Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Dieser süffisante, ironische Ton …

 

Es gibt ein wunderbares Interview mit Elisabeth Schwarzkopf und Thomas Voigt (operashare.de-lesern nun wirkjlich nicht unbekannt), in dem sie über ihre Studienzeit in Berlin spricht: „Diesen etwas süffisanten, raffinierten, ironischen Ton, den man für die Operette unbedingt mitbringen muß, hatte ich auf Platten von Fritzi Massary und Yvette Guilbert gehört…. Natürlich haben Sänger dieser Generation ihre Stimme anders eingesetzt, als wir sie dann später eingesetzt haben, aber sie hatten eine grundlegende Stimmschulung. Das ja auch notwendig war, denn sie haften ja täglich auf der Bühne zu singen – und ohne Mikrophone, wohlgemerkt. Und natürlich auch ohne klammheimliche Verstärkung seitens der Tontechnik, wie es heute in manchen Opernhäusern fast schon an der Tagesordnung ist – ein Betrug am Publikum, für den ich keine Worte finde. Das ist ein Verlust an Integrität, wie er schlimmer nicht sein kann.“ / Opernwelt März 1995).

Fritzi Massary auf 2 einzelnen CDs (trotz der Numerierung ist es zu weiteren hier nicht gekommen) bei Truesound Transfers aus den Händen Christians Zwargs – fabelhaft!

Elisabeth Schwarzkopf erwähnt, dass ihre Lieblingsklasse dem Vergleich von Aufnahmen berühmter Sänger gewidmet war. Die Schüler saßen und hörten Legenden der Vergangenheit auf Schellack. Schwarzkopf sagte, dass die Aufnahmen oft begannen und sie nicht verstehen konnte, warum ein bestimmter Sänger berühmt war, da er/sie so gewöhnlich klang. Bis sie, so Schwarzkopf, plötzlich erkannte, worum es ging. Es hätte ein einziger Satz sein können, eine bestimmte Art, mit einem Wort umzugehen, eine technische Leistung, aber es gab immer das gewisse Etwas, wie kurz es auch sein mochte. Ein Kunstgriff, wenn man so will. Frau Schwarzkopf lernte daraus und versuchte, diese entscheidenden Kniffe in ihrer eigenen Karriere zu kopieren, mit Erfolg.

Dieses Schwarzkopf-Interview kam mir in den Sinn, als ich die CD Fritzi Massary 3 und 4 von Truesound Transfers (TT 3052/ 3053) aus den bewährten Händen des Magie-Renovators Christian Zwarg mit Highlights aus Die Csardasfürstin, Die Faschingsfee, Die schöne Helena und Die Fledermaus abspielte, die 1916 und 1918 in Berlin aufgenommen wurden. Christian Zwarg hat sie meisterhaft restauriert, was ihr enormes Alter vergessen macht. Die Stimmen klingen so frisch, als stünden die Sänger direkt neben einem.

Fritzi Massary in Noel Coward’s „Operetta“. (Photo Robert Wennersten Archive)/ mit Dank an ORCA

Während der ersten beiden Tracks habe ich die berüchtigte Art der Massary verpasst, Liedtexte und Nuancen zu gestalten. Hier singt sie eher traditionell als lustvolle Soubrette mit einer guten Höhe, aber ohne außergewöhnliches Timbre. Und gerade als ich mich zu fragen begann, ob der Erwerb dieser Scheibe eine schlechte Investition gewesen war, begann Track 3 und änderte alles: Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht wird von Frau Massary solo gesungen, und nach der Einleitung vertieft sie sich in den Chor auf eine Weise, wie man es niemals anders hören möchte. Sie gleitet auf Worten („so hier und da“), ändert das Tempo von einem Satz zum anderen, beginnt zu improvisieren, gibt eine unerwartete Schattierung des Textes im zweiten Refrain … Man fragt sich, wieso das nicht von allen Operettensängern gemacht wird.

Solche Spielereien setzen sich in den folgenden Tracks fort, sind aber (noch) nicht das Hauptmerkmal. Dieses wird noch sparsamer eingesetzt. Aber man versteht, wohin diese Karriere führen wird. Bereits 1916 war die Massary ein großer Star und ihre Sylva Varescu war ein Volltreffer. Aber das waren keine maßgeschneiderten Rollen für sie.

Auch ihre Faschingsfee war ein Knaller. Nachdem ich mir die jüngste cpo-Aufnahme aus München angehört hatte, wollte ich mehr von Massary hören. Ich kannte einen Titel aus diesem Werk aus Fritzi Massary: O la la … Frühe Aufnahmen 1905-1920. Die Klangqualität auf dieser CD von KLEINaberKUNST ist nicht zu vergleichen mit dem, was Christian Zwarg hier herausgeholt hat. Er ist überhaupt ein Meister der subtilen, stimmenliebenden Tontechnik, wie nicht nur die vielen Titel in der Sammlung Truesound belegen. Anstelle eines Faschingsfee-Tracks gibt es hier zehn.

Fritzi Massary: vor LP-Zeiten in England auf Internationa Record Collector/ EMI – zwei wunderbare Auszüge aus „Operetta“ mit Fritzi Massary in ihrem vorübergehenden Londoner Exil, hinreißend und unnachahmlich. Joan Sutherlands Version konnte da in keiner Weise mithalten/ Decca.

Und neun Highlights aus der Csardasfürstin. Sie zeigen nicht nur Massary, sondern auch Molly Wessely, die zusammen mit Albert Kutzner Machen wir’s den Schwalben nach und mit Hermann Vallentin Das ist die Liebe singt. Sie hat eine ähnliche Klangfarbe wie Massary, man könnte sie sogar miteinander verwechseln, bis man merkt, dass dieses zusätzliche Element fehlt, dieses Massary-Spezifikum. Um Noel Cowards Tagebuch zu zitieren: „Sie ist hell wie ein Knopf und voller Vitalität. […] Mein Gott, sie hat etwas abgeliefert!“ Das hat sie sicherlich getan.

Noch 1958, als Massary zu einer seiner Aufführungen kam, gab Noel Coward an: „Es gibt wenig, was sie über das Theater nicht weiß.“ Dieses Wissen wurde in einer 30-jährigen Karriere erworben. Diese CsardasfürstinFaschingsfee-Aufnahmen stammen ungefähr aus der Mitte dieser 30 Jahre, sie kommen aus den Tagen ihrer Revue im Metropoltheater und vor ihrem Superstar-Status der 1920er Jahre.

 

Als Coward die Massary in den 1950er Jahren in Hollywood wiedertraf, war er sehr beeindruckt von der Art und Weise, wie sie gealtert war: „Dort ist sie, im Ruhestand, in ihren Siebzigern und schick wie immer. Weise und klug und vernünftig. ‚Nostalgie du temps perdu‘ bis zu einem gewissen Grade, aber leicht gemacht und ohne Schmerzen. […] Es war schön, sie wiederzusehen, keine tränenreiche Selbstbeobachtung. Eine wertvolle Begegnung.“

ORCA-Chef Kevin Clarke von dem Yiddish Theatre/ ORCA

Das Gleiche kann über die doppelte Begegnung mit Kalman gesagt werden. Besonders interessant ist „Jaj, mamam Bruderherz“. Massary, Hermann Vallentin und Pep Ludl singen es mit unerwarteten Kontrasten und wechseln von Melancholie zu wahnsinniger Hingabe. Moderne Operettensänger könnten von diesen Aufnahmen viel lernen. Es gibt eine Frische, eine emotionale Tiefe und Ehrlichkeit, die atemberaubend ist, ohne jemals in den großen Opernklang zu verfallen, der (für mich) so viele spätere Aufnahmen der Csardasfürstin und der Faschingsfee unerträglich macht.

Eugen Rex als Massarys Partner in der Faschingsfee ist fast so unterhaltsam wie Albert Kutzner. Rex war 1920 bei der Premiere von Der Vetter aus Dingsda dabei und hatte im folgenden Jahrzehnt eine große Filmkarriere. (Er trat 1933 der NSDAP bei und bekleidete  hochrangige Positionen in der Filmindustrie.)

Bereits 1918 hatte Massary ihren Stil weiterentwickelt. Sie ist absolut selbstsicher als Prinzessin Alexandra Maria. Die Art und Weise, wie sie in dieser Musik auf und ab gleitet, ist einfach umwerfend (man probiere Lieber Himmelsvater, sei nicht bös). Das wird man nirgendwo in der neuen Aufnahme aus München hören.

 

Fritzi Massary: Werbepostkarte Fritzi Massary in „Die Sünde von Berlin“, Berlin, 1906 bis 1909, DruckTechniken; 13,80 cm x 8,70 cm, Inv.-Nr.: V 93/327 V © Stiftung Stadtmuseum Berlin, mit sehr freundlicher Genehmigung des Stadtmuseums Berlin; Foto oben daraus ein Ausschnitt

Die hohe Kunst des Umgangs mit dem Text zeigt sich auch in La belle Hélène. Ihre Anrufung der Venus zeigt, wie man drei Verse interessant und frisch halten kann. Und ihr Duett mit Bernhard Bötel als Paris ist – nun ja, wie nichts, das man jemals gekannt hat. Es ist so weit wie irgend denkbar von Jessye Norman und Felicity Lott entfernt; und doch bewahrt sich die Massary durchweg einen klassischen Stil.

Ein besonderer Leckerbissen ist das abschließende Spiel ich die Unschuld vom Lande. Es macht verständlich, warum Bruno Walter sie als Adele bei den Salzburger Festspielen engagierte. Schon 1918 weiß Massary haargenau, wie man unschuldig spielt und Resultate abliefert. Das deckt sich absolut mit dem was die Schwarzkopf sagt.

Wenn man sich für Kalman interessiert, dann sollte man diese beiden Auszüge unbedingt hören. Ich würde es sogar obligatorisch nennen. Wie bereits angeführt, ist die Klangqualität für Aufnahmen von 1916/18 hervorragend. Die höchste Kunst des Operettengesangs ist unüberhörbar. Es ist so schade, dass sie verloren gegangen ist … Kevin Clarke, Operetta Research Center Amsterdam/ Übersetzung Daniel Hauser/ mit besonderem Dank an Kevin Clarke und auch Thomas Voigt für die Genehmigung zur Übernahme des Schwarzkopf-Zitats./ das vollständige Interview von Thomas Voigt mit der Schwarzkopf bringen wir im Laufe des Jahres 2019 als „Nachdruck“ des Opernwelt-Artikels.

Heather Harper

 

Mit großem Bedauern lesen wir vom Tod der irisch-britischen Sopranistin Heather Harper. Ich habe sie in London und auch in Berlin (unter Barbirolli) mehrfach gehört und sie für ihre große und vielseitige Kunst geschätzt. Sie hatte so etwas unendlich Verlässliches, etwas Solides, was es heute kaum noch gibt. Sie war unglaublich vielseitig, und eine meiner Lieblingsaufnahmen mit ihr ist eine alte Cavalli-LP mit ihrem Kollegen Gerald Englisch (in der abenteuerlichen musikalischen Ausgabe Raymond Leppards), wo sie den Tod der Dido und andere Lamenti singt. Was für eine Ruhe, welcher Fluss. Für mich war sie die Sopranfortführung ihrer ebenso von mir geliebten Kollegin Geraldine Veasey, ähnlich stimmlich gelagert und ähnlich flexibel, ob nun als Arabella oder in der berühmten Britten-War-Requiem-Aufnahme als „Ersatz“ für die Vischnevska. Als Opernsängerin ist sie vielleicht weniger hervorgetreten als in den großen Konzertstücken ihres Fachs, und ihre Vier letzten Lieder zählen für mich zu meinen Standardaufnahmen ebenso wie die von der Jurinac, mit der sie viel gemeinsam hat. Ihre Händel- und Bachaufnahmen gehören ebenfalls zu meinem eisernen Bestand – was für eine große und nachhaltige, noch heute gültige Künstlerin war sie doch. G. H.

 

Die deutsche Wikipedia schreibt etwas karg: Heather Harper CBE (* 8. Mai 1930 in Belfast, Nordirland; † 22. April 2019 in London, England) war eine britische Opernsängerin (Sopran). Harper erhielt ihre frühe musikalische Ausbildung in Belfast. Sie studierte Klavier am Trinity College of Music in London, mit Stimme als Zweitinstrument, und sang beim BBC Chorus. Ihr Debüt als professionelle Sopranistin gab sie 1954 in Luigi Cherubinis Medea, einer Aufführung dieser Oper durch den Oxford University Opera Club. Von 1956 bis 1975 war sie ein Mitglied der English Opera Group. Zu ihren herausragenden Rollen zählten Elsa in Richard Wagners Lohengrin, die Titelrolle in Strauss’ Arabella, Ellen Orford in Brittens Peter Grimes, und die Governess in Brittens The Turn of the Screw. Harper war auch als Sopranistin in konzertanten Aufführungen aktiv. So sang sie den Sopran Solo-Part in der Uraufführung von Brittens War Requiem im Jahre 1962; sie ersetzte Galina Wischnewskaja nur 10 Tage vor dem Konzert.[2] Sie trat auch auf anderen Bühnen der Welt auf: im Royal Opera House Covent Garden, bei den Bayreuther Festspielen (1967 und 1968 als Elsa), in San Francisco und an der Metropolitan Opera (Contessa Almaviva in Le nozze di Figaro und in Peter Grimes). 1985 nahm sie bei der sogenannten Last Night ft he Proms in Belfast an der Welturaufführung von Malcolm Williamsons Liederzyklus Next Year in Jerusalem teil.

 

Dazu auch die britische Wikipedia: The distinguished Irish soprano, Heather (Mary) Harper, was born and trained in Belfast. She was trained as a concert pianist at Trinity College of Music in London, taking singing as a second subject. She also took voice lessons with Helen Isepp and Frederic Husler. She sang in BBC Chorus.

Heather Harper’s first professional appearance was as Lady Macbeth in Verdi’s opera, in 1954 at the Oxford University Opera Club. She was a member of the English Opera Group from 1956 to 1975. Principal roles followed at Covent Garden, Glyndebourne and Sadler’s Wells, putting her in the foremost ranks of operatic sopranos. She created Lucie Manette in Benjamin’s Tale of Two Cities, London (New Opera Company at Sadler’s Wells) in 1957. Sang the Woman in first Britain stage production of Arnold Schoenberg’s Erwartung, 1960. Her Glyndebourne début was in 1957 as First Lady in W.A. Mozart’s Die Zauberflöte; Her Covent Garden debut was in 1962 as Helena in Benjamin Britten’s A Midsummer Night’s Dream. Her debut in 1967 at the Bayreuth Festival as Elsa in Lohengrin received international acclaim. In 1977 she made her New York Met as the Countess in W.A. Mozart’s Le Nozze di Figaro. Her roles encompass W.A. Mozart, Verdi, Wagner and 20th century works. Outstanding roles including Elsa, Arabella in Strauss’s opera, Ellen Orford in B. Britten’s Peter Grimes, and the Governess in The Turn of the Screw.

