die Nonne“ schwer auszumachen ist, noch weniger in den Vertonungen Schumanns. Allein den  Dominantseptakkord am Schluss eines kurzen Lieds als ironisches Stilmittel anzusehen, ist gewagt. Geheimnisvolles in die Anzahl 12 für den  Liederkreis auf Texte von Kerner aufgrund der 24 für die Winterreise zu deuten, eventuelle 11 (Fußball – die Profanität in Person!) Lieder als Unmöglichkeit anzusehen, heißt die Interpretationssucht aufs Äußerste treiben.

Das Booklet ist die eine, die Interpretation kann eine ganz andere Sache sein. Allerdings unterscheidet sich Christian Gerhaher auch hier von den meisten anderen Sängern, indem der Text das für die Interpretation Maßgebliche zu sein scheint, wobei nicht die durch ihn erzeugte Gesamtstimmung gemeint sein muss, sondern manchmal auch nur ein einziges Wort. Weniger wichtig scheint ihm hingegen die musikalische Linie zu sein. Allerdings wechseln einander Lieder, in denen zugunsten der Melodie über Zeilenende hinweg in die nächste Zeile gesprungen wird, mit solchen ab, in denen am Ende eines Verses eine noch längere Pause eingehalten wird, als der Text es nahelegt.

Es beginnt mit den sechs Gesängen opus 107. In „Herzeleid“ (Ophelia) wechseln Verhangenes und Auffahrendes einander ab, in „Die Fensterscheibe“ wird die Andersartigkeit der jeweils letzten Zeile einer Strophe  besonders stark betont, in „Der Gärtner“ werden die Extreme Zartheit und Leidenschaft ausgelotet, was in „Die Spinnerin“ auf die von Behändem und Verharrendem zutrifft. Die Betonung der Gegensätze setzt sich in „Im Wald“ fort, wenn es einmal hurtig, einmal getragen zugeht, in „Abendlied“ hell und dunkel miteinander kontrastieren.

Der strahlende „Kaiser“ in den beiden Grenadieren widerspricht eigentlich der Behauptung, Heine und Schumann verhielten sich gegenüber dem Thema ironisch, insbesondere der Schluss und das Nachspiel geben sich ausgesprochen elegisch.

In „Warnung“ kommt der Tod fast lautlos daher, in Drei Gesänge opus 83 werden in „Resignation“ Metrum und Gesangslinie gesprengt, was dem Stück nur gut tut, so wie in „Die Blume der Ergebung“ durch ein verhuscht klingendes Singen Peinlichkeiten des Textes erträglich werden. Eine andere literarische Qualität hat Eichendorffs „Der Einsiedler“, so dass die virile Bedächtigkeit die angemessene Haltung ist.

Auch in den Liedern nach Texten von Kerner zeigt sich der Sänger als Freund von Gegensätzen, so zwischen dem einheitlichen Trübsinn von „Stirb, Lieb‘ und Freud‘“ und  den unterschiedlichen Farben für die einzelnen Strophen von „Sehnsucht nach der Waldgegend“. Immer wieder fällt auf, dass weniger die Gesamtstimmung eines Liedes als einzelne Worte bestimmend sind, so das extrem hervorgehobene „teuerem Blute“ und das „tönt nach“ wie ein Echo in „Auf das Trinkglas eines verstorbenen Freundes“. Auch in „Wanderung“ erfolgt der plötzliche Ausbruch aus der Versonnenheit überraschend. Insgesamt legt der Bariton mehr Wert auf interpretatorischen Tiefsinn als auf gesangliche Schönheit.  Vier Gesänge opus 142 beschließen die CD, Heines „Mein Wagen rollet langsam“ charakterisiert sehr schön die „Schattengestalten“ mit verhauchendem Gesang. Gerold Huber begleitet den eigenwilligen Sänger einfühlsam am Klavier (Sony 19075889192). Ingrid Wanja   

CARLO FRANCI

 

Der in Argentinien geborene italienische Dirigent und Komponist Carlo Franci (18. Juli 1927 – 22. März 2019) war 40 Jahre lang (1974-2014) eng der Oper Frankfurt verbunden. Er hat mit seinen herausragenden Interpretationen die Geschichte des Hauses maßgeblich geprägtCarlo Franci hat an allen großen Opernhäusern Italiens gearbeitet, Orchester wie das London Symphony Orchestra, das BBC Symphony Orchestra, die Wiener Philharmoniker, die Wiener Symphoniker sowie das Salzburger Mozarteum Orchester geleitet und zahlreiche Opernvorstellungen u.a. in Berlin, Hamburg, München, Wien, Madrid, Barcelona, Zürich, Tokio, Rio de Janeiro und Pretoria dirigiert. ln Pretoria war er von 1990 bis 1997 Chefdirigent des Transvaal Philharmonic Orchestra. An der Metropolitan Opera in New York stand er bei über 90 Vorstellungen am Pult, gastierte aber auch in anderen amerikanischen Städten wie Boston, Cleveland, Detroit und Dallas. Zahlreiche von Carlo Francis eigenen Kompositionen wurden u.a. an der Mailänder Scala, der Accademia di Santa Cecilia und im italienischen Rundfunk (RM) aufgeführt. Carlo Franci gab regelmäßig Meisterkurse u.a. in Südafrika, wo er auch eine Schule für Dirigent*innen gründete. (Text Oper Frankfurt, Foto Wolfgang Runkel)

 

Carlo Franci hat nicht nur an vielen Opernzentren der Welt (wie Wien, Berlin, Hamburg, die Scala, London und viele andere) ebenso wie zahlreiche Plattenaufnahmen bei den großen Firmen dirigiert, sondern er war auch ein wirklich bedeutender Komponist, namentlich von Filmmusiken. Viele sind heute vergessen, aber beispielhaft folgt hier eine Erinnerung an einen seiner in Italien höchst erfolgreichen „Sandalenfilm“, dessen Musik ein amerikanischer Filmkritiker nachstehend beurteilt:

We are releasing for the first time the complete edition CD of the OST by Carlo Franci for the film „The Invincible Gladiator“ (original title „Il gladiatore invincibile“)  of 1961.  Carlo Franci (Buenos Aires , July 18, 1927), also known under the pseudonym Francis Clark, studied in Rome with Goffredo Petrassi. He is an orchestra conductor and a composer for theatre productions. He did the music for many films during the 50s and 60s including: „Woe to the Vanquished Ones“, „79 A.D.“, „Goliath and the Rebel Slave“ and „The Secret Seven“.

Carlo Franci schrieb die Filmmusik zu „Der Unbesiegbare“ 1961, hier das Poster/ OBA

For this film the composer wrote a symphonic score to describe the heroic endeavours, where dramatic and violent passages for the battle scenes are alternated with a romantic and nostalgic love theme which is gloriously reprised in the finale. Maestro Franci used a symphonic orchestra, dominated by powerful French horns. For the realization of our CD (total running time 68:48 minutes) we used the mono master tapes of the recording session which took place over half a century ago in 1961 and have been kept in good condition until now.
Directed in 1961 by Antonio Momplet. Starring Richard Harrison, Livio Lorenzon, Leo Anchóriz, Ricardo Canales, Isabelle Corey, Antonio Molino Rojo, Jole Mauro, Edoardo Nevola, José Marco.
In the kingdom of Acaste the wicked Rabirio holds the fate of the government in the name of ten-year-old Dario who is heir to the throne. Recio, a gladiator, saves Rabirio’s life by killing the man who had attacked him. Recio is released and put in charge of the soldiers, who must defeat a gang of bandits hiding out in the mountains. Recio discovers that the bandits are actually patriots being led by Sira, Dario’s sister, and they are fighting against Rabirio’s oppression. Rabirio decides to get rid of Recio and little Dario (against Recio’s wishes), but he fails. The people rise up against Rabirio and he is executed. Peace returns to Acaste and Recio can finally marry the beautiful Sira. (Text soundtrackcorner)

Sonnenaufgang über Livorno

 

Zumindest die von den Faschisten misbrauchte Chornummer „ L‘Inno al Sole“ und die Tenorarie „April la tua finestra“ haben, wenn auch weniger in deutschen Landen, aus Mascagnis Oper Iris in Wunschkonzerten überlebt, während andere Opern des Livornesen gänzlich dem Vergessen anheimgefallen sind. Aus seiner Geburtsstadt Livorno stammt die Aufnahme aus dem Jahr 2017, deren optische Realisierung ganz in japanische Hände gelegt worden war, wie bei Madama Butterfly  ein zweischneidiges Unterfangen, denn trotz des Studiums der japanischen Musik und der Verwendung gewisser ihrer Elemente durch die beiden Komponisten bleiben ihre Werke wegen der Musik ganz und gar italienische. Ungewöhnlich an Iris ist, dass sie nicht auf ein literarisches Werk zurückgeht, sondern eine Eigendichtung des vielschreibenden Luigi Illica war. Bei der Uraufführung 1898 in Rom war der Erfolg ein immenser, und das nicht zuletzt wegen der gerade modernen Leidenschaft für exotische Stoffe. In den letzten Jahren gab es besonders in Italien wieder Aufführungen, so unter Gianandrea Gavazzeni. Die Neuköllner Oper Berlin führte vor einigen Jahren eine auf ihre Möglichkeiten zugeschnittene Fassung auf.

Iris ist die Geschichte einer unschuldigen jungen Japanerin, einer Mousmé, der ihre Schönheit zum Verhängnis wird. Ein reicher Lebemann lässt sie während einer Aufführung durch Komödianten  in ein Freudenhaus entführen. Als sie seine Liebe zurückweist, verliert er das Interesse an ihr, der Bordellbesitzer benutzt sie als eine Art Aushängeschild für sein Etablissement. Der blinde Vater von Iris glaubt,  sie habe ihn freiwillig verlassen , bewirft sie mit Schmutz und beschimpft sie. Iris wirft sich verzweifelt in einen Abgrund, wird von Lumpensammlern beraubt, hört noch einmal die Stimmen ihrer drei Peiniger  und stirbt, nicht ohne im Todeskampf durch die aufgehende Sonne und die angebeteten Blumen ihres Gartens getröstet zu werden. Sogar die geliebte Puppe, die sich im ersten Akt in einem schlechten Zustand befand, ist intakt wieder mit ihr vereint.

Die Bühne von Sumiko Masuda ist zuerst einmal sehr bunt, verwendet die Blume Iris als wiederkehrende Dekoration, taucht sogar auf einem der schönen Kimonos, die Iris trägt, auf (Kostüme Tamao Asuka) und nimmt symbolistische Züge an, so wenn sich im ersten Akt Schlangen um das bescheidene Häuschen von Iris und ihrem blinden Vater winden. Phantastisch gelernt, sich wie eine japanische Frau vergangener Zeiten zu bewegen hat die Sängerin der Iris, aber auch die Geishas im zweiten Akt stehen ihr darin nicht nach. Regisseur Hiroki Ihara lässt so den Eindruck der Authentizität perfekt werden. Optisch ist das eine Arbeit wie aus einem Guss.

Leider sind die Sänger nicht so gut, dass ihnen eine Ehrenrettung des Werks gelingen könnte. Paola Marrocu hat an ersten Häusern gesungen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme  hatte die Stimme wenig Farbe und Rundung, klang die Höhe schrill und ist es um das Vibrato nicht gut bestellt. Trotzdem kann ihre Klage im dritten At den Hörer bewegen. Der Tenor Paolo Antognetti hat ein angenehmes Timbre für den Möchtegernverführer Osaka, singt munter drauf los, aber leider ohne jede Schattierung und nicht immer sicher in der Intonation. Hohl und substanzlos ist die Stimme von Manrico Signorini für den blinden Vater. Solides Material kann Carmine Monaco d’Ambrosia für den Kyoto einsetzen. Eine auffallend schöne Stimme hat der Lumpensammler, den Didier Pieri singt. Seine Arie „Ad ora bruna e tarda“ ist von schöner Melancholie.

L’Inno al Sole und auch der Schlusschor werden nicht nur vom Bühnenpersonal, sondern auch von einem Zusatzchor (Coro Ars Lyrica unter Marco Bargagna) sehr eindrucksvoll und mit Hingabe gesungen. Das Orchestra Filarmonica Pucciniana unter Daniele Agiman vermag Mascagni-Üppigkeit zu vermitteln.

Wie immer hat Bongiovanni aus Bologna ein informationsreiches Booklet geliefert. Es gibt Untertitel in Italienisch und Englisch (AB 20039). Ingrid Wanja

Aus der Oper Frankfurt

 

Marie Stejskalová las die Lidové noviny und musste herzlich über die Bilderfolge von von Stanislav Lolek und die Texte von Rudolf Tésnohlidek lachen. Durch das Lachen der Hauswirtin wurde Leos Janáček auf die Abenteuer des Füchsleins in den Lidovky aufmerksam, für die er selbst regelmäßig Feuilletons schrieb. Die Idee zur siebten seiner zehn Opern, die am Tag seines 70. Geburtstags 1924 in Brünn uraufgeführt wurde, war entstanden. Bald war klar, dass die Vorlage geändert werden musste, um dramatische Konturen zu gewinnen, die Geschichte lustig beginnen, sich ernsthaft entwickeln und schließlich wieder heiter enden solle. Weniger als die Hälfte der 23 Kapitel Tésnohlideks wählte Janáček dazu aus, wobei er endlich auf seine Notizen über das Gezwitscher der Vögel seines Gartens zurückgreifen: ein Kreislauf des Lebens, in dem Janáček die menschlichen und tierischen Figuren in Analogie setzte und den Förster am Beispiel des jungen Füchsleins, welches am Ende Mutter einer großen Fuchsfamilie ist und von einem Wilddieb erschossen wird, mit dem Leben versöhnen.

