Archiv des Autors: Geerd Heinsen

William Dooley

 

An William Dooley erinnere ich mich gut. Er war im damaligen West-Berlin der Sechziger und Siebzieger eine bekannte Erscheinung, verkehrte viel in Sängerkreisen um Barrie McDaniel herum, war ein viel gesehener Gast im Kaufhaus KaDeWe und in den sozialen Einrichtungen der Stadt. Er war hochgewachsen, von sportlichem Aussehen und flotter Rede mit starkem Akzent wie die meisten amerikanischen Sänger an der Deutschen Oper jener Jahre. Denn es gab viele von ihnen. Spätestens als die DOB 1961 vom Theater des Westens (der ehemaligen westlichen Städtischen Oper der Nachkriegszeit) in ihr neues Domizil an der Bismarckstrasse umzog, waren die amerikanischen Künstler hier unentbehrlich. Annabelle Bernard bediente das Spintofach der italienischen Oper (aber auch Rollen wie Offenbachs kalkweiss geschminkte Antonia neben Thomas Tipton in Kaslicks denkwürdiger Drehbühnen-Inszenierung), ohne Barrie McDaniel und Donald Grobe ging nichts in Mozart-Opern, aber auch in anderen wie dem Jungen Lord konnte man die Flexibilität der beiden bewundern (Catherine Gayer erwähne ich nur zähneknirschend).

Und da war, neben vielen anderen wie dem wunderbaren Robert („Bobby“) Kerns als hinreißender Bariton alternierend mit George Fortune in den italienischen und französischen Partien (Fortunes Barnabà gehört zu den großen Momenten meiner Erinnerungen), eben William Dooley als Bass vom Dienst in fast jeder Salome. Aus der Zisterne blickte er auf Anja Silja oder Leonie Rysanek, war Graf zu Elisabeth Grümmers oder Pilar Lorengars Gräfinnen im Figaro oder Donnen im Don Giovanni, war Telramund zur Elsa ersterer, auch Posa zu Josef Greindles Philipp als Fischer-Dieskau die Rolle am Hause nicht mehr sang, war Beethovens Don Pizarro zu Gré Brouwenstijns nicht nur optisch robuster Leonore, auch Faninal zur Grümmer und Bote in der Frau ohne Schatten zu Gladys Kuchta. Viele Abende mehr, seit 1962.  

Gemeiner Weise hörten die gutgepflegten Fans (es gab eine richtige Kultur der Kaffee-Einladungen im Hause der Sänger, auch eine gutgeölte Claque in jenen Jahren, die hörbar enthusiastisch für Jubel sorgte) die amerikanischen Sänger meist in der zweiten Reihe der Hauskräfte. Kamen illustre Gäste wurde sie von denen ersetzt als Mandryka, Figaro-Graf, Don Giovanni oder Telramund (eine der eindrucksvollsten Partien Dooleys). Das war bitter, aber so war´s eben. Selten fiel internationaler Glanz auf sie – immerhin gibt es so aufregende Mitschnitte wie Mercadantes Giuramento 1974, wo Annabelle Bernard im Kreise des jungen Carreras, der dto. Agnes Baltsa und Robert Kerns glänzen darf. William Dooley werde ich auch nicht für seinen Macbeth neben der großartigen Gladys Kuchta vergessen (DOB 1963), den er zerrissen und differenziert herüber brachte, während die Kuchta – unsere Haus-Heldische – einen ungewohnten und erfolgreichen Ausflug zu Verdi unternahm, sonst eigentlich auf Wagner und Strauss festgelegt war (ich bitte ihr heute vieles ab, denn sie war eine wirklich gute und solide Sängerin, damals seufzten wir oft…). So war Dooley in West-Berlin Teil eines festen, von Amerikanern geprägten Ensembles, das den Spielplan belebte und dem Opernleben ein ganz eigenes Gesicht gab. Es waren ab 1962 auch meine Lehr-und Lernjahre in Sachen Oper, und William Dooley war ein fester Teil davon. Er starb am 8. August 2019. Ich ziehe meine  Hut vor ihm und seiner unvergessenen Persönlichkeit. Geerd Heinsen

 

Ein Nachruf von William Dooleys Berliner Stamhaus, der Deutschen Oper Berlin, findet sich nicht, so greifen wir auf den von unseren Kollegen des Wiener online-Merkers zurück (Danke!). William Dooley, geboren am 9. September 1932 in Modesto (Kalifornien); 1950-54 studierte er an der Eastman School of Music in Rochester bei Lucy Lee Callund und kam dann für zwei Jahre als Soldat nach München. Hier wurde er Schüler der Pädagoginnen Viktoria Prestel und Hedwig Fichtmüller. 1957 debütierte er am Stadttheater von Heidelberg als Posa im »Don Carlos« von Verdi, begann dabei aber gleichzeitig eine erfolgreiche Karriere als Konzert- und Liedersänger. 1959-62 war er am Stadttheater von Bielefeld engagiert. 1962 folgte er einem Ruf an die Deutsche Oper Berlin, an der seine Karriere den Höhepunkt erreichte, und wo er eine Vielzahl von großen Baritonpartien sang. 1964 wirkte er bei den Festspielen von Salzburg als Titelheld in »Lucio Silla« von Mozart, 1966 als Escamillo in »Carmen« und am 6.8.1966 in der Uraufführung der Oper »Die Bassariden« von H.W. Henze (als Hauptmann und Adonis) mit. 1964 wurde er Mitglied der Metropolitan Oper New York (Debüt als Titelheld im »Eugen Onegin« von Tschaikowsky). Er blieb an diesem Haus während 14 Spielzeiten engagiert und trat dort bis 1977 in 26 verschiedenen Partien in insgesamt 188 Vorstellungen auf:  als Heerrufer und als Telramund im »Lohengrin«, in den vier dämonischen Rollen in »Hoffmanns Erzählungen«, als Graf in »Le nozze di Figaro«, als Jochanaan in »Salome« von R. Strauss, in der Titelrolle von A. Bergs »Wozzeck«, als Mandryka in »Arabella« von R. Strauss, als Großinquisitor im »Don Carlos« von Verdi, als Don Pizarro im »Fidelio«, als Geisterbote in der »Frau ohne Schatten« von R. Strauss, als Orest in »Elektra« von R. Strauss, als Escamillo, als Scarpia in »Tosca«, als Sprecher in der »Zauberflöte«, als Fliegender Holländer, als Amonasro in »Aida«, als Musiklehrer in »Ariadne auf Naxos« von R. Strauss, als Amfortas im »Parsifal«, als Kurwenal in »Tristan und Isolde«, als Faninal im »Rosenkavalier«, als Gunther in der »Götterdämmerung«, als Rangoni in »Boris Godunow«, als Donner im »Rheingold« und als Marquis de la Force in »Dialogues des Carmélites« von Fr. Poulenc. In Europa wie in Nordamerika setzte er seine große Karriere als Konzertsänger fort. Seit 1967 trat er oft an der Königlichen Oper Kopenhagen auf. 1977-82 gastierte er in insgesamt 19 Vorstellungen an der Staatsoper von Wien (als Amfortas, als Sprecher in der »Zauberflöte«, als Jochanaan, als Kurwenal, als Faninal, als Don Pizarro und als Fliegender Holländer). Er sang in zahlreichen Uraufführungen zeitgenössischer Opernwerke: 1963 an der Deutschen Oper Berlin in der »Orestie« von Darius Milhaud (den Apollo) und 1964 in »Cortez« von Roger Sessions (den Montezuma), 1965 in »Der Traum des Liu-Tung« von Isang Yun (Uraufführung in der Akademie der Künste Berlin), 1976 an der Deutschen Oper Berlin in »Der Tempelbrand« von Toshiro Mayuzumi, 1979 in Hamburg in »Jakob Lenz« von W. Rihm (den Oberlin), 1984 an der Deutschen Oper Berlin in A. Reimanns »Gespenstersonate«, 1989 in Los Angeles in »Los Alamos« von Marc Neikrug. 1987 gastierte er an der Deutschen Oper Berlin, 1991 an der Oper von Santa Fé als Tiresias in »Oedipus« von W. Rihm. Weitere Bühnenpartien: Kothner in »Die Meistersinger von Nürnberg«, Macbeth von Verdi, Dr. Schön in »Lulu« von A. Berg, Baron d´Houdoux in »Neues vom Tage« von P. Hindemith, Gorjantschikow in Janáceks »Aus einem Totenhaus«, Nick Shadow in »The Rake´s Progress« von Strawinsky, Major Mary in »Die Soldaten« von B.A. Zimmermann.

