Enttäuschendes zum Geburtstag

 

Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich Christian Thielemann, nunmehr bereits im siebten Jahr Chefdirigent der Staatskapelle Dresden, dem großen Zwickauer Robert Schumann neuerlich widmen würde. Für die „Wunderharfe aus Elbflorenz“ ja beinahe schon eine Pflicht, sich des in Sachsen geborenen, wenn auch im Rheinischen verstorbenen Schumann anzunehmen. Wieso neuerlich, mag der eine oder andere nun zurecht fragen. Tatsächlich hat Thielemann bereits in den Jahren zwischen 1996 und 2001 einen ersten Zyklus der vier Sinfonien, ergänzt um weitere Orchesterwerke, mit dem Philharmonia Orchestra für die Deutsche Grammophon vorgelegt, der indes jahrelang vergriffen war und erst jüngst im Zuge der 21 CDs umfassenden Box Christian Thielemann – The Orchestral Recordings on Deutsche Grammophon nun klammheimlich doch noch eine fast schon unerwartete Neuauflage erfuhr (DG 028948364237).

Um diese ersten und noch unter Studiobedingungen entstandenen Einspielungen soll es hier zwar nicht in erster Linie gehen, doch ist es unerlässlich, sich hie und da auf dieselben zu beziehen. Der geneigte Hörer kann sich nun hiervon zumindest wieder deutlich einfacher selbst einen Höreindruck verschaffen. Jedenfalls liegt zwei Jahrzehnte danach, gleichsam wie aus dem Nichts, plötzlich ein zweiter Schumann-Zyklus unter Thielemanns Leitung vor (Sony 19075943412). Bereits die Entstehungsbedingungen zeugen vom Wandel in der Klassikwelt, wurden die Aufnahmen doch während der Japan-Tournee der Staatskapelle am 31. Oktober und am 1. November 2018 in der Suntory Hall in Tokio mitgeschnitten; so handelt es sich folglich um keine wirklichen Studioeinspielungen. Offenbar spielte die Kooperation mit der Tohokushinsha Corporation und Classica Japan eine Rolle beim Zustandekommen der Aufnahmen, gehen derartige Impulse doch häufig von Japan aus, wo beinahe jedes klassische Konzert aufgenommen und in irgendeiner Form verwertet wird. So nun also auch im Falle Thielemanns.

Bevor ich zu diesen aktuellen Aufnahmen komme, sei noch einmal an den ersten Schumann-Zyklus des Christian Thielemann erinnert. Beinahe hatte man das Gefühl, diese Einspielungen seien nach ihrem Erscheinen bewusst aus dem Verkehr gezogen worden. Die Kritiken waren seinerzeit, gelinde gesagt, nicht eben voll des Lobes, wobei der Totalverriss des bekannten und spitzzüngigen amerikanischen Musikkritikers David Hurwitz besonders in Erinnerung blieb, der Thielemanns Schumann in seiner berüchtigten Reihe CD From Hell im übertragenen Sinne der Verdammnis preisgab. Nun sollte nicht verschwiegen werden, dass Thielemanns Ansatz diametral den Erwartungen von Hurwitz zuwidergelaufen sein dürfte, gemahnt das Schumann-Bild des Dirigenten doch an die Herangehensweise von Wilhelm Furtwängler und Hans Knappertsbusch, selbst wenn sich dieselben nur sehr eingeschränkt mit diesem Komponisten auseinandersetzten (vornehmlich mit der vierten Sinfonie). Die Spielzeiten von 2018 sind denjenigen von vor zwanzig Jahren oft frappierend, bis auf die Sekunde ähnlich; nur in einigen wenigen Sätzen ist Thielemann heute um Nuancen flotter unterwegs. Das heißt konkret: Ein spätromantisch angehauchter, großorchestraler Schumann mit breiten und zurückgenommenen Tempi. Das ist für sich genommen nichts Schlechtes, sondern bildet einen Kontrast zum heute zumeist üblichen Schumann-Stil, der von Dirigenten wie Yannick Nézet-Séguin vertreten wird (ebenfalls bei der DG erschienen) und der in diesem und jenem Satz oft ein, zwei, manchmal gar fast drei Minuten schneller unterwegs ist.