An der Oper Frankfurt, wo 2016 eine Neuinszenierung der Oper herauskam (Inszenierung: Ute M. Engelhardt), braucht Johannes Debus 90 Minuten, um diese Bilder zu umreißen, um zwischen Wald und Försterhaus, Fuchsbau und Schenke, Garten und Lichtung die mährische Landschaft zu erkunden. Den ständigen Wechsel der Perspektiven fängt Debus, wie jetzt auf der CD nachzuerleben (Oehms Classics 2 CD 982), mit der Akribie eines Sachwalters um, der sich Janáčeks musikalische Forschung und minutiöse Klangrede zu eigen gemacht hat. Im klaren und direkten Klagbild erhalten die Tiere des Waldes, die Grille, Heuschrecke, Mücke und der quakende Frosch, eine Stimme, sind sie mit ihren kurzen Kommentaren und Geräuschen nicht nur trefflich charakterisiert, sondern fast greifbar wie im Streichelzoo. Dennoch herrschen ein wuselndes Eilen und Rennen, Flirren und Gewebe und eine quecksilbrige Ruhelosigkeit, wo man sich manchmal einen Augenblick des Verweilens wünscht. Die Wiedergabe wird bestimmt vom reaktionsschnellen Wechsel, dem szenischen Drive, der durch die Bühnengeräusche verstärkt wird, aber auch die gute Arbeit mit dem Ensemble und der lebhaften Klangrede, seien es die Kinder Frantik und Pepik (Ioannis Germanidis und Jascha Mössle) und der weise Dackel (Nina Tarandek), sie alle blitzen als lebhafte Episoden auf. Louise Alder ist ein körperhaft sinnliches Füchslein Schaukopf, farblich gut abgesetzt die Mezzosopranistin Jenny Carlstaedt als verführerischer Fuchs – beider Begegnung gerät um reizvollen Verführungsakt. Als trinkfreudiger Schulmeister klingt Beau Gibson etwas verdruckst, als Pfarrer Magnús Baldvinsson angemessen altväterlich. Simon Neal als Förster und Sebastian Geyer als Haraschta wirken etwas strapaziert, was ihren Rollenbildern kaum Abbruch tut. An Aufnahmen des Schlauen Füchsleins bestand eigentlich kein dringender Bedarf – wenngleich die großen Aufnahmen von Bohumil Gregor 1970 bzw. von Charles Mackerras und Václáv Neumann auch schon Anfang der 80er Jahre entstanden –  doch diese präsente, plastisch klare, gut durchhörbare und durch gestische Beredsamkeit und dramatische Intensität bezwingende Aufnahme ist ein Gewinn. Rolf Fath

Faszinierend homogen

 

Zielstrebig werden bei Bel Air Media (mit Produzent François Duplat an der Spitze) Opernaufführungen für Fernsehübertragungen und Veröffentlichung auf DVD/Blu-ray ausgewählt, die nicht nur von Stars, sondern von einer starken Gesamtkonzeption leben – zuletzt wieder öfters (aber nicht nur) an der Bayerischen Staatsoper. Dort waren die Münchner Opernfestspiele 2016 dramaturgisch vielleicht insofern die geschlossensten der letzten Jahre, als die Begegnung mit Fremdem und Exotischem als Motto über das traditionelle Opernrepertoire hinaus (auch in den kleineren Produktionen der Festspiel-Werkstatt) eingehalten wurde. Am deutlichsten jedoch in der zweiten großen Neuinszenierung, die im Münchner Prinzregententheater herauskam: Les Indes Galantes von Jean-Philippe Rameau. Der Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui hat dabei mit seiner Compagnie Eastman Antwerpen (wo Cherkaoui auch geboren ist) und dem hervorragenden Sängerensemble eine Inszenierung geschaffen, die paradoxerweise alles andere als traditionalistisch oder historisierend dem Genre der opéra-ballet gerecht wird. Sängerische und tänzerische Teile der Produktion gehen faszinierend homogen ineinander über.

Die Episodenstruktur des Librettos hat Cherkaoui aufgegeben und stattdessen quasi einen Bogen leichter (aber nicht vollkommen assoziativer) Handlungselemente geschaffen. Sie bilden eine Bestandsaufnahme zu europäischen Entwicklungen heutiger Tage; das Konzept zum „anachronistischen Raum“ von Anna Viebrock erläutert Cherkaoui selbst auch im Beiheft zur DVD/Blu-ray. Ein wenig der Regie-Holzhammer kommt dabei zum Vorschein, wenn aus dem die Himmelszeichen zu seinen Gunsten auslegenden und manipulierenden Inka Huascar ein katholischer Priester wird, dem, anstelle der Lavabrocken eines selbst provozierten Vulkanausbruchs, die Hostie der Eucharistiefeier zum Verhängnis wird.

Wenn Cherkaouis Inszenierung aber an den Grenzzäunen Europas endet und die im Libretto vorgesehene Vereinigung der Indianer untereinander in eine Übereinkunft Europas mit den Vereinigten Staaten umfunktioniert wird, schließt sich der Kreis – auch weil Lisette Oropesa als Hébé des Prologs und Zima des Finales sich neben ihrer vokalen Brillanz eindrucksvoll unter die Tänzer der Compagnie Eastman mischt. Dass Oropesa gesanglich dabei dem Gesang nach eher im späten 18. und 19. Jahrhundert beheimatet scheint, fällt auf, aber nicht aus dem Rahmen. Statt puristisch ist das Ensemble mit Elsa Benoit (Emilie), Anna Prohaska (Phani/Fatime), Ana Quintans (L’Amour/Zaïre), Cyril Auvity (Valère/Tacmas), Mathias Vidal (Carlos/Damon), Tareq Nazmi (Osman/Ali) und François Lis (Huascar/Alvaro) in den wichtigsten Rollen auch sonst eher bunt besetzt, was Stimmmaterial und -schulung betrifft. Prohaska interpretiert die Phani beispielsweise mit der von ihr gewohnten liedhaften Wortbehandlung, aber auch etwas manieriert. Auvity und Lis sind wiederum um idiomatischen Tenor- (bzw. haute-contre-) und Bass-Gesang bemüht, kämpfen jedoch leicht mit dem Stimmsitz. Und Vidal wurde von der Kritik schon im romantischen Fach (mit Gounods Cinq-Mars) als zu „barock“ und umgekehrt just für Rameau als zu modern gescholten. Ich persönlich halte ihn schlicht für einen der heute besten Allrounder seiner Zunft.

All diese möglichen Einwände fallen letztlich unter Ivor Bolton geschickt dosierender musikalischer Leitung des Münchner Festspielorchesters und des hervorragenden Balthasar-Neumann-Chores kaum ins Gewicht. Hinzu kommt, dass durchgehend hervorragende schauspielerische Leistungen zu verzeichnen sind. Schade allenfalls, dass die Kameraführung gelegentlich unter den besonderen Voraussetzungen im Münchner Prinzregentheater (der Schräge des Zuschauerraums) zu leiden scheint: mal durch die Distanz, mal durch die Tendenz zur Froschperspektive bei Nahaufnahmen. Dennoch waren diese Indes Galantes als lebendiges und durchaus diskussionswürdiges Musiktheater festspielwürdig – und bleiben es auch in der audiovisuellen Aufzeichnung. Sebastian Stauss

Othmar Schoeck: „Das Schloss Dürande“

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In seiner Novelle Das Schloss Dürande erzählt Joseph von Eichendorff eine schöne Geschichte aus uralten Zeiten. Die Oper will man unbedingt bis zum Schluss erleben. Armand, der junge Graf von Dürande, und Gabriele, die Schwester des gräflichen Jägers Renald Dubois, verlieben sich. Sie ahnt nicht, wer der Unbekannte ist, mit dem sie ihr Bruder des Nachts überrascht. Renald schießt auf den Unbekannten, Gabriele wirft sich schützend vor Armand und wird leicht verwundet. An einer zurückgelassenen Pistole erkennt Renald, dass es sich bei dem Unbekannten um den jungen Grafen handelt. Aus Furcht, Armand mache seine Schwester zur Hure, schickt er Gabriele zu ihrer Tante, der Priorin, ins Kloster. Armand taucht dort ebenso auf wie Renald, und als Gabriele erfährt, das Armand den Winter in Paris verbringen wird, reist sie ihm in Männerkleidern nach. In den Wirren des Jahres 1789 lässt sich Renald von den Revolutionären anwerben, um in seinen privaten Rachefeldzug zu ziehen. Während draußen die Revolution das Land verändert, hat sich der alte Graf auf dem Schoß von der Welt zurückgezogen, wo er nach einiger Aufregung erschöpft stirbt. Die Nonnen und die Revolutionäre nähern sich dem Schloss, auch Gabriele, die neuerlich den Geliebten rettet, indem sie in Armands Kleidern die Feinde auf eine falsche Fährte lockte. Sie wird angeschossen und stirbt in Armands Armen. Renald schießt auch auf Armand. Zu spät erfährt er vom alten Diener Nicolas, dass beider Liebe rein und aufrichtig war. Renald eilt zum Pulverturm, um das Schloss zu sprengen. Mit einer gewaltigen Explosion, die das erschrockene Publikum der Uraufführung an einen Bombenangriff der Alliierten glauben ließ, endet die Oper.

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Kann man eine Oper reinwaschen? Übermalen wie ein altes Bild? An der Berner Kunsthochschule hatte sich ein Team aus Musikern und Textlieferanten daran gemacht, Othmar Schoecks 1943 an der Berliner Staatsoper uraufgeführte Oper Das Schloss Dürande durch eine „interpretierende Restaurierung“ spielbar zu machen. Mit einer gewissen Naivität hatte sich Schoeck, der sich das Sujet für seine neue Oper, die gleichnamige Novelle Eichendorffs (1837) selbst ausgesucht hatte, auf einen Textdichter eingelassen, dem ihm ein Mäzen ans Herz gelegt hatte. Der süddeutsche Dichter Hermann Burte war seit 1936 Nazi-Mitglied, verfasste Hitler-Gedichte und Spitzelberichte, schaffte es auf die „Gottbegnadeten-Liste“ und durchtränkte seinen Operntext mit völkischer Blut-und-Boden-Reimerei. Dessen ungeachtet, sind Burtes Knittelverse ohnehin schwer erträglich, faselte doch der Jagdhüter, der versehentlich seine Schwester anschießt, „Du hast ihn gedeckt, und hast mich erschreckt! Beim Himmel, ich will nicht hoffen – Du blutest! – Bis du getroffen?“ Göring telegrafierte prompt an den Generalintendanten Tietjen, „Habe soeben das Textbuch der zur Zeit aufgeführten Oper Schloss Dürande gelesen. Es mir unfassbar, wie die Staatsoper diesen aufgelegten Bockmist aufführen konnte. Der Textdichter muss ein absolut Wahnsinniger sein“. +

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Nach dem Ende des „Dritten Reichs“ wollte niemand etwas von dieser vom Nationalsozialismus infiltrierten und zwei Monate nach der Verkündigung des „Totalen Kriegs“ uraufgeführten Oper wissen. In Deutschland war sie unmöglich geworden, in der Schweiz nahm man Schoeck übel, mit dem Feind kokettiert zu haben und nach Berlin gereist zu sein, wo es ihm schmeicheln musste, dass sich allererste Kräfte wie Peters Anders, Maria Cebotari, Marta Fuchs, Willy Domgraf-Fassbaender und Josef Greindl unter der Leitung von Robert Heger für sein Schloss Dürande einsetzten.

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Nun also die Restaurierung, wozu der Schriftsteller Francesco Micieli das Libretto verfasste „unter freier Verwendung von Texten von Joseph von Eichendorff, auf der Basis des originalen Opernlibrettos von Hermann Burte“. Mario Venzago dirigierte im Vorjahr eine konzertante Aufführung. Das Meiniger Staatstheater machte sich nun unter Leitung seines Schweizer GMD daran, das Werk zu retten, genießt doch Schoeck seit der Wiederentdeckung seiner Opern, darunter Venus (1921), die Balzac-Oper Massimilla Doni (1937) und vor allem seine Penthesilea nach Kleist (1927) – die beiden letzten wurden an der Semperoper uraufgeführt – einen ausgezeichneten Ruf. Die Übermalung hat nicht viel gerettet. Noch immer ist das Libretto einigermaßen gestelzt, wenngleich die Eichendorff-Texte – sowohl aus der Novelle wie einige seiner Gedichte – der Oper mit ihren Bildern vom Spielmann, den Traum- und Alte-Zeit-Motiven eine Duftigkeit zu geben bemüht sind, wie man sie mit den Schumannschen Lied-Zyklen verbindet; daneben treten die Figuren auch aus ihren Rollen und sprechen an der Rampe in der dritten Person von den Begebenheiten. Die Text-Collage hat vermutlich nur das Gröbste abgemildert. Doch noch nie hat ein schlechter Text eine Oper zunichte gemacht.