Auf RCA sang er den Telramund in einer vollständigen Aufnahme des »Lohengrin«, auf Harmonia mundi in »Jakob Lenz« von Wolfgang Rihm. (Danke noch einmal an den online-Merker Wien! Foto oben: William Dooley als Figaro-Conte an der Met/ Melancon/ Met Archive; G. H.)

 

Gounods „Faust“ von 1859

.

Während im Gounod-Jahr 2018 ein unbekanntes Werk an der Opéra-Comique exhumiert wurde (La Nonne sanglante) brachte das Théâtre des Champs-Elysées eine bislang unveröffentlichte Version des berühmten Faust heraus. Gesprochene Dialoge (ein wesentlicher Bestandteil der ersten Version von 1859), andere Arien und reorchestrierte Melodramen machen diese interessante Exkavierung aus, die im Rahmen des Festivals des Palazzetto Bru Zane vorgestellt wurde.

Mit Spannung also sehen Freunde der Großen französischen Oper den Mitschnitt des gounodschen „Ur-Faust“ von 1859 am  Pariser Théâtre de Champs-Elysées entgegen (eigentlich eine eigene Aufnahme ohne Publikum), wo 2018 eine illustre Besetzung, angeführt von der Tenorentdeckung Benjamin Bernheim, (ein neuer lyrischer und französischer  Tenor zum Träumen; laut des Chicago Tribune, “der lang ersehnte lyrische Tenor, den die Opernwelt schon lange suchte.” ), das in der Neuzeit nie gehörte Werk aus der Taufe hob. Nun ist diese Erst-Form 2019 beim Palazetto Bru Zane auf CD herausgekommen (wieder einmal nur in Französisch-Englisch bei Ediciones Singulares/ 3 CDs; die im gewohnten Buchformat gehaltenen Veröffentlichung bietet zudem Beiträge von Alexandre Dratwicki über die Probleme einer Neuvorstellung der Oper, Gérard Condé über die Verbreitung und schließlich Paul Prévost über den „anderen“ Faust.

Das ist uns so interessant, dass wir operalounge.de-Lesern nach einer Kritik der Aufnahme  einen Artikel zur Fassung 1859 aus dem Hause Bärenreiter vorstellen. Es gibt doch immer wieder freudige Überraschungen, und der Palazetto – mit etwas diskutabler Ausrichtung auf fast nur die späten Werke Frankreichs und nach der mehr als diskutablen Périchole, jüngst – wetzt hier viele Scharten aus.  G. H.

 

„Faust“ 1859: das Konzert im Théâtre des Champs-Elysées 2018/ Foto Amélie Debray/Palazetto

Geerd Heinsen: Ohne den dicken Firniss der weltbekannten Grand Opéra-Version hört man einen unbekümmerten und teilweise fantasievollen Faust neu, mit Passagen, die fast des Boulevardtheaters würdig wären. Lange, ausgiebige  Dialoge und drastische aparts unterstreichen zum Beispiel den lüsternen Charakter von Marthe, der drolligen Witwe, die gerne Mephisto zum Nachtisch verspeisen würde. Siebel macht sich ein Fest mit dem beschwören des himmels um seine Blumen zu retten. Marguérite kann im Dialog nicht fassen, was sich ihr im kleinen Kästchen bietet. Auf der Herrenseite betont Wagner (von dem wir später erfahren, dass er im Krieg gestorben ist) seine Liebe zur Flasche, und seine notorischen kleinen Liedchen sind enge Verwandte von bekannten schmuddeligen Gassenhauern. Mit Schmunzeln konstatiert man manche humoristische Elemente, die in Teilen in die spätere Version eingegangen sind. Aber auch Marguérite wird eine andere, dialogbehaftete Figur. Und der ruppige Valentin erfährt durch die „neuen“ Texte eine Bereicherung seiner martialischen und nicht unbedingt netten Persönlichkeit. Seine unbarmherzige Seite wird früh vorbereitet.

Konzertant gehen die Sänger unterschiedlich mit so viel Sprechtext um. Benjamin Bernheim (Faust) fällt zwar gesanglich durch seine jugendliche Emphase auf, im Sprechbereich bleibt er eher blass. Ingrid Perruche (die launige Frau Marthe) und Andrew Foster-Williams (Méphistophélès) verstärken die witzigen Effekte mit avec. Véronique Gens chargiert als Marguérite ein wenig zu viel. Juliette Mars gibt als Siebel den Feschen und lacht keckernd und albern. Dieser „junge“  Faust braucht in der Tat eine Inszenierung oder eine gelungene Abendregie, um textlich voll und ganz von Sängern herüber gebracht zu werden. Hier hört man einen konzertanten Abend, was ja auch zum Kennenlernen reicht.

„Faust“ 1859: Plakat der Uraufführung/ OBA

Abgesehen von dem eingefügten Dialogen beinhaltet die Partitur interessante Modifikationen und der Vergleich zu später ist interessant: die Arie des „Maître Scarabée“, die an diesem Abend von Mephisto gesungen wurde, hat nicht das Format von Valentins „Veau d’or“, das sie in der Endfassung ersetzt. Man entdeckt andere bemerkenswerte Nummern (die schöne Romanze von Siebel „Versez vos chagrins dans mon âme“), und die sorgsam gearbeiteten Melodramen sind überzeugend und bringen die Geschichte voran – eine wirklich andere Atmosphäre tut sich auf. Das allerdings ist auch wörtlich zu nehmen, denn die Aufnahme schwankt in der Akustik: Die Dialoge wurden getrennt aufgenommen, wie man mit Kopfhörern hört, wo man sich an die recht hallige Akustik gewöhnen muss. Und gelegentlich sind kleine Bum-bum-Geräusche zu vernehmen, als ob jemand hinter der der Bühne des Champs-Elysée etwas laut während der Aufnahme auftritt. Mit dem Textbuch in der Hand folgt man dem Ganzen wie einem Rosamund-Pilcher-Film, spannend und von der Geschichte gefesselt, die sich durch die Sprecheinlagen ganz anders und unmittelbarer auftut.

