Apropos Berlioz-Jahr 2019: Vor kurzem tauchte eine Radioeinspielung der (eher mehr als weniger) kompletten Berlioz-Oper Les Troyens vom französischen Rundfunk 1956 unter dem bedeutenden Dirigenten und auch Komponisten Manuel Rosenthal aus den Beständen des INA (Instritut National Audio-Visuel) auf, die man gegen ein Geringes ebendort oder bei Quobus in bestem Sound herunterladen kann. Üblicher Weise waren die Opernsendungen des Pariser Radios, des RTF, ca. 2 Stunden lang (mit Ansage einschließlich), und eine engagierte Damenstimme gibt bei den Live-Konzerten (Rundfunksaal oder Salle Gaveau) kurze Hinweise zum Geschehen, leider manchmal auch in die Musik hinein.
Bei Chant-Du-Monde konnte man noch bis vor 10 Jahren viele dieser Rundfunkübernahmen erwerben, so auch den wunderbaren Sigurd von Reyer, ebenfalls unter Rosenthal (dieser nun weitgehend komplett). Und welche Schätze sonst! Opern von Auber, Bruneau, Bizet, vor allem Massenet und Gounod und eben auch Berlioz, dessen robust gekürzter Benvenuto Cellini zu meinen absoluten Favoriten gehört (dieser allerdings nicht käuflich, sondern nur bei Sammler-Plattformen); ehemals käuflich muss man dazu sagen, denn die Lizenzfrist für Chant-Du- Monde lief aus, wurde nicht erneuert, und nun sind diese CDs schon wegen der 70-Jahre-Copyright-Regelung nur noch als Antiquitäten zu haben, ebenso die umfangreiche Operettenserie aus dem INA bei derselben Firma.
Das ist umso bedauerlicher, als man hier das kompetente, in Teilen hinreißende Kontingent der eben nicht oder kaum an der Pariser Oper beschäftigten Sänger Frankreichs aus den Fünfzigern und Sechziger hören kann: Alain Vanzo, Berthe Monmart, Solange Michel, Janine Collar, Genrviève Moizan, Joseph Peyron, Jean Mollien (hochsensibler Pélléas bei Ansermet), Andrée Esposito (unvergessene Thais neben dem virilen Robert Massard oder Mireille mit Alain Vanzo und ihrem Ehemann Julien Haas) und viele, viele mehr. Manche fanden den Weg zur späteren EMI-Tochter La Voix de son Maitre (man denke an die herrliche Hélène Bouvier in Samson et Dalila oder Solange Michel in der Cluytens-Carmen), manche verblieben auf den nationalen Labels wie Oceanic, Vega oder Nixa.
Aber es gab dann neben diesen auch andere, die von den Dirigenten im aufgeschlossenen Nachkriegs-Paris wegen ihres vielseitigen Einsatzes geschätzt wurde. Und damit komme ich zu Ethel Semser (später verheiratet mit dem Maler und Bildhauer Charles Semser). Sie war in jener Zeit eine der gesuchten dramatischen Sopranistinnen in Paris, das immer schon – von der legendären Bananen-Tänzerin Josephine Baker über Christiane Eda-Pierre und Barbara Hendricks bis zu Jessye Norman (die in Paris von dem verstorbenen Sergio Segalini und dem EMI-Produzent Alain Lanceron zur Diva gestlyt wurde; man erinnert sich noch an ihre monströse Bewicklung in die Trikolore zum 14. Juli) – schwarze Sängerinnen geschätzt hat (und die eigenen weniger).
Ethel Semser kam als junge Frau nach Paris, sprach schnell gut Französisch und warf sich schonungslos in den Pariser Kunstbetrieb. Sie war – anders als viele ihrer nationalen Kolleginnen – sich nicht zu schade, die zeitgenössische Musik der angesagten Komponisten zu singen, die nun nach den Jahren der Besetzung aufgeführt wurden: Schönberg, Maderna, Boulez, Menotti, Rorem und viele der jungen Pariser Szene. Und sie wurde mit dem großen Dirigenten René Leibowitz bekannt gemacht, der in Paris vor allem auf diesem Gebiet den Ton angab (und dessen Beethoven-Sinfonien zu meinen absoluten Lieblingseinspielungen gehören). Er nahm nicht für die großen Firmen auf, sondern ist bei den Kleinlabels wie Oceanic oder Nixa zu finden. Vieles kam heute wieder auf den Markt. So auch die kraftvolle Alceste von Gluck mit Ethel Semser in der Titelrolle neben einer nationalen Crew der von Pathé oder DG oder Decca Benachteiligten. Die Semser ist ein wenig unruhig im Ton bei gutem Französisch, aber man würde keine Amerikanerin vermuten. Sie hat Power und Drive und eine starke Rollenerfassung. Außer der Alceste gibt es mit ihr noch einen dramatisch gekürzten Ballo in Maschera und zahlreiche „modernere“ Musikstücke wie Pierrot Lunaire, die Gurrelieder und weiteres (spotify und Quobus bieten manches).