Heather Harper was also a concert artist of supreme accomplishment. Her fame in this area was based on a series of highly successful tours of North and South America, Australia, the Far and Middle East (including Israel), Russia, Czechoslovakia, Scandinavia and Europe. She gave first performances of many works. Sang in the first performances of B. Britten’s War Requiem at Coventry Cathedral in 1962, and Tippett’s 3rd Symphony in 1972. Other works dedicated to her are Three Leaves of Grass by the Finnish composer Leif Segerstram, and Chambermusic by Antal Doráti. She created Mrs Coyle in Owen Wingrave, televised 1971. Heather Harper retired from stage 1984, but sang Nadia in The Ice Break at Proms 1990 (a role she actually created).

In 1965 Heather Harper was made Commander of the British Empire for her service to music, and in 1966 the Queen’s University, Belfast, conferred on her an honorary degree of Doctor of Music.

From 1985 Heather Harper was a Professor at the Royal College of Music in London. From 1986 she was also director of singing studies at the Britten-Pears Scholl in Snap, and the first visiting lecturer-in-residence at the Royal Scottish Academy of Music in Glasgow (from 1987). Although already retired she sang with Simon Rattle and the City of Birmingham Symphony Orchestra at the London’s Proms in 1994.(Foto Bach-Cantatas)

 

In stratosphärischer Höhe

 

Seit vielen Jahren arbeitet eine eifrige Truppe von Musikwissenschaftlern und Musikern unter der Gesamtleitung von P. Nikodem Kilnar Osppe (d.h. Mitglied des Pauliner-Ordens) in Jasna Góra in Schlesien an der wissenschaftlichen und diskographischen Erschließung des überreichen Archivs dieses Klosters. Von den bis jetzt fast 60 CDs, die veröffentlicht wurden, haben nicht viele die Aufmerksamkeit des Publikums und der Kritiker außerhalb Polens erregt.

Zu Unrecht, denn Jasna Góra gehört zu jenen mitteleuropäischen Klöstern, die nicht nur dazu beigetragen haben, dass das musikalische Erbe vor allem des 18. und frühen 19. Jahrhunderts erhalten blieb, sondern es hat auch die damalige, vor allem die deutschsprachige Musikwelt mit Hauskomponisten bereichert, deren Werke z.T. auch außerhalb der Klostermauern gespielt und gedruckt wurden. Stams, die böhmischen und bayerischen Klöster oder Einsiedeln, um andere Beispiele zu nennen, waren zwar Sammelbecken fremder Kunstwerke, aber sie trugen auch aus eigener Kraft entscheidend dazu bei, den klassischen Stil zu etablieren, unter anderem, indem sie auch als Bildungsstätten für mehrere Generationen von Komponisten wirkten, die später in den Metropolen Europas Erfolge feierten. Wer weiß noch, dass Franz Xaver Süssmayr ein Stiftsschüler in Kremsmünster gewesen war? Oder dass Etienne-Nicolas Méhul sein Handwerk bei dem deutschen ChorherrenWilhelm Hanser gelernt hatte?

Jasna Góra kann sich solch berühmter Schüler nicht rühmen, aber seine Bibliothek ist eine Fundgrube seltener Kompositionen aus ganz Europa. Naturgemäß hat sich die Reihe der Musica Claromontana insbesondere der Kirchenmusik gewidmet. Die zahlreichen Folgen mit Werken des Pauliners Amando Ivancic, der 1758 verstarb, und des Beethoven-Zeitgenossen Josef Elsner (1769-1854), der selbst von Dominikanern und Jesuiten in Breslau ausgebildet wurde und und später in Warschau Chopins Lehrer war, seien hier empfohlen. Das Kloster verfügt über eine große Anzahl von Instrumentalwerken, darunter 180 Symphonien, welche unermüdliche Kopisten für ihre musizierenden Mitbrüder abschrieben.

In der schon vor etlicher Zeit eingespielten, aber erst jetzt zur Verfügung stehenden Folge 55 der Veröffentlichungsreihe werden vier davon vorgestellt: zwei ebenfalls aus anderen Quellen bekannte Symphonien von Johann Christian Bach und Carl Ditters von Dittersdorf, eine nur in Jasna Góra und Bratislava erhaltene, hinreißende viersätzige „Symphonia ex C“ von Dittersdorf sowie ein Concerto grosso des Pauliners Marcin Józef Zebrowski. Dieses Mitglied der Pauliner-Abtei war schon in den 1740er Jahren aktiv, veröffentlichte in Amsterdam um die Mitte des 18. Jahrhunderts Kompositionen und starb wohl erst um 1790 in Jasna Góra. Sein bizarres Concerto grosso mit seinem virtuosen Hornsolo (ausgezeichnet: Andrew Hale) lässt den beginnenden Übergang vom Barock zur Klassik nachvollziehen.

Die Produktionen aus Jasna Góra setzten schon lange auf Originalinstrumente und auf ein international besetztes, eigenes Orchester, die Cappella Claromontana, die hier unter der energischen Leitung des Geigers Tomasz Wabnic glänzt. Krönung dieser Produktion sind drei Arien von Dittersdorf („Preces humilitatis“, „Povera Beatrice“ aus Dittersdorfs Barone di Rocca antica sowie eine„Aria de tempore“). Sie zeigen, dass man in Jasna Góra Sänger allerersten Ranges zu engagieren und/oder auszubilden vermochte, denen die ehrfurchtgebietenden vokalen Schwierigkeiten zuzutrauen waren. Hervorragend gelingt das hier der in Olsztyn und Würzburg ausgebildeten Sopranistin Katarzyna Dondalska. Dem im Begleitheft versuchten Vergleich mit Mado Robin und Bogna Sokorksa muss man nicht folgen. Dondalskas Timbre wird nämlich nicht jedermanns Sache sein, und man hätte sich eine deutlichere Diktion gewünscht, aber ihre sicher geführte, quecksilbrig bewegliche und etwa in der Kadenz der dritten Arie stratosphärische Höhen erreichende Stimme beeindruckt nicht weniger als die lyrischen Töne, die sie für die zweite Arie findet. Freunde der Musikkultur im 18. Jahrhundert und die Bewunderer von Koloraturstimmen sollten sich diese liebevoll, durch einen hervorragenden Text von Agnieszka Drozdzewska bereicherte CD nicht entgehen lassen (Musica Claromontana Bd. 55: Werken von Zebrowski, J.C. Bach und Dittersdorf, K. Dondalska, Capella claromontana, T. Wabnic, Musicon Warschau).  Michele C. Ferrari

Gut gemeint, aber …

 

Im Laufe seiner fast 60 Jahre währenden Karriere hat sich Giacomo Meyerbeer nicht nur der Oper gewidmet. Von ihm stammt auch ein Korpus von im Allgemeinen als religiös zu bezeichnenden Kompositionen, die zum Teil bis vor kurzem unbekannt waren und die nun auf Initiative des Dirigenten und Musikwissenschaftlers Dario Salvi eingespielt wurden. Darunter befindet sich eine Anzahl von Psalmen, die der 16jährige Meyerbeer vertonte, noch bevor er mit Carl Maria von Weber ab 1810 in Darmstadt bei Abbé Vogler studierte. Es ist anrührend, diese schlichten Gesänge zu hören, für die Meyerbeer die deutsche Übersetzung von Moses Mendelssohn verwendete. Mit der Kantate „Gott und die Natur“ („Lyrische Rhapsodie“ benannt) aus dem Jahre 1811 und dem Singspiel „Jephas Gelübde“, das 1812 in München uraufgeführt wurde, näherte sich Meyerbeer der Opernbühne und zeigte seine Kompetenz im klassischen Stil moderner Prägung, die sich in der virtuos gehaltenen Stimmführung offenbart.

Die auf der CD versammelten späteren Werke wie ein Gloria und Halleluja von 1841, ein „Cantique tiré de l’Imitation du Christ“ aus 1859 (hier mit einem von Salvi wiederentdeckten Präldium von 1863 versehen, einem Jahr vor dem Tod des Komponisten) und ein „Pater noster“ tragen eher den Charakter von Gelegenheitskompositionen. Das soll aber nicht täuschen, genauso wenig wie die Tatsache, dass der Jude Meyerbeer christliche Texte in Musik setzte. Er war ein tief religiöser, doch überaus toleranter Mensch, und die hohe Qualität etwa des Cantique, das auf eine ursprünglich auf Latein verfasste Meditationsanleitung des frühen 15. Jahrhunderts zurückgeht, zeigt, dass das Vertonen solcher Texte vielleicht keine Herzangelegenheit, aber doch eine Aufgabe war, die Meyerbeer mit Ernst anging. Diese CD erlaubt somit, eine nicht unbedeutende, aber bis jetzt wenig beachtete Seite von Meyerbeers Schaffen kennenzulernen.

Dass sich die Begeisterung für das Unternehmen indes in Grenzen liegt, hängt an den Versionen und der musikalischen Wiedergabe. Salvi hat sich dafür entschieden, die Stücke für eine Kammerbesetzung zu bearbeiten (aus Kostengründen?), indem er etwa das Orchester, das für „Gott und die Natur“, „Jephtas Gelübde“ und die Psalmen vorgesehen war, durch Streicher und Klavier ersetzt. Der Hinweis im Booklet, man folge der Praxis der Zeit, in der „Chopin, Rossini, Liszt und viele mehr (…) Klavier-Arrangements, Transkriptionen, Potpourris oder Variationen über Lieder und Themen aus Opern Meyerbeers“ schreiben, führt in die Irre. Es geht hier nicht um eine wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit Meyerbeers Themen, sondern lediglich darum, das volle Orchester zu ersetzen. Das Ergebnis ist schwerfällig und stilistisch anachronistisch. Dass die Psalmen von der Großbesetzung mit Chor und Orchester auf eine Solo-Stimme mit Begleitung verkleinert werden, erlaubt keine Einsicht in die Kompositionsweise des jungen Meyerbeer. Angesichts des interessanten Programmes würden man sich wünschen, Positives über die Solistin berichten zu können. Andrea Chundak nennt einen engagierten Sopran ihr eigen, der allerdings nicht selten fahl und nicht nur in der Höhe gefährdet klingt. Insgesamt enttäuscht also diese gut gemeinte Produktion. Der fromme Meyerbeer wartet nach wie vor auf seine Wiederentdeckung.

Wer kann, möge auf die Gesamtaufnahme von „Gott und die Natur“ zurückgreifen, die 1996 in Bologna entstand und seitdem zu den Juwelen der Bootlegs-Sammler gehört; die anderen müssen hoffen, dass Naxos oder eine andere mutige Firma sich endlich der großbesetzten Werke annimmt (Giacomo Meyerbeer, Sacred Works. Ausschnitte aus Gott und die Natur, Jephtas Gelübde, Psalmen und Gesänge, Andrea Chudak (Sopran), Jakub Sawicki (Orgel und Klavier), Neue Preussische Philharmonie, Dario Salvi, CD Naxos 8.573907). Michele C. Ferrari

Nicola Vaccaj: „Giulietta e Romeo”

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Ob Norma, Liebestrank oder Lucia di Lammermoor: Belcanto-Opern sind beliebt und gehören inzwischen weltweit zum Opernrepertoire, besonders bei Festivals. Aber welches war eigentlich das Urmodell, die erste erfolgreiche romantische Belcanto-Oper?

Sie stammt nicht von Bellini oder Donizetti, sondern von Nicola Vaccaj – es war der Publikumserfolg Giulietta e Romeo, uraufgeführt 1825. Die Oper ließ sich selbst von Bellinis Neuvertonung von 1830 nicht verdrängen, oft spielte man perfiderweise sogar eine Mischung aus beiden Werken. An diese erstaunliche Oper hat das berühmte Opernfestival in Martina Franca 2018 erinnert (s. unten), und die Aufführung ist nun bei Dynamic auf CD zu haben (und als Bluray-DVD). Eine wirklich beeindruckende Vollblut-Belcanto-Oper mit einem Mezzosopran als Romeo.

Wuchtige Chöre: Dass erst 1825 wieder neue Töne jenseits der Formel aus Italien zu hören waren, liegt daran, dass die italienischen Komponisten sich alle in Schockstarre befanden, weil Rossini sie im Würgegriff hielt. Und dann ging Rossini 1824 nach Paris, und als dann allmählich klar wurde: der kommt so schnell auch nicht wieder, kamen die Mäuse aus ihren Löchern und trauten sich wieder, zu pfeifen. Und eine der ersten Opern, diesich moderat vom Rossini-Ton befreiten, das war diese Romeo- und Julia-Vertonung, übrigens nur Wochen vor einer zweiten erstaunlichen Reformoper, Pacinis Ultimo Giorno di Pompej.

Vaccaj nimmt sehr viel von dem vorweg, womit Bellini und Donizetti später ihre Hörer paralysieren große elegische Melodien, Einsatz von Harfe und anderen romantisch anmutenden Instrumenten, wuchtige Chöre, all das findet sich hier schon.

Vaccaj kreiert hier eine eigene Sprache, die genau zwischen Rossinis und Bellinis Meisterwerken auf die Welt kommt, er schreibt eine elegante und doch leidenschaftliche Musik, und für jeden, der den Belcanto liebt, dürfte das eine echte und erfrischende Abwechslung sein.

Viel Leidenschaft und Hingabe: Obwohl die Neuaufnahme in einigen Foren als Weltersteinspielung angekündigt wurde, hat es schon einen CD-Mitschnitt aus Jesi von 1996 gegeben. Da erschien mir das Werk unendlich langweilig, obwohl die Sängerriege gar nicht so schlecht war. Aber die Reprisen waren gekürzt und das Orchester zu tumultös. Und jetzt – das ist wirklich ein kleines Wunder – kann man in diesem Mitschnitt erleben, wie eine gut gemischte Sängergarde aus angehenden Stars und Kräften kleinerer Häuser mit viel Leidenschaft und Hingabe an ihre Grenzen geht und dem Werk echtes Leben einhaucht.

Gerade Leonor Bonilla als Julia gibt alles; Sie ist sicher keine primadonna assoluta, aber eine Sängerin, die mit ihrer Rolle verschmilzt und die Partie glaubwürdig gestaltet. Sehr hörenswert auch der Starauftritt des chilenischen Baritons Christian Senn als Pater Lorenzo. Rafaella Lupinacci als Romea fällt dagegen etwas ab, aber das kann auch subjektiver Eindruck sein; ihre Romeo-Hits haben schon große Diven auf der Platte gesungen, etwa Marilyn Horne. Insgesamt aber spürt man: wenn man es so zelebriert, macht auch eine Oper zweiten Ranges Vergnügen.