Schoecks Oper „Das Schloss Dürande“ in einer Neufassung am Staatstheater Meiningen/ Szene/ Foto wie auch oben Sebastian Scholz

Die Oper, deren historischen Hintergrund Giordano in Andrea Chénier schlagkräftig auf die Opernbühne wuchtete, wird bei Schoeck zum Stationendrama mit fröhlichen Nonnen, die in die Weinberge ziehen, und Aufständischen, die sich mit leichten Mädchen amüsieren und am Stammtisch schwadronieren. Nie kommt er auf den Punkt, nie wird etwas wirklich dramatisch verdichtet, sondern in den langen drei Stunden endlos zerredet. Schoecks Sympathien gelten dabei eindeutig dem Adel und der vom Freiherrn von Eichendorff vertretenen Ansicht, „Es ist überhaupt ein Irrtum, wenn man den Adel jener Zeit als die ausschließlich konservative Partei bezeichnen will.“ Wirft doch der alte Diener Nicolas vor, nur aus niederen Motiven, blankem Hass und menschlicher Kälte gehandelt zu haben. Der treue alte Diener ist ein schönes Motiv, das durch den Auftritt des markanten und mit soigniertem Bassbariton singenden Roland Hartmann davor bewahrt wird, gar zu larmoyant zu werden. Immer eine Freude ist es, Anna Maria Dur zu hören, die der Priorin neben süffig profunder Tiefe, eleganter Geschmeidigkeit und einer immer noch sicher sitzenden Stimme auch Herzensgüte und Humor zukommen ließ, eine durchaus runde Figur, wie es der zur Karikatur verkommene alte Graf des charaktertenoral schleimigen Matthias Grätzel und Sonja Freitags harmlose Gräfin Morvaille nicht waren. Mine Yücel war mit einem leuchtenden jugendlich-dramatischen Sopran, der jubelnde wie fast liedhafte intime Momente mit fesselnder Freunde umspannt, eine ideale Gabriele, Odrej Saling mit engem, leicht näselndem Tenor und heldischen Kornetttönen ein hinreichend sympathischer Armand, Shin Taniguchi ein zur Wutfratze verzerrter, durchgehend wortdeutlich deklamierender und ebenmäßig auf Linie singender Renald Dubois. Das umfangreiche Ensemble war vor allem im dritten Akt, in Paris, eingesetzt, wo es unter den tumben Freudschreien, „Jugend und Jubel in Lust“, für anrüchige Atmosphäre sorgen musste. Schoeck hängt den alten Zeiten nach wie der in seine Spieldosen verliebte Graf. Das ist nichts, was aufhorchen lässt, doch ist eine durchgehend meisterhafte Tonklöppelei zu spüren, klingeln die Glöckchen an der richtigen Stelle, tönen die Hörner bei der Jagd, vermittelt das Klavier Intimität, wird ein wenig zu häufig die Marseillaise zitiert, erklingt sehnsüchtig das Geigensolo zu Gabrieles Weltschmerz. Man merkt Schoecks Verbundenheit mit dem Lied, dem sein umfangreichstes Schaffen galt, denn in den volksliedhaft poetischen Bildern und den zarten liedhaften Insel erreicht er eine feine und vornehme Wort-Ton-Intensität und Subtilität des Ausdrucks, die sich ihrer nostalgischen Gebrochenheit und Rückwärtsgewandtheit durchaus bewusst zu sein scheint, wenngleich der Eindruck durch die routiniert fließende Illustration von umfangreichen Textmassen und hohlem Parlando immer wieder zunichte gemacht wird. Welke Melancholie dominiert anfangs auch in Ansgar Haags Inszenierung, die auf einer schrägen Ebene mit einer für alle Orte einsatzbereiten, gekippten Würfelbühne die Zeit aus den Fugen geraten lässt und eine gebrochene Herbststimmung auf die Wände wirft (Bernd Dieter Müller und Annette Zepperitz), die in den Farben der Kostüme wiederkehrt und der Liebesgeschichte auf dem provenzalischen Schloss den Keim des bösen Endes einpflanzt. Haag versagt sich jegliche Stellungnahme zu den Umständen der Entstehung, ergreift nicht Partei. Muss er auch nicht, doch gar so brav und unbeholfen hätten seine szenischen Handreichungen nicht ausfallen müssen, bei denen sich die die Choristen auf der engen Bühne drängeln – egal ob im Kloster oder in Paris mit seiner 20er Jahre Verruchtheit – und die Figuren wenig Spannkraft entfalten. Das mag auch ein Mangel von Schoecks illustrierender musikalischer Reihung sein, die nie den oft gemachten Vergleich mit Strauss erzielt. Das ist gutes Handwerk, eine schöne Geschichte, ein großer Erfolg bei der dritten Aufführung (16. März 2019), denn Philippe Bach und die Hofkapelle Meinigen identifizierten sich spürbar mit der Musik, die sie mit seidigem Streicherklang und markanten Akzenten versahen. Rolf Fath

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier

Herausragend

 

Wie oft kommt es vor, dass man ein Buch von der ersten bis zur letzten Seite in einem Atemzug verschlingt, es nicht vor dem Lesen auch des Epilogs wieder schließen möchte und traurig ist, wenn man es schließlich ausgelesen aus der Hand legen muss?!  Helmut Deutsch gelingt das Wunder mit seiner Autobiographie mit dem Titel Gesang auf Händen tragen – Mein Leben als Liedbegleiter, viel klüger gewählt als der einer Biographie, die den Titel „Im Schatten des Sängers“, der schließlich umgewandelt wurde in „Im Schatten des Sängers?“, trug und eigentlich heißen müsste „Aus dem Schatten getreten“.

So wie sich Helmut Deutsch nach eigenem Bekunden Gedanken um den Aufbau eines Liederabends macht, auf kurze längere, auf schnelle langsamere Lieder folgen lässt, so hat er offensichtlich auch das Buch ganz bewusst gegliedert und lässt Kapitel über Sänger, mit denen er besonders häufig oder gern oder beides zusammen gearbeitet hat, auf solche mit Gedanken über Musik, Liedgesang, dessen Begleitung und alles, was sie tangiert, einander abwechseln. Das geht soweit, dass er im Inhaltsverzeichnis die Sänger-Kapitel groß, die über allgemeine Themen klein drucken ließ. Einige der Sänger äußern sich auf dem vorderen Klappentext und auf der Rückseite des Einbands und zwar diejenigen, mit denen gemeinsam er seine bisher letzten großen Erfolge erzielte, so 2018 mit Diana Damrau und Jonas Kaufmann mit einer Tournee mit Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch.

Das Geleitwort zum Buch stammt von Alfred Brendel, und allein die Tatsache, dass er sich zu einem solchen bereit fand, spricht bereits im vornherein für den Wert des Buches.

Schont der Autor die Sänger, mit denen er jetzt zusammen arbeitet wie Jonas Kaufmann mehr als diejenigen, die bereits seit Jahren tot sind, so wie Hermann Prey, der ihn über vielerlei Schrullen und Absonderlichkeiten staunen ließ, so über das „optische Forte“ und den „Fischer-Dieskau-Komplex“, oder sind die heutigen Künstler einfach „normaler“? Letzteres scheint der Fall zu sein, denn der Verfasser erweckt nirgends den Eindruck, jemandem nach dem Mund reden oder schreiben zu wollen, sondern lässt sein Buch als ein durch und durch ehrliches erscheinen, aus dessen jeder Zeile die Achtung und Liebe gegenüber der Musik und ihren Botschaftern, die Sänger, spricht. Dazu wird es liebens- und lesenswert durch den Humor, der nicht zu kurz kommt, so bei der Schilderung des japanischen Musiklebens, das Deutsch besonders gut kennt, da er, geraume Zeit mit einer japanischen Sängerin  verheiratet, sich häufig und lange in dem asiatischen Land aufhielt und hier auch beruflich tätig war. Dabei wird auch über die Tätigkeit vor allem vor und während der Begleiterzeit, die als Korrepetitor und Lehrer, berichtet.

Deutsch erzählt davon, wie er seit Kindesbeinen mit klassischer Musik konfrontiert war, wie seine Verehrung, ja Leidenschaft für Franz Liszt ihn das ganze bisherige Leben hindurch begleitete und die für schöne Stimmen, deren er, da die Karriere eines Begleiters ungleich länger dauern kann als die eines Sängers, die mehrerer Generationen kennenlernte: sowohl Viorica Ursuleac wie Camilla Nylund, Peter Schreier wie Michael Volle und die er  nicht nur auf dem Flügel begleitete, sondern die teilweise zu Freunden wurden.

Der Leser kann sich auf Begegnungen mit Josef Protschka, Olaf Bär, Brigitte Fassbaender, Bo Skovhus, Bernd Weikl,  Angelika Kirchschlager, Thomas Quasthoff, Juliane Banse, Dietrich Henschel, Andreas Schmidt (Brahms-Aufnahmen!), Grace Bumbry, Matthias Goerne und Piotr Beczala, über Stefanie Irányi und Peter Mauro freuen und die taktvolle Ausgewogenheit des Berichtens jenseits von Verklärung oder Klatsch.

Sehr interessant sind auch die Ansichten von Deutsch über das Üben, über die Arbeit mit dem Sänger, den Zustand der Hochschulen für Musik, denen er vorwirft, sie weckten in unbegabten Studenten falsche Hoffnungen,  um den eigenen Bestand zu sichern.  Klaviere und Flügel, die auch schon mal direkt aus einem Rockkonzert statt von einem Auftritt Claudio Arraus kommen können, sind ein anderes Thema. Wertvolle Ratschläge gibt es in den Kapiteln über die Verhütung von Katastrophen bei der Vorbereitung eines Konzertabends, über nationale Eigenarten beim Publikum einschließlich des Hustens, über Zugaben und über Notenwender, die durchaus eine tragende Rolle spielen können.

Mancher Leser wird sich erleichtert von dem Vorwurf freisprechen , er sei ein Banause, weil kein Liebhaber moderner Musik, denn Deutsch bekennt offen, er kenne keinen Sänger, der sie gern singe, und kaum jemanden, der sie hören wolle. Ähnlich kritisch werden die Musikjournalisten gesehen, das aber ohne Bissigkeit, stattdessen humorvoll und gelassen.

Toleranz bestimmt auch die Aussagen über Werktreue und das Gegenteil davon, das Bewahren von Aufführungstraditionen, auch im Bereich der Oper ja ein beliebtes Thema. Verzierungen „in bescheidenen Maßen“  findet Deutsch tolerierbar, von inszenierten oder getanzten Liederabenden hält er nichts. Er glaubt an das Fortbestehen der Kunstform, auch wenn das Wissen um Lyrik und Mythen heutzutage gering ist und das Publikum ein zahlenmäßig kleines. Am Ende des Buches, wenn der Verfasser bekennt,  trotz seines Alters weiterhin gern seine Kunst ausüben zu wollen, freut man sich aufrichtig darüber und hofft mit ihm, dass sein Wunsch, noch einmal eine Tournee wie die mit Diana Damrau und Jonas Kaufmann unternehmen zu können, in Erfüllung geht.

Das Buch enthält zahlreiche Fotos von Helmut Deutsch mit „seinen“ Sängern, eine Vita, Ein Diskographie (Auswahl), ein Personenregister, einen Bildnachweis und eine Bibliographie (225 Seiten, Henschelverlag 2019; ISBN 978 3 89487 803 0) Ingrid Wanja

María aus Buenos Aires

 

In einer Live-Aufnahme aus dem Jahre 2016 legt Capriccio Astor Piazzollas Operita en dos partes María de Buenos Aires vor (C5305, 2 CD). Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem Theater Bonn, dem Beethoven Orchester Bonn und den Deutschlandfunk Kultur. Dirigent ist Christoph Sprenger, der mehrere Jahre Kapellmeister an der Oper Bonn war und viele zeitgenössische Musikwerke interpretiert hat. Auch zu Piazzollas spezifischem Stil mit der Einbindung von Fuge und Toccata sowie dem südamerikanischen Tango hat er eine besondere Affinität, denn die Einspielung sprüht vor Vitalität, ist reich an Lokalkolorit und fängt die Atmosphäre des Geschehens bezwingend ein.