Mit Nézet-Séguin hat diese Neueinspielung Thielemanns doch eines gemeinsam: sie ist im Grunde genommen leider ziemlich entbehrlich. Das mag hart klingen, doch ist Deutlichkeit bekanntlich die Höflichkeit des Kritikers (wie weiland Marcel Reich-Ranicki ausführte). Es erschließt sich nämlich nur selten, wozu diese neue Gesamtaufnahme notwendig war. Das mag auch der Problematik der heutzutage gängig gewordenen Praxis geschuldet sein, Konzertmitschnitte gleichsam als Pseudo-Studioproduktionen mit vermeintlichem Ewigkeitswerk auf den Markt zu werfen. Freilich, die Thielemann’sche Lesart der Schumann-Sinfonien wird in Tokio ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Auf den reinen akustischen Tonträger reduziert, geht allerdings diese Gesamtwirkung verloren. Die Vergleichbarkeit mit anderen Aufnahmen muss hier im Vordergrund stehen. Und diese bringt diese Interpretationen dann doch auf den Boden der Tatsachen zurück

Das mag hart klingen, doch ist „Deutlichkeit bekanntlich die Höflichkeit des Kritikers“ (wie weiland Marcel Reich-Ranicki bemerkte). Es erschließt sich nämlich nur selten, wozu diese neue Gesamtaufnahme notwendig war. Das mag auch der Problematik der heutzutage gängig gewordenen Praxis geschuldet sein, Konzertmitschnitte gleichsam als Pseudo-Studioproduktionen mit vermeintlichem Ewigkeitswerk auf den Markt zu werfen. Freilich, die Thielemann’sche Lesart der Schumann-Sinfonien wird in Tokio ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Auf den reinen akustischen Tonträger reduziert, geht allerdings diese Gesamtwirkung verloren. Die Vergleichbarkeit mit anderen Aufnahmen muss hier im Vordergrund stehen. Und diese bringt diese Interpretationen dann doch auf den Boden der Tatsachen zurück.

Nehmen wir die zweite Sinfonie, lange Zeit das sinfonische Stiefkind Schumanns und doch die Lieblingssinfonie eines so berühmten Dirigenten wie Leonard Bernstein. Die wunderschöne Einleitung, womöglich gar das erste Beispiel eines geradezu lyrischen Einsatzes der Blechbläser zur Gestaltung einer pastoralen Stimmung in der Sinfonik, gerät bei Thielemann leider zu beliebig und oberflächlich. Wie innig empfunden dies interpretierbar ist, wissen wir spätestens seit der – neben Bernstein – maßgeblichen Einspielung von Ernest Ansermet von 1965 (Decca). Obwohl sich Ansermet nur wenige Sekunden mehr Zeit lässt, ist die Wirkung eine völlig andere. Der anschließende Wechsel zum Allegro kommt hier wirklich überraschend, nicht so eingeebnet wie bei Thielemann – wobei der etwas mulmige Klang der eigentlich nagelneuen Produktion einmal wieder vor Augen führt, wie ausgefeilt die Tontechnik unter Idealbedingungen bereits vor einem halben Jahrhundert sein konnte. Für das Adagio espressivo, für nicht wenige der Höhepunkt des Werkes, benötigt Thielemann 10:29 – also in etwa eine Minute länger als Ansermet, der hier sogar noch etwas beschwingter ist als Nézet-Séguin. Das hat bei Thielemann also fast brucknerische Dimensionen und ist nicht ganz ohne Reiz. Die langsamen Sätze sind womöglich die Stärken seiner Deutungen. Schwächer wieder der Finalsatz, in dem Thielemann zwar nominell auf dieselbe Länge kommt wie Ansermet (neun Minuten), dies allein aber wenig besagt, nimmt er den Auftakt doch m. E. zu schnell und wieder merkwürdig an der Oberfläche gleitend. Überhaupt: Die Kontrastierung lässt – wohl auch wegen der nicht idealen Klangqualität – zu wünschen übrig. Die hier so wichtigen Pauken als rhythmisches Element gehen zu sehr im Gesamtklang unter und können nur bedingt Akzente setzen. Dieser Makel entfällt in Thielemanns alter DG-Aufnahme übrigens, die klanglich besser herüberkommt – auch wenn sie nicht ganz den glasklaren Decca-Klang bei Ansermet erreicht. Er, Bernstein und Stokowski (!) sind wohl auch die einzigen Dirigenten, die in der Coda einen echten Gänsehauteffekt erzielen können. Der Paukist darf bei Ansermet regelrecht auftrumpfen; die gekonnte Tempozurückname weist Ansermet als einen Meister der Ritardandi aus. Da kann letztlich keine der beiden Thielemann-Aufnahmen mithalten – schon gar nicht die neue mit den Dresdnern, die auch im Direktvergleich mit dem Philharmonia Orchestra den Kürzeren ziehen.

