Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist – eine Regel, die auch insbesondere für Countertenöre gilt, deren Stimmen eine erhöhte Volatilität haben. Der französische Countertenor Philippe Jaroussky ist dafür bekannt, sehr umsichtig zu planen, was er singen wird, und hat innerhalb von zwei Jahrzehnten eine beeindruckende Diskographie und Bandbreite bewiesen, demnächst wird er mit Schubert-Liedern Konzerte geben. Im Mai 2018 erschien Glucks Orfeo ed Euridice, im Oktober 2018 eine Solo-Album mit Arien von Händel, nun eine gelungene Opernarien-Auswahl von Francesco Cavalli, der das aus der römischen Oper und bei Monteverdi vorherrschende Prinzip weiterführte, historische und mythologische Gestalten mit einem Kastraten zu besetzen. Das neue Album Ombra mai fu enthält Arien und Duette aus über 25 Schaffensjahren Cavallis, beginnend mit Gli amori d’Apollo e di Dafne (1640) bis Eliogabalo (1667), darunter Arien aus bekannteren Opern wie Ormindo (1644), Giasone (1649) und Calisto (1651) sowie aus La virtù de‘ strali d’amore (1642), Doriclea (1645), Eritrea (1652), Orione (1653), Erismena (1655), Elena (1659), Pompeo Magno (1666) sowie Xerse (1654) aus dem das später durch Händels Vertonung berühmte „Ombra mai fu“ stammt. Cavalli stellt hohe Ansprüche an die expressiven Fähigkeiten der Sänger, die deklamatorisch und melodiös gefordert sind – eine Hürde, die Jaroussky auf dieser Einspielung mit Leichtigkeit nimmt. Die Arien klingen lebendig, bühnenwirksam und stimmungsvoll, bspw. das Lamento des Idraspe „Uscitemi dal cor, lacrime amare“ aus Erismena, das verzweifelte „Misero cosi va“ aus Eliogabalo oder das großartige „Misero Apollo“, die als gesungene Dramen überzeugen. Es gibt weiterhin das madrigalisch wirkende „Desia la verginella“, das martialische „All’armi“, das pastorale „Alcùn piu di me felice non è“, das freudvolle Wiegenlied „Delizie, contenti“ aus Giasone oder Sestos Ombra-Arie „Cieche tenebre“ aus Pompeo Magno sowie komikbetonende Stücke. Cavallis Stärke liegt nicht nur im Lamento, sondern auch in den Duetten, von denen drei integriert sind. Mit Marie-Nicole Lemieux und Emöke Baráth hat man Partnerinnen mit Stimme gewählt. Lemieux ist als Nymphe Linfea im Gespräch mit einem lüsternen Satyr, Baráth singt mit Jaroussky das Liebesduett zwischen der schönen Helena und Menelaos sowie das melodiöse „O luci belle“. Das mit 13 Musikern besetzte Ensemble Artaserse begleitet die Sänger mit farbigem Klang – neben Streichern hat man Harfe, Laute, Lirone und Gitarre, Kornett, Flöte und Schlagzeug, um Abwechslung zu erzeugen. Vier Vorspiele belegen die instrumentale Finesse des Ensembles. Eine sehr gut zusammengestellte, beispielhafte Einspielung, die die Facetten der venezianischen Oper bei Cavalli zwischen Komik und Tragik phantasievoll und mustergültig wiedergibt und sowohl sängerisch als auch musikalisch ausdrucksstark klanglich illustriert (Erato 0190295518196). Marcus Budwitius