Lohn des Fleisses

 

Keiner wird spontan nach der CD mit der Dame greifen, die wie eine Hofschauspielerin in der Ahnengalerie des Burgtheaters aussieht: Helen Buchholtz.  Auch nicht in Luxemburg, wo sie so lange unbekannt blieb wie andernorts und allenfalls Lou Koster die Riege komponierender Frauen anführte. Erst 1998 ist man auf die 1877 in Esch-sur-Alzette geborene und 1953 in Luxemburg gestorbene Komponistin aufmerksam geworden, die sich ihre kompositorischen Kenntnisse autodidaktisch bzw. durch private Studien erwarb und zeitlebens mit dem Musikleben ihrer Heimat gut vernetzt war. Nach dem Tod des Vaters 1910 war sie finanziell unabhängig und gut gestellt, hielt Anteile an der von ihrem Bruder und Schwager geleiteten Brauerei, und konnte die Musik zum Zentrum ihres Lebens machen. 1914 heiratete sie in Metz einen deutschen Arzt, lebte bis zu dessen Tod mit ihm in Wiesbaden und kehrte anschließend nach Luxemburg-Stadt zurück. Buchholtz komponierte ihr ganzes Leben, nicht übermäßig viel, doch wohl dosiert; die Werkliste umfasst 135 Kompositionen, darunter rund 50 Lieder. Das von ihrem Neffen gerettete Konvolut mit Kompositionen wurde 1998 von Danielle Roster wiederentdeckt und gesichtet und als Archiv Helen Buchholtz der Frauen- und Genderbibliothek CID/ Fraen an Gender übergeben.

Im Februar 2018 entstand im luxemburgischen Ettelbruck als wichtigstes Dokument der jahrlangen Recherche, Sichtung und Bewertung die Aufnahme mit 25 Liedern der Helen Buchholtz Und hab‘ so große Sehnsucht doch…, die abgerundet wird durch vier Aufträge an Komponistinnen. Drei von ihnen stellen den Buchholtz-Vertonungen ihre Neuvertonung gegenüber. Einen Schwerpunkt in dieser Buchholtz-Auswahl bilden die Texte der deutschen Dichterin Anna Ritter (1865-1921). Im Beiheft dieser Ausgabe (Solo Musica SM 309) schreibt Roster, „In der Auswahl ihrer Gedichte legte sie offensichtlich Wert auf die weibliche Perspektive. Tod und Vergänglichkeit. Einsamkeit, Verlust und Sehnsucht sind Themen, die sie sie in ihrer Vokalmusik, aber auch in den Charakterstücken für Klavier, immer wieder musikalisch verarbeitet“.  Auffallend ist der selbstverständliche, natürliche, geradezu private Ton, den Buchholtz anschlägt als spreche sie zu sich oder allenfalls im vertrauten Kreis. Das gibt den romantischen Liedern eine gewisse Originalität, die sich auch in den Betonungen, in den lapidaren Akzenten und der Gliederung der Sätze niederschlägt. Man könnte das naiv nennen, doch die Umsetzung ist so charmant, auch reizvoll im durchaus nicht unaufwendigen Klavierpart und den von Claude Weber seigneural gespielten Vor- und Nachspielen, dass man den Liedern, denen sich die Sopranistin Gerlinde Sämann mit großem Fleiß annimmt, nicht ungerne lauscht, wobei Sämanns flacher Sopran nicht die Kraft aufbringt, um das dichte Programm zu tragen, geschweige denn hinreichend Reiz für so umfangreiche Stücke wie die neunminütige „Blauvögelein“ oder die anderen umfangreichen Balladen verströmt.

 