Das für den an der späteren Version geschulten Opernliebhaber unterhaltsame Spiel der Unterschiedsvergleiche ist nicht das einzig Interessante: Dieser Faust weist eine fabelhafte Besetzung auf und lohnt die Anschaffung schon deswegen – ich kenne keine andere so unterhaltsame Aufname des Werkes. In der Rolle der Marguérite zeigt Véronique Gens eine hochmenschliche, anrührende Rollen-Darstellung und eine großartige melodische Expressivität (wenngleich in der Stimmfarbe dunkler und mütterlicher als gewohnt, dagegen klingt ihr Faust wie ihr Sohn…). Sogar die abgenutztesten Teile der Partitur werden durch ihre Interpretation neu: „Le roi de Thulé“ und die Juwelenarie begeistern durch Gestaltung und erstklassige Diktion, die man allen konstatieren muss. Die Politik Dratwickis, Mikron-Sänger zu nehmen, dh. Sänger, die die Sprache erstklassig herüberbringen und damit das Spezifische an der französischen Oper, zahlt sich aus. Selten habe ich eine so gut durchörbare, total verständliche Oper gehört, nicht nur französische. Véronique Gens´ „Anges purs, anges radieux“ am Ende (wie auch der Schluss der Juwelenarie) zeigen aber auch ihre Grenzen in den nun schwieriger gewordenen Höhen und eine etwas wackelige  Intonation. Aber dieses Schluss-Trio zählt auch zu den schwierigsten Sopranpassagen der gesamten Opernliteratur, wie Bidu Sayao und Maggie Teyte berichteten, wenn sie sich mit den De Reszke-Brüdern morgentlich einsingen mussten.

„Faust“ 1859: Benjamin Bernheim betört auf der neuen „Faust“-Aufnahme des Palazetto Bru Zane/ Foto BJ website

Neben der Gens  brilliert Benjamin Bernheim in der Titelrolle. Er ist der eigentliche Held dieser Aufnahme, ein echter tenor de démi-charactère (wie Alexandre Dratwicki in seinem Artikel beschreibt), eine wahre Entdeckung mit aller ardeur und jeunesse eines hinreißenden französischen Tenors. Sein jugendlich-homogenes und leuchtendes Timbre machen aus ihm einen großartigen Faust, der durch seinen jubelnden, heroischen Ton glänzt („Salut, ô mon dernier matin“) und durch seine Zartheit verzaubert („Salut, demeure chaste et pure“ ist ein richtiger Grund, dies dreimal hinter einander zu hören).Was für eine Stimme – ich war, wie man umgangssprachlich sagt – einfach „von den Socken“ und saß mit offenem Mund da. Nicht entfernt werden ihm die youtube-Dokumente gerecht. Und man hofft, dass er sich nicht verführen lässt, zu groß zu singen – es gibt Anzeichen, leider. Und jeder gute Tenor wird vom Cavaradossi gereizt. Nein – wie Alagna zu Beginn sollte Bernheim erstmal beim Lyrischen bleiben und sich nicht im internationalen Spinto-Fach verschleißen. Aber Bitten sind eben nur Bitten…

Der dritte Pfeiler dieser ungewöhnlichen Produktion, der kraftvolle Jean-Sébastian Bou,  zeigt seine ganze Klasse in der kleinen Rolle des Valentin. Sein Ausdruck im Tod ist einer der großen Momente der Aufführung. Andrew Foster-Williams ist ein Dialog-beredter Teufel. Natürlich verführt der Dialog-Text der Version von 1859 ihn dazu, den chargierenden Filou zu spielen. Sein Méphistophélès hat eher eine suggestive, launige Anlage, weniger gefährlich als elegant. In der Tiefe wünscht man sich mehr Grundierung, die dieser Rolle ihre Dimension geben soll. Gegenüber seinen Landsleuten wie Journet oder Pernet ist er mir nicht „schwarz“ genug, aber das ist Geschmackssache.

Der Rest des Ensembles bleibt solide: Der munteren Juliette Mars (Siebel) fehlt es an freier Höhe, die Stimme spreizt sich da unangenehm. Wenn es den Begriff Mezzo-Soubrette gäbe, träfe das auf sie zu. Anas Séguin (Wagner) zeigt sich zwar als exzellenter Komiker, aber sein rauhes Timbre leidet unter dem Vergleich mit seinen Mitdarstellern.  Ingrid Perruche macht mit bühnennaher Sprachgewandtheit fabelhafte Unterhaltung. Der Chor des Flämischen Radios ist atmosphärisch und artikuliert gut; zudem treten aus ihm die restlichen Solisten hervor.

„Faust“ 1859: Dirigent Christophe Rousset/ Palazetto/TCE

Den Talens Lyriques und ihrem musikalischen Leiter Christophe Rousset gelingt, dieser wieder entdeckten Partitur pulsierendes Leben einzuhauchen. Ihm fehlt  vielleicht der lyrische, sinnliche Schwung, in der berühmten romance „Salut demeure“ bleibt er mir viel zu langsam und hungert den Tenor aus, an anderen Stellen haut er mit dem Blech zu. Das scheint mir unausgeglichen. Der berühmte Walzer der 2. Akts „Ainsi que la brise légère“ profitiert von einem fast militärischen Tempo. Die Walpurgisnacht ist packender als auf Aufnahmen der späteren Fassung, wo  Rousset eine bemerkenswerte Durchsichtigkeit der Musik erreicht, vielleicht auch weil historische Instumente (Flöte, Oboe) verwendet werden: Gounods wird in der Tradition der vorausgehenden Auber-nahen Musiksprache gezeigt, nicht als der Komponist der suppigen, bodenlastigen Instrumentierung späteren Werke. Besonders die Solo-Flöte fällt  mit bewundernswerter Phrasierung auf, begleitet vom Horn in herrlicher Harmonie. Alles in allem ist dies die ganz große Neuerscheinungs-Überraschung dieses Jahres und im Kanon der Palazetto-Aufnahmen Großer französischer Opern nach der Reine de Chypre die gelungene Überraschung. Absolut empfehlenswert.  Geerd Heinsen

.

.

 