Die Handlung ist in Buenos Aires angesiedelt, wo ein Geist die Erscheinung und Stimme von María de Buenos Aires heraufbeschwört. María lebte für den Tango und die Liebe – obwohl sie ihren größten Verehrer, den träumenden Gorrión, stets abgewiesen hat. Ihr Weg führte durch Nachtlokale und zweifelhafte Cabarets schließlich in die Unterwelt. Sie stirbt, von Dieben und Hurenmüttern verflucht. Ihr Schatten soll ihre Schuld bis in die Ewigkeit mit sich herumtragen. Verloren irrt dieser durch die Stadt, wendet sich in seiner Verzweiflung an das Volk, die Trauer um ihn nicht aufzugeben. In einer Magischen Bar im 30. Stock eines Wolkenkratzers erzählt er verwirrt von Geburt, Sterben und Reinkarnation. Am Ende wird ein Mädchen geboren, das vielleicht wieder eine María sein wird.

Daniel Bonilla-Torres gibt den Geist, El Duende, mit prononciertem Sprechgesang. Er ist auch später noch in diversen Parts eingesetzt, es sind ausschließlich Stimmen (Voces), wo er seinen sinnlichen Stimmklang wirkungsvoll einsetzen kann – Stimmen von Männern, die aus dem Mysterium zurückgekehrt sind, von Alten Dieben, Hurenmüttern, Psychoanalytikern, Nudelwalzerinnen und Magischen Maurern. Diese Aufzählung zeugt von den Bizarrerien des Stückes, die auch die Sängerin der Titelrolle, Luciana Mancini, betreffen, denn sie interpretiert auch den Schatten Marías. In ihrem ersten Auftritt stellt sie in Vokalisen das tema de María vor. Die Stimme mit sinnlich lockendem Klang ist die einer Diseuse. In ihrem berühmten Canción, „Yo soy María“, kann sie mit üppigem, schwelgerischem Klang eine ganze Palette von Temperament, Erotik und Lebensgier zeigen. Ihr Thema kehrt auch in dem delikaten  Poema  valseado mit seinen träumerischen Walzeranklängen wieder. Als sombre di María, Marias Schatten, singt sie mit dunkel verschattetem  Ton. Und die letzte Nummer des Werkes wiederholt noch einmal ihr Thema. Dem dritten Mitwirkenden der Aufführung, Johannes Mertes, fallen gleichfalls mehrere Aufgaben zu – den Alten Anführer der Diebe, den Ersten Psychoanalytiker mit seinem Gassenhauer „Buenos Aires, Buenos Aires“, den Träumenden Gorrión sowie die Stimmen eines Gauchosängers und des Sonntags. Sein gleichermaßen klangvoller wie ausdrucksstarker latino-Tenor vermag all diesen Porträts eine prägnante Kontur zu verleihen. Die idiomatisch besetzte Aufnahme dürfte für alle aficionados der Musik Piazzollas un gran placer sein. Bernd Hoppe

Hans Günther Nöcker

 

Mit Bedauern hörten wir vom Tode des Bass-Baritons Hans Günter Nöcker, der am 20. März 2019 verstarb. Als Berliner erinnere ich mich gerne an seine Pizarros und Telramunds an der Deutschen Oper Berlin, wo seine kernige, gut gestützte und sehr persönlich gefärbte Bass-Stimme ein Garant für eine nachdrückliche Interpretation war. Auch sein Mandryka oder Holländer bleiben mir in Erinnerung, und sein elegantes, individuelles Spiel fügte seiner stimmlichen Leistung eine überzeugende Dimension hinzu. G. H.

Auch die Bayerische Staatsoper trauert um das langjährige Ensemble-Mitglied Hans Günter Nöcker. Der Sänger verstarb letzte Woche im Alter von 92 Jahren.  Hans Günter Nöcker gab 1960 sein Debüt an unserem Haus; zwei Jahre später wurde er Ensemblemitglied, das er bis 1998 war. Er sang an der Bayerischen Staatsoper ein umfangreiches Repertoire, darunter: Don Pizarro (FIDELIO), Jochanaan (SALOME), Mandryka (ARABELLA), den Holländer, Klingsor (PARSIFAL), Beckmesser (DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG), Dr. Schön (LULU) und Gloster (LEAR)

 

Zu seiner Vita hier ein Auszug aus dem unentbehrlichen Kutsch-Riemens: Nöcker, Hans Günter, Baß-Bariton, * 22.1.1927 Hagen (Westfalen); Studium bei Carl Momberg in Braunschweig, bei Hans-Hermann Nissen und bei Willi Domgraf-Fassbaender in München. Debüt 1952 am Stadttheater von Münster (Westfalen) als Alfio in »Cavalleria rusticana«. Er ging von dort für die Spielzeit 1953-54 an das Stadttheater von Gießen und war 1954-65 an der Stuttgarter Staatsoper engagiert, wo er 1957 in der Uraufführung von Carl Orffs »Comoedia de Christi Resurrectione«, 1959 in der von »Oedipus der Tyrann« vom gleichen Komponisten mitwirkte. Er wurde 1965 an die Bayerische Staatsoper in München berufen, an der er 1969 an der Uraufführung der Oper »Aucassin und Nicolette« von Günter Bialas teilnahm, und an der länger als 25 Jahre wirkte. Häufige Gastspiele an der Deutschen Oper Berlin, an der Staatsoper von Wien, an den Opernhäusern von Köln, Hamburg, Frankfurt a.M. und an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg. Bei den Festspielen von Schwetzingen gastierte er 1966 in »Armide« von Gluck. Im Ausland trat er beim Maggio musicale von Florenz, beim Edinburgh Festival, an den Opernhäusern von Brüssel, Palermo, Venedig und an der Covent Garden Oper London auf. Er wirkte bei den Festspielen von Bayreuth 1958-60 als Hans Schwarz in den »Meistersingern«, 1959 als Melot im grin« und 1984 als Beckmesser in den »Meistersingern« mit. 1989 sang er bei den Festspielen von Salzburg in einer konzertanten Aufführung von Fr. Schrekers »Die Gezeichneten«. Am 23.10.1972 nahm er an der Deutschen Oper Berlin an der Uraufführung der Oper »Elisabeth Tudor« von Fortner, am 27.11.1963 in München an der Uraufführung von Werner Egks »Verlobung in San Domingo« (in der Rolle des Hoango), 1978, gleichfalls in München, an der Uraufführung von A. Reimanns Oper »Lear« teil. 1983 Gastspiel in Venedig als Klingsor im »Parsifal« am 25.9.1984 am Deutschen Opernhaus Berlin in der Uraufführung von A. Reimanns »Gespenstersonate«, 1986 in München in der Uraufführung von V.D. Kirchners »Belshazar« aufgetreten, 1991 bei den Festspielen von Schwetzingen in der Uraufführung der Oper »Enrico« von Manfred Trojahn, 1994 bei den gleichen Festspielen in der der Oper »Sansibar« von Eckehard Mayer. 1990 sang er in München in C. Orffs »Trionfo d’Afrodite«, 1992 den Dörfling in H.W. Henzes »Prinz von Homburg«. Auf der Bühne im heldischen wie im Charakterfach, im Konzertsaal in einem umfassenden Repertoire aufgetreten. Noch 1997 trat er an der Münchner Staatsoper als Kruschina in der »Verkauften Braut«, als Baron Douphol in »La Traviata« und als Hermann Ortel in den »Meistersingern« auf.

Schallplatten: Schallplatten: BASF (»Trionfi« von Carl Orff), DGG (»Oedipus der Tyrann« von C. Orff, Mozart-Quartette), Eurodisc (»Götterdämmerung«), Orfeo (»Die Verlobung in San Domingo«, Mitschnitt der Uraufführung von 1963), CPO (»Enrico« von M. Trojahn); Castle-Video (»Tannhäuser«). [Lexikon: Nöcker, Hans Günter. Großes Sängerlexikon, S. 17844; (vgl. Sängerlex. Bd. 4, S. 2546) (c) Verlag K.G. Saur]/ Foto Bayerische Staatsoper

Die Husaren kommen

 

Einsam wiegt sich der Husar in Erinnerungen, „Denkst du daran“. Ausgerechnet auf das Schloss seiner Väter wird Oberleutnant von Lörenthy zum Herbstmanöver abkommandiert. Wie sein Nachkomme, der verarmte Graf Tassilo in der Gräfin Mariza, hockt er als „Zaungast des Glücks“ und rechtmäßiger Erbe vor dem Schloss, in dem ausgelassen gefeiert wird und das er sich zu betreten weigert. Denn darin residiert seine Jugendliebe Baronin Riza von Marbach, die ihn einst wegen eines reichen Rivalen verließ, welcher Lörenthy die Frau und sein Schloss nahm. Eine Wiederbegegnung mit der inzwischen verwitweten Riza ist ebenso unausweichlich wie das glückliche Ende. Für Riza riskiert Lörenthy das unehrenhafte Ende seiner militärischen Laufbahn, wird begnadigt und kann fortan „Tanzen wie ein Schneidergesell und trinken wie ein Bürstenbinder“. Wir wissen nicht, was ein Wehrbeauftragter zu diesem Manöver und den Finten, mit denen der Husar vor einem unehrenhaften Ende bewahrt wird, sagen würde, doch das Publikum im Theater an der Wien war am 22. Januar 1909 von dem Zeitstück mit den feschen Husaren angetan, „johlte Beifall“ über die zu Karikaturen verkommenden Offiziere und sorgte dafür, dass Ein Herbstmanöver zu Emmerich Kálmáns erstem Erfolg wurde. Hervorgegangen aus seiner im Vorjahr am Budapester Lustspieltheater uraufgeführten und bescheiden als Vaudeville bezeichneten Tatarenplage (Tatárjárás) gelangte das Herbstmanöver auf rasante Weise noch 1909 als The Gay Husars nach New York, wurde im gleichen Jahr in Moskau und Berlin gespielt.

Im Juni 2018 auch im Stadttheater Gießen, das sich an Kálmáns längst verklungenen Früherfolg erinnerte und sich aus Budapest Verstärkung in Gestalt von Bálázs Kovalik und seiner ersten Operetteninszenierung holte. Im Beiheft der nun auf einer CD erschienen Ersteinspielung (Oehms OC 977) erzählt Kovalik anschaulich von der Arbeit an der Gießener Fassung, “Vom Herbstmanöver gibt es lediglich eine einzige, handschriftliche Ur-Partitur im Kálmán-Archiv in Los Angeles. In Budapest existieren vor allem Stimmbücher; es ist ein marodes, konfuses Material, da es wegen des Erfolges es des Werkes oft herumgeschickt, nachbearbeitet und vielfarbigen Strichen versehen wurde. Trotzdem hat es Spaß gemacht, das alte Material zu studieren, zu sehen, wie damals ein solches Stück gespielt wurde, und daraus eine neue Gießener Partitur zu editieren.“  Spaß gemacht hat seinerzeit offenbar auch die anspielungsreiche Gießener Aufführung, die man wohl besser als DVD veröffentlicht hätte. Michael Hofstetter präsentiert das Ergebnis – „Gießener Dialogfassung von Balázs Kovalik, Ergänzende Gesangstexte und Dramaturgie von Matthias Kaufmann“ – mit Gusto, ohne den Funken überspringen zu lassen. Herbstlich verhalten. Die teilweise eingestreuten Sprechszenen wirken auf der CD so steif wie in den alten Operetteneinspielungen vom WDR oder NDR. Schade, dass die Nummern ohne Hinweis auf Figuren und Interpreten auf der Trackliste aneinandergereiht wurden. Klar, das „Lied des Lörenthy“ wird von dem kroatischen Bariton Grga Peroš, der den Csárdáskavalier ein wenig steifleinen und eingeschnappt gibt, was sicher auch an der Rolle liegt, mit wohltönend breitem Bariton und schmachtendem Schmerz gesungen, dazu gehören auch das vom Zigeunerprimas begleitete „Lied und Tanz des Lörenthy“. Einige Nummern stammen aus Der gute Kamerad, darunter das Pumper-Duett („Komm und zeig es mir“) – leider fehlt verzichtet das Beiheft auf die Gesangstexte -, das Gießens wandelbarer, witzig sprühender Buffobariton Tomi Wendt als Leutnant der Reserve Wallerstein und der Schauspieler Rainer Hustedt als Gutsverwalter Kurt singen. Den ursprünglich als Hosenrolle konzipierten Freiwilligen Marosi singt Clemens Kerschbaumer, insbesondere in seinem „Kusslied („Die kleine Gretel küsste gern“) mit drahtig schlankem Tenor. Christiane Boesiger entfaltet als Riza die Aura einer etwas angejahrten serösen Operetten- Primadonna alten Schlags („Seh ich dich strahlen“), und Marie Seidler ist soubrettenzart und schön timbriert die in Lörenthy verliebte Feldmarschalls-Tochter Treszka, die schließlich mit Marosi vorliebnimmt. Noch nicht ganz auf der Höhe der Csárdásfürstin, die es musikalisch in manchen Details vorwegnimmt, ist Ein Herbstmanöver ein unverkennbarer Kálmán-Erfolg: melancholisch umflort, Walzer nostalgisch, mit trotzigen Märschen, ein Abgesang auf die Zeit der Husarenherrlichkeit und ein Jahrhundert, zugleich aufmüpfig genug, sich im Strudel der Silbernen Operette zu behaupten. Rolf Fath

 

Der „neurotische Narziss“

 

Wohl Gift und Galle spucken würde der polnische Komponist Karol Szymanowski könnte er die von Danuta Gwizdalanka geschriebene Biographie  mit dem Titel Der Verführer lesen, denn wenn auch spät im Verlauf des Buches so doch schonungslos deckt sie die Charaktereigenschaften des Künstlers auf, die seine Zeitgenossen nach seinem Tod vor der Nachwelt zugunsten eines schmeichelhaften Bildes zu leugnen suchten. Schließlich war ihm die Rolle des zweiten Nationalkomponisten neben Chopin im noch jungen Nationalstaat Polen zugedacht.