Für mich als Berlioz-Liebhaber kamen die neuen alten Troyens als ganz große Überraschung, zeigen sie doch, dass sich jemand (eben Rosenthal) in Frankreich um diesen großen Sohn des Landes kümmerte und dass es nicht die lange Strecke bis zu Jacques Karpo in Marseille oder dem verwegenen Berlioz-Festival in Lyon brauchte (ab 1979), bis seiner gedacht wurde. Bereits 1957! Im Radio! Was für eine Großtat. Ich ziehe vor dem Dirigenten Manuel Rosenthal ebenso meinen Hut wie vor Hans Müller-Krey in Stuttgart, der in den Fünzigern die einzige und erste deutschsprachige Aufnahme der Trojaner beim Rundfunk dirigierte (ein Dokument gab es bei Walhall). Diese Dirigenten sind wahre Pioniere, wie eben Leibowitz auch, der erstmals die Grande-Duchesse de Gerolstein mit der köstlichen Eugenia Zareska und andere Raritäten von Offenbach bis Gluck aufnahm. So auch die von mir geliebte Alceste (Preiser, die noch weitere Leibowitze haben). Und damit eben auch nachhörbar Ethel Semser, an American Girl in Paris. Ihrer soll gedacht werden.
Dazu eine kurze Biographie: Ethel Frey Semser, 98, eine internationale Opernsängerin und Sprachwissenschaftlerin aus Philadelphia, starb am Donnerstag, dem 4. Juni 2015, an den Folgen einer Lungenentzündung. Geboren wurde sie im Jahre 1917 und wuchs in Philadelphia als Tochter von Nathan Frey, Violinist des Philadelphia Orchestra, auf. Sie absolvierte die Germantown High School und erhielt einen Bachelor of Arts von der Temple University sowie einen Master of Arts für Fremdsprachen von der University of Pennsylvania. Ihre Ausbildung zur Opernsängerin erfolgte privat. Sie sprach fließend Französisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch und arbeitete während des Zweiten Weltkrieges als Übersetzerin für den deutschstämmigen jüdischen Rechtsanwalt Robert Kempner, der vor den Nazis geflohen und nach Philadelphia gezogen war. Da sie eine hohe Sicherheitsfreigabe bekam, war es ihr möglich, Kempner bei seiner Arbeit im Kampf gegen die Nazis im Auftrag der USA zu unterstützen. Nach dem Krieg half sie bei seiner Tätigkeit als stellvertretendem US-Oberstaatsanwalt während der Nürnberger Prozesse. Während dieser Zeit gab Semser auch Konzerte und trat in Philadelphia auf.
1949 zog sie mit ihrem Ehemann, dem Maler und Bildhauer Charles Semser, nach Paris, wo sie bis zu ihrer Rückkehr nach Philadelphia im Jahre 2015 lebte. In Paris führten ihre Sprachkenntnisse und ihre höhe Sicherheitsfreigabe dazu bei, dass sie zunächst eine Anstellung als Assistentin des amerikanischen Botschafters in Frankreich im Bereich der öffentlichen Gesundheit erhielt. Später arbeitete sie für den US-Botschafter bei der OECD. Außerdem blühte ihre Karriere als Opernsängerin schnell auf.
Ethel Semser, eine lyrische Sopranistin, wurde sowohl für die Wärme und Schönheit ihrer Stimme als auch für ihre außerordentliche Musikalität gerühmt. Ihr Repertoire reichte von Mozart, Verdi, Gluck und Schubert bis Wagner, Strauss, Duparc, Schönberg und Berg. Zwischen 1950 und 1974 spielte sie Verdis Maskenball (Amelia), Glucks Alceste (in der Titelrolle, mit Flötist J. P. Rampal) und sowohl die Gurre-Lieder als auch den Pierre Lunaire von Schönberg ein, allesamt mit dem berühmten Dirigenten René Leibowitz.
Auf der Bühne in Paris spielte sie neben anderen Rollen in Menottis Der Konsul und gab zahlreiche Konzerte. Tourneen führten sie durch ganz Europa, wo sie Konzerte unter der Schirmherrschaft der US-Regierung gab. Ethel und Charles Semser verfolgten beide während ihrer 64-jährigen Ehe außergewöhnliche Karrieren in Frankreich. Charles Semsers große Skulpturen befinden sich auf öffentlichen Plätzen und in Parks in Paris und ganz Frankreich. Seine monumentale, sechs Meter hohe Skulptur Die menschliche Leiter steht nahe des Mont Blanc in den französischen Alpen, befindet sich im Besitz der französischen Regierung und ist Teil des französischen Kulturerbes. Er starb 2011 in Paris. (…)
Aus dem Nachruf bei Berschler & Shenberg, Funeral Chaoels Inc./ Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Hauser