„Faust“ 1859: Joseph Barbot war der erste Titelsänger/ art lyrique; auch da findet sich eine Biographie: Joseph Théodore Désiré Jules dit Joseph BARBOT; ténor français (31.Toulouse, 12 avril 1824 – 75009.Paris, 26 décembre 1896); Cousin éloigné de Paul BARBOT, compositeur.; Epouse à 75002.Paris le 16 mai 1850 Caroline BARBOT, cantatrice. Il reçut à la maîtrise de sa ville natale une si bonne éducation musicale que, dès 1838, il était déjà premier violon au théâtre du Capitole. Il vint à Paris, encore bien jeune, ayant l’étude de la composition pour but et son violon comme unique moyen d’existence. Il entra au Conservatoire en 1842 et suivit d’abord la classe d’harmonie de M. Elwart, qui lui conseilla de se consacrer à la musique vocale. Elève de Garcia, il obtint, au concours de 1845, un accessit de chant, le second prix en 1846 et le premier prix en 1847. Au mois d’octobre de la même année, il débuta à l’Opéra dans le Comte Ory et joua successivement le Philtrela Muette de PorticiCharles VI et Léopold de la Juive. Quelques mois plus tard, à la suite de la révolution de Février, Garcia alla s’installer à Londres et confia sa classe à son ancien élève, qui la dirigea avec succès jusqu’en 1850. C’est à cette époque qu’il épousa Mlle Caroline Douvry, dont il était le professeur, et déjà chanteuse légère à Vichy, sous la direction de Strauss. Ils s’éloignèrent bientôt de Paris, engagés tous deux au théâtre de la Monnaie, à Bruxelles. Ils chantèrent trois ans dans cette ville et deux ans à Lyon. En 1856, M. Barbot débuta, le 12 mars, à la salle Feydeau, dans le rôle de Georges Brown de la Dame blanche. « L’agilité, la correction et le goût, dit M. A. de Rovray, sont les qualités dominantes du jeune ténor. Les notes de poitrine sont fort bonnes et ne manquent ni de force ni d’élan ; mais il excelle dans la voix de tête et dans la voix mixte ; il phrase bien, il sait filer un son et le diminuer jusqu’au pianissimo. Il respire où il faut respirer ; ses ornements sont bien choisis, sa vocalisation bien nette et il ne s’engage jamais dans un trait qu’il n’en sorte à son honneur. Il a dit l’invocation : Viens, gentille dame, avec un charme extrême, une délicatesse, un fini qui lui ont valu des tonnerres d’applaudissements. » Il chanta avec non moins de réussite Blondel de Richard Cœur de LionZampa, Lionel de l’Eclair, Gaston des Dames capitaines, de Reber (1857) ; Fra Diavolo, Surgis des Monténégrins (1858). Le 19 avril 1858, il créa avec sa femme le Siège de Lille d’A. Delannoy au Grand-Théâtre de Lille. Au commencement de mars 1859, il se disposait à quitter Paris quand la direction du Théâtre-Lyrique lui offrit de se charger du rôle de Faust dans l’opéra de Gounod. Il n’hésita pas à remplacer un acteur qui représentait ce rôle depuis un an, et il le joua dans l’espace de quinze jours. Ce fut sa dernière création. Il s’était retiré à Toulouse, quand il fut nommé, en 1875, professeur de chant au Conservatoire, en remplacement de Pauline Viardot. Il est décédé en son domicile 16 rue Halévy à Paris 9e.

Der Verlag Bärenreiter schreibt: Der Band aus der Reihe L’Opéra français mit den Dialogfassungen bringt Licht in die verwirrende Entstehungs-Geschichte von Gounods Faust und bietet den Bühnen eine attraktive Alternative. Charles Gounods Faust erlangte seine internationale Anerkennung in der Fassung als vollständig gesungene Oper; darüber geriet ganz in Vergessenheit, dass das Werk ursprünglich mit gesprochenen Dialogen komponiert worden war. Die beiden frühen Fassungen mit Rezitativen sind Gegenstand der neuen Ausgabe und enthalten bislang unveröffentlichte Nummern und Melodramen. (Die dritte Opernfassung, die sog. „Version Opéra“, ist 2016 in einer Kritischen Ausgabe erschienen, BA 8713).

Gounod beschäftigte sich zwar seit 1838 mit Goethes Faust, sein wirkliches Interesse an dem Sujet erwachte jedoch erst 1850, als am Théâtre du Gymnase-Dramatique die Aufführung des Drame fantastique Faust et Marguerite von Michel Carré zu erleben war. Dieses Stück diente Jules Barbier als Grundlage für das Libretto der Oper, das Gounod getreulich in Musik setzte. Das Libretto war zu lang, jedoch so geschickt angelegt, dass es eine dramatisch erfolgreiche Aufführung zu gewährleisten vermochte, und gründete auf drei Elementen: Das erste ist natürlich die Liebesbeziehung zwischen Faust und Marguerite. Das junge Mädchen, fromm und naiv, erliegt dem Charme eines widerspruchsvollen Faust, der sich anfänglich wie ein skrupelloser Verführer verhält, bevor er schließlich das Vertrauen in seinen ausschweifenden, teuflischen Gefährten verliert. Die zweite Handlungsebene des Librettos ist moralischer und religiöser Natur. Der Librettist unternimmt eine Belehrung über die Sünde: Die unschuldige Marguerite hat sich ihrem Liebhaber hingegeben und ein Kind in die Welt gesetzt, das sie zur Vertuschung ihres „Vergehens“ tötet. Ihre aufrichtige Reue ermöglicht es ihr, den Teufel zu entlarven und zu besiegen. Wie eine „neue Eva“ wird sie belohnt und erfährt ihr Heil in einer Apotheose, die an die Himmelfahrt der Jungfrau Maria erinnert. Der dritte Themenbereich des Werks ist das Fantastische. Es bietet Gelegenheit zu spezifisch theatralischen Bühneneffekten, von Fausts Verjüngung über die idealisierte Erscheinung von Marguerite im Hintergrund des Laboratoriums des Gelehrten bis zur Walpurgisnacht, wo Dämonen und Hexen einen Sabbat feiern, den man sich vielleicht sogar noch heftiger gewünscht hätte.

Etliche Nummern unterscheiden sich von den bekannten Stücken nur durch Details in der Orchestrierung (Duett Faust/Méphistophélès „Me voici!…“, Duell-Terzett „Que voulez-vous messieurs?“, Valentins Tod „Par ici, mes amis!“), andere werden hier erstmals veröffentlicht: das Terzett Faust/Wagner/Siebel „À l’étude ô mon maître“, das Duett Valentin/Marguerite „Adieu, mon bon frère!“, Méphistophélès‘ Arie „Maître Scarabée“, Siebels Romanze „Versez vos chagrins dans mon âme!“, Valentins Arie mit Chor „Chaque jour, nouvelle affaire“, der Hexenchor „Un deux et trois“, außerdem sieben „Mélodrames“, deren fehlende oder unvollständige Orchestrierung für die vorliegende Edition vervollständigt wurde.

Leider konnten etliche weitere Stücke dieser ersten Fassung nicht geortet werden, was insbesondere für den letzten Akt gilt, der umfassend umgearbeitet wurde. Einige Nummern wurden drastisch gekürzt, es war jedoch nicht möglich, ihren ursrpünglichen Zustand zu rekonstruieren. So ist von Fausts Original-Kavatine „Salut! demeure chaste et pure“ nur der erste Teil erhalten. Und auch die über hundert Takte, um die das Quartett „Prenez mon bras un moment!“ gekürzt wurde, konnten nicht wiederhergestellt werden.

„Faust“ 1859: Matthieu Balanqué als Méphistophès der Uraufführung/ Ipernity – auch hier Informationen zum Sänger: Mathieu Émile BALANQUÉ; basse française; (Bayonne, Pyrénées-Atlantiques, 16 septembre 1826* – Paris 2e, 29 avril 1866*); Père de Réer BALANQUÉ, baryton.; Au Conservatoire de Paris, il obtint des accessits de chant et d’opéra en 1847, puis un second prix de chant en 1848. Mais c’est surtout avec le célèbre ténor Gilbert Louis Duprez qu’il étudia. Il chanta successivement à Bruxelles, à Toulouse, à Strasbourg, puis à Paris où il débuta au Théâtre-Lyrique en 1852. Il y créa, entre autres, le rôle de Méphistophélès dans le Faust de Gounod le 19 mars 1859. Grand, long, maigre, Balanqué semblait avoir été formé à souhait, physiquement, pour représenter ce personnage ; il y fit preuve d’un véritable talent de chanteur et de comédien. Par ailleurs, il a fait des créations à Baden-Baden : le 03 août 1860 la Colombe (Maître Jean) de Charles Gounod ; le 05 août 1862 Béatrice et Bénédict (Don Pedro) d’Hector Berlioz ; le 27 juillet 1863 la Fille de l’Orfèvre d’Edmond Membrée ; le 10 août 1863 le Chevalier Nahel d’Henry Litolff. Il est décédé, célibataire, en sa demeure, 6 rue de Port-Mahon à Paris 2e.