Das Buch ist zunächst chronologisch, im zweiten Teil thematisch gegliedert, wenn es opportun erscheint, ist den einzelnen Kapiteln ein Motto oder Zitat von oder über Szymanowski vorangestellt. Innerhalb der einzelnen Kapitel finden sich zahlreiche Aussagen von Zeitgenossen und Wegbegleitern des Komponisten, was das Vergnügen beim Lesen ungemein erhöht. Es gibt auch einige Fotos des Komponisten, dasjenige, das ihn als Knaben zeigt, lässt unvermeidlich die Assoziation Tadzio, der schöne Jüngling aus Thomas Manns Der Tod in Venedig, zu. Ebenso wirkte er, glaubt man der Autorin, auf Männer wie Frauen nicht zuletzt wegen seiner Eleganz, auf die Jugend wegen seiner Bereitschaft, auf die Alten, die wahre Größe nicht zu schätzen wüssten, zu schimpfen, sich mit ihr zu solidarisieren.

Mit dem älteren Moniuszko teilt Szymanowski die Herkunft aus dem von Russland beherrschten Teil Polens. Die Mutter war deutscher Herkunft, die Russen wurden gemieden und verachtet, die deutsche Musik so sehr verehrt, dass der junge Komponist mit seinem Schwager Bayreuth besuchte, dass er die Uraufführung von Elektra miterlebte. Nach 37 auf dem Gut Tymoszowka verbrachten Jahren musste die Familie vor den Bolschewiki nach Warschau fliehen, wo,  da die Einnahmen aus dem zur Kolchose umgestalteten Adelssitz fehlten,  Mangel das Leben bestimmte. Farbig und interessant wie das Leben, das der von Gönnern unterstützte junge Komponist u.a. mit dem Freund Artur Rubinstein in Wien oder in Italien oder sogar Nordafrika führte, ist die Darstellung der Autorin, die auch das Ringen Szymanowskis mit der erst nicht zugegebenen Homosexualität, ehe er sich ihr in vollen Zügen mit kostspieligen „Epheben“ hingibt, zum Thema macht. Dabei beschränkt sie sich nicht auf die Vita des Komponisten, sondern bezieht diese Neigung auch in ihre sehr sachkundigen Werkanalysen mit ein, so in die der Oper König Roger, in der sie sowohl im König wie im Hirten Charakterzüge Szymanowskis, jedenfalls derer, die er selbst bei sich wahrnahm, aufzeigt.

Das Leben Szymanowskis wird auch als eines des gegenseitigen Übelwollens, der Fehleinschätzung beschrieben, wenn zum Beispiel Russen seine Musik als eine ohne „Inneres“ verunglimpfen, er selbst Puccinis Musik, damals noch verächtlich, als solche für Homosexuelle bezeichnet. Immer wieder weist die Verfasserin darauf hin, wie sehr Wehleidigkeit, Egoismus, die Unfähigkeit zur Selbstkritik und der Hang zu einem luxuriösen Lebensstil auf Kosten seiner Gönner, dazu eine am Schaffen hindernde Bequemlichkeit  ein kontinuierliches Fertigstellen bereits zur Aufführung angenommener Kompositionen zum Unmut auch der Wohlgesonnensten führen. Auch das Streben nach gutbezahlten Ämtern, die er nicht ausfüllen kann oder will, kommt mehrfach zur Sprache. Dauernder Zigaretten- und Alkoholkonsum sind mit der Grund dafür, dass der Komponist bereits mit 54 Jahren in Lausanne stirbt.

Der Schweizer Kurort ist seine letzte Lebensstation, davor wird ausführlich auf Aufenthalte auch in Paris, Berlin, Petersburg eingegangen. In Berlin, wo die Philharmoniker einige seiner Werke aufführen, meldet sich mehrfach der Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt, auch noch im Nachkriegsberlin tätig, zu Wort und klassifiziert Chopin als elegischen Ekstatiker, Szymanowski als ekstatischen Elegiker.

Besonders intensiv befasst sich die Autorin mit den „Meisterwerken“, neben König Roger das Ballett Harnasie um eine Goralenhochzeit, die Violinkonzerte, das Stabat Mater und das Liedschaffen. Sie stellt deutlich heraus, wie sehr man von dem Polen folkloristische Elemente in seiner Musik erwartete und wie sehr er eigentlich Kosmopolit war. Auch bei dem Pianisten Szymanowski wird eine Schwäche nicht übersehen, die darin besteht, dass seine Spätwerke, die er wegen des Broterwerbs selbst aufführen musste, weit weniger technische Schwierigkeiten aufweisen als die frühen, die anderen Pianisten, so Rubinstein,  anvertraut waren.

Ein wesentliches Kapitel ist der Einordnung von Szymanowskis Musik gewidmet, der Frage, inwieweit expressionistische, folkloristische oder hochromantische Elemente sie kennzeichnen. Auch die Rezeptionsgeschichte kommt nicht zu kurz bis hin zu der Entdeckung von König Roger als Gay-Oper oder der Aufführung der Violinkonzerte mit Simon Rattle.

Das Buch wurde aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew übersetzt und das offensichtlich sehr gut, ein Passus wie „Die Unfähigkeit, Verpflichtungen nicht zu erfüllen, war eine Eigenschaft….“ ist ein einmaliger Ausrutscher.

Den Schluss des lesenswerten Werks bilden eine Chronik von Leben und Werk, ein Bildnachweis, ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister (Harrasowitz Verlag 2017, 292 Seiten; ISBN 978 3 447 10888 1Z/ Foto Karol Szymanowski website). Ingrid Wanja       

Ein glanzvoller Rückblick

 

Das 1918 gegründete und in Genf ansässige Orchestre de la Suisse Romande (OSR) ist untrennbar mit dem Namen des schweizerischen Dirigenten Ernest Ansermet verbunden, der es nicht nur ins Leben rief, sondern diesem Klangkörper auch beinahe ein halbes Jahrhundert lang vorstand und somit der französischsprachigen Schweiz internationale Geltung innerhalb der klassischen Musikszene verschaffte. Damit deckt Ansermet bereits die Hälfte der Zeitspanne ab, welche die anlässlich des 100. Orchesterjubiläums auf fünf hybriden SACDs erschienene Box One Century of Music/Premier siècle 1918-2018 bei Pentatone (PTC 5186 791) umfasst. Der Anspruch dieser Veröffentlichung war es, alle der bis dato zehn Chefdirigenten abzudecken, was gelungen ist. Es handelt sich dabei neben Ernest Ansermet (1918-1967) um Paul Kletzki (1967-1970), Wolfgang Sawallisch (1970-1980), Horst Stein (1980-1985), Armin Jordan (1985-1997), Fabio Luisi (1997-2002), Pinchas Steinberg (2002-2005), Marek Janowski (2005-2012), Neeme Järvi (2012-2015) sowie Jonathan Nott (seit 2017). Dies wird auch die teilweise ein wenig spezielle, insgesamt aber sehr kluge und geschickte Werkauswahl begründen, welche berücksichtigt wurde, waren manche künstlerische Leiter des OSR doch nur kurz im Amt und ist der Vorrat an erhaltenen Tondokumenten begrenzt. Von zwei Ausnahmen abgesehen, handelt es sich um Aufnahmen zwischen den späten 1970er Jahren und der jüngsten Vergangenheit.

Thematisch ist die ansprechend aufbereitete Kollektion in fünf Abschnitte untergliedert, die jeweils eine SACD einnehmen: Zum einen wird die französische Musik berücksichtigt, die sich prominent auf der ersten SACD befindet und zum Kernrepertoire des bedeutendsten Orchesters der Romandie gehört. Debussys Épigraphes antiques in der Orchestrierung von Ansermet und in einer Einspielung unter Sawallisch von 1978 machen den Auftakt. Ravel ist doppelt bedacht, zum einen mit dem Liederzyklus Shéhérazade mit der Sopranistin Marilyn Richardson unter Horst Stein von 1980, zum anderen mit der Suite Nr. 2 zu Daphnis et Chloé unter Armin Jordan von 1993. Als „Lückenfüller“ fungieren zwei selten eingespielte Ouvertüren, diejenige zur wagnerisch angehauchten Oper Le Roi d’Ys von Édouard Lalo unter Pinchas Steinberg von 2002 sowie die Konzertouvertüre Polyeucte von Paul Dukas, wiederum unter Jordan, von 1993. Hierbei handelt es sich mit um die stärksten Interpretationen der Werke, die auf Tonträger vorliegen.

Auf der zweiten SACD ist das deutsche Repertoire versammelt, wobei die Auswahl mit einer Ausnahme recht konventionell geraten ist. Wagners Ouvertüre und Bacchanal zu Tannhäuser (Wiener Fassung) unter Steinberg (2004), Salomes Tanz der sieben Schleier aus demselben Konzert, Schumanns Manfred-Ouvertüre ausgezeichnet unter Sawallisch (1984) sowie Don Juan von Richard Strauss unter Luisi (2000) machen das Gros aus. Ergänzt wird dieses Programm durch die vergleichsweise exquisiten Orchestervariationen über ein Thema von Paganini von Boris Blacher, welche in einer Aufnahme unter Janowski von 2012 beigegeben wurden.

Dieses Werk von 1947 bildet gleichsam die Überleitung zur Musik des 20. Jahrhunderts, die auf der dritten Disc versammelt wurde. Ligetis Melodien steuert neuerlich Sawallisch bei (1978), während Horst Stein eine beeindruckende Einspielung der atmosphärischen Prélude Photoptosis von Bernd Alois Zimmermann verantwortet (1985). Der nur kurzzeitig als Leiter des OSR amtierende Paul Kletzki dirigiert das erste Violinkonzert von Béla Bartók (Solist: Isaac Stern), welches bereits 1961, also noch in Ansermets Amtszeit, aufgezeichnet wurde. Die von Heinz Holliger komponierten Fünf Lieder nach Gedichten von Georg Trakl stehen einmal mehr unter der musikalischen Leitung von Armin Jordan. Es wirken in dieser Einspielung von 1993 zudem mit die Mezzosopranistin Cornelia Kallisch sowie der Frauenchor des Chœur de Chambre Romand. Den Abschluss bildet schließlich die nur fünfminütige Passacaglia von Alban Berg unter Luisi (2002).

Die vierte SACD bedenkt die beim OSR seit jeher sehr gepflegte russische Musik, repräsentiert besonders durch Igor Strawinsky, der mit Les Noces (Vokalisten: Francine Laurent, Nadine Denize, Louis Devos, Michel Brodard sowie der Chœur de la Radio Suisse Romande) unter dem Dirigat Horst Steins (1983) sowie Le Sacre du printemps unter Jonathan Nott vertreten ist. Letztere Aufnahme vom 1. Juni 2017 ist zugleich die neueste der gesamten Box und kann sich in Notts intensiver Lesart erstaunlich gut auch gegenüber als Referenzen gehandelten Vorgängeraufnahmen behaupten. Abgerundet wird das russische Programm durch Rachmaninows Sinfonische Dichtung Die Toteninsel unter der Stabführung von Neeme Järvi (2013), die vielleicht nicht ganz die Sogwirkung der Interpretationen Jewgeni Swetlanows besitzt, aber für sich genommen ebenfalls überzeugt.

Auf der letzten CD findet man ein wahrlich historisches Tondokument mit der nahezu 80-minütigen Einspielung der Dramatischen Legende Les Armaillis von Gustave Doret aus dem Jahre 1943. Selbstredend stand hier der damalige Chefdirigent Ernest Ansermet auf dem Pult. Das Werk ist in drei Akte untergliedert, die zwischen 22 und 28 Minuten dauern, und mit Fernando Corena, Hugues Cuenod, Georges Genin, René Chambaz, Robert Bugnard, Marie-Louise Rochat sowie Juliette Salvisberg besetzt. Die Chorleitung des Chanson Valaissane hatte Georges Haenni inne (und man wird daran erinnert, dass das Orchester ja auch Operndienst im Grand Théâtre versieht und mit eben dessen Aufführungen auch in den schweizerischen Rundfunk kommt G. H.)

Die Klangqualität der ganz überwiegend in der berühmten Genfer Victoria Hall entstandenen Aufnahmen ist tadellos. Selbst die historische Einspielung von 1943 klingt sehr ordentlich. Sie ist neben dem Bartók-Violinkonzert von 1961 auch die einzige Monoaufnahme. Der Rest erklingt in astreinem Stereo, was bereits für die 70er-Jahre-Aufnahmen gilt. Besonders die Aufnahmen aus dem 21. Jahrhundert dürfen als audiophil gelten.