Hinsichtlich der Frühlingssinfonie steht für mich Otto Klemperers Einspielung mit dem New Philharmonia Orchestra (ebenfalls) von 1965 (EMI/Warner) wie der Fels in der Brandung – gar das Highlight seines Zyklus (der indes eine schwache Zweite und Dritte aufzuweisen hat). Blickt man auf die Spielzeiten Thielemanns (sowohl DG als auch Sony), meint man fast, ein Déjà-vu zu haben: Sie sind nahezu identisch mit jenen Klemperers, auch in den Verhältnissen der einzelnen Sätze zueinander. Bernstein etwa nahm zwar das Larghetto mit beinahe acht Minuten sogar noch etwas getragener, war jedoch ansonsten ein wenig flotter. Sagen wir so: Thielemann schneidet bei der Ersten etwas besser ab als bei der Zweiten. Er kommt dem Erlebnis der klemperesken Deutung sogar stellenweise nahe. Wieder arbeitet aber die Tontechnik gegen ihn. Das beginnt schon bei der eröffnenden Blechbläser-Fanfare, die den Frühling zum Gedicht Adolf Böttgers einleitet: „O wende, wende deinen Lauf / Im Tale blüht der Frühling auf!“ Stünde Thielemann für sich allein genommen da, er wüsste durchaus für sich einzunehmen. Allein, lauscht man Klemperers titanenhafter Interpretation, erfährt man, was sich hier doch noch herausholen lässt. Markerschütternder kann es nicht erklingen. Und wieder trägt eine uralte Einspielung aus den mittleren 60er Jahren auch klanglich den Sieg davon. Wie ist so etwas möglich? Der vielgeschmähte EMI-Klang zeigt sich zumindest hier voll auf der Höhe. Fällt schon das Klangbild der DG-Einspielung dagegen ab, so erscheint die neue Sony-Produktion wie unter einem Schleier. Das ist ärgerlich und sollte Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts eigentlich vermeidbar sein. Wüsste man es nicht besser, man hielte die Klemperer-Aufnahme für die neueste. Das trügt den Gesamteindruck und trägt dazu bei, dass das Gefühl von Luft nach oben aufkommt. Je mehr man darauf achtet, desto weniger Spaß bereitet das Gehörte. Das Bezwingende, das Klemperer im markigen Scherzo erzielt, erscheint hier auf Sparflamme, die Blechbläser-Einwürfe wirken allzu harmlos. Die Konklusion des Finalsatzes fördert das nämliche Problem nochmal zu Tage (die DG-Aufnahme wiederum insgesamt noch etwas überzeugender).

Die Rheinische ist insofern ein ähnlicher Fall, als auch hier schon der unmittelbare Auftakt wichtig ist für den Gesamteindruck einer Aufnahme. Leicht verwaschen auch hier die Sony-Einspielung, besser in der alten DG-Produktion. Die interpretatorischen Unterschiede geben sich nicht wirklich viel. Die beileibe nicht ideale, wohl zu spät zustande gekommene Einspielung Klemperers von 1969 hängt die neueren klanglich auch hier ab. Es sei in diesem Zusammenhang auf eine hierzulande wohl nahezu unbekannte, aber fulminante Aufnahme des japanischen Dirigenten Takashi Asahina mit dem New Japan Philharmonic verwiesen (Fontec). Dieser fernöstliche Furtwängler-Epigone legt die für meine Begriffe strahlendste Deutung des Werkes überhaupt vor. Die stärksten Momente gelingen Thielemann im feierlichen, an Bach erinnernden vierten Satz (fünfminütig), der wohl den Kölner Dom repräsentieren könnte. Hier kommt ihm einmal mehr die an Bruckner gemahnende, dunkel timbrierte Stimmung entgegen, die wohl seinem eigenen Klangideal entspricht. Interessanterweise fallen die tontechnischen Mängel in diesem Satz am wenigsten auf. Günter Wands sehr transparente Einspielung mit dem NDR-Sinfonieorchester (RCA), die in allen anderen Sätzen deutlich schnellere Tempi anschlägt, gerät hier mit bald sechs Minuten sogar noch getragener als bei Klemperer; den Vogel schießt indes Bernstein mit den Wiener Philharmonikern (DG) ab, der auf sage und schreibe sieben Minuten kommt. Den stark kontrastierenden, lebhaften Charakter des Schlussatzes trifft Bernstein womöglich besonders gut, indem er ihn bewusst ziemlich flott dirigiert. Thielemann entscheidet sich eher fürs Zelebrieren, ohne allerdings die hier verfehlten Extreme Klemperers (über sieben Minuten) anzustreben.