Nachdem es von Léon Carvalho, dem damaligen Leiter des Théâtre-Lyrique, angenommen worden war, begannen 1858 die Proben für das Stück. Carvalho war eine sehr starke Persönlichkeit, Direktor und Regisseur in einem, und Gounod musste unter seinem Druck unentwegt Änderungen vornehmen. Auch im Laufe der Aufführungsserie und der Wiederaufnahme – das Stück wurde jedes Jahr wieder in den Spielplan aufgenommen – kam es ununterbrochen zu Umgestaltungen. Schon bei der Uraufführung am 19. März 1859 unterschied es sich deutlich von den ursprünglichen Ideen Barbiers und Gounods. Die beiden oben genannten Nummern (Terzett und Duett) waren gestrichen. Die „Ronde du veau d’or“ ersetzte die ursprünglichen Scarabée-Couplets, nachdem Carvalho vier Entwürfe für Méphistophélès-Arien abgelehnt hatte. Der Soldatenchor trat an die Stelle von Valentins Arie. Die Dialoge wurden gekürzt und zwei Melodramen verschwanden. Unberührt blieb die Walpurgisnacht, die bei der Presse auf breite Ablehnung stieß: Man schätzte es nicht, dass Hexen auf Besenstielen ritten oder das Feuer eines Kessels mit Eisenlöffeln schürten. Nach der Wiederaufnahme im Herbst 1859 befand die Presse über die Walpurgisnacht, dass nunmehr „etliche Widerlichkeiten ausgemerzt“ seien.

Der letzte Akt war also beträchtlich gekürzt worden, womit dem Werk ein Großteil seiner fantastischen Dimension abhanden kam. Gounod schuf stets mit leichter Hand gefühlvolle Liebesduette, doch war es ihm wohl nicht gelungen, dem Hexensabbat die nötige Wucht zu verleihen; und die schwache Inszenierung war zweifellos auch nicht hilfreich. Hingegen ließ sich das Publikum von der Kirchenszene mitreißen, die ursprünglich der Rückkehr der Soldaten vorausging: Marguerite befand sich mit dem Spinnrad nicht in ihrem Zimmer, sondern auf dem öffentlichem Platz vor ihrem Haus; in einer offenen Verwandlung öffnete sich die nahe gelegene Kirche, um schließlich die ganze Bühne einzunehmen, die nun das Kircheninnere darstellte. Dieser Effekt verschwand 1862, als das Théâtre-Lyrique auf die Place du Châtelet umzog, wo die viel kleinere Bühne nicht die gleichen szenischen Möglichkeiten bot, weshalb die Kirchenszene an den Aktschluss versetzt wurde.

Infolge der Metamorphosen, die Faust während der Aufführungsserie am Théâtre-Lyrique durchlief (von den Provinzbühnen einmal abgesehen!), ist es unmöglich, eine definitive zweite Version der Dialogfassung herzustellen. Was wir unter dieser zweiten Version verstehen, entspricht ganz genau dem im Juni 1859 erschienenen Erstdruck des Werks als Klavierauszug, die mit der zweiten Edition des Librettos einherging. Obwohl sie nicht den zeitgenössischen Aufführungen in Paris entsprach, dienten diese ihr weitgehend als Vorlage. Diese zweite Fassung, die bis auf fünf Melodramen, die zu orchestrieren waren, vollständig ist, wird auf weniger großes Interesse stoßen: Abgesehen von den Dialogen ist sie der Oper Faust in ihrer traditionellen Fassung zu nah. Die psychologische Anlage der Figuren ist viel einfacher, und das Ausmaß des Fantastischen hat sich beträchtlich verringert. Deshalb komponierte Gounod eine neue „Bacchanale“ für den letzten Akt (Anhang 1 der neuen Edition), wofür im Oktober 1859 in Paris Proben angesetzt wurden, ohne dass es in der Folge je zu einer Aufführung gekommen wäre. Die gesprochenen Dialoge verschwanden 1866, doch alles spricht dafür, dass mehrere Melodramen bis 1869 beibehalten wurden, als das Werk in Paris auf die Bühne der Opéra kam. Paul Prévost (Übersetzung: Annette Thein) (aus [t]akte 2/2017)

.

.

Dank an der Bärenreiter Verlag/ Johannes Mundry für die Erlaubnis der Textübernahme. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Britanic Heroe

 

Edward Elgars Liebe zu den Malvern Hills, einem Höhenzug zwischen Worcestershire und Herefordshire in England, inspirierte ihn zu manch einer Komposition. So auch im Falle des kaum mehr bekannten Werkes Caractacus, einer Königin Victoria gewidmeten Kantate in sechs Szenen für Sopran, Tenor, Bariton, zwei Bassisten, Chor und Orchester, die 1898 ihre Uraufführung erlebte, also kurz vor Elgars Durchbruch mit den Enigma Variations von 1899. Im Zentrum der Handlung steht ein britischer Stammesführer, der die römischen Invasoren bekämpft, schließlich aber auf den Malvern Hills besiegt und nach Rom gebracht wird. Dort sieht er seinem Prozess entgegen, beeindruckt Kaiser Claudius (reg. 41-54 n. Chr.) allerdings dergestalt, dass ihn dieser begnadigt. Hyperion legt dieses fast vergessene, knapp 100-minütige Frühwerk Elgars nun in einer zwei CDs umfassenden Einspielung vor (CDA68254). Zwar wird man Caractacus schwerlich unter die kompositorischen Meisterwerke dieses Komponisten rechnen können, doch stellt die Kantate gleichwohl einen wichtigen Schritt hin zum zwei Jahre später entstandenen Oratorium The Dream of Gerontius dar. Am berühmtesten ist sicherlich der für sich einnehmende Triumphmarsch, der die Schlussszene dominiert, allerdings ein falsches Bild vom Gesamtwerk abgibt, welches eher lyrisch angelegt ist.

Die Neueinspielung stellt tatsächlich gerade erst die dritte Aufnahme überhaupt dar. Ihr gingen voran eine Produktion von 1977 unter Charles Groves (EMI) sowie eine 1992 entstandene Einspielung unter Richard Hickox (Chandos). Hyperion konnte mit Martyn Brabbins einen der führenden lebenden Dirigenten des britischen Repertoires gewinnen. Es spielt das Orchestra of Opera North aus Leeds, begleitet von der Huddersfield Choral Society aus West Yorkshire. Auch die Neueinspielung kann gewisse Mängel des Librettos von Henry Arbuthnot Ackworth nicht vergessen machen. Tatsächlich ist der etwas holprige Text eine Schwachstelle, die Muttersprachlern indes noch deutlicher werden dürfte.