Ein informatives, über 100-seitiges dreisprachiges Booklet (Englisch, Französisch, Deutsch!!!) mit einer Einführung von Jean-François Monnard zur Orchestergeschichte, den Dirigenten und wichtigen Aufnahmen rundet diese empfehlenswerte Kollektion vorzüglich ab (Orchestre de la Suisse Romande: One Century of Music/Premier siècle 1918-2018; Pentatone PTC 5186 791/ 2019). Daniel Hauser.

Russisches

 

Auf Leopold Stokowski, Ferenc Fricsay und Hermann Scherchen verweist Gabriel Feltz, der Dirigent der vorliegenden Aufnahme von Glières Ilja Muromez (Dreyer Gaido CD 21112), in seinem informativen Vorwort, in welchem er nur schwer seine Begeisterung für das eingespielte Werk, die monumentale dritte Sinfonie in h-Moll „Ilja Muromez“ des in Kiew geborenen Komponisten mit deutschen Wurzeln Reinhold Glière (1875-1956), zurückhalten kann. Die genannten großen Dirigenten hatten sich dieses tatsächlich mehr oder weniger in Vergessenheit geratenen Werkes, das 1912 mit Erfolg uraufgeführt wurde, bereits vor vielen Jahrzehnten angenommen. Geht man allein nach der Diskographie, dann ist es dieser gewaltigen Sinfonie (die mit gut 83 Minuten die Spielzeit der CD bis zum Anschlag ausreizt) gar nicht so schlecht ergangen. Abgesehen von den drei schon angeführten Dirigenten haben auch Harold Farberman (Regis/Alto), Sir Edward Downes (Chandos), Leon Botstein (Telarc), Donald Johanos (Naxos) und zuletzt JoAnn Falletta (ebenfalls Naxos) von der Kritik mit Lob bedachte Einspielungen vorgelegt. Gleichwohl konnte sich das Werk in den Konzertsälen der Welt bis heute nicht etablieren. Dies dürfte keinen monokausalen Grund haben, doch bereits die Ausmaße der Sinfonie sind derart enorm, dass sie mit Mahlers längsten Sinfonien gleichzieht. Um dies vorweg zu nehmen: Die Neueinspielung ist deutlich langsamer als fast alle ihre Vorgängerinnen. Lediglich Farberman nahm sich für jeden der vier Sätze noch etwas mehr Zeit und kam insgesamt gar auf 93 Minuten. Die EMI-Einspielung von Stokowski wird auf dem Cover der alten CD-Ausgabe zurecht als Arrangement des Dirigenten angeführt: Die Striche sind teilweise erschreckend, er benötigt gerade einmal etwa 38 (sic) Spielminuten, weswegen die Aufnahme, bei allen ihren Meriten, heutzutage keine ernsthafte Alternative mehr darstellen kann.

Beim Titelhelden Ilja Muromez handelt es sich um eine westlichen Hörern schwerlich besonders geläufige legendäre Sagenfigur der sog. Kiewer Tafelrunde, ursprünglich ein Bauernsohn, der zahlreiche phantastische Abenteuer durchmacht, bevor er mit seinen Mitstreitern in Stein verwandelt wird. Als einzige Sagengestalt wurde er von der russisch-orthodoxen Kirche sogar heiliggesprochen. Im über 23-minütigen Kopfsatz dieser Programmsinfonie wird Ilja von zwei Pilgern aus einer 33 Jahre anhaltenden Lähmung erlöst, anschließend zum dritten Bogatyr (russ. Recke) und trifft auf Swjatogor, der ihm kurz vor seinem Ableben sein Schwert und magische Kräfte vermacht. Stellenweise drängt sich hier musikalisch ein Hauch Bruckner auf. Der sogar noch um zwei Minuten längere zweite Satz sich dem furchtbaren Briganten Solvej, den Ilja letztlich besiegt. Die Behandlung der Holzbläser ist ein besonderes Highlight dieses Satzes, der an Skrjabin und gar Messiaen denken lässt. Der scherzoartige dritte Satz – der mit knapp acht Minuten bei weitem kürzeste der Sinfonie – beschreibt den Palast des Fürsten Wladimir, der wegen Iljas Zauberkraft einstürzt. Gleichwohl hebt er sich durch seine Leichtigkeit von den übrigen Sätzen deutlich ab. Hie und da fühlt man sich an Strawinskys Feuervogel erinnert, ohne dass Glière seine ihm eigene Tonsprache dafür opfern würde. Im Finale schließlich werden wieder die Dimensionen der ersten beiden Sätze abermals erreicht (26:36). Glière erweist sich hier als genialer Tondichter, der keine Vergleiche zu scheuen braucht (Versteinerungsszene). Nach einem fulminanten Höhepunkt klingt das Werk unerwartet lyrisch aus, zuletzt mit einer Reminiszenz an den ruhig-verhaltenen Beginn.

Das kleine Label Dreyer Gaido aus Münster setzt zwar nicht auf die ganz großen Namen, doch darf das Ergebnis in allen Belangen aus überaus geglückt gelten. Mit Gabriel Feltz, GMD in Dortmund, konnte einer der herausragenden deutschen Dirigenten der jüngeren Generation gewonnen werden. Die 1923 gegründeten und bis dato hierzulande diskographisch kaum in Erscheinung getretenen Belgrader Philharmoniker, denen Feltz seit 2017 ebenfalls vorsteht, erweisen sich als ausgezeichneter Klangkörper. Die im Booklet erwähnten zahlreichen Proben haben sich jedenfalls ausgezahlt. Aus dem ansonsten sehr guten Beiheft (auf Deutsch, Englisch und Serbisch) gehen leider nicht der Aufnahmeort und das genaue Aufnahmedatum hervor; die Rede ist nur davon, dass sich die Studioproduktion an ein Konzert in Belgrad vom 2. März 2018 unmittelbar anschloss. Klanglich weiß diese Hybrid-SACD jedenfalls zu überzeugen und setzt bei diesem Werk tontechnisch die neuen Maßstäbe (Glière: Sinfonie Nr. 3 h-Moll op. 42 „Ilja Muromez“; Belgrader Philharmoniker/Gabriel Feltz 2018; Erscheinungsdatum: 2019) Daniel Hauser

 

Der in Ostpreußen geborene Dirigent Kurt Sanderling (1912-2011) hatte zeitlebens eine enge Verbindung zu russischen Komponisten. Von 1936 bis 1960 emigrierte er in die Sowjetunion und amtierte von 1941 bis 1960 als Co-Chefdirigent der Leningrader Philharmoniker neben dem berühmten Jewgeni Mrawinski, dem der Ruf eines Pultdiktators anhaftete. Allein dies bürgt schon für die außerordentliche Qualität seiner Dirigate. Nach seiner Rückkehr in die nunmehrige DDR hatte er (zeitweise parallel) die Leitung des Berliner Sinfonie-Orchesters und der Staatskapelle Dresden inne. Bis ins hohe Alter stand Sanderling auf dem Podium, wovon die kürzlich vom SWR herausgegebenen Rundfunkaufnahmen aus dem Jahre 1995 zeugen (SWR19050CD). Enthalten sind das Vorspiel zum ersten Akt der Oper Chowanschtschina von Modest Mussorgski sowie die dritte Sinfonie von Sergei Rachmaninov. Interessanterweise entschied sich Sanderling für die weniger geläufige Schostakowitsch-Orchestrierung des Chowanschtschina-Vorspiels. Mussorgski selbst konnte seine Oper nicht mehr vollenden, so dass sie zunächst Rimski-Korsakow orchestrierte. Schostakowitsch, der ein enger Freund Sanderlings war, orientierte sich bei seiner 1959 vorgenommenen Neuorchestrierung stärker an Mussorgskis Klavierpartitur, so dass hier den ursprünglichen Intentionen des Komponisten stärker Rechnung getragen wurde. Sanderlings gefühlvolle Interpretation überzeugt von der Qualität dieser Fassung vollkommen.

Zu den Werken Sergei Rachmaninovs hatte Sanderling eine besonders enge Verbindung. Bereits 1956 spielte er die zweite Sinfonie für die Deutsche Grammophon Gesellschaft ein. Seinen eigenen Worten zufolge wollte er die Musik Rachmaninovs im Westen in einer Art missionarischem Eifer populärer machen. Wie die zweite lag Sanderling auch die seltener aufgeführte dritte Sinfonie sehr am Herzen. Der Violinist Efim Belski von den Leningrader Philharmonikern meinte gar, Rachmaninovs Dritte sei Sanderlings brillanteste Leistung auf dem Felde der russischen Musik. Tatsächlich weiß der damals bereits über achtzigjährige Dirigent den Hörer vom ersten Takt an zu fesseln. Die 1935/36 entstandene und 1938 revidierte Sinfonie in a-Moll erinnert in ihrer Tonsprache zunächst noch völlig an die drei Jahrzehnte ältere e-Moll-Sinfonie, deren Stimmung sie in nostalgischer Verklärung im Kopfsatz aufgreift. Mit 17:45 ist dieser bei Sanderling außergewöhnlich lange geraten; die beiden anderen Sätze folgen mit 12:12 bzw. 13:08 eher der Norm. Freilich zeigen bedrohlichere Töne im weiteren Verlauf der Sinfonie unverkennbar an, dass sich die Zeiten verändert haben.

Sanderlings Lesart lässt einen die lauwarme Reaktion des Publikums der Uraufführung vergessen und darf als deutliches Plädoyer für dieses Spätwerk gelten. Die Einspielung findet sich in der illustren Gesellschaft so gelungener Aufnahmen wie derjenigen Jewgeni Swetlanows mit dem Staatlichen Sinfonieorchester der Russischen Föderation (Canyon, 1995) oder jener Lorin Maazels mit den Berliner Philharmonikern (DG, 1981). Die Tonqualität dieser zwischen 29. und 31. März 1995 im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle entstandenen Einspielungen ist tadellos. Die Wärme des Klangbildes unterstreicht vor allem die Opulenz der monumentalen Sinfonie. Eine höchst willkommene Bereicherung der Diskographie des 2011 im biblischen Alter von beinahe 99 Jahren verstorbenen Dirigenten Kurt Sanderling. Einziger Wermutstropfen: Die CD hat lediglich 49 Minuten Spielzeit.

 

Sergei Prokofjews Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution. Hundert Jahre Oktoberrevolution. Fast dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion muss das große Spektakel ausbleiben. Anders sah dies freilich zu Zeiten Stalins aus, der das Sowjetimperium zwischen Ende der 1920er Jahre und 1953 beherrschte – oder vielmehr terrorisierte. Zum 1937 anstehenden 20. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution (wie sie seinerzeit offiziell genannt wurde) komponierte niemand Geringerer als Sergei Prokofjew, zweifelsohne alles andere als ein Stalinist, eine Kantate für Sprecher, zwei vierstimmige gemischte Chöre, Akkordeon-, Blechbläser- und Schlagzeug-Ensemble und Orchester mit insgesamt zehn Sätzen. Ganze zwei Jahre dauerte die Arbeit an dem propagandistischen Werk, das dann freilich zum Jubiläumstag gar nicht zur Aufführung gelangte – Prokofjew war in Ungnade gefallen (offiziell wurde das Spektakel wegen „linksradikaler Abweichung und Vulgarität“ abgesagt). Ein riesiges Konzert auf dem Roten Platz in Moskau mit 500 Musikern und Sängern hätte die Feierlichkeiten am 7. November (julianisch 25. Oktober) 1937 krönen sollen. Für die Textauswahl war der seinerzeit in Paris lebende Philosoph und Musikwissenschaftler Pjotr Swutschinski zuständig. Freilich hätte man durchaus sarkastische Töne heraushören können, die Prokofjew auf dem Höhepunkt des Großen Terrors zum Verhängnis werden hätten können. Tatsächlich sollte es noch beinahe drei Jahrzehnte dauern, ehe die Kantate doch noch erklang, lange nach dem am gleichen Tag erfolgten Tode Stalins und des Komponisten. 1966 brachte sie der berühmte sowjetische Dirigent Kirill Kondraschin zur Uraufführung, allerdings in bearbeiteter Form (eine Einspielung erfolgte im Jahr darauf). Die beiden Sätze mit Stalin-Bezug (Nr. 8 und 10) wurden gestrichen, dafür am Ende der zweite Satz wiederholt. Stehen blieben die Texte von Marx, Engels und Lenin. In seiner Urfassung konnte man das Werk erst 1992, ironischerweise kurz nach dem Ende der UdSSR, in London unter Neeme Järvi hören.