Sesto Quatrinis Stabführung hat mich nicht restlos überzeugt. Zwar kann er die großen bellinischen Bögen mit seinem Orchestra Accademia Teatro alla Scala überzeugend zelebrieren, oft bremst er aber die Schlussakte der Nummern aus, die dann unspektakulär in Zeitlupe vergurgeln (Nicola Vaccaj: Giulietta e Romeo; mit Leonor Bonilla, Raffaella Lupinacci, Paoletta Marrocu | Coro del Teatro Municipale di Piacenza | Orchestra Accademia Teatro della Scala | Sesto Quatrini; Dynamic 2 CDS 7832.02 und als DVD Bluray 57832). Matthias Käther

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Der Komponist Nicola Vaccaj/ Wikipedia

Und als Ergänzung zum Artikel meines jungen Kollegen – ein kurzer Blick auf Vaccajs nicht so bekannte Oper, wie er meint (wobei man die ungemein erfolgreiche Medea in Corinto Simone Mayrs nicht unerwähnt lassen sollte, ob nun wirklich eine Belcanto-Oper oder nicht…). Ich erinnere mich an die sehr temperamentvollen und gtar nicht langweiligen Aufführungen 1996 im bezaubernden Barock-Theaterchen von Jesi, ein reizendes Städtchen oberhalb von Martina Franca an der Adria-Küste. Davon gibt es auch den Mitschnitt (klanglich nicht aufregend) bei Bongiovanni (GB2195/96) Paula Almararez und Maria José Trullu in den Hauptrollen unter dem Pionier Tiziano Severini.  Vorher hatten sich Nicola Rescigno und Marilyn Horne der Oper angenommen und konzertant den fulminanten Schluss mit der langen Todeszene erst 1977 in Dallas und davor in New York (mit dem damaligen Ehemann Henry Lewis) nach alter Malibran-Manier statt des originalen Schlusses in die Capuleti e i Montecchi  eingebaut, unterstützt von Linda Zogby (who?) als bezaubernde  Giulietta. Die Horne braust durch diese wunderbare Musik wie ein slalomgeübter Treckerfahrer, absolut beeindruckend, ebenso in  den Capuleti e i Montecchi überwältigend, wenngleich wie meist ein wenig zu robust. Sammler habe diese Aufnahmen natürlich (bei ehemals Ponto, bei youtube et. al.).

Rossini in Wilbad nahm sich ebenfalls Vaccajs an: seine Sposa di Messina gab es dort 2009, und die tüchtige Firma Naxos hat diese im Rahmen ihres Wildbad-Kanons mitgeschnitten (8660295-96, erschienen erst 2012; SWR).

„Gulietta e Romèo“: Marilyn Horne und Lindaa Zogby singen bei youtube das Finale aus Dallas 1977/ youtube

Zudem gibt es doch verschiedene Einspielungen mit Vaccajs Musik, wie ein Blick zu Google oder Amazon zeigt: Kammerarien mit Monica Carlett bei Concerto (naja), die Sammlung Grande Accademia vocale e strumentale bei Bongiovanni, Orgelmusik bei Elegia, Flötenquartette bei Tactus, die „Praktische Schule des italienischen Gesangs für mittlere Stimme – Lehrbuch von Nicola Vaccai mit CD“ von Ricordi. Denn Vaccaj war auch als Musikpädagoge renommiert. Aber sein Verona-Drama ist mit Abstand die schmissigste Musik von ihm, die wir bislang kennen. Und das Finale mit der Horne eine absolute Ober-Wucht… G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Eva Kleinitz

 

Die Staßburger Oper schreibt: In  tiefer Trauer müssen wir mitteilen, dass Eva Kleinitz,  bisherige Intendantin der Opera national du Rhin, am Donnerstag den 30. Mai 2019 nach langer Krankheit verstorben ist. Eva Kleinitz´ kühne und weltoffene Spielplangestaltung, ihre strahlende und großzügige  Menschlichkeit und ihr für alle Mitarbeiter unseres Hauses sehr inspirierender Ehrgeiz haben tiefe Spuren bei allen hinterlassen, die das Glück hatten mit ihr seit ihrer Ernennung im Frühjahr 1916 unter ihrer Leitung zu arbeiten. Auch in ihren früheren Funktionen an der Oper Stuttgart,  am Brüsseler Opernhaus La Monnaie /De Munt und bei den  Bregenzer Festspielen bestach sie durch ihre Herzlichkeit und ihre berufliche Kompetenz. Das aufrichtige Beileid der gesamten Opera national du Rhin  und unser tiefes Mitgefiühl gelten Eva Kleinitz‘  Angehörigen und ihren Freunden.

 

Biographie Eva Kleinitz wurde in Langenhagen geboren. Sie studierte Musikwissenschaft, Psychologie und italienische Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Mit einer Magisterarbeit über die Oper Francesca da Rimini von Riccardo Zandonai schloss sie ihr Studium 1998 erfolgreich ab.

Ab 1991 war sie Regieassistentin und Spielleiterin, unter anderem bei den Bregenzer Festspielen sowie in Theatern und Opernhäusern in Klagenfurt, Avignon, Nîmes, Paris, Straßburg, Spoleto, Köln und Schwetzingen und hatte dort die Gelegenheit mit verschiedenen Regisseur·innen zusammenzuarbeiten, darunter Daniele Abbado, Philippe Arlaud, Götz Friedrich, David Pountney und Jérôme Savary.

Im Rahmen ihres Engagements im künstlerischen Betriebsbüro der Bregenzer Festspiele ab 1998 leitete Eva Kleinitz die Projekte Oper am See und Oper im Festspielhaus. Sie war verantwortlich für Casting, Dramaturgie, Verträge, Werkstätten und die Redaktion des Programms. 2000 übernahm sie die Leitung des künstlerischen Betriebsbüros und war bis 2003 persönliche Referentin des Intendanten Alfred Wopmann. 2003 bis 2006 arbeitete sie als Operndirektorin und stellvertretende Intendantin der Bregenzer Festspiele sowie als Prokuristin unter dem neuen künstlerischen Leiter David Pountney.

In dieser Zeit arbeitete sie mit renommierten Regisseur·innen wie Robert Carsen, Francesca Zambello und Phyllida Lloyd sowie mit namhaften Dirigent·innen, darunter Sylvain Cambreling, Fabio Luisi, Yakov Kreizberg, Vladimir Fedoseyev, Ulf Schirmer und Marcello Viotti.

2006 bis 2010 übernahm sie die Direktion für künstlerische Planung und Produktion an der Brüsseler Oper La Monnaie / De Munt. Ab der Spielzeit 2007/2008 war sie dort ebenfalls künstlerische Referentin des neuen Intendanten Peter de Caluwe. In dieser Eigenschaft arbeitete Eva Kleinitz mit den Regisseur·innen Pierre Audi, Robert Carsen, Deborah Warner und Krzysztof Warlikowski, den Dirigenten René Jacobs, Hartmut Haenchen, Marc Minkowski, Kazushi Ono, Marc Soustrot, Carlo Rizzi, Christophe Rousset und Jérémie Rhorer sowie den Choreograf·innen Sidi Larbi Cherkaoui, Akram Khan, Ann-Teresa de Keersmaeker und Sasha Waltz.

Ab 2011/2012 war Eva Kleinitz Operndirektorin und stellvertretende Intendantin im Leitungsteam der Oper Stuttgart, zusammen mit Jossi Wieler (Generalintendant), Sylvain Cambreling (Generalmusikdirektor) und Sergio Morabito (Chefdramaturg). In der Spielzeit 2015/2016 erhielt die Oper Stuttgart unter anderen Auszeichnungen den Titel Opernhaus des Jahres von der Zeitschrift Opernwelt.

In Stuttgart arbeitete Eva Kleinitz mit Dirigenten wie Giuliano Carella, Teodor Currentzis, Gabriele Ferro, Hartmut Haenchen, Marko Letonja, Daniele Rustioni, Michael Schønwandt, Marc Soustrot und dem damaligen Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling sowie mit den Regisseur·innen Andrea Breth, Calixto Bieito, Andrea Moses, Peter Konwitschny und Kirill Serebrennikov, aber auch mit Jossi Wieler und Sergio Morabito aus dem eigenen Haus.

Im Oktober 2013 wurde Eva Kleinitz beim Herbstkongress in Wexford, Irland als erste Frau und erste Deutsche zur Präsidentin von Opera Europa gewählt; das Amt bekleidete sie bis Mai 2017. Seit 2005 hält sie regelmäßige Gastvorlesungen und Workshops an der Showa University of Music in Shinyurigaoka / Präfektur Kanagawa, Japan. Sie gibt ebenfalls regelmäßig Kurse an der Accademia della Scala di Milano.

Von Januar 2015 bis Mai 2017 war sie Mitglied der Editorial Group der Opernwebsite The Opera Platform, einem gemeinsamen Projekt von Opera Europa und dem Fernsehsender ARTE mit Unterstützung der Europäischen Union.

Darüber hinaus ist sie regelmäßig Jurorin bei internationalen Gesangswettbewerben, unter anderem bei der Francisco Viñas Competition, dem Concorso Lirico Internationale di Portofino, dem AsLiCo Como, der Paris Opera Competition etc.

Am 31. März 2016 wurde Eva Kleinitz einstimmig zur Generalintendantin der Opéra national du Rhin ab der Spielzeit 2017/2018 berufen. Es handelte sich um eine gemeinsame Entscheidung des französischen Kulturministeriums, der Städte Straßburg, Mulhouse und Colmar und der Region Grand Est. Am 1. September 2017 trat sie die Nachfolge von Marc Clémeur an, der seit 2009 als Intendant der Opéra national du Rhin tätig war.

Mit großer Kühnheit würdigte Eva Kleinitz in ihrer Zeit als Intendantin der Opéra national du Rhin immer wieder Werke, die in den Repertoires kaum Beachtung fanden, wie Francesca da Rimini von Zandonai, Der Tembelbrand von Mayuzumi, Barkouf! von Offenbach, La divisione del mondo von Legrenzi und jüngst Beatrix Cenci von Ginastera. Ihr Bestreben, die Opéra national du Rhin für neue Wege zu öffnen, verwirklichte sie unter anderem mit dem interdisziplinären Festival ARSMONDO, das sie in Zusammenarbeit mit ihrem künstlerischen Berater und Dramaturgen Christian Longchamp gestaltete. Nachdem die ersten Ausgaben des Festivals 2018 Japan und 2019 Argentinien gewidmet waren, wird 2020 Indien das Gastland sein.

Eva Kleinitz’ Begeisterung für große Künstler⋅innen kannte keine Grenzen und unter ihrer Leitung seit September 2017 wurde die Opéra national du Rhin zu einer bedeutenden Stätte des künstlerischen Schaffens, was unter anderen die Regisseur⋅innen Mariame Clément, Tatjana Gürbaca, Barrie Kosky, Ludovic Lagarde, Jetske Mijnssen, Amon Miyamoto, Mariano Pensotti, David Pountney, Nicola Raab, Pierre-Emmanuel Rousseau, Nicolas Stemann, Marie-Eve Signeyrole, Frederic Wake-Walker, Jossi

Wieler & Sergio Morabito bezeugen können. Durch die fruchtbare Zusammenarbeit mit Marko Letonja, dem musikalischen Leiter des Orchestre philharmonique de Strasbourg, sowie mit Patrick Davin und dann Jacques Lacombe, den Leitern des Orchestre symphonique de Mulhouse, entsprachen die von ihr programmierten Opernproduktionen stets einem anspruchsvollen musikalischen Niveau. Eva Kleinitz ermöglichte zahlreichen Sänger⋅innen in neuen Rollen zu debütieren und sie unterstützte und betreute die jüngsten unter ihnen, vor allem die Jahrgänge des Opernstudios, mit der allergrößten Herzlichkeit. Ihre Begeisterung und Unterstützung galt ebenfalls der Arbeit von Bruno Bouché an der Leitung des Balletts der Opéra national du Rhin. (Quelle Opéra national du Rhin/ Foto Klara Beck/ ONR)

Das Lächeln fehlt

 

Sol y vida nennt sich Elīna Garančas Ausflug ins Cross-Over-Geschäft bei DG und lässt Spanisches vermuten, was nur zum Teil zutreffend ist. Den umfangreichen Mittelteil bilden Canzoni von Tosti, de Curtis und Co, die gern für neapolitanisches Liedgut gehalten werden, eigentlich Salonmusik sind und vorzugsweise von Tenören, unlängst erst von Jonas Kaufmann, gesungen werden. Nun singen Soprane und Mezzosoprane seit einiger Zeit auch Die Winterreise, warum dann nicht italienische Canzonen. Der lettische Mezzosopran interpretiert sie nicht als naives Sichverschwenden kostbaren Materials wie einst beispielhaft Giuseppe Di Stefano, auch nicht als elegante Salonstücke, sondern wie Opernarien. Bei Cardillos Core ngrato trumpft auch das Orchester mächtig auf`, offenbart sich das Timbre als sehr preziös, wird sehr getragen gesungen, und auch bei de Curtis‘  Torna a Surriento erfreut natürlich die Stimmpracht, die Raffiniertheit des Singens, doch fehlt das Herz, das andere Interpreten in ihren Vortrag legten, erschlägt die allzu große vokale Geste fast das Stück. Non di scordar di me des selben Komponisten wird von einem unangenehm schmalzigen, überproportionierten Orchester begleitet, während die Sängerin der Canzone allzu viel Verinnerlichung angedeihen lässt, aber das Lächeln fehlt, das eigentlich diesen Stücken bei aller Traurigkeit innewohnen sollte. „Zu viel“ möchte man mit Tannhäuser ausrufen, wenn die zugegeben wundervolle Stimme viel Kunstvolles produziert, während doch der Charme von Musica proibita woanders liegt. Weniger dick wird Non t’amo più vom Orchester begleitet, doch der Mezzo bleibt tränenschwer, mit Überschwermut wird das Stück belastet. Auch Marechiare holt aus zu Operneffekten, alles klingt wunderschön, ist aber seines Charakters beraubt.