Insgesamt sehr gut ist die Vokalbesetzung. Dies beginnt bereits in der Titelpartie, welche der Bariton Roland Wood übernimmt. Sein würdevolles Portrait des britannischen Helden kulminiert in dessen larmoyanten Klage „O my warriors“ in der vierten Szene, nachdem die Römer die Briten besiegt haben. Nicht weniger beeindruckend die Sopranistin Elizabeth Llewellyn in der Rolle von Eigen, Caractacus‘ treuherziger Tochter. Mit tadelloser Diktion und leidenschaftlicher Hingabe zeichnet sie die einzige weibliche Partie des Werkes nachhaltig. In der Tenorrolle des Orbin agiert Elgan Llyr Thomas, dessen jugendliche Darstellung ein Pluspunkt ist, auch wenn es ihm hie und da ein wenig an Durchschlagskraft mangelt. Die beiden Bassisten haben vergleichsweise wenig zu bewältigen. Christopher Purves fungiert zunächst als Erzdruide (Szenen I und II), später in der Minirolle des Barden. Er ist genauso überzeugend wie der in dieser Sängerbesetzung sicherlich bekannteste Vertreter, Alastair Miles, der den Kaiser Claudius übernimmt, eine Partie, die er bereits vor einem Vierteljahrhundert unter Hickox eingespielt hat.

In diesem Zusammenhang muss auch die bravouröse Leistung des Chores betont werden. Die  Huddersfield Choral Society, die schon unter Sir Malcolm Sargent Elgar-Erfahrung sammelte, weiß in allen Situationen für sich einzunehmen. Schließlich das Orchester der Opera North, welches ebenfalls in Sachen Elgar bestens bewandert ist und durch das temperamentvolle Dirigat angespornt wird. Überhaupt zeichnet sich Brabbins‘ musikalische Leitung dadurch aus, dass sie eben nicht nur die überraschend wenigen pompösen Momente in ihrer vollen Pracht ausspielen, sondern eben auch die vielfältigen pastoralen Passagen mit den ihnen eigenen Charme erklingen lässt.

Insgesamt bringt es die Neuaufnahme fertig, für sich modernen Referenzstatus zu beanspruchen. Sie gibt ein Plädoyer ab für dieses recht obskure Werk der späten viktorianischen Ära, als sich das Britische Weltreich auf seinem Zenit befand. Obwohl insgesamt schwerlich ein Meisterwerk, weist Caractacus doch einige hörenswerte Passagen auf und stellt ein wichtiges Bindeglied zu Elgars späteren Oratorien-Erfolgen dar. Die vorbildliche Klangqualität rundet den sehr guten Gesamteindruck ab und unterstreicht das Gesagte. Daniel Hauser

 

Original britisch, wenn auch nicht viktorianisch, wird es bei der Auswahl von Orchesterliedern von Edward Elgar The Hills of Dreamland, die bei SOMM (SOMMCD271-2) auf zwei CD erschienen, wobei nur die erste Orchestral Songs beinhaltet und die zweite, auf der Nathalie de Montmollin mit der Klavierbegleitung durch Barry Collett in 37 Minuten elf Lieder singt  – bei einigen handelt es sich um die urspürglichen Klavierfassungen der späteren Orchesterlieder –  als Bonus-CD angehängt ist (Two CDs fort he price of one). Bei Elgar denkt jeder an die berühmten Sea Pictures von 1899. Nicht zu unrecht. Auch diese von Barry Wordsworth und dem BBC Concert Orchestra gespielte Auswahl entwickelt in einigen Liedern eine stimmungsträchtige Sogkraft und einen romantischen Zauber, der dazu verführt, die CD mehrfach zu hören.  Es handelt sich um den Zyklus op. 59, die beiden Songs op. 60, die Lieder Pleading op. 48, Follow the Colours: Marching Song for Soldiers und The King’s Way sowie die Bühnenmusik zur keltischen Saga Grania and Darmid. Die fünf Lieder op. 59 von 1909 sind größtenteils elegische, doch nie langweilige Gesänge, in denen Kathryn Rudge ihren Mezzosopran leidenschaftlich und expressiv im erotisch angehauchten The Wind at Dawn, zu dem 1888 Elgars spätere Gattin den Text geschrieben hatte, schwelgen lässt und der Bariton Henk Neven für die introspektiven Momente und die gewitzten Pipes of Pan zuständig ist. Rudge klingt ausgesprochen vorteilhaft in dem straussisch spätromantisch ausgemalten Pleading und dem ironischen King’s Way, Nevens schlankpolierter Bariton bleibt auch in dem als Auftragswerk entstandenen Militärmarsch dezent ausdrucksvoll und nimmt dem vordergründigen Stück etwas von seinem Pomp. Der Begriff Bühnenmusik im Zusammenhang mit dem Prosastück von W.B. Yeats und George Moore Grania and Diarmid von 1901 – im gleichen Jahr wie die ersten beiden Pomp and Circumstance- Märsche entstanden – weckt falsche Erwartungen. Es handelt sich bei der Bühnenmusik für diese Geschichte um den Tristan-Vorgänger Diarmuid um drei kleine Stücken: ein schönes Vorspiel mit Horn- und Trompeten-Signalen, die in die irisch-keltische Sagenwelt einführen, einen Totenmarsch für den Helden Diarmid bzw. Diarmuid und einen Song für Soloalt.  R. F.

Adelaide Negri

 

Wie sagte doch die selige  Anna Russel: „Es ist erstaunlich, zu was die menschliche Stimme fähig ist!“. Das gilt in uneingeschränktem Maße für die Pimadonna  Südamerikas, Adelaide Negri. 1943 geboren starb sie am 17. August 2019. Sie genoss absoluten Göttinnenstatus im heimischen Argentinien, namentlich am Teatro Colon,  und darüber hinaus. Sie sang so gut wie alles, was für eine Sopranstimme erreichbar war: von der Königin der Nacht (in Klagenfurt beim europäischen Debut) zur Norma, von der Semiramide Rossinis zur Butterfly, von der Lucia (so in Wien 1979) bis zu Pergolesis Lida/Olimpiade oder Tosca, von der Vestale zur Imogene/Pirata oder Tosca. Vor allem war sie die Interpretin des Seltenen, etwa Pacinis Saffo oder Petrellas Ione. Letztere ist einigermaßen offiziell festgehalten worden (live bei Bongiovanni), der Rest ihrer unendlich scheinenden  Dokumente findet  sich – mit Ausnahme von ein-zwei halbgrauen LPs/CDs –  in den dunklen Tiefen der Sammlerschätze, reich an Inhouse-Mitschnitten und verwaschenen Video-Einspielungen (so bei youtube eine Semiramide mit Martine Dupuy). Eine umfassende Discographie/ Aufstellung von vorhandenen Dokumenten findet sich hier).