Nun also, zum 100. Jubiläum, besorgt mit dem Ukrainer Kirill Karabits ein weiterer renommierter Dirigent der jüngeren Generation eine Neueinspielung dieses zumindest problematischen Werkes im Zuge des Kunstfestes Weimar (Audite 97.754). Ihm zur Seite stehen der Ernst Senff Chor Berlin, die Staatskapelle Weimar und Mitglieder des Luftwaffenmusikkorps Erfurt. Es wurde also gewissermaßen alles in Gang gesetzt, um diesem wenig bekannten Werk eine neue Chance zu verschaffen und seinem künstlerischen Wert auf den Grund zu gehen. Vom Sturm auf das Winterpalais des Zaren über Lenins Tod bis hin zur Verabschiedung einer neuen Verfassung durch Stalin zieht sich das episch angelegte Opus. Dass es sich um eine Live-Aufnahme handelt, kann man gelegentlichen Publikumsgeräuschen entnehmen. Ansonsten ist der Klang ausgezeichnet eingefangen worden. Inwieweit der deutsche Chor den russischen Texten gerecht wird, müsste indes ein Muttersprachler beurteilen. Hervorgehoben werden sollte, dass die gerade erst im August erfolgte Aufführung bereits jetzt, im November, pünktlich zum 100. Jubiläum, auf CD erscheint.

Vergleicht man die Neuaufnahme mit der 50 Jahre alten unter Kondraschin (Melodija), fallen in den vergleichbaren Sätzen (damals entfielen ja derer zwei) die sehr ähnlichen, teilweise bis auf die Sekunde identischen Spielzeiten auf. Hat sich Karabits an Kondraschin orientiert? In einigen wenigen Abschnitten lässt dieser sich ein klein wenig mehr Zeit, so in der Zwischenmusik des dritten Satzes und beim Sieg der Revolution im siebten Satz. Dies allein ist freilich kein Qualitätsmerkmal. Dass die Moskauer Philharmoniker und der Staatliche Jurlow-Chor zu Breschnews Zeiten noch idiomatischer agieren als die gleichwohl sehr engagierten deutschen Kräfte, liegt auf der Hand. Besonders während des Revolutionssatzes (Nr. 6) geht Karabits gleichwohl aufs Ganze. Die ihm innewohnende Brutalität wird durch schrille Glocken und Sirenen und mörderische Maschinengewehrschüsse unterstrichen. Als Krönung des Ganzen dann noch ein Sprecher mit Megaphon, der die Stimme Lenins verkörpert. Karabits ließ es sich nicht nehmen, dies selbst zu übernehmen. Der dramatische Höhepunkt des Werkes darf hier verortet werden. Nach dem triumphalen Sieg sodann pathetisch verklärend der im achten Satz erfolgende Eid. Die an vorletzter Stelle platzierte, rein instrumentale, etwa sechsminütige sogenannte Sinfonie könnte aus einer derselben des Komponisten stammen. Zuletzt die von Stalin auf den Weg gebrachte Verfassung, die diesen Namen kaum verdiente und in der alten Sowjetaufnahme auch gestrichen wurde. Naturgemäß erreicht das Pathos im Finale seinen Höhepunkt. Schwere Kost, die man sich allenfalls anlässlich allfälliger Jubiläen antun sollte.

 

Tschaikowski: Sinfonie Nr. 6 „Pathétique“. Griechenland und Russland sind sich auf mancherlei Art verbunden. Das Zarenreich sah sich als legitimer Nachfolger von Byzanz, auf das sich die heutigen Griechen berufen. Die Orthodoxie ist beiden gemein. Der nicht unbedingt als orthodox geltende, exzentrische griechische Dirigent Teodor Currentzis erzielte seinen internationalen Durchbruch mit russischen Orchestern, allen voran sein in Sibirien gegründetes, völlig auf ihn abgestimmtes Ensemble MusicAeterna. Ganz behutsam erarbeitet sich Currentzis den wohl berühmtesten aller russischen Sinfoniker: Pjotr Iljitsch Tschaikowski. 2016 legte er dessen Violinkonzert bei Sony vor (Solistin: Patricia Kopatchinskaja), nun folgt die sechste und letzte Sinfonie, die Pathétique. Unumstritten ist Currentzis mitnichten. Unstrittig ist indes, dass er niemanden kalt lässt.

Warum ausgerechnet mit der Pathétique beginnen? Sie mag das berühmteste Werk Tschaikowskis sein, vielfach verklärt und von Mythen umgeben. War sie wirklich die musikalische Ankündigung eines Abschieds vom Leben? Diese Frage wird nie einwandfrei geklärt werden können. An Spitzenaufnahmen besteht kein Mangel. Vom nebulösen Furtwängler (DG, Kairo 1951) über den todnüchternen Klemperer (EMI, 1961) und den idiomatischen Swetlanow (Exton, 1993) bis zum hyperemotionalen Selbstbekenntnis des späten Bernstein (DG, 1986). Currentzis ist dafür bekannt, Werke selektiv auszuwählen. Von Schostakowitsch nahm er bislang nur ausgerechnet die schwierige Vierzehnte auf. Keine Scheu also vor Tschaikowskis komplexer Letzter.

Wie nun klingt Currentzis‘ Sichtweise? Im gewaltigen Kopfsatz (knapp 20 Minuten) lotet er die gefühlsmäßigen Extreme aus, setzt scharfe Kontraste, geht bis an die Grenzen. Düstere Abschnitte werden von hoffnungsvollen Passagen unterbrochen. Auffällig lange dehnt er die Generalpausen und hält eine gefühlte Ewigkeit inne. Umso unerbittlicher, geradezu aggressiv die orchestralen Ausbrüche, hervorragend umgesetzt vom Orchester, das sich hier einmal mehr als wendig erweist. Obgleich der Klang schlank anmutet, entsteht doch nie der Eindruck von Schmächtigkeit. Streicher und Holzbläser spielen ihre ganze Virtuosität aus. Für diesen Satz die Höchstnote.

Der an einen Walzer erinnernde zweite Satz verspricht einen Schimmer von Hoffnung, auch wenn im Hintergrund bedrohlich die Pauken dräuen und einen bereits eine üble Vorahnung beschleicht. Currentzis schlägt hier ein vorwärtsdrängendes Grundtempo an und benötigt keine acht Minuten. Auch in diesem Satz kann das Orchester seine Stärken voll ausspielen.

Eine Messlatte für eine gelungene Einspielung dieses Werkes ist gerade auch der die Grenzen eines klassischen Scherzos sprengende triumphale dritte Satz (8:35). Hier trumpft noch einmal die Zuversicht überbordend auf. Das MusicAeterna kann besonders in der ersten Hälfte durch hervorragende Durchhörbarkeit bis in die Nebenstimmen überzeugen. Die sich stetig steigernde Klimax verspricht das höchste der Gefühle – und enttäuscht doch in gewisser Weise. Am Höhepunkt (bei etwa 6:45) sind die sonst so präsenten Pauken aus unerfindlichem Grund zu sehr in den Gesamtklang eingebettet. Schade. Deutlich besser dafür wieder die abschließende Coda.

Nach diesem nervenzerreißenden Intermezzo folgt die Ernüchterung im Adagio lamentoso. Von Bernstein’schen Extremen (17 Minuten Spielzeit!) ist Currentzis mit etwas über 10 Minuten weit entfernt. Gleichwohl weiß er die Zeit zu nutzen. Larmoyantes Resignieren ist seine Sache nicht von vornherein. Es mutet eher so an, als versuchte der desillusionierte Verzweifelte noch ein paar hoffnungslose Ausbrüche. Großartig wieder das Orchesterspiel. Regelrecht knarzend. Das hat man so auch noch nicht gehört. Der Ausklang kommt ganz abrupt und, recht ungewohnt, ohne Zurücknahme des Tempos.

Fazit: Eine sehr gute, etwas exaltierte Neueinspielung. Currentzis hat tatsächlich etwas in Sachen Tschaikowski zu sagen. Besonders der Kopf- und der Finalsatz sind ausgezeichnet gelungen. Das Scherzo fällt ein klein wenig ab. Die Klangqualität ist exquisit (Sony LC 06868 88985404352; 2017; genaues Aufnahmedatum?)

 

Dmitri Schostakowitsch – Komplette Konzerte (Melodija CD 10 02465)Das traditionsreiche, ehemals sowjetische Label Melodija ist in jüngster Zeit so aktiv wie lange nicht. Nach einigen CD-Erstveröffentlichungen alter Schallplatteneinspielungen folgt nun ein neuer Coup: Eine Gesamtaufnahme sämtlicher Konzerte von Dmitri Schostakowitsch, sechs an der Zahl. Es handelt sich um jeweils zwei Klavier-, Violin- und Cellokonzerte, wobei beim ersten Klavierkonzert auch noch eine Trompete mit dabei ist.

Melodija unternimmt gar nicht den Versuch, auf etablierte große Namen zu setzen. Dies beginnt bereits beim Dirigenten Alexander Sladkovsky, 52, derzeit künstlerischer Leiter des Tatarstan National Symphony Orchestra. Vom Westen weitgehend unbeachtet, legte er eine beachtliche Karriere hin und hat seit 2013 einen Plattenvertrag mit Sony in der Tasche. Das in Kasan, der Hauptstadt der autonomen russischen Republik Tatarstan, ansässige Orchester dürfte sich wohl auch ethnisch aus zahlreichen Angehörigen der Volksgruppe der Tataren zusammensetzen, was dem Ganzen einen noch exotischeren Hauch verleiht.

Kurios an diesem Großprojekt ist auch die Auswahl der Solisten. Man setzt auf die Jugend, keiner ist älter als Mitte dreißig. Freilich handelt es sich gleichwohl um Preisträger internationaler Wettbewerbe, also erwiesenermaßen um Talente. Interessant auch, dass für jedes der sechs Konzerte ein anderer Solist ausgewählt wurde, offenbar ganz bewusst. Im Einzelnen handelt es sich um die beiden Pianisten Lukas Geniusas, 27, und Dmitry Masleyev, 29; die beiden Violinisten Sergey Dogadin, 29, und Pavel Milyukov, 33; sowie die beiden Cellisten Alexander Buzlov, 34, und Alexander Ramm, 29.

Die Konkurrenz auf Tonträger ist groß und bedeutungsschwer. Der Fokus sei in diesem Zusammenhang besonders auf sowjetische Interpreten gelegt. Eugene List spielte 1975 die beiden Klavierkonzerte mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR unter Maxim Schostakowitsch für RCA ein. Von Mstislaw Rostropowitsch liegen beide Cellokonzerte in Aufnahmen von 1966 und 1967 mit dem Staatlichen Sinfonieorchester der UdSSR unter Jewgeni Swetlanow auf Russian Disc vor. David Oistrach schließlich ist in Mitschnitten der BBC mit dem Philharmonia Orchestra unter Gennadi Roschdestwenski (Violinkonzert Nr. 1, 1962) bzw. dem UdSSR-Staatsorchester unter Jewgeni Swetlanow (Violinkonzert Nr. 2, 1968) tontechnisch dokumentiert. Von Leonid Kogan gibt es von 1976 zumindest das 1. Violinkonzert, ebenfalls unter Swetlanow mit seinem Orchester (Melodija). Gleichwohl scheinen sich die jungen russischen Kräfte in den Neueinspielungen davon nicht eingeschüchtert zu fühlen.

Das etwas ungenau als Klavierkonzert Nr. 1 bezeichnete, gut 21-minütige Werk mit der Opusnummer 35 heißt mit vollem Titel Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester in c-Moll (1933) und schwankt zwischen einem gewöhnlichen Klavier- und einem Doppelkonzert für Klavier und Trompete. Auch aufgrund seiner Viersätzigkeit weicht es von der Norm ab (auch wenn der dritte Satz extrem kurz geraten ist). Sladkovsky versucht gar nicht erst, die Trompete (gespielt von Dmitri Trubakov) gleichberechtigt oder gar dominierend in den Vordergrund zu rücken. Ausgezeichnet Lukas Geniusas am Piano, der sich dem herben Tonfall des Konzerts anpasst und auch die schwierige Kadenz am Schluss bravourös meistert. Bereits bei diesem leichtgewichtigen, fast kammermusikalischen Werk zeigt sich ein charakteristischer östlicher Klang. List/M. Schostakowitsch erzielen in der Coda vielleicht eine noch zupackendere Wirkung, was auch am aggressiver anmutenden Trompetensolo liegen mag.

Das 2. Klavierkonzert entstand deutlich später (1957) und ist Schostakowitschs Sohn Maxim gewidmet. Ihm wohnt ein freudiger Tonfall inne, der für diesen Komponisten eher untypisch ist. Hinsichtlich seiner Dreisätzigkeit ist es zumindest formal eher an klassischen Klavierkonzerten angelegt. Pianist Dmitry Masleyev setzt die heitere Grundstimmung durchaus um, wenngleich er sie eher jovial erscheinen lässt. Mit 18 Minuten Spielzeit ist die Einspielung auch fast zwei Minuten länger als der Klassiker von 1975 mit List am Klavier und dem Widmungsträger am Dirigentenpult, was praktisch ausschließlich auf den bei Masleyev/Sladkovsky bedeutend langsameren zweiten Satz zurückzuführen ist, der hier in kontemplativster Spätromantik erklingt. Näher an Rachmaninow war Schostakowitsch wohl nie. Eugene List geht dies deutlich nüchtern-sachlicher an. Im Finale kann das tatarische Orchester auch erstmals seine Qualitäten richtig ausspielen. Die Neueinspielung ist der alten Vergleichsaufnahme insgesamt durchaus ebenbürtig, im langsamen Satz m. E. sogar überlegen.