Die Stücke in spanischer Sprache, sei es aus Europa, sei es aus Südamerika, klingen schon einmal durch das härtere Idiom authentischer. Granada beginnt verinnerlicht, wo andere Sänger bereits aufdrehen, hier gibt es, und das ist gut, kein generelles Sichaufplustern der Stimme, sondern eine differenzierende Interpretation. Das Orquesta Filarmónica  de Gran Canaria unter Karel Mark Chichon ist hier hörbar in seinem Element. Eine schöne Verhaltenheit zeichnet La Llorona aus, viel Flexibilität und Leichtigkeit Vai lavar a cara. Besonders schön wird es, wenn sich die Begleitung fast nur auf die Gitarre beschränkt, so im Gracias a la vida von feiner Melancholie. Insgesamt wird sehr viel mehr vom Charakter der Musik erfasst als bei den italienischen Stücken. Zu Piazzollas Maria passt der kleine Schuss Ordinäres, den die Stimme der Garanċa hier annehmen kann, sehr schön geradlinig, sehr erfüllt hört sich Hermidas Lela an, und den angemessenen Zarzuela-Stil hält die Sängerin für No puede ser bereit. Recht weichgespült klingt Gardels El dia, und Barrosos Brazil beschließt die CD mit so unterschiedlichen Eindrücken auf den Hörer, dass er sie weder in ihrer Gesamtheit bejubeln noch verdammen mag (Deutsche Grammophon 483 6217). Ingrid Wanja  

Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter

 

 „Berlioz pour toujors“! möchte man ausrufen angesichts der Fülle an Aufnahmen, die es inzwischen von dem großen Komponisten unseres Nachbarlandes jenseits des Rheins gibt (wo er nachweislich am wenigsten geschätzt wird, wie man der jüngsten Aufführung seines opus summum an der Pariser Oper bei Arte TV entnehmen konnte). Das Berlioz-Jahr 2019 (Berlioz: * 11. Dezember 1803 in La Côte-Saint-André, Département Isère; † 8. März 1869 in Paris)  animiert die CD-Firmen, ihre Schatztruhen zu öffnen und uns mit ihren mehr oder weniger habenswerten  Dokumenten zu überschütten. Wobei Warner als EMI-Nachfolgerin die Nase vorn hat, geht sie doch besonders sorgfältig mit ihren Erbstücken um und steuert für die im wahrsten Sinne Gesamten Einspielungen auch noch neue bei, die als Erstaufnahmen wie in der Debussy-Box vor kurzem auch den Berlioz-Katalog vervollständigen. Im Ganzen ist die Warner-Box ein Meilenstein, ein unverzichtbarer.

Colin Davis hat seine Berlioz-Leidenschaft noch einmal und spät mit dem London Symphony Orchestra live ausgetobt und auf CD beim hauseigenen Label LSO festgehalten, mehr als diskutabel auch die Oper Les Troyens – da mag man wahrlich kritisch sein, denn seine immer noch unübertroffenen Philips-Großtaten mit Vickers und Veasey in den Troyens sind immer noch Maßstab setzend und von den neuen Live-Mitschnitten und anderen Aufnahmen durchaus nicht übertroffen. Dennoch: Auch er ist einer der ganz großen Berlioz-Kämpfer unserer Tage gewesen.

Natürlich fehlt viel, was man im Berlioz-Jahr wieder sehen möchte und vergriffen scheint (Amazon/ jpc), aber Decca (!)-Aufnahmen hat ihre antiken Aufbnahmen von Davis (ebenfalls Veasey und dann Watts unübertroffen in Béatrice et Benedict) neu herausgegeben, zusammen m9it weiteren Berlioz-Einspielungen des Dirigenten. Fehlen tun die Decca-Boxen von prèsque tout Berlioz unter  Dutoit.  Sony/RCA hatte ihre Schränke geöffnet und die Berlioz-Schätze unter Munch, Bernstein  und Co. wiederaufgelegt (alles in operalounge.de noch mal nachzulesen). Sony selbst hat als CBS-Columbia-Erbin Eleanor Stebers schöne Berlioz-LP im Schrank (und die aufregende Bidu-Sayao-LP/ CD mit mélodies francais ist m. W. auch nicht mehr greifbar) …

 

„Les Troyens“: die Beecham-Aufnahme der BBC bei Somm, hervorragend restauriert unter den Augen von Lady Beecham beim Beecham-Trust/ Somm-Beecham 26–8, 3 CDs

Glücklicherweise sind Les Troyens unter Beecham mit der hinreißenden Marisa Ferrer bei Somm in sensationeller Qualität neu erschienen, auch diese ein Meilenstein. Auf die DG-Köstlichkeiten mit Barenboim (Teile eines abgebrochenen Berlioz-Zyklus) kann man  getrost verzichten, hingegen ist die alte Damnation unter Markhevitch ein Muss. Ebenso die Westminster-Monteux-Aufnahme von Roméo et Juliette mit der wunderbaren Resnick im Alt-Solo. Die Decca hat unter ihren Juwelen Maazels Roméo et Juliette oder natürlich die bis auf den Tenor wirklich superben Troyens unter Dutoit mit der himmlischen Pollet als Didon und anderem, noch ein Doppel-Bloc unter eben Dutoit (die schöne Lieder-Zusammenstellung mit der Pollet und anderen bei DG nicht zu vergessen, die ist aber in Teilen nun bei Warner gelandet).

Und jemand sollte die amerikanischen Troyens mit Steber und Resnik offiziell herausgeben (eigentlich unter Beecham, aber er wurde just am Tage der Radioübertragung krank und sein Assistent Robert Lawrence dirigierte).  Natürlich gehören auch die Troyens Teil 2 unter Scherchen mit der hinreißenden Arda Mandikian auf den Markt, die japanische Scherchen-Tochter hatte die alten Ducretet-Thompson/ Westminster-LPs gut aufgearbeitet für Tahra ausgegraben (die bei einer ungenannten Billigfirma sind nicht zu empfehlen, da herrscht Dumpfes). Und natürlich gibt’s jede Menge Historisches von Coppola bis Dorati oder Gielen (naja) Luisi oder oder oder, was als Addenda vielleicht lohnend wäre.

„Les Troyens à Carthage“ unter Hermann Scherchen bei Ducretet/London – eine legendäre LP-Ausgabe, aber zwischen als CDs erhältlich

In jeden Fall stehen wir heute unendlich viel reicher an Berlioz-Dokumenten da als noch vor einigen Jahren. Auch an DVD-Live-Mitschnitten kürzlicher Aufführungen in London und andernorts. Und a propos Live-Mitschnitte: Davon gibt es wirklich inzwischen massenhafte, namentlich aus London unter Kubelik und Davis, aber auch in Englisch mit Janet Baker aus Edinburgh und London. Und auch die alte Scala-Aufnahme (Walhall) soll ebenso wenig vergessen werden wie die beglückende von der RAI mit einem unübertroffenen Trio Gedda, Horne und Verrett unter Prêtre (Arkadia u. a.). Sowie die Torsi mit der Crespin aus Boston (Sammlerglück).

 

Marie Delna war die Didon in der ersten (!!!) vollständigen Aufführung der „Troyens“ in Paris 1890 (!!!)/ Wiki

Daniel Hauser hat noch einmal auf die Berlioz-Gesamtausgabe bei Warner hingewiesen, die auch die Neuaufnahme der Troyens aus Strasbourg beinhaltet – diese wurde auch andernorts in operalounge.de von mir besprochen, mit unterschiedlicher Begeisterung, trotz der Hochachtung vor Dirigent John Nelson.  

Aber noch ein paar Worte zum opus summum von Berlioz, auf anderen Dokumenten, denn erstaunlicher Weise ist dieses Werk, das so aufwendig zu besetzen und erst in unserer Zeit fast Repertoire-mäßig zu hören ist, gut dokumentiert. In der Vergangenheit wurde es ja eher selten gespielt, in Frankreich fast gar nicht, in Paris erst 1890 erstmals vollständig, seitdem bruchstückhaft und barbarisch gekürzt – einzig Marseille und das Berlioz-Festival kurzjährig in Lyon -wetzen die Scharte aus. Paris eröffnete zumindest die Bastille 1990 mit den „Troyens“ (die Damen Bumbry und Verrett sowie Goerge Gray standen wieder mal für die absurden Besetzungspläne der Pariser Oper, die nun 2019 erneut „Les Troyens“ mit Russen und Amerikanern gibt. Was wieder für die Nichtachtung der Franzosen gegenüber ihren großen Komponisten spricht und mit dem Aussterben der Kenntnisse vom eigenen Repertoire und dem Verschwinden der großen Stimmen/Tenöre im eigenen Land zu tun hat. Aber wenn man eine Mezzosopranistin wie die fulminante Sylvie Brunet im Land besitzt und eine Russin (als Ersatz für die Garanca) für deren Partien verpflichtet, dann macht das doch nachdenklich.

Berlioz´Oper „Les Troyens“  Erato (0190295762209) auf 3 CDs mit einem DVD-Bonus-Hightlights-Mitschnitt; Nelson verwendet leider mal wieder das spätere Finale und lässt die Sinon-Szene im ersten Akt aus….

International hingegen sind die Troyens außerordentlich oft auf CD und Sammler-live festgehalten worden. Sogar in einer barbarisch gekürzten deutschen Version von 1961 mit Josef Traxel unter Hans Müller-Kray (Walhall) vom SWR. Und apropos deutsch:  Sogar Frida Leider sang die Dido vor dem Krieg neben Helge Rosvaenge 1930 an der Staatsoper in Berlin unter Leo Blech. Aber davon gibt es kein Dokument, nur ein Foto.

Die eigentliche und immer noch unangefochtene Studio-Einspielung ist die der Philips von 1969 unter Colin Daviserstmalig (fast) komplett und ein Meilenstein in der Werkgeschichte. Covent Garden hat in der Vergangenheit unendlich viel für Berlioz getan – zu Beginn Rafael Kubelik und dann Colin Davis sorgten unermüdlich für Aufführungen erst in Englisch und dann im Original, mit illustren Besetzungen von Veasey bis Baker, Silja, Meyer, Baltsa, Lear, Shuard und vielen, vielen mehr (um nur von den beiden weiblichen Hauptpartien zu sprechen; Dank auch an Freund Sandro für die Erinnerung an Rozhdestvensky mit Felicity Palmer als Cassandra konzertant in Lodon). Ronald Dowd, Gregory Dempsey und Jon Vickers wechselten sich als Enée ab. Die Philips-Aufnahme ist für mich klanglich immer noch beste Ware, hervorragend besetzt (einzig über Vickers mag man sich streiten).

Wichtig ist vorher noch die Rundfunkaufnahme im Original unter Thomas Beecham von 1947 (hervorragend neu restauriert unter Aufsicht von Lady Beecham beim Beecham-Trust/ Somm) – immer noch eine packende und überzeugende Aufnahme) mit der beeindruckenden Marisa Ferrer in beiden Partien (Cassandre und Didon) neben einem eher schüchternen  Jean Giraudeau, Enée vom Dienst auch auf der Ducretet-Aufnahme von Carthage unter Hermann Scherchen 1952 neben einer sensationellen Arda Mandikian, auch sie prachtvoll und so unendlich idiomatisch. Den EMI-Torso der gemeinen Kürzungen ziert nur Régine Crespin als bewegende Didon unter Georges Prêtre (die erstaunlicher Weise nicht in der Warner-Box vertreten scheint), Guy Chauvet bölkt  wie sein Landsmann Gilbert Py auf weiteren Dokumenten. Bemerkenswert und für mich neben Davis und Dutoit (Decca) auf dem Siegerpodium ist der leicht gekürzte RAI-Mitschnitt von 1969 mit einer mehr als befriedigenden All-round-Besetzung (Marilyn Horne, Nicolai Gedda, Shirley Verrett), wobei ich die Horne und Gedda als schlicht genial und unendlich beglückend empfinde. Gedda ist der gebrochene Held par excellence, hier in seiner Bestform, und das an einem Abend im Konzert (Arkadia ist da die beste Aufnahme).

Charles Dutoit machte bei Decca seine vor allem auch klanglich hervorragenden und hochidiomatischen Berlioz-Aufnahmen, Francoise Pollet als Didon nicht zu vergessen.

Der große Sprung führt dann zur Decca-Aufnahme unter einem, breite Tempi favorisierenden Charles Dutoit am Pult kanadischer Kräfte, aus denen ebenfalls unique Francoise Pollet als textwissende, cremige und erzfranzösische Didon herausragt – eine große Sängerin in einer kongenialen Partie. Kaum zu überbieten. Deborah Voigt und Gary Lakes sind nicht unrecht,die franco-kanadischen Kräfte eine Wucht. Sehr habenswert und ungekürzt (sogar den fiesen Boten im ersten Akt hat Dutoit eingebaut). Zudem klanglich absolut erste Decca-Ware. Was für ein Rausch! Und dies auch nach Hören der Nelson-Aufnahme…

Als Videos gibt es Eliot Gardiners Pariser Aufführung im TCE (mit dem auf einen Torso reduzierten 1. originalen Finale der Oper, wie es Hugh McDonald in einem weiteren Berlioz-Artikel später im Jubiläums-Jahr in operalounge.de ausführlich beschreibt und)  mit einer eher schlichten Susan Graham (mit dem Charme einer Arzthelferin) neben einer leidenschaftlichen, wenngleich verwaschen prononcierenden Antonacci und einem zu amerikanischen Kunde (opus arte 2010) sowie eine Aufführung aus Covent Garden mit erneut Antonacci und Eva-Maria Westbroek blusig-allgemein als Didon neben einem stentoralen Brian Hymel als Enée, der virile Kraft und kaum Zerrissenheit einbringt (opus arte). Vergessen will ich die Gergiev-DVD aus dem Mariinski von 2011: Lancy Ryan brüllt unerträglich, und die Damen sind doch recht …. robust (C-Major 2011). Und fast vergessen: Deborah Polaski ist die sicher auf der Bühne erfolgreichere Heldin auf dem Salzburger Mitschnitt bei Arthaus von 2002 in der vielgelobten, wenngleich gekürzten Wernicke-Produktion, die danach durch die Theater zog. Hingegen soll Plácido Domingo nicht unterschlagen werden, der bei der DG mit Jessye Norman und Tatjana Troyanos  den Enée stemmt (2002, aber die Produktion ist älter), die Kolleginnen achtungsgebietend (wenngleich auch nur im allgemeinen Opernpathos verharrend), er nicht so sehr und wie oft nur professionell im Instant-Modus. James Levine auch. Die Produktion schaut abgewetzt aus (ich erinnere mich auch an Abende an der Met mit der Pollet in der falschen Partie als Cassandre neben der bizarren Maria Ewing, die aus der Didon eine Cabaret-Nummer machte).

Live tummeln sich weiterhin fast unendlich viele Aufnahmen bei Sammlern und auf grauen CDs/LPs/MCs/Minidiscs und Open-reels. Und auch da macht unser Nachbarland keine gute Figur, denn die Troyens wurden nach dem Krieg kaum in Frankreich gegeben. Mal in Marseille, dann beim verstorbenen Berlioz-Festival in Lyon (riskante Besetzungen) und als fast rein-amerikanische Initiative am TCM in Paris. Seit dem Krieg fallen mir nicht mal eine Handvoll Produktionen in Frankreich  ein – im Gegensatz zu Deutschland.

Immer noch eine der aufregendsten Aufnahmen, die beste Ausgabe von „Les troyens“ mit Nicolai Gedda auf Arkadia, gekoppelt mit seiner „Damnation de Faust“/ inzw. vergriffen, aber doch noch auftreibbar.