Wenn man eine runde, schöne Stimme für die Norma sucht, dann greift man besser zu Anita Cerquetti (und manche sogar zu Joan Sutherland!). Will man eine lodernde, unregelmäßige, die Konventionen sprengende dann natürlich zur Callas oder eben mehr noch zur Negri. Die Negri kannte keine Grenzen. Sie war die Königin des wilden Belcanto, des veristischen Rossini-Donizetti-Verdi, des ganz und gar nicht korrekten Barock. Sie war nichts für Puristen, und das scherte sie auch nicht. Sie füllte ihre Figuren mit wildem, sich verzehrendem Leben. Ihre Heldinnen liebten und starben (meistens) mit Aplomb, mit überdimensionalem Pathos. Und Pathos ist auch das Schlüsselwort für diese unglaubliche Karriere einer einzigartigen Diva, einer der absolut letzten unangepassten Göttinen der Oper.  Ohne sie ist es dunkler geworden auf der Bühne. Rip. Geerd Heinsen

 

 

Adelaide Negri als Abigaille am Teatro Colon/ Foto Negri

Unsere Freunde von Isoldes Liebestot fassen AdelaideNegris Leben zusammen und bieten viele schöne Fotos auf ihrer website:  Negri, Adelaide, Sopran, * 12.12.1943 Buenos Aires; sie studierte Rechtswissenschaften, darauf Gesang und dramatische Darstellung am Instituto Superior del Teatro Colón Buenos Aires, bei Bernardo Toscano, ebenfalls in der argentinischen Hauptstadt, dann bei Maria Teresa Pediconi in Rom und am London Opera Centre. 1972 kam es zu ihrem Bühnendebüt als Violetta in Verdis »La Traviata«. Sie war dann für viele Jahre als erste lyrische und Koloratursopranistin am Teatro Colón Buenos Aires verpflichtet und sang dort Partien wie die Donna Anna und die Donna Elvira im »Don Giovanni«, die Lucia di Lammermoor von Donizetti (1984), die Butterfly, die Liu in Puccinis »Turandot«, die Elisabetta in Verdis »Don Carlos«, die Leonore im »Troubadour«, die Amelia in »Un Ballo in maschera« von Verdi, die Titelrollen in Bellinis »Beatrice di Tenda« (1986) und in der Donizetti-Oper »Rita« (von der letztgenannten Aufführung wurde auch eine Aufnahme im argentinischen Fernsehen gebracht). 1982 debütierte sie an der Metropolitan Oper New York als Norma von Bellini; im gleichen Jahr war sie an der Wiener Staatsoper zu Gast, 1985 in Washington als Amelia. 1991 sang sie am Teatro Argentina La Plata die Titelrolle in Puccinis »Turandot«, die sie dann auch 1992 beim Festival von Szeged in Ungarn vortrug. (Am Teatro Argentina war sie auch 1994 als Traviata erfolgreich). Am 17.11.1991 sang sie am Teatro Colón die Titelrolle in der Uraufführung der Oper »Antigona Vélez« von J.C. Zorzi. 1998 sang sie (in einer konzertanten Aufführung) am Teatro Avenida Buenos Aires die Titelrolle in Bellinis »Norma«. Neben ihrem Wirken auf der Bühne als Konzertsopranistin geschätzt.

 

Und auf facebook findet sich von einem anonymen user Ausführlicheres in Englisch: Argentinian, italian parents. Diplomated lawyer at the University of Buenos Aires. She studied singing and acting at the “Instituto Superior de Arte del Teatro Colón”, winning the Golden Medal to the best singer, and a British Council Scholarship for one year’s training at the “London Opera Centre”. She sang then at the Bishopsgate Institute in London and at the Fairfield Hall in Croydon (Fidelio), at the Arts Theatre in Cambridge (Donna Anna).

Adelaide Negri is one of the very few Sfogatto sopranos (together with Callas, Gencer, the splendid Marisa Galvany, just to name most of them on last century), who can sing every role from dramatic mezzo to coloratura soprano (as far as we know, ¨Prendi, per me sei libero¨, sang by Negri here in youtube, it´s the most phenomenal vocal portrait showing her huge tessitura almost complet). Negri has alterned for manty years the most different vocal roles, Norma and Lucia, Lady Macbeth and Amina, ecc…

Adelaide Negri als Elena in Boitos „Mefistofele“ am Teatro Colon 1979/ Foto Negri

Negri´s operatic career is unusually long, (37 years long until 2009), and started in 1972 with her first public appearences in Buenos Aires.  She made her début at the Met singing „Norma“, opposite Domingo and Troyanos, conducting Levine. Followed Il Trovatore with Cossotto, Mauro and Pons (1983), Ernani with Pavarotti, Milnes and Raimondi (1983), Macbeth with Milnes and Quilico (1984). In „The Met on tour“ she sang in Boston, and in „The Met in the Parks“ (Lucia di Lammermoor) (1983). In Washington D.C. at the Kennedy Center (Un ballo in maschera), in Denver, Colorado (Il Trovatore), in Bridgeport and Standford (Nabucco) , in San Juan de Puerto Rico (La Gioconda), in Palm Beach (La Traviata).

During her insuallly long career, Negri has sang with hundreds of international collegues, including Luciano Pavarotti, Placido Domingo, Jose Carreras, Nicola Martinucci, Franco Bonisolli, Jaime Aragall, Ermanno Mauro, Sherril Milnes, Renato Bruson, Ruggero Raimondi, Matteo Manuguerra, Juan Pons, Fiorenza Cossotto, Tatiana Troyanos, ecc… And alterned roles with Montserrat Caballé (¨Cristobal Colon¨, by Balada), Ghena Dimitrova (Lady Macbeth), Renata Scotto (Norma), ecc…

Her European debut took place at the Staadtheater Klagenfurt (Austria) singing Lucia (1977/78), „Norma“ 1978) „Il tabarro“ (1978) and „Maria Stuarda“ (1980). Followed by engagements with Staattheater Wien (Lucia), Hamburgishes Oper (Lucia, Il Trovatore) OperBonn („Norma“ „Medea“, „Armida“) Stuttgart Oper („La Traviata“), Bruknerhalle Linz (Guglielmo Tell), Frankfurt Alte Oper (Maria Stuarda).

She sang in Italy: Bergamo, Verona, Torino, Genova, Macerata, Trieste, Cagliari, Catania, Jesi, Padova, Parma: Modena, Piacenza, Reggio Emilia, Ravenna, Ferrara, Rovigo, Treviso, ecc… In France: Radio France, Grand Teatre Tours, Rouen. In Switzerland: Operntheatre Bern, Winthertur Staattheater (Königin der Nacht) In Hungary: Erkel Theatre, Budapest, Szeged Festival. In Spain: Barcelona, Madrid (Macbeth), Bilbao, Mahon, Palma de Mallorca, La Coruña, Santiago de Compostela, Huelva, Almería, Las Palmas de Gran Canaria. In Belgium: Liége. In Portugal: Lisbon (Macbeth, Il Trovatore). In South Africa: Johannesburg, Pretoria and Durban. In Japan: Tokyo. In South Korea: Seoul.

Adelaide Negri: Eine der wenigen LPs/ CDs von ihr gibt es im heimischen Südamerika und auch als Import bei ausgewähltenPlatformen, alles Live, alles extrem und alls Inhouse.

The first Sfogatto Sopranos were contraltos who developed a high soprano register not losing her low notes No doubts about it, Giuditta Pasta was the most famous one as the great Bellini composed for her Norma and Sonnabula, for example. Difficult now to believe, but Amina and Norma were written for the very same voice. These phenomenal voices are difficult to manage and their sounds aren´t neither angelical nor ¨beautiful¨ (Callas, the most famous example), but they are rare treasures and true spectacles.

These superior artists not always lasted too much: Callas only 16 years (from 1949 to 1965), but had her best time only for 8 years (until 1957), Gencer sang for almost 20 years, Galvany had a long career and Negri has again the absolute record as, until today, thanks to her phenomenal vocal technique (her husband, Bernardo Toscanos is her master and coach), her career is almost 40 years long and takes more than 70 roles..

Adelaide Negri als Norma am Teatro Colon/ Foto Negri

Some of these sfogato sopranos were related to the others: Negri, for example, was highly praised by Callas´s husband, who in public said ¨she reminds me a lot to my beloved Maria. I wish her Maria´s career but not her life¨; Gencer attended Negri´s performances saying ¨she reminds me to myself on my early years´, and Negri and Galvani admired mutually.