Bleibt die vierte Sinfonie (Fassung 1851), die wohl nach wie vor am höchsten geschätzte und diskographisch auch am reichsten dokumentierte, weswegen sich Thielemann hier noch größerer Konkurrenz zu stellen hat. Insbesondere die legendäre DG-Einspielung Furtwänglers mit den Berliner Philharmonikern von 1953 hält sich seit über sechs Jahrzehnten in den Katalogen. Schon zu Beginn merkt man wieso. Immerhin tontechnisch ist ihr Thielemanns Sony-Aufnahme überlegen – Kunststück, ist erstere doch noch in Mono. Beim Abhören der Neueinspielung ertappte ich mich indes zum ersten Male im Zuge der neuen Box, das Gehörte wirklich überzeugend zu finden. Fast ist es, als träten sogar die klanglichen Abstriche hier stärker in den Hintergrund. Man fragt sich, wie das geht angesichts der Aufnahmedaten, die darauf hindeuten, dass die Vierte zusammen mit einer der beiden anderen aufgenommen wurde. Kurios. Nun gibt es im Falle dieses Werkes sogar die Möglichkeit, den großen Knappertsbusch mit demselben Orchester 1956 live in Dresden zu hören – die Aufnahme wurde bei Tahra aufgelegt –, so dass sich der Vergleich geradezu aufdrängt. Was sofort auffällt: Der angeblich immer so langsame „Kna“ ist flotter als Thielemann, insgesamt sogar fünf volle Minuten. Sein Zugriff ist noch mehr auf Dramatik ausgelegt und beschwört das ganz große Pathos – wer bislang Furtwängler für pathetisch hielt, höre Knappertsbusch! Eine urdeutschere Darbietung ist schwerlich vorstellbar. Die Pauken knallen dermaßen, das Blech überschlägt sich stellenweise fast, dass es eine Freude ist. Eine im besten Sinne unzeitgemäße Interpretation. Bei allen Meriten, die Thielemann zumindest bei der Vierten einheimsen kann – an dieses Klangerlebnis (der Monophonie zum Trotze) ragt es dann doch nicht ganz heran. In seiner älteren DG-Einspielung braucht Thielemann übrigens exakt zwei Minuten länger und kommt auf nahezu 34 Minuten Spieldauer – damit sogar Sergiu Celibidache (EMI/Warner) hinter sich lassend. Wirklich gut gelingt Thielemann der geheimnisvolle Übergang vom dritten zum vierten Satz, eine der größten Überleitungen in der gesamten Musikgeschichte. Ausgezeichnet übrigens auch beim für seinen Schumann nicht eben berühmten und bereits angeführten Celibidache mit den Münchner Philharmonikern, der diese Transition auf zwei Minuten dehnt. Ein großartiger Mitschnitt des Werkes hat sich sogar von Karl Richter (sic) erhalten, der 1976 dasselbe Orchester beim Gedenkkonzert für den verstorbenen Chefdirigenten Rudolf Kempe in einer ungemein gehaltvollen und denkwürdigen Aufführung leitete. Leider kann man Richters seltene Ausflüge ins 19. Jahrhundert zählen.

Aber zurück zu Thielemann. Die Vierte ist ohne Frage das Highlight dieser ansonsten eher entbehrlichen Neuerscheinung. Eine einzige sehr gute Aufnahme macht noch kein Doppel-CD-Album. Die drei anderen Sinfonien sind sehr durchwachsen und können nur stellenweise überzeugen. Insgesamt am besten gelingen Thielemann hier noch die langsamen Sätze, in denen er bereits Anklänge an Bruckner unterbringen kann. Die Tonqualität ist, gelinge gesagt, suboptimal und wohl mit ein Grund für das sich nur eingeschränkt einstellende Hörerlebnis. Ein großer Wurf sieht anders aus. Vielleicht hätte man doch lieber ins Studio gehen und die vier Sinfonien mit etwas Abstand voneinander einspielen sollen. Störgeräusche durch das Publikum gibt es praktisch keine – vielleicht zum Preise des Klangbildes (Schumann: Sinfonien Nr. 1-4; Staatskapelle Dresden; Leitung Thielemann; Sony 19075943412; Aufnahme: 2018; Erscheinungsdatum: 2019). Daniel Hauser.