Eleanor Steber und Regina Resnik sorgten für die amerikanische Erstaufführung in moderner Zeit (1960) und halten die nationale Glorie aufrecht (VA;, nach einem run in Washington unter Thomas Beecham sprang für New York sein Aisstent ein). Rafael Kubelik, der mit vielen Abenden in London dokumentiert ist, leitete auch die italienisch-sprachige Version an der Scala, wo sich Mario del Monaco, Giulietta Simionato und Nell Rankin an Berlioz abarbeiten. Aber die Übertragung ins Italienische macht daraus etwas ganz anderes, dichter an Mascagni vielleicht, zumal die Sänger mit voller Lunge eben diesen singen (Melodram u. a.).  Natürlich gibt es noch viele andere Dokumente: Christa Ludwig (Gala), die Silja, die Baltsa, Meyer (Caprice), Crespin, vor allem die ganz wunderbare und empfindsame Lorraine Hunt als Didon an der Met (wo ähnlich wie früher in London die Troyens ein festes Zuhause haben), die pastose Troyanos, Ewing, Elkins, Baker (Gala), Palmer, Thebohm, Shuard, Goerke, Elms, ganz sicher Nadine Denize mit ihrem schönen und melancholischen Ton, und viele, viele mehr neben einer knapp gehaltenen Riege an empfehlenswerteren Tenören (so Roberto Alagana in Berlin, aber nicht Heppner, Lakes, Grey und verschiedene Osteuropäer) finden sich in den Sammlungen, die ich hier nicht alle aufzählen kann. In Erinnerung bleibt für mich vor allem – weil live erlebt – die Aufführung an der Scottish Opera in Edinburg 1969, wo die Damen mit Helga Dernesch und Janet Baker besetzt waren, was für ein Rausch! Sicher habe ich bei der Aufzählung  einige vergessen. Mea culpa.

Nur die Gardiner-DVD-Aufnahme der „Troyens“ aus Paruis 2003 hat zumindest in Teilen das originale Finale der Oper von 1858.

Was also bleibt? Haben muss man die ältere Philips-Aufnahme wegen Davis, der Veasey und Vickers (egal wie man zu ihm steht) nebst Massard und vielen anderen der älteren Schule. Ganz sicher auch die Decca-Einspielung wegen des Klanges und der unglaublichen Pollet neben vielen Franco-Kanadiern. Und nun die neue von Erato? Wegen Michael Spyres als dem fast idealen Helden und wegen Nelsons erfahrener Leitung am Pult dieser bemerkenswerten Kräfte in einer wirklichen Original-Fassung. Aber ganz sicher auch die alte RAI-Aufnahme (Arkadia) wegen Gedda unvergleichlich in seiner Poesie und seinem Schmerz und wegen der Ideal-Besetzung der Cassandre mit Marilyn Horne. Das Werk ist so gewaltig und überragend, dass man nicht genug Aufnahmen haben kann. Finde ich (Foto oben: Roberto Alagna und Béatrice Uriah-Monzon sangen in den „Troyens“ 2010 an der Deutschen Oper Berlin, daraus oben ein optischer Ausschnitt/ Foto Bettina Stoeß mit freundlicher Genehmigung der DOB; dazu auch unsere Rezension in operalounge.de; Alagna ist zudem mit weiteren Berlioz-Stücken in der Warner-Berlioz-Box vertreten. Eben!)Geerd Heinsen.

Ein Bedeutender

 

Mit Kirill Kondraschin verband mich eine nachhaltige Seelen-Freundschaft, die in jenen langen Wochen seiner Deutschlandtournee mit wechselnden Rundfunkorchestern im Frühjahr 1979 begann, als ich ihn für die deutsche Agentur Wolfgang Wiesbaden im Auftrag der russischen Zentralagentur betreute. Ich hätte ihn zwar am Ende des Sommer erwürgen können, als er plötzlich im besten Deutsch zu einem Gelage einlud, während er vorher sich stets von einem der vielen russischen Orchestermitgleider dolmetschen ließ und wir beide in seinem zweifelhaften Englisch kommunizierten. Aber er öffnete sich mir und sprach viel von seinen Gründen, in den Westen, Amsterdam, flüchten zu wollen. Wobei ich ihm half. Das war eine schwere Entscheidung – zumal seine Frau Nina wieder zurück nach Moskau wollte, wegen der Kinder. Später wurden sie geschieden und Kondraschin heiratete in Holland neu. Er war ein wunderbarer Mensch und Mann, durchdrungen von Musik wie nur Russen das sind. Seine Proben zu Schostakowitsch waren ein unvergessliches Erlebnis, das sich jedes Mal neu wiederholte, wenn er vor einem anderen Orchester stand. Seine Kommunikation mit den Musikern war eine unglaublich spontane, fast ein Liebesakt. Intensiv und mir bis heute eingebrannt in die Erinnerung. Wir blieben lange jahre im Kontakt, und ich besuchte ihn in Amsterdam einige Male. Er war wie John Barbirolli einer der bedeutendsten Musiker, den ich kennen durfte.

Deshalb ist es uns ein Anliegen, die nachstehenden Kollektionen auf BR Klassik vom Beyerischen Rundfunk und  bei Hänssler Profil vorzustellen und an ihn zu denken. Daniel Hauser berichtet. G. H. 

 

Kyrill Kondraschin/ European Collections

Kirill Kondraschin war fraglos einer der bedeutendsten sowjetischen Dirigenten überhaupt. Anders als seine wichtigsten Kollegen, der anderthalb Jahrzehnte ältere Jewgeni Mrawinski und die anderthalb Jahrzehnte jüngeren Jewgeni Swetlanow und Gennadi Roschdestwenski, wagte er am Ende seines Lebens, 1978, den Sprung in den Westen. Dort arbeitete er besonders mit dem Concertgebouw-Orchester in Amsterdam, dessen Zweiter Dirigent er wurde, sowie mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, zu dessen Chefdirigenten er bereits designiert war, als er im März 1981 völlig überraschend erst 67-jährig starb. Die vom BR-Eigenlabel vorgelegten Aufnahmen (BR Klassik 9007004) entstanden ein gutes Jahr zuvor, am 7. und 8. Februar 1980, im Herkulessaal der Münchner Residenz. Es handelt sich um die Konzertouvertüre Russische Ostern von Nikolai Rimski-Korsakow sowie um die Sinfonie in d-Moll von César Franck.

Mit beiden Komponisten setzte sich Kondraschin in seinen späten Jahren verstärkt auseinander. So spielte der Rimski-Korsakows Scheherazade in einer von der Kritik gefeierten Aufnahme mit dem Concertgebouw-Orchester 1979 für Philips ein. Die Sinfonie von Franck hatte er bereits 1977 ebenfalls in Amsterdam dirigiert; der Mitschnitt wurde von Tahra veröffentlich (vergriffen). Dass der russische Dirigent ein Händchen für die Musik seiner Landsleute hat, braucht an dieser Stelle wahrlich nicht näher belegt zu werden. So nimmt es nicht wunder, dass Kondraschins farbenprächtige Wiedergabe der Oster-Ouvertüre gerade auch wegen der Klasse des BR-Symphonieorchesters zu den empfehlenswertesten gerechnet werden darf.

Der gebürtige Belgier und spätere Wahlfranzose Franck legte gewiss eine der bedeutendsten französischen Sinfonien des 19. Jahrhunderts vor. Trotz aller Bemühungen tut sich dieses etwas sperrige Werk aber noch heute schwer, sich wirklich zum Standardrepertoire rechnen zu lassen. Sie ist vor allem auch ein Spätwerk dieses Komponisten, 1888 gerade zwei Jahre vor seinem Tode vollendet. Kondraschin, der nicht eben als Experte für französische Musik berühmt wurde, legt nichtsdestotrotz eine überzeugende Lesart vor, die im großformatigen Kopfsatz zwischen der stetig auftretenden Ruhelosigkeit einerseits und der Majestät des Hauptthemas zu kontrastieren versteht. Der gar nicht so langsame Mittelsatz mit seiner vergeistigten Aura bildet eine Phase der Verinnerlichung. Beschlossen wird die Sinfonie durch ein furios dargebotenes Finale, das das Werk mit seiner per aspera ad astra-Anlage freudig ausklingen lässt. An bedeutenden Vergleichsaufnahmen besteht kein Mangel, angefangen beim exemplarischen Pierre Monteux (RCA) über Ernest Ansermet (Decca) bis hin zu Leonard Bernsteins exzentrischer Interpretation mit breitem Zeitmaß (DG). Auch von Kondraschins Landsmann Jewgeni Swetlanow ist eine Aufnahme überliefert (Weitblick). Neben all diesen kann sich die BR-Einspielung sehr gut behaupten, die Francks nicht eben sofort zugängliche Sinfonie fast kurzweilig erscheinen lässt.

Die klangliche Qualität ist glücklicherweise insgesamt auf einem ähnlich hohen Niveau wie die künstlerische, so dass eine volle Kaufempfehlung für diese in allen wesentlichen Punkten überzeugende BR-Produktion ausgesprochen werden kann. Einzig die mit gerade 52 Minuten kurze Gesamtspielzeit der CD wäre anzumerken. Daniel Hauser

 

Kirill Kondraschin in Japan 1980/ youtube

Unter den großen russischen Dirigenten des 20. Jahrhunderts hat Kirill Kondraschin (1914-1981; in dieser Edition mit „y“ geschrieben) seinen festen Platz, gilt er doch als der bedeutendste Dirigent Russlands in der Generation zwischen Jewgeni Mrawinski (1903-1988) und Jewgeni Swetlanow (1928-2002). Was ihn von diesen unterscheidet, ist gerade auch, dass er 1978 die Sowjetunion verließ und in den Westen emigrierte. In den Niederlanden fand er eine zweite Heimat, heiratete und wurde bereits im selben Jahr zweiter Dirigent des renommierten Concertgebouw-Orchesters in Amsterdam. Sein früher Tod im März 1981 infolge einer Herzattacke setzte diesem neuen Lebensabschnitt leider unerwartet rasch ein jähes Ende.

Profil Edition Günter Hänssler (PH 18046) bedenkt ihn nun mit einer 13 CDs umfassenden Kollektion, welche Aufnahmen zwischen 1937 und 1963 beinhaltet, wobei der Schwerpunkt auf den späten 1950er und frühen 60er Jahren liegt. Tatsächlich erlangte Kondraschin besonders ab 1960 internationale Berühmtheit, stand er doch ab diesem Jahre den Moskauer Philharmonikern für anderthalb Jahrzehnte als Chefdirigent vor. Dass hier die letzten, künstlerisch so ertragreichen beiden Lebensjahrzehnte des Dirigenten völlig ausgespart wurden, ist erst einmal unverständlich, wohl aber nicht zuletzt auf Lizenz-Gründe zurückzuführen. Es werden hier also der frühe und mittlere Kondraschin abgedeckt, seine späteren Jahre indes ausgeklammert.

Bei der ältesten in der Box inkludierten Aufnahme handelt es sich um die Ouvertüre zur Verkauften Braut von Smetana aus Leningrad 1937. Hier ist sogar ein Vergleich möglich, ist doch auch eine (russisch gesungene) Gesamtaufnahme dieses Werkes von 1949 aus dem Moskauer Bolschoi-Theater enthalten. Sicherlich keine besonders idiomatische Angelegenheit, doch trösten das inspirierte Dirigat und das gute Sängerensemble (darunter Elisabeta Schumilowa, Georgi Nelepp, Anatole Orfenow und Nikolai Schtschelgolkow) darüber hinweg. Der Klang ist selbst in der 1937er Einspielung durchaus erträglich, wie übrigens in der gesamten Kollektion, in der etwa die Hälfte aus Monoaufnahmen besteht.

Außer dieser einzigen Oper sind ansonsten reine Instrumentalaufnahmen enthalten: Sinfonien, Konzerte, Serenaden und sonstige Orchesterwerke. Von besonderem Interesse ist die Welturaufführung der 13. Sinfonie Babi Jar von Schostakowitsch vom 18. Dezember 1962 aus dem Großen Saal des Moskauer Konservatoriums. Es spielten die Moskauer Philharmoniker, Bassist war Witali Gromadski. Bis heute muss sich wohl jede Neuaufnahme an dieser Interpretation messen, die (am Ende aufgrund des enthusiastischen Applauses hörbar) ein gewaltiger Erfolg war und mit zum Ruhm des Dirigenten Kirill Kondraschin beitrug. Der Klang ist, zieht man das Alter und die Live-Situation in Betracht, ganz ausgezeichnetes Stereo.

Nicht weniger überzeugend fällt Kondraschins Einspielung der Sinfonie Nr. 6 Pathétique von Tschaikowski aus, die bereits 1959 im Studio entstand. Sie darf sich ebenfalls einreihen in die bedeutenden Darbietungen dieses häufig aufgenommenen Werkes. Interessanterweise hat sich Kondraschin den übrigen Tschaikowski-Sinfonien nicht in offiziellen Studioproduktionen angenommen, auch wenn – abgesehen von der Zweiten – eine jede in mindestens einem Live-Mitschnitt vorliegt. Gleichwohl spielt dieser Komponist eine bedeutende Rolle in der Box, sind doch noch das Capriccio Italien, die Streicherserenade, die Suite Nr. 3, das Klavierkonzert Nr. 1 (Solist: Emil Gilels), das Violinkonzert (Solist: David Oistrach) und die weniger im Mittelpunkt stehende Sérénade mélancolique (wiederum mit Oistrach) sowie das Pezzo capriccioso (Solist: Mstislaw Rostropowitsch) berücksichtigt. Es ist hier also die illustre Crème de la Crème der bedeutenden seinerzeitigen sowjetischen Solisten versammelt, die zum Gelingen kongenial beiträgt. Besonders Oistrach kommt noch weiters zum Zuge, so in der Suite de Concert von Tanejew, im Violinkonzert von Strawinski und in Tzigane von Ravel. Swjatoslaw Richter steht im Klavierkonzert von Rimski-Korsakow zur Seite, Leonid Kogan im Violinkonzert Nr. 1 von Schostakowitsch sowie im Violinkonzert von Weinberg, Emil Gilels in Ravels Klavierkonzert für die linke Hand und Wiktor Pikaisen schließlich im 1. Violinkonzert von Paganini. Den Solopart im 1. Cellokonzert von Schostakowitsch übernimmt wiederum Rostropowitsch. Die enorme Bandbreite des Repertoires, welches Kirill Kondraschin abdeckte, wird bereits daraus ersichtlich.