Eine ganz andere Qualität besitzen freilich die Lieder von Hans Pfitzner. Sie sind von derart überraschender und faszinierender Schönheit, spätromantischen Schwermut und Jugendstil-Überschwang, dass man sich fragt, weshalb sie so gut wie nie in Lied-Programmen erscheinen. Vielleicht hilft die Gesamteinspielung aller Lieder bei Naxos. Nach den Liedern für Sopran auf Volume 1 mit Britta Stallmeister von 2013 folgte jetzt mit großem zeitlichem Abstand die bereits 2010 in Emmendingen mit Colin Balzer aufgenommene zweite Folge. Bei diesem Veröffentlichungs-Rhythmus wird es noch etwas dauern, bis alle Lieder vorliegen. Auf seiner Internetseite spricht Pianist Klaus Simon von einer vierteiligen Ausgabe, wozu noch die Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner und der Bariton Uwe Schenker-Primus genannt werden.  In der zweiten Ausgabe (Naxos 8.572603) singt der kanadische Tenor Colin Balzer Lieder, die zwischen 1884 und 1916 entstanden, also viele Lieder der Jugendzeit. Bereits der 15jährige vertonte Heines „Ein Fichtenbaum steht einsam“ WoO 12 und Geibels „O schneller, mein Roß“ WoO 5, aber in den sieben Liedern op. 2 auch weniger bekannte Autoren wie Hermann von Lingg und August Schnezler oder stellt in op. 6 Texte aus seinem Freundeskreis von James Grun und Paul Cossmann wiederum Heine gegenüber. Hochromantische Szenen, dicht eingefangen mit einem sprechenden prägnanten Klavierpart, Eichendorffschen Stimmungszauber, den er in op. 7 atmosphärisch und musikalisch à la Hugo Wolf ausmalt. Außerdem eine geradezu jungmännerhafte Kraftmeierei, wie sie bereits in „O schneller, mein Roß“ angelegt ist, aber in „Wie Frühlingsahnung weht es durch die Lande“ op. 7/5 und „Studentenfahrt“ nach Eichendorff op 11/3 geradezu ekstatische Lust versprüht. Das klingt nach Strauss.  Dieser bewunderte Pfitzners Lieder ebenso wie Gustav Mahler. Colin Balzer verfügt nicht über den Heldentenor, den sich Pfitzner dafür vorgestellt haben mag, kann aber mit seinem hellen, stählernen Timbre einen heldischen Eindruck vermitteln. Er singt so textverständlich, dass es eine Freude ist, ihm und seinem Begleiter Klaus Simon bei dieser ausgezeichneten Aufnahme zuzuhören.

 

Mit wenig Gewinn hörte ich The Wagon of Life eine Hommage an den vielseitigen Kalligraphen, Graveur, Buchbinder, Möbelbauer, Lehrer, doch vor allem Komponisten Thomas Pitfield (1903-99), entstanden 2003 anläßlich seines 100. Geburtstags in Manchester, nicht am Royal Manchester College of Music, wo Pitfield von 1947-73 unterrichtete, sondern an der Chetham’s School of Music. Neben Liedern von Pitfield, dessen erstes, The Wagon of Life/ Der Wagen des Lebens,  der Sammlung den Titel gibt (ddv 24168), haben sich Bariton Mark Rowlinson und sein Begleiter Peter Lawson der ermüdenden Fleißaufgabe unterzogen, noch Lieder von gleich zehn weiteren Komponisten zu präsentieren, die irgendwie zu Pitfield und seiner Frau in Beziehung stehen. Am bemerkenswertesten sind die beiden Psalm-Vertonungen der Sasha Johnson Manning.

 

Sinnlich, lüstern, lustvoll ist die Atmosphäre in den Bilitis-Gesängen von Claude Debussy nach Texten seines Freundes Pierre Louÿs (1870-1925), der die Verse als Gedichte einer aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert stammenden Griechin ausgab. Fake. Eine Fälschung, ebenso wie die angeblich aus der gälischen Urzeit stammenden Gesänge des Ossian. Louÿs dachte sich für seine Bilitis eine Biografie aus, die von erwachender Sexualität und Sinnlichkeit erzählt. Als Jugendliche wird sie vergewaltigt, auf Lesbos findet sie ihr Liebesglück mit Mnasidika und auf Zypern wird sie als Tempelhetäre bewundert.

Bereits 1898 hatte Debussy drei der Gedichte als Klavierlieder vertont. 1901 folgten anlässlich einer Privataufführung, bei der zwölf Gedichte rezitiert und als tableaux vivants dargestellt wurden, zu jedem Gedicht kurze Bühnenmusiken für zwei Flöten, zwei Harfen und Celesta. 1914 arbeitete Debussy sieben Abschnitte diese Musique de scène pour Les Chansons de Bilitis zu sechs Klavierstücken zu vier Händen um, die er Six épigraphes antiques nannte. Es schön, diese aus einander hervorgegangenen und dennoch unterschiedlichen Stücke auf dieser klangsinnlichen neuen Einspielung mit der vollmundigen Mezzosopranistin Elisabetta Lombardi, dem Magadis Ensemble um die Schauspielerin Carole Magnini und den beiden Pianisten Filippo Farinelli und Raffaela D’Aniello zu hören (Brilliant Classics 95678). Ergänzt wird die runde Aufnahme durch La flûte de Pan, bekannter als Syrinx, die sehr kurze Bühnenmusik, die Debussy für das Stück Psyché seines Freundes Gabriel Mourey schrieb, mit dem er zahlreiche weitere Projekte angedacht hatte. Es ist besonders reizvoll, dass diese Aufnahme den Beginn des dritten Aktes mit der Szene der Nymphen bringt, wollte doch Debussy mit absoluter Präzision wissen, nach welchem Vers die Flöte Pans einsetzen solle  Rolf Fath