Keinem Geringeren als dem großen Geiger David Oistrach ist das Violinkonzert Nr. 1 gewidmet. 1947/48 komponiert, erfuhr es erst 1955, nach Stalins Tod, seine Uraufführung. Dieses Opus 77 (teilweise auch Op. 99 genannt) ist vermutlich das bekannteste von Schostakowitschs Konzerten. Mit der berühmten Passacaglia verfügt es über den wohl beeindruckendsten Satz in einem Schostakowitsch-Konzert überhaupt. Im verzweifelten Kopfsatz sehr verinnerlicht, entfacht das Scherzo etwas Dämonisches (so Oistrach) und beinhaltet das DSCH-Motiv. Eine Burlesque beschließt das Werk. Bereits von seiner Anlage her ist dieses Violinkonzert ungleich gewichtiger als die beiden Klavierkonzerte und kommt in dieser Einspielung auf über 38 Minuten Spielzeit. Damit ist diese deutlich getragener als sowohl die Oistrach- als auch die Kogan-Aufnahme (beide gut 34 Minuten). Das Beiheft geht nicht fehl, wenn es hier gar von einer Violinsinfonie spricht, ist der orchestrale Part doch stark aufgewertet worden. Sergey Dogadin erweist sich als vorzüglicher Solist, der durchaus seinen Anteil an der Tempogestaltung hat. Oistrachs und Kogans Interpretationen wirken im Vergleich noch zugespitzter, wohl auch durch die Zeitumstände bedingt – und weil es sich um Live-Aufnahmen handelt. Die Passacaglia wird – wenig verwunderlich – auch in der Neueinspielung zum Höhepunkt. Vom bedrohlichen, von den Pauken dominierten Anfang, der das Invasionsthema der Leningrader Sinfonie und das Schicksalsmotiv von Beethovens Fünfter zitiert, bis hin zum gleichsam totalen Ersterben des Orchesters und nachfolgendem, virtuosen und hochemotionalen Violinsolopart. Die nahtlos anschließende, furiose Burlesque bringt erneut das Orchester ins Spiel und lässt den Hörer im Unklaren darüber, ob das Werk desillusioniert oder doch hoffnungsvoll ausklingt. Das Tatarstan National Symphony Orchestra zeichnet sich wiederum als formidabler Klangkörper aus, auch wenn nicht ganz die an Brutalität grenzende Wucht des UdSSR-Staatsorchesters unter Swetlanow zu Beginn der Passacaglia und ganz am Ende erreicht wird.

Auch das 2. Violinkonzert ist enger Beziehung zu David Oistrach zu betrachten, widmete es ihm Schostakowitsch doch anlässlich seines 60. Geburtstages. Es handelt sich im gleichen Zuge um ein Spätwerk des Komponisten und ist sogar das letzte seiner Konzerte. Die Uraufführung erfolgte 1967 – natürlich mit Oistrach. Von jugendlichem Elan ist in diesem Werk nichts mehr zu spüren, eher vom sich bereits ankündigenden Abschied. Der Solist in der hier besprochenen Aufnahme heißt Pavel Milyukov, der das hohe Niveau dieser Gesamteinspielung fortsetzt. Die Hörner des Tatarstan National Symphony Orchestra dürfen in diesem Konzert glänzen und erinnern abermals an den rauen Ton alter Sowjetaufnahmen. Dass das 2. derartig im Schatten des 1. Violinkonzerts steht, ist sicherlich ungerechtfertigt, wie diese höchst gelungene Neuinterpretation beweist, die keinesfalls davor zurückschreckt, die Schroffheit der Partitur offenzulegen (exzellentes Schlagwerk mit Tomtom-Trommel).

Die auf der dritten und letzten CD versammelten beiden Cellokonzerte sind untrennbar mit Mstislaw Rostropowitsch verbunden. Beide hat Schostakowitsch für diesen legendären Cellisten geschrieben. Es handelt sich ebenfalls um späte Werke: Das viersätzige Cellokonzert Nr. 1 stammt von 1959, das dreisätzige Cellokonzert Nr. 2 von 1966. Das DSCH-Motiv taucht im 1. Cellokonzert ebenfalls auf. Die in den Jahren 1966 und 1967 entstandenen Aufnahmen mit dem Widmungsträger als Solisten und dem Staatlichen Sinfonieorchester der Sowjetunion (einmal mehr) unter Jewgeni Swetlanow werden schwerlich jemals übertroffen werden. Gleichwohl gelingt es sowohl Alexander Buzlov im ersten Konzert als auch Alexander Ramm im zweiten an der Seite des kompetenten Dirigenten Sladkovsky eine Art moderne Referenz einzuspielen. Die Schwierigkeiten, die beide Werke den Solisten abverlangen, erscheinen wie egalisiert angesichts der dargebotenen Leistung.

Summa summarum handelt es sich bei dieser Gesamtaufnahme um eine hervorragende, sehr willkommene Erweiterung der wahrlich nicht schmalen Diskographie. In gewisser Weise knüpfen Alexander Sladkovsky und sein Orchester an die alte sowjetische Tradition an und überraschen mit einem beinahe für ausgestorben gehaltenen rauen Tonfall, wie man ihn lange nicht mehr vernahm. Ausnahmslos exzellent sind alle sechs hier repräsentierten jungen Solisten und bilden gut die heutige russische Nachwuchsgeneration ab. Melodija knüpft an die glorreichen alten Zeiten an. Die Klangqualität ist durch die Bank exquisit, Nebengeräusche sind nicht vorhanden, das spieltechnische Niveau geradezu verblüffend. Weiter so!

 

Prières Russes – russische Gebete. So heißt die Neuveröffentlichung des französischen Labels Mirare. Enthalten sind insgesamt 18 Nummern mit Stücken von berühmten Komponisten wie Rachmaninow, Tschaikowski und Glinka/Balakirew, aber auch eher unbekannte Namen wie Tanejew, Dargomyschski, Gretschaninow, Swiridow, Aliabiew und Gawrilin. Allein dreimal ist die Liturgie des hl. Johannes Chrysostomos, eines der wichtigsten Heiligen der Orthodoxie, vertreten. Unverkennbar der typische östliche Tonfall, den westliche Hörer am ehesten durch diverse Kosakenchöre kennen. Es geht die Legende um, den großen Herbert von Karajan hätten diese spezifischen Eigenarten bei seiner Einspielung der Ouvertüre 1812 von Tschaikowski, in der er zu Beginn den Don-Kosaken-Chor Serge Jaroff a capella einsetzte, beinahe in den Wahnsinn getrieben. Tatsächlich muss man bereit sein, sich auf diesen für Westeuropäer doch sehr gewöhnungsbedürftigen Tonfall einzulassen. Dann aber wird man sich der Großartigkeit dieser Musik erst richtig bewusst. Diese neue Platte beweist, dass weniger manchmal mehr sein kann. Durch den Verzicht auf einen großen Orchesterapparat, der in der Kirchenmusik der Orthodoxie nicht vorgesehen ist, gilt die volle Konzentration selbstredend dem Chor. Der Philharmonische Chor Jekaterinburg unter der Stabführung von Andrey Petrenko meistert seine Aufgabe mit Bravour. Es ist immer wieder erstaunlich, welch eine Klanggewalt allein durch die menschliche Stimme erzielt werden kann. Am beeindruckendsten fand ich gerade die ebenfalls enthaltenen russischen Volkslieder, die man in unseren Breiten tatsächlich noch am ehesten kennt. Ein Déjà-vu bereitete mir das Lied von der weiten Steppe, das in Pier Paolo Pasolinis berühmtem Film Das 1. Evangelium – Matthäus von 1964 am Ende kurz vor der Auferstehung Christi auf sehr adäquate Weise verwendet wird. Eine insgesamt erfreuliche Neuerscheinung, auch wenn die Klangqualität ein klein wenig transparenter hätte sein können (Prières Russes ;  Choeur Philharmonique d’Ekaterinburg ; Andrey Petrenko ; Mirare, 2017). Daniel Hauser

Noch immer irritierend

 

Kontrovers aufgenommen wurde Michael Sturmingers Inszenierung von Puccinis Tosca bei den Osterfestspielen Salzburg 2018 – offenbar diesmal keine Koproduktion mit der Semperoper Dresden und in der Elbmetropole bislang auch noch nicht gezeigt. Nun bringt sie Cmajor als DVD/Blu-ray Disc heraus (748404), so dass man den Eindruck von der Premiere überprüfen kann.

Mit einem Vorspiel in der Tiefgarage beginnt das Geschehen, wo der flüchtende Angelotti (Andrea Mastroni mit verquollen klingendem Bassbariton) sich gegen ein Polizeikommando mit Schüssen wehrt und in die Kirche entkommen kann. Diese bestimmt eine riesige Madonnen-Statue im Zentrum (Bühne: Andreas Donhauser), umgeben vom Sagrestano (Matteo Peirone mit brummigem Bass) und sitzenden Kindern mit Zeichenblöcken. Cavaradossi mit Künstlerschal (Kostüme: Renate Martin) gibt ihnen kleine Korrekturen, bevor er seine Arie „Recondita armonia“ anstimmt. Aleksandrs Antonenko lässt einen ältlichen Tenor von gequältem Klang hören, der kein Salzburg-Niveau aufweist. Die langen Phrasen und Aufschwünge der Partie bereiten ihm hörbar Mühe. Die Tosca von Anja Harteros dagegen erfüllt alle Ansprüche, die man eine Interpretation bei diesen renommierten Festspielen stellt. Sie ist eine moderne, selbstbewusste Frau in einer weiten Hose, mit langem Mantel und Sonnenbrille ganz ohne divenhafte Allüre. Der Sopran ist dunkel und sinnlich getönt, bewältigt die Ausbrüche der Rolle ohne grellen Beiklang.

Ludovic Tézier ist ein ungewöhnlich lyrischer Scarpia, auch als Figur im korrekten Anzug aus dem herkömmlichen Rollenschema fallend und in der Erscheinung einem prominenten Politiker unserer Tage fatal ähnelnd. Autoritär ist sein erster Auftritt mit „Un tal baccano in chiesa“ auf der Kanzel, hintergründig und voller perfider Nuancen das „Tre sbirri“  mit dem nachfolgenden „Te Deum“.  Das teuflische Wesen des Polizeichefs äußert sich hier weniger in brutalen stimmlichen Attacken denn in raffinierten, perversen Zwischentönen. Zu Beginn des 2. Aktes im Palazzo Farnese, das mit Gemäldesegmenten in der Manier Michelangelos und einem männlichen Torso prachtvoll ausgestattet ist, sieht man ihn im Turnhemd am Hometrainer. Strenge Assistentinnen sind ihm beim Ankleiden behilflich oder reichen ihm ein Glas Wasser. Fast gutmütig wirkt Scarpia in der Konfrontation mit Cavaradossi, bis er seine wahren Absichten mit umso infamerer Deutlichkeit zu erkennen gibt. Eine Wendeltruppe führt nach unten in die unterirdische Folterkammer, mit der Scarpia per Telefon verbunden ist. Tosca im leuchtend roten Konzertkleid hält ihm zunächst auf Augenhöhe stand, bis die Angst um das Leben des Geliebten sie überwältigt. In ihrer Verzweiflung wirkt Anja Harteros auch darstellerisch absolut glaubwürdig, singt das „Vissi d’arte“ auf dem Tisch liegend mit kantabler Linie und grandioser Steigerung. Dagegen kommen die triumphalen Ausbrüche des Cavaradossi von Antonenko mit vulgärer Tongebung. Seine Arie „E lucevan le stelle“ im 3. Akt, der zunächst in einem Schlafsaal angesiedelt ist, wo Knaben als Erschießungskommando ausgebildet werden und Benjamin Aster mit zittriger Stimme das „Io de’ sospiri“ des Pastore anstimmt, gelingt ihm dagegen zufrieden stellend. Auch der fiebrige Ausdruck im Duett mit Tosca überzeugt. In Hosen und Lederjacke wirkt sie hier wie eine Fidelio-Leonore.

Überraschend hatte sich Scarpia nach Toscas tödlichem Messerstich wieder erhoben, und tatsächlich erscheint er – schwer verletzt – auch auf der Engelsburg, um Tosca hinzurichten. Auf seinen tödlichen Schuss antwortet sie mit einem ebensolchen.

Der Bachchor Salzburg (Alois Glaßner) sowie der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor (Wolfgang Götz) sorgen im 1. Akt für ein turbulentes Spektakel der Allievi und ein machtvolles „Te Deum“. Christian Thielemann beweist mit der Staatskapelle Dresden auch seine Affinität für das italienische Fach, fächert die Komposition mit viel Gespür für die dramatischen Teile und die lyrischen Passagen  auf. Bernd Hoppe