Kirill Kondraschin in Japan 1980/ youtube

Abgerundet wird dies durch weitere Orchesterwerke wie das Capriccio Espagnol von Rimski-Korsakow, die Rapsodie Espagnole sowie La valse von Ravel und die Paganiniana von Alfredo Casella. Eher randständiges Repertoire wie Weinbergs Sinfonie Nr. 4 geht Hand in Hand mit Rachmaninows Sinfonie Nr. 3 und seinen Sinfonischen Tänzen. Dass Kondraschin sich gerade auch zeitgenössischen Komponisten widmete, zeigte bereits der Fall Schostakowitsch, doch auch Paul Hindemith (Sinfonische Metamorphosen von Themen Carl Maria von Webers) und Rodion Schtschedrin (Konzert für Orchester Nr. 1 Freche Orchesterscherze) sind in dieser Kollektion zu finden.Obwohl also die letzten achtzehn Jahre des Wirkens Kondraschins hier keine Berücksichtigung finden, darf die Box insgesamt als große Bereicherung gelten, sind in ihr doch neben einigen „Blockbustern“ vor allen Dingen ansonsten weniger beachtete Werke in tadellosen Interpretationen enthalten. Die etwa die Hälfte ausmachenden Stereoproduktionen sind klanglich über jeden Zweifel erhaben, aber auch die älteren Monoaufnahmen wurden bemerkenswert überzeugend aufbereitet. Insofern steht einer uneingeschränkten Empfehlung nichts im Wege (Fotos: Screenshots aus dem Japan-Konzert 1980 auf youtube) . Daniel Hauser

Jakov Gotovacs „Ero der Schelm“

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Wieder einmal widmete sich das Münchner Rundfunkorchester einem ebenso seltenen wie verdienstvollen Operntitel in einer konzertanten Aufführung im Mai 2019. Diesmal – nach Ausflügen in die französische Opernwelt jüngst beim Palazetto Bru Zane dokumentiert und nach Bruchs Loreley (bei cpo) sowie anderen Werken – dirigiert Ivan Repusic die Komische Oper Ero der Schelm (Originaltitel kroatisch Ero s onoga svijeta) von Jakov Gotovac (* 11. Oktober 1895 in Split – † 16. Oktober 1982 in Zagreb/ Uraufführung am 2. November 1935 im Kroatischen Nationaltheater Zagreb unter der Leitung des Komponisten). Es sangen in München erwartungsgemäß kroatische Kräfte: Valentina Fijačko Kobić, Sopran (Djula), Jelena Kordić, Mezzosopran (Doma), Tomislav Mužek, Tenor (Ero) Ljubomir Puškarić, Bariton (Mlinar Sima), Ivica Čikeš, Bass (Gazda Marko), der Kroatische Rundfunkchor, als Bayerisches Kind der Knabensopran Christoph Immler und das Ganze eben unter Ivan Repušić am Pult des Münchner Rundfunkorchesters.

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Was für eine Ehrenrettung dieses nur gelegentlich im Ausland aufgeführten Komponisten, dessen heitere Oper sich ein-zweimal in deutschen Rundfunkarchiven findet (Liane Synek und andere machten sich darüber her), und der auch im heimischen Kroatien nur mit zwei älteren Einspielungen und einem TV-Film vertreten ist, wenngleich Ero an der Adria so etwas wie eine Nationaloper ist und von Split über Zagreb bis Rijeka gern gespielt wird, in buten Kostümen namentlich vor Touristen. Ich erinnere mich an Aufführungen im schönen Helmer & Fellner-Opernhaus von Zagreb,  an einen bunte, sehr folkloristisch ausgestattete Darbietung noch zu Tito-Zeiten. Mütterliche, stark gebaute Damen in teppichartigen Folklore-Bekleidungen trugen an einer wippenden Bambusstange Maiskolben über die Bühne, mehrfach. Verstanden hatten wir gar nichts, aber es war ein unvergesslicher Abend. Die Fotos jüngerer kroatischer Aufführungen deuten auf eine ungebrochene Stilistik der bunten Teppiche und prallen Dorfszenen bis heute hin.

Gotovac ist neben Ivan Zajc der große nationale Komponist Kroatiens, wie Florian Heurich im nachstehenden Artikel ausführt (den wir mit großem Dank an den Autor und das Müncher Rundfunkorchester aus deren Programmheft für die konzertante Aufführung im Mai 2019 entnommen haben). Und es ist gut und richtig, dass wir uns nicht nur dem internationalen, zu sattsam bekannten Opernkanon widmen, sondern eben auch die Musik unserer europäischen Nachbarn kennen lernen und ehren. „Mehr davon!“, ruft der begeisterte Europäer. G. H.

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„Ero s onoga svijeta“/ Szene aus der Aufführung am Kroatischen Nationaltheater Zagreb/ Foto HNK/  Mara Bratos/ Foto oben Szene aus der gleichnamigen Oper in Split/ HNS Split

Ein Wort zum Erwachen des kroatischen Bewusstseins: Das Phänomen einer nationalen Schule in der Musik ging in Kroatien einher mit einer allgemein nationalkroatischen Bewegung in Literatur, Kunst und Kultur, der sogenannten Illyrischen Bewegung. Zur Zeit der k. und k. Herrschaft wandte man sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert etwa durch Dichtung in der eigenen Sprache gegen eine Dominanz des Deutschen bzw. des Ungarischen in der Kultur, die durch das Habsburgerreich kam. 1840 wurde in Zagreb die erste Illyrische Musikgesellschaft gegründet, mit dem Ziel, die kroatische Musik auf akademischer Ebene zu fördern. Im Bereich der Oper schuf der Komponist Vatroslav Lisinski daraufhin mit Ljubav i zloba (Liebe und Arglist, 1846) das erste Musiktheaterwerk in kroatischer Sprache, eine in Split spielende Liebesintrige mit einer noch weitgehend vom italienischen Stil geprägten Musik. Als eigentliche Nationaloper schrieb schließlich Ivan Zajc 1876 mit Nikola Šubić Zrinjski ein historisches Werk über den gleichnamigen Freiheitshelden, der im 16. Jahrhundert gegen die türkischen Belagerer kämpfte − eine Oper, in der nun auch musikalisch ein nationales Idiom realisiert wurde. 1860 wurde das Kroatische Nationaltheater in Zagreb gegründet, 1870 die dazugehörende Opernkompanie, deren Leiter Zajc wurde.

„Ero der Schelm“/ Plakat für das Gastspiel der Zagreber Oper in Berlin 1943/ Klasika.hr/ Marija Barbieri

Jakov Gotovac setzte diese mit Lisinski begonnene und mit Zajc gefestigte Strömung der kroatischen Nationalmusik in der nächsten Generation fort, zu einer Zeit, als das Nationale jedoch nicht mehr als Abgrenzung von fremden kulturellen Einflüssen verstanden wurde (die k. und k. Herrschaft auf dem Balkan war mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gegangen), sondern als Identitätsmerkmal des neuen Jugoslawien. Hier wurde gerade eine Musik mit ausgeprägten Volksmusikelementen und nationalen Themen besonders gefördert und oft auch ideologisch aufgeladen im Sinne einer Einheit stiftenden Größe. Dank ihres folkloristischen Einschlags, der auf die Klangsprache des 20. Jahrhunderts trifft, haben sich indessen viele dieser Werke bis heute ihre emotionale Überzeugungskraft bewahrt und sind lohnende Entdeckungen in einem weitgehend unbekannten Repertoire.

 

Als einer der wichtigsten Komponisten des früheren Jugoslawien hat der Kroate Jakov Gotovac mit Ero der Schelm (Originaltitel kroatisch Ero s onoga svijeta) eine Oper geschaffen, die schon bei ihrer Uraufführung 1935 am Kroatischen Nationaltheater Zagreb vom Publikum begeistert aufgenommen wurde und die dann zu einer Art kroatischen Nationaloper geworden ist. Mit inzwischen über 700 Aufführungen ist Ero der Schelm immer noch im Repertoire des Zagreber Opernhauses und steht regelmäßig auf dem Spielplan. Das Sujet, eine heitere Episode aus dem ländlichen Leben in Dalmatien, die bauernschlaue Hauptfigur, ein Volkstypus dieser Region, und Gotovacs Musik voller Lokalkolorit, voller Melodien und Rhythmen des Balkans haben zur großen Popularität dieser Oper vor allem in Osteuropa, aber auch weit darüber hinaus beigetragen.

„Ero s onoga svijeta“/ Szene mit Josip Gosic und Sonja Mottl-Dula 1957 / Foto Klasika.hr/ Marija Barbieri

Jakov Gotovac wurde am 11. Oktober 1895 in Split in Dalmatien geboren. Auf Wunsch seines Vaters musste er zunächst Recht studieren, ging dann aber im Alter von fünfundzwanzig Jahren nach Wien und nahm sein Musikstudium bei dem Komponisten und Pädagogen Joseph Marx auf. Seine musikalische Karriere begann in Šibenik an der kroatischen Adriaküste, wo er in der dortigen Philharmonischen Gesellschaft tätig war. 1923 wurde er als Dirigent an die Oper von Zagreb berufen, wo er bis 1957 blieb; daneben leitete er mehrere der in Zagreb beheimateten Chorgesellschaften und Gesangsvereine. Jakov Gotovac starb im Jahr 1982 in Zagreb, sein Leben umspannt also die Zeit von der ausgehenden k. und k. Herrschaft auf dem Balkan über das Königreich Jugoslawien zwischen den beiden Weltkriegen bis hin zum sozialistischen Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg.

Gotovacs erste Werke sind Lieder und Chorkompositionen, in denen sich schon eine stark nationale Note zeigt. Diese setzt sich in seinen Orchesterstücken wie etwa einem Symphonischen Kolo fort. Der Kolo ist ein typischer Reigentanz des Balkans und zugleich einer der Rhythmen, die in Ero der Schelm eine zentrale Rolle spielen. Auch Gotovacs weitere Bühnenwerke schöpfen aus dem Volksleben und der Geschichte des Balkans und insbesondere Kroatiens, etwa seine Musik zu der Pastorale Dubravka (1928) des kroatischen Barockdichters Ivan Gundulić, seine Oper Morana (1930) nach einer bosnischen Volkslegende, die tragische Oper Kamenik (Der Steinbruch, 1946), das historische Musikdrama Mila Gojsalića (1951) über eine kroatische Volksheldin und Märtyrerin während der Türkenherrschaft auf dem Balkan, das Singspiel Đerdan (Die Halskette, 1954/1955), die Opernlegende Dalmaro (1958) und der Einakter Stanac (Ein harter Felsen, 1959).

Mit seinem Nationalstil in Musik und Inhalt traf Gotovac genau den Trend, der das Musikleben des Landes seinerzeit beherrschte. Sowohl während des Königreichs Jugoslawien als auch während der sozialistischen Republik Jugoslawien waren die Künste stark national geprägt, nicht zuletzt um eine Einheit dieses Vielvölkerstaates zu suggerieren. In seiner Kompositionsweise fügt sich Gotovac jedoch nahtlos in die Linie der nationalen Schulen ein, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts gerade die osteuropäische Musik prägten. Was in Russland mit Glinka und Borodin oder in Tschechien mit Smetana begonnen hatte und dann von Dvořák und Janáček weitergeführt wurde, setzte Gotovac sozusagen in dritter Genration in seinem eigenen Land fort. Insbesondere mit Janáček verbinden ihn einige Charakteristika in der Klangsprache, etwa wenn gerade durch den Rückgriff auf die alte Folklore ein Weg in die Moderne gewiesen wird. Allerdings werden von Gotovac die kroatischen Melodien und Rhythmen wesentlich direkter zitiert und in die Werke eingearbeitet als bei seinem tschechischen Kollegen. In Bezug auf Ero der Schelm liegt aber auch der Vergleich mit Smetanas Verkaufter Braut nahe, obschon die beiden Werke rund siebzig Jahre auseinanderliegen. In beiden Stücken geht es darum, wie im bäuerlichen Milieu ein listiger Mann durch einen Trick seine Geliebte für sich gewinnen und alle anderen überlisten kann. Sehr ähnlich sind Schauplatz, Figurenspektrum und die musikalische Milieuschilderung.

„Ero s onoga svijeta“/ Szene aus dem Film 1982/ OBA

Gerade in Gotovacs Bühnenwerken zeigt sich ein breites inhaltliches Spektrum, das von literarischen Quellen über historische Epen bis hin zu Volksdichtung, Legenden und heiteren Schwänken reicht. Dadurch bringt er Kultur, Brauchtum und Geschichte seines Landes in vielen verschiedenen Facetten und Ausformulierungen auf die Bühne. Dies spiegelt sich auch in einer großen musikalischen Bandbreite von einfachen Liedformen und Tänzen bis hin zu großen Arien, Chornummern und einem spätromantisch inspirierten Klangreichtum wider.

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In der zwischen 1926 und 1927 komponierten komischen Oper Ero der Schelm bringt Gotovac einen Volkscharakter auf die Bühne, der in vielen Erzählungen und Legenden auftaucht, Archetypus des gewitzten und freien Menschenverstandes. Der Name ist abgeleitet von Hero, der Koseform des Wortes „Hercegovac“, also Herzegowiner, da die Leute aus der Herzegowina als besonders schafsinnige und listige Menschen galten. Die der Oper zugrundeliegende Volkserzählung dreht sich um die Streiche eines Bauernburschen während der Türkenherrschaft auf dem Balkan, der insbesondere die fremden Machthaber immer wieder hinters Licht führen und sich mit List und Tücke aus jeglicher Bedrängnis herausretten konnte. Damit ist dieser Ero so etwas wie die kroatische Variante eines Till Eulenspiegel oder Nasreddin Hodscha. Gerade letzterer, diese komische Figur aus dem türkischen Kulturkreis, ist auch auf dem Balkan sehr populär, und so wird Ero zu einer Art Gegenstück zu Nasreddin Hodscha aus der kroatischen Kultur, die ursprünglich in dieser Region beheimatet war, bevor die Türken kamen.

„Ero s onoga svijeta“ angekündigt als „Ero lo sposo caduto dal cielo“ beim Gastspiel der Zagreber Oper in Rom 1941/ Foto Archivio Storico – Teatro dell’Opera di Roma

Gotovac und sein Librettist Milan Begović strichen jedoch alle türkischen Elemente aus dieser Erzählung und verlegten die Geschichte ins Hinterland von Dalmatien nahe der Grenze zur Herzegowina, wo Begović geboren wurde. Diese Gegend im Dinaragebirge galt als besonders traditionsbewusst; die kroatische Folklore hatte sich in dieser Region sehr unverfälscht erhalten und wurde noch mit Leidenschaft gepflegt. Und Ero als solcher existiert bei Gotovac und Begović gar nicht, sondern ist eigentlich Mića, der Sohn eines reichen Gutsbesitzers, der unter falschem Namen die Liebe des Dorfmädchens Đula gewinnen will und allen anderen weismacht, er komme vom Himmel und überbringe die Grüße der verstorbenen Angehörigen. Dieses Motiv eines vom Himmel Gefallenen hat Begović aus einem Fastnachtspiel von Hans Sachs, Der farent Schueler ins Paradeis, übernommen, das ihm neben den Quellen aus dem kroatischen Volksgut als literarische Vorlage diente.

Die bislang einzige CD-Aufnahme in der Originalsprache ist ein Mitschnitt vom Zagreber Theater 1962 mit Marianna Radev, Branca Oblak-Stilinovic und Josip Góstic unter Leitung des Komponisten, aber es gibt noch ein-zwei frühere LP-Aufnahmen auf Jugoton und verschiedene Rundfunkmitschnitte.

„Eine Volksoper soll klar und gesund auf Melodie und Rhythmik der Volksmusik aufbauen. Sie soll Melodie und Harmonie mit einer reichen Orchesterpalette malen und echten Volkshumor mit Lied und Tanz zu einem harmonischen Ganzen vereinen“, so formulierte Gotovac sein künstlerisches Credo, wie er es in Ero der Schelm verwirklichte. Dabei bediente er sich trotz der stark folkloristischen Anklänge, den vielfach ganz unmittelbaren rhythmischen Strukturen und der sich breit entfaltenden Melodik einer gemäßigt modernen Klangsprache, die sich vor allem in den rezitativischen Passagen und den Orchesterüberleitungen bemerkbar macht. Hier verleihen die Instrumentierung und insbesondere das gezielt eingesetzte Schlagwerk der Musik eine expressive Note. Während die Folklore in solchen Momenten eher als Kolorit zu spüren ist, zitiert sie Gotovac an anderen Stellen ganz direkt, etwa im liedhaften Chor der Dorfmädchen, mit dem die Oper beginnt und in den sich Đulas sehnsuchtsvoller Gesang mischt, in den weiteren Chorszenen, in Mićas Auftrittslied, in dem er sich als vom Himmel gefallener Ero ausgibt, oder im lyrischen Duett von Đula und Mića im I. Aufzug. Die Szene zwischen Mića und Doma, in der dieser ihr Geld abluchst (angeblich für ihren verstorbenen Mann im Himmel), hat einen betont komödiantischen Charakter, während dem Chorfinale des I. Aufzugs durch seinen stampfenden Rhythmus sogar etwas Aggressives anhaftet.

„Ero s onoga svijeta“ am Kroatisches Nationaltheater Jakov Gotovac in Osijek / Szene/ KNO

Der II. Aufzug beginnt mit einem Lied des Müllers Sima, worauf wenig später ein Lamento Đulas folgt, in dem sie in einer weit ausladenden Arie den Tod ihrer Mutter beklagt. Im Verlauf dieses Aufzugs, in dem Mića mit Sima die Kleider tauscht, imitieren ein kreisender Rhythmus im Orchester und hämmerndes Schlagwerk immer wieder das Rotieren der Mühle − ein Effekt, den zuvor Janáček in ähnlicher Weise in Jenufa angewandt hat. Auf Mićas ariose Ausbrüche folgt ein weiteres Liebesduett mit Đula.Im III. Aufzug herrscht schließlich Fest- und Tanzstimmung vor. In die Jahrmarktsatmosphäre mit ihren Volkstänzen sind immer wieder rezitativische Abschnitte und lyrische Passagen eingearbeitet, wie Đulas Szene, die in ein großes Ensemble überleitet, oder Mićas finales Triumphlied. Die Oper endet jedoch mit einer breit angelegten, fast zehnminütigen Tanzszene, einem Kolo, als Sinnbild der kroatischen Musik und Folklore. Dieser Kreistanz, der in seiner ursprünglichen Form in Kroatien, Bosnien und Serbien, aber auch in anderen Regionen des Balkans sehr populär ist, gipfelt in einem großen Chorfinale, mit dem das Paar Mića und Đula gefeiert wird.

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Der Autor: Florian Heurich ist freier Autor und Musikjournalist, schreibt und produziert Radiofeatures und Reportagen für BR-Klassik und gestaltet das Online-Format Opern.TV sowie die Audio-Podcasts der Bayerischen Staatsoper. Dabei versucht er immer seine Opernleidenschaft, seine Reiselust nach Asien und Lateinamerika und seine Arbeit unter einen Hut zu bringen/ Quelle Bayr. Staatsoper

Im Nebeneinander von eher einfachen Liedformen und größer angelegten Arien, Duetten und Ensembles mischt sich der slawische Volkston überdies mit dem Schmelz der großen Oper italienischer Provenienz. Auch dies ein Hinweis auf einen der vielen kulturellen Einflüsse auf dem Balkan, da die kroatische Adriaküste lange Zeit von der Dogenrepublik Venedig beherrscht wurde.

Vor allem aber schwingt in der Volksmusik des Balkans, wie sie Gotovac verwendet, die Musik des Orients mit. Viele hundert Jahre Osmanisches Reich auf dem Balkan haben auch musikalische Spuren hinterlassen. Auf harmonischer Seite kommt dies etwa durch die „orientalische Tonleiter“ zum Ausdruck, die durch zwei übermäßige Sekundschritte charakterisiert ist. Dadurch bekommt die Musik etwas „Exotisches“. Auch in Ero der Schelm sind solche Klänge von entscheidender Bedeutung, das Thema des Marko etwa fußt vollständig auf solchen Harmonien.

Ero der Schelm begründete den Ruhm von Jakov Gotovac in seinem Heimatland und in anderen Ländern Osteuropas. Gotovac traf damit genau den Nerv seiner Zeit im noch jungen Jugoslawien, sodass dieses Werk zu einer der populärsten Opern Kroatiens und des Balkans wurde und mit seinem besonderen Kolorit und seiner originellen, über den reinen Folklorismus hinausgehenden Musik auch das internationale Publikum begeisterte. Florian Heurich

 

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Dank an den Autor Florian Heurich und Doris Sennefelder für die Genehmigung zu Übernahme des Artikels aus dem Programmheft des Münchner Rundfunkorchesters zur konzertanten Aufführung am 19. Mai 2019.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Vom Ort der Uraufführung

 

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ So beginnt einer der meistinterpretierten Romane der Weltliteratur. Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ beginnt mit dem 30. Geburtstag von Josef K. und endet am Vorabend seines 31. Geburtstages. Nie wird Josef K. wissen, wer den Prozess gegen ihn führt, worin die Anklage besteht und wessen er sich schuldig gemacht hat. Die Beteuerungen seiner Unschuld werden als Schuld gewertet. „Die quälende Angst, die uns aus dem Buch anweht, ist in manchen Augenblicken fast unerträglich“, sagte André Gide, der gemeinsam mit Jean-Louis Barrault eine Dramatisierung vorgenommen hatte, „denn wie sollte man sich der Empfindung erwehren, dieses gehetzte Wesen bin ich?“ Alles ist bei Kafka so penibel beschrieben, dass kein Zweifel an den Vorgängen aufkommen kann. Allerding ist das Beschriebene so ungewöhnlich zusammengesetzt, dass jede Logik außer Kraft getreten scheint. Die Vorgänge in Kafkas Roman sind keineswegs real im Sinn einer Opernhandlung, „aber gerade dies muss zur Musik führen“, wie Gottfried von Einem im Vorfeld der Salzburger Uraufführung 1953 ausführte, denn „sie drückt das Irreale oder besser das Imaginäre des Stoffes aus“. Am Stoff des Romans musste nichts geändert werden, einige Stationen wurden ausgewählt, die Dialoge sind wörtlich die Kafkas, einzig die indirekte Rede wurde einige Male in die direkte Rede verwandelt. Die Musik dient der Verdichtung der neun Bilder, die durch formale und instrumentale Mittel die Besetzung mehrer Rollen mit einem Sänger verklammert sind. Die Tenorpartie des Josef K. ist die einzige durchgehende Partie der Oper.

Mit dem sensationellen Erfolg seiner Oper Dantons Tod hatte sich der knapp 30jährige Operndebütant Gottfried von Einem 1947 derart glänzend bei den Salzburger Festspielen eingeführt, dass er umgehend in das Festspielpräsidium berufen wurde. Allerdings musste er den Posten nach seinem Einsatz für die Einbürgerung Bertolt Brechts 1951 abgeben. An den Prozess-Erfolg musste rasch angeknüpft werden, jedoch verzögerte sich die für 1950 angedachte Uraufführung des Prozess, da von Einem die von seinem Freund Boris Blacher verfassten sechs Szenen durch drei weitere Szenen von Heinz von Cramer ergänzen ließ. Wieder war die Premiere am 17.8.1953 prominent besetzt: Karl Böhm dirigierte, Max Lorenz sang den Josef K., Lisa della Casa die in drei Frauen aufgespaltene Sopranpartie, die Nachbarin Fräulein Bürstner, die Frau des Gerichtsdieners und die Advokatenpflegerin Leni. Doch mehr als die Musik wurden die realistische Inszenierung Oscar Fritz Schuhs und die atmosphärischen Bühnenbilder von Caspar Neher gelobt. Relativ rasch lahmte die Erfolgsserie des Prozess. Als Referenz vor der eigenen Festspielgeschichte wurde er 1988 und zuletzt 2018 zum hundertsten Geburtstag von Einems konzertant in Salzburg gegeben. Der Mitschnitt des Aufführung (2 CD Capriccio C5358, mit Libretto) aus der Felsenreitschule unter seinem Schüler HK Gruber von 13./14. August 2018 bestätigt einerseits die einstigen Vorbehalte gegen die durchaus eingängige, in ihrer lyrisch melodische Weise und dem klobig deklamatorischen Stil oft ein wenig zu banal wirkende Musik, um das Grauen zu fassen. Zeigt andererseits auch in Grubers virtuoser Umsetzung mit dem Wiener Radio-Sinfonieorchester von Einems instrumentale Brillanz mit ihren rhythmischen Ostinati, den Bläsersignalen, der Passacaglia und den trockenen Gruselmomenten. Sicherlich hat diese Literaturoper Staub angesetzt. Als präsentables Dokument der Opern-Avantgarde der 1950er Jahre taugt sie immer noch. Der mit Partien des Spiel- und Charaktertenors befasste Michael Lorenz bringt – mit ganz anderen stimmlichen Möglichkeiten als Max Lorenz – für den Josef K. durch seinen intensiven, flexiblen, jugendlich verletzlich klingenden Tenor eine intensive Kafka-Nähe mit. Ilse Eerens singt Fräulein Bürstner und Co. ohne Fehl, Anke Vondung macht viel aus der Frau Grubach. Die teilweise für drei oder vier Partien zuständigen Jochen Schmeckenbecher, Matthäus Schidlechner, Lars Woldt, Johannes Kammler und Tilmann Rönnebeck und der nur für den Maler Titorelli verantwortliche Jörg Schneider bilden ein gutes Ensemble.  Rolf Fath

Nachgeschoben

 

„Wir Opernhäuser sind dazu da, die Gesellschaft zu sensibilisieren, die Welt zu verbessern“, beendet Dietmar Schwarz, Intendant der Deutschen Oper sein am 18.5. 2019 in der Berliner Morgenpost erschienenes Interview, in dem es hauptsächlich um political correctness, darum, ob man einen schwarz geschminkten Otello oder Monostatos, einen Rigoletto mit Buckel oder einen kleinwüchsigen Menschen als Double für den Sänger in Der Zwerg auf die Bühne bringen dürfe, geht. Ob die Welt durch die Aufführung von Korngolds Oper Das Wunder der Heliane, in der vergangenen Spielzeit an der DOB gespielt und vor jetzt von Naxos auf DVD herausgebracht (komplimentär zur CD der Oper aus Freiburg bei Naxos), auch nur ein wenig verbessert wurde, ist kaum nachprüfbar, die Ingredienzien dafür müsste das Werk voller Sendungsbewusstsein eigentlich haben, auch wenn es bereits zur Zeit seiner Uraufführung 1927 in seiner Mischung von Pseudoreligiosität und schwüler Erotik nicht mehr den Geist der Zeit traf und trotz oder vielleicht auch wegen der Polemik des Kritikervaters des Komponisten im Verhältnis zum  zeitgleichen Jonny spielt auf wenig erfolgreich war. Die Deutsche Oper allerdings führte das Werk zu einem sensationellen Erfolg, was sicherlich vor allem dem Wie der Umsetzung, weniger dem Was der kruden Story, sicher nicht der altertümelnden, genitivgesättigten Sprache, eher schon, wenn auch nicht für jedermanns Geschmack, der rauschhaften, durchaus bereits den Filmkomponisten verratenden Musik zu verdanken war.

Regisseur Christof Loy, Spezialist für psychologisch vertrackte Stories, wählte mit Ausstatter Johannes Leiacker für alle drei Akte bewusst eine karge Optik, einen Gerichts- oder Kongresssaal mit großem Tisch, Stühlen, einer Uhr, die durchweg 14.05 Uhr anzeigt, die Kostüme von Barbara Drosihn sind dunkle Alltagskleidung, nur der Fremde in Hellgrau, für Heliane eine Art Brautkleid, ansonsten Kostüm oder Kleines Schwarzes, wie es sich für die Gattin eines wohlhabenden Geschäftsmanns oder Politikers gehört. Loy wollte mit dieser Ausstattung Erinnerungen an Marlene Dietrich in Zeugin der Anklage“wachrufen, die sich aber nicht zwangsläufig einstellen. Immerhin bildet die Nüchternheit der Ausstattung einen willkommenen Kontrast zur sonstigen Üppigkeit. Die Personenführung ist durchdacht, nimmt dem Libretto einiges von seiner Peinlichkeit, der Chor wird exzellent geführt. Die Nacktszene, die es so sicherlich mit der ursprünglich für die erste Wiener Aufführung vorgesehen Maria Jeritza nicht gegeben hätte und die es mit Lotte Lehmann nicht gab, ist ohne jede Peinlichkeit inszeniert, was auch für die Video-Gestaltung durch Götz Filenius gilt.

Herausragend und damit verantwortlich für den großen Erfolg war das Sängerensemble, das auch optisch ideal den Intentionen des Komponisten entsprechen dürfte. Allen voran Sara Jakubiak in der Titelpartie, eine wahre Lichtgestalt nicht ohne ein angenehmes Maß von Kühle, mit leuchtendem Sopran im Hit „Ich ging zu ihm“, aber auch herbere, strengere vokale Züge offenbarend. Einen unermüdbaren, in allen Lagen höchst präsenten, baritonal grundierten Tenor und viel darstellerische Delikatesse setzt Brian Jagde für den Fremden ein und wurde dementsprechend am Premierenabend bejubelt. Keinen wirklich schöntimbrierten, aber einen vokale Autorität verbreitenden Bariton hat Josef Wagner für den Herrscher und ist damit eine ideale Besetzung, auch in der Intensität der Darstellung des verzweifelt Zuneigung Einfordernden. Wärme und Farbigkeit zeichnen die Stimme von Derek Welton in der Partie des mitleidigen Pförtners aus. Etwas stiefmütterlich von der Regie behandelt wurde die Botin von Okka von der Damerau, die mit einem Aktenordner bewaffnet oft nur herumstehen muss, aber mit dunkel loderndem Mezzo akustisch hochpräsent ist. Hinter seinen sonstigen vokalen Möglichkeiten zurück bleibt Burkhard Ulrich als Schwertrichter. Einen angenehmen Tenor hat Gideon Poppe für den Jungen Mann. Marc Albrecht bändigt nicht nur das Riesenorchester der DOB, sondern entlockt ihm alles an Pracht und Prunk, was der Komponist in seine Partitur gelegt hat und dem man während mehrfach heruntergelassenen Vorhangs (Genitiv!) besonders genussvoll lauschen kann.

Ob die Welt etwas besser war nach der Aufführung als zuvor, wird sie es nach dem Erscheinen der Blu-ray auf dem Markt sein? Dem gemeinen Opernbesucher genügt es wohl, wenn ihn Musik und Darstellung berührt haben, wenn er ein geliebtes Werk nicht entstellt sah, wenn der Genuss von Schönheit ihm Kraft für die Bewältigung des Alltags gegeben hat (Naxos DVD Bluray NBD0083V ). Ingrid Wanja  

Interessante Alternativen

 

Bekanntschaft mit einer neuen Stimme durch eine Recital-CD zu machen, ist immer eine spannende Angelegenheit, die des Tenors Michael Fabiano erweckt das besondere und zusätzliche Interesse jedoch dadurch, dass auf der neuen CD bei Pentatone („Donizetti & Verdi“) zwei der dargebotenen Arien, die des Alvaro aus La Forza del Destino und die des Ernani aus der gleichnamigen Verdi-Oper nicht den Erwartungen entsprechen, sondern einmal aus der Petersburger Fassung des Werks und zum anderen aus der von Verdi für den Tenor Nicola Ivanoff, den Sänger der Pariser Wiederaufnahme, komponierten Abwandlung stammen. Die CD bietet zudem drei Donizetti-Arien und vor allem Kompositionen des frühen und mittleren Verdi an, die Stimme Fabianos ist nicht die eines tenore di grazia, hat aber auch noch nicht die dunkle Farbe für einen typischen Verdi-Tenor oder die Brillanz eines Duca, sondern ist eher ein lyrischer Tenor mit sicherer Höhe.

Für den ersten Teil der Schlussszene des Edgardo aus Donizettis Lucia di Lammermoor überzeugt der Sänger mit viel Sinn für die Bedeutung eines Rezitativs, in der Arie erfreuen ein gutes Legato und eine intelligente Phrasierung. Nur selten gibt es leichte Intonationsprobleme. Die heldische Attacke eines Donizetti-Helden wie des Poliuto gelingt ihm besser als  die eines Verdi-Tenors, dazu ist die Stimme angemessen hell und leichtgängig. Viel dolcezza zeichnet den Chalais  aus Maria di Rohan aus.

Dass die Stimme noch nicht ganz bei den Verdi-Helden angekommen ist, zeigt die Arie des Rodolfo aus Luisa Miller, wo dem Rezitativ der Aplomb fehlt, der Arie der canto elegiaco dunkler Färbung noch abgeht, alles eher ein wenig weinerlich als tragisch klingt. Die große Arie des Ballo-Riccardo aus dem letzten Akt könnte ebenfalls eine dunklere Farbe vertragen, obwohl die Partie durchaus im Bereich der vokalen Möglichkeiten des Tenors liegt, durch eine reiche Agogik des Singens zwischen Piano und Forte, einem hochsensiblen „del nostro amor“ und einem beeindruckenden Squillo für die Cabaletta überzeugt. Die Petersburger Arie des Alvaro bietet eine versione leggera der heldischen Figur, auch die des Ernani „Sprezzo la vita“ ist der jetzigen Verfassung der Stimme Fabianos angemessen, sogar das eher heldische „Giuriam“ der Cabaletta wird gut bewältigt. Ein Jacopo Foscari mit so heller Stimme wie die seine ist wahrlich Geschmackssache, beim Riccardo aus der Erstlingsoper Oberto kann sich der Sänger darauf berufen, dass die Partie für einen tenore di grazia komponiert wurde, der Corrado aus Il Corsaro hat eine wundervoll elegische Arie, die ebenso gut bewältigt wird wie die mit einem strahlenden Spitzenton gekrönte Cabaletta.  Das London Philharmonic Orchestra mit dem Spezialisten Enrique Mazzola am Dirigentenpult erweist sich als kompetenter Begleiter. Das Booklet enthält die Texte der Arien auf Italienisch und Englisch, ein Artikel von Geoffrey Riggs unterrichtet kompetent über die Entstehungsgeschichte der einzelnen Arien (Pentatone PTC 5186 750). Ingrid Wanja

Hamburger Vokales

 

Auf zwei Aufnahmen mit Werken von Reinhard Keiser sei bei  cpo  unbedingt hingewiesen. Der 1674 im Herzogtum Sachsen-Weißenfels geborene Komponist ist ein Zeitgenosse von J. S. Bach, aber im Gegensatz zu ihm vor allem durch seine Opern bekannt. An der Hamburger Oper am Gänsemarkt, die er leitete, wurden seine Werke regelmäßig gespielt. 1702 wurde dort die Operetta auf den Geburtstag Friedrichs IV. mit dem Titel Pamona uraufgeführt.

Bereits 2010 wurde das Werk in Berlin für cpo aufgenommen (777 659-2). Am Pult der Capella Orlandi Bremen steht Thomas Ihlenfeldt, ein Barock-Spezialist, der bei dem renommierten Dirigenten und Lautenisten Stephen Stubbs studierte. Er beweist schon in der munteren Ouvertüre im Idiom Telemanns sein Gespür für Farben und dynamische Kontraste. Das Stück behandelt einen Disput der Götter, welcher Jahreszeit der Vorzug zu geben sei. Schließlich erscheint der Göttervater Jupiter und verkündet, dass der Geburtstag des Königs von Dänemark der eigentliche Anlass der Zusammenkunft sei. Und er preist die Schönheit und Tugend der Königin Luise, die mit ihrem Gatten Friedrich das ideale Ehepaar darstelle. Er setzt beide dem Götterpaar Pamona und Vertumnus gleich, womit der Herbst als Sieger aus dem Wettstreit hervorgeht.

Die Titelheldin, die erst am Ende des ersten Teils auftritt, ist mit Melanie Hirsch besetzt, deren Sopran in der beschwingten Eingangsarie „Zuviel Verwegenheit“ jubiliert und in der getragenen „Kindheit ist wie Frühlingsstunden“ mit lyrischer Empfindsamkeit aufwartet. Gelegentlich kann die Stimme auch einen spitzen Klang annehmen („Rühmet ihr Himmel“) oder larmoyant wirken („Ich komm“). Den ersten Teil beendet sie jubilierend mit „Der Sieg ist mein“. Und ihr gebührt auch das finale Solo mit „Grünet und blühet“ als feines Sopran-Gespinst. Der Vertumnus ist gleichfalls eine Sopranpartie, die Magdalena Harer wahrnimmt. Die Stimme von schmalem Volumen klingt verzärtelt und in der Höhe bohrend. Beide Soprane vereinen sich in der Aria à 2 „Endlich, endlich find ich dich“ zu harmonischem, von Koloraturen umspieltem Zwiegesang.

Der Tenor Julian Podger ist ein leichtstimmiger Mercurius, der mit zwei lebhaften Arien („Was das Leben“ und „Ich werde heut anschauen“) die Handlung eröffnet. Danach haben die Sopranistin Doerthe Maria Sandmann und der Tenor Knut Schoch als Flora und Zephyrus eine Aria à 2, „Sei willkommen, meine Lust“, in der sie ihren kultivierten Gesangsstil ausstellen können. Besonders in der wiegenden Arie „Sollten holde Frühlingskinder“ kann die Sopranistin mit delikater Tongebung gefallen. Olivia Vermeulen singt den Ceres mit leichtem, flexiblem Mezzo, der in den beiden Arien „Amor scherzt“ und „Komm Schönster“ zur Wirkung kommt. Der Tenor Jan Kobow, bei cpo oft verpflichtet, gibt mit lyrischer Kultur eine Doppelrolle als Jasion und Jupiter. Mit der von Ceres vereint er seine Stimme in der klangvollen Aria à 2 „Wir werden in gar kurzer Zeit“. Der Bariton Raimonds Spogis als Bacchus gefällt mit lautmalerischem Gesang in seinen beiden Arien „Du edler Saft der Reben und „Wen du füllst mit deinen Tropfen“. Auch „Wer fröhlich will leben“ im zweiten Teil ist getragen von lebensfroher  Stimmung. Solide nimmt Jörg Gottschick den Vulcanus wahr. In „Fachet die Kohlen auf“ und „Sollt’ ich ermüden“ kann er mit lebhafter Tongebung besonders gefallen.

 

2018 kam es in Weimar zur Einspielung des Oratorium Passionale Der blutige und sterbende Jesus, das Keiser 1705 komponierte. Mit der Capella Thuringia hat der Dirigent Bernhard Klapprott die revidierte Fassung von 1729 aufgenommen und findet in seiner Interpretation reiche Farben und Kontraste (555 259-2). Das Werk beginnt mit dem Choral der christlichen Kirche „Jesu Leiden“, dem der Chor der Jünger „Unendlich preist das Herze“ folgt. Der Cantus Thuringia überzeugt mit kultiviertem, klangvollem Gesang. Den ersten Teil des Oratoriums beendet er eindrucksvoll mit dem Choral „Zu dir flieh ich“. Gebührend spöttischen Tonfall findet er für den Chor der Jüden „Der du in dreien Tagen“ und den der Hohepriester und Schriftgelehrten „Den andern konnt er Hilfe geben“ im zweiten Teil. Die Titelrolle ist mit dem Bassisten Dominik Wörner besetzt, der keinen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Die Stimme von schmalem Volumen klingt oft zu larmoyant. In der Arie mit Maria im zweiten Teil, „Schreib diesen Trost“, mischt er sich mit sanfter Stimmgebung ideal mit dem zarten Sopran von Anna Kellnhofer, die in den kantablen Arien „Fürst verklärter Engelsorden“, „Ach, ungemeine Liebe“ und „Schau, Seel“ mit empfindsamer Zeichnung gefallen kann.

Die Sopranistin Monika Mauch und die Altistin Anne Bierwirth geben die Töchter Zions. Erstere interpretiert ihre Arien, ob „Erwache, felsenhartes Herze“ oder die mit Koloraturen geschmückte „Besiege diese Nacht“, sehr schlicht und mit klarer, flexibler Stimme. Mit Jesus singt sie das liebliche Duett „Süßer Trost“. Die Altistin hat mit „Speit, ihr giftgen Nattern“ ein wirkungsvolles Solo mit ausgedehnten Koloraturläufen. Ganz schlicht und entrückt erklingt dagegen ihr Arioso im zweiten Teil, „Nimm, Seele, dieses Kreuz“.

Der Tenor Mirko Ludwig ist Petrus, der in der energisch auftrumpfenden Arie „Waffnet euch“ mit vehementer Stimmführung aufhorchen lässt, in „Ach! Jammer“ aber auch mit klagender Tongebung aufwarten kann. Gleichfalls für einen Tenor ist der Judas geschrieben, dem Hans Jörg Mammel in der furiosen Arie  “Nun verschlingt, ihr Höllenscharen“ starken Charakter verleiht. Dem Caiphas dagegen könnte der Bassist Matthias Lutze mehr Gewicht geben. Das Oratorium endet mit dem ernsten Schlusschor der Weiber und Jünger, „Ach, Gott, lass täglich unsere Seele“, mit dem der Cantus Thuringia noch einmal beeindrucken kann. Bernd Hoppe

 

Klagen über den Genozid

 

 

 Ob Ian Krouse dereinst auch in Armenien auf einem Schlachtengemälde verewigt oder in anderer Form geehrt wird? Wie Franz Werfel, dem 2006 in Wien posthum die armenische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, weil er, wie ein armenischer Priester in den USA von der Kanzel predigte, der Nation eine Seele gegeben hatte. Mit seinem Roman über die 40 Tage des Musa Dagh, der den Überlebenskampf der Armenier während der Verfolgung durch das Osmanische Reich in den Jahren 1915-17 feiert, lieferte Werfel das literarische Nationaldenkmal Armeniens. Jedes Jahr kommt eine Viertelmillion Menschen auf den Hügel über Eriwan zum Genozid-Museum und der ewigen Flamme inmitten mächtiger Stelen, um an das Massaker zu erinnern und der Opfer zu gedenken. Anlässlich der 100. Wiederkehr des Völkermords gelangte als Auftragswerk der armenischen Gemeinde in der Diaspora in Los Angeles das Armenian Requiem des 1956 geborenen, vornehmlich durch seine Kompositionen für Gitarren-Quartett bekannt gewordenen Ian Krouse zur Uraufführung. Im Beiheft schildert der Dirigent und Musikologe Vatsche Barsoumian die Erstehung des zweiteiligen, 95minütigen Werkes, das auf keine entsprechende Tradition in der geistlichen armenischen Musik aufbauen kann und sich an die Struktur von Brittens War Requiem anlehnt. Er verweist auf die von ihm besorgte Auswahl und Bedeutung der insgesamt 15 Texte, darunter am Anfang und am Ende, im Prelude und Postlude, die Stimme der Opfer in Form zweier Gedichte der 1915 ums Leben gekommenen Atom Jartschanjan, bekannt unter seinem Pseudonym Siamanto, und Daniel Varoujan; außerdem Texte aus dem zehnten und elften Jahrhundert, die in den sechs Interludes mit Texten aus dem 19. und 20. Jahrhundert durchsetzt sind. Das Werk ist Rückbesinnung auf armenische Muster, eine Verbeugung vor Komitas Vardapet, dem Begründer der modernen klassischen Musik Armenien um 1900, und bewusste Hinwendung zur westlichen Formen von der Renaissance bis Brahms und Britten, wie sie ein Außenstehender wohl kaum erkennen und gebührend würdigen kann.

Der Eindruck des spektakulären Werks (2 CDs Naxos 8.559846-47), das dem armenischen Nationalinstrument Duduk eine besondere Aufgabe zuteilt (Ruben Harutyunyan), ist gewaltig. Vier Solostimmen, zwei off-stage-Trompeten (Jean Lindemann, Bobby Rodriguez), Orgel (Christoph Bull), Streichquartett, Kinderchor (Tziatzan Children’s Choir) sowie Chor und Orchester – die Lark Masters Singers (unter Leitung von Barsoumian) und das UCLA Philharmonia, das Orchester der University of California in Los Angeles – sind aufgeboten, um Anspruch und Bedeutung des Armenian Requiem zu unterstreichen. Neal Stulberg bringt dieses Bekenntnis zu plastischer Wirkung. Krouse hat eine Form gewählt, die den Wünschen an ein erstes Requiem in armenischer Sprache gerecht wird, kein dezidiert avantgardistisches Werk, aber dennoch eine ernsthafte zeitgenössische Musik, wirkungsvoll, großformatig, packend im Solo für die Mezzosopranistin, in dem sich Garineh Avakian aufreibt, im dem kurzen Gebet für den Tenor (Yeghishe Manucharyan) oder der zeremoniellen Würde des Baritons, mit der Vladimir Chernov gleich zu Beginn zu vernehmen ist.   Rolf Fath