We talk about phenomenal instruments which are very difficult to master as they are able to change colour, tessitura and volume for almost every role, being for these reasons able to sing almost any operatic role.She made her début in Opera at the Teatro Colón in Lehar’s “The Merry Widow” (1974), beginning then an uninterrupted 25 year’s collaboration with that Theatre: “Rita”, “Madame Butterfly”, “La vida breve”, “Don Carlo”,“Mefistofele”, “Lucia di Lammermoor”, “Norma”, “Beatrice di Tenda”, “Nabucco”, “Aida”, the world’s première of “Antigona Velez” by Juan Carlos Zorzi, “Proserpina y el extranjero” by Juan José Castro, “Macbeth” (1998). In Argentina, she also sang at Teatro Argentino de La Plata: Queen of the Night, Don Carlo, Don Giovanni (D.Elvira), Manon Lescaut, Turandot, Mefistofele (Margherita and Elena), Messa da Requiem. At the Auditorium, with the National Simphony Orchestra: Zemlinski’s Lyric Simphony, Strauss’ Salomé final scene, and the Four last songs; Wagner’s Isolde’s Love Death, Verdi’s Requiem.

Her European debut took place at the Staadtheater Klagenfurt (Austria) singing “Lucia di Lammermoor” (1977/78), “Norma” 1978) “Il tabarro” (1978) and “Maria Stuarda” (1980). Followed by engagements with Staattheater Wien (Lucia di Lammermoor), Hamburgishes Oper (Lucia, Il Trovatore) OperBonn (“Norma” “Medea”, “Armida”) Stuttgart Oper (“La Traviata”), Bruknerhalle Linz (Guglielmo Tell), Frankfurt Alte Oper (Maria Stuarda). She sang in Italy: Bergamo: Teatro Donizetti, Verona: Arena di Verona, Torino: Teatro Regio, Genova: Teatro Margherita, Macerata: Arena Sferisterio, Trieste: Teatro Verdi, Cagliari: Teatro Palestrina and Teatro Romano, Catania: Teatro Bellini, Jesi: Teatro Pergolesi, Padova: Teatro Verdi, Parma: Teatro Regio, Modena, Piacenza, Reggio Emilia, Ravenna, Ferrara, Rovigo, Treviso: Teatri Comunali, Fano: Corte Malatestiana, Enna: Castel Lombardia, Benevento: Arena romana. In France: Radio France (Matilde di Shabran), Grand Teatre Tours (Lucia, Anna Bolena), Teatre des Arts Rouen (Il trovatore). In Switzerland: Operntheatre Bern (Manon Lescaut), Winthertur Staattheater (Königin der Nacht). In Hungary: Erkel Theatre, Budapest (Norma). Szeged Festival (Turandot). In Spain: Gran Teatro del Liceo de Barcelona (Don Giovanni (Elvira), Norma, Un ballo in maschera, Beatrice di Tenda, Balada’s Cristobal Colon,, and covers: La Gioconda, Il Trovatore). Teatro de la Zarzuela de Madrid (Macbeth), Teatro Arriaga y Anfiteatro Olbia de Bilbao (Anna Bolena), Teatro Principal de Mahon (Aida, Un ballo in maschera, La Boheme) y de Palma de Mallorca (Andrea Chenier), Teatro Colón de La Coruña (Tosca, Nabucco), Auditorio de Santiago de Compostela, Gran Teatro de Huelva, Auditorio Padilla de Almería, Teatro Benito Pérez Galdós de Las Palmas de Gran Canaria (La Sonnambula). In Belgium: Liége (Maria Stuarda). In Portugal: Teatro San Carlos in Lisbon (Macbeth, Il Trovatore). In South Africa: Johannesburg Civic Center and Pretoria Arts Council (Nabucco), Durban Alhambra Theatre (Manon Lescaut). In Japan: Bunka Kaikan Hall in Tokyo (I Pagliacci). In South Korea: Sejong Cultural Center in Seoul (Nabucco).

Adelaide Negri als Antigona Velez de Juan Carlos Zorzi am Teatro Colon/ Foto Negri

In U.S.A. she made a surprise début at the Metropolitan Opera House in New York singing “Norma”, opposite Placido Domingo and Tatiana Troyanos, conducting James Levine, a performance also broadcasted for U.S.A. and Canada. (1982) Following a three seasons’ engagement with the Met for Il Trovatore with Fiorenza Cossotto, Ermanno Mauro and Juan Pons (1983), Ernani with Luciano Pavarotti, Sherril Milnes and Ruggero Raimondi (1983), Macbeth with Sherril Milnes and Louis Quilico (1984). In “The Met on tour” she sang in Boston, and in “The Met in the Parks” (Lucia di Lammermoor) (1983). In Washington D.C. at the Kennedy Center (Un ballo in maschera), in Denver, Colorado (Il Trovatore), in Bridgeport and Standford (Nabucco) , in San Juan de Puerto Rico (La Gioconda), in Palm Beach (La Traviata).

In South America: Venezuela: Teatro Municipal de Caracas (Semiramide, Jone, L’africana), Fundación Teresa Carreño (Lucia di Lammermoor, Norma), Uruguay: Teatrro Solis de Montevideo (Tosca, Aida, Turandot). Brazil: Teatro Municipal de Sao Paulo (Semiramide) In 1997, she founded “La Casa de la Opera de Buenos Aires”, promoting less known Operas by Italian composers: Donizetti’s Lucrezia Borgia (1999 and 2000), Roberto Devereux (2000), Maria Stuarda (2002), Anna Bolena (2003), Viva la Mamma (2002); Bellini’s La Straniera (2000), Il Pirata (2001), Norma (2006); Puccini’s Le Villi and Suor Angelica (2001); Cherubini’s Medea (2002); Rossini’s Armida (2003), Elisabetta Regina d’Inghilterra (2004), Guglielmo Tell (2005); Verdi’s Nabucco (2004) and La Forza del destino (2005); Ponchielli’s La Gioconda (2006).

For her extraordinary activity promoting young performers, Adelaida deserved the “Mecenate 2000 Prize” in Buenos Aires. She is frequently invited to dictate Master Classes of Operatic interpretation, and to participate as Jury in Singing International Contests. She has made her debut as producer in „La traviata“ at Theatro Sao Pedro in Sao Paulo, Brazil (Compania Opera de Sao Paulo, 2008).

Schmiss mit Mehltau

 

Der Komponist Leo Fall ist vor allem für ein Werk berühmt, das immer noch auf den Bühnen zu sehen ist  – Madame Pompadour. Seine Dollarprinzessin dagegen kann man als Rarität einstufen. Nun ist eine Gesamtaufnahme dieser Operette unter der Leitung von Ulf Schirmer beim Label cpo erschienen. Die Dollarprinzessin gehörte zu den international erfolgreichsten Operetten des frühen 20. Jahrhunderts. Die Partitur zählt zu den sorgfältigsten und schönsten der Ära, und ist vielleicht die Operette vor dem ersten Weltkrieg, die das Gefühl der Moderne am prägnantesten und amüsantesten einfängt.

Rhythmische Achtel auf Schreibmaschinen: Wer die Dollaprinzessin hört, erfährt viel darüber, was die Zeitgenossen von 1906 so umtrieb: Es gibt ein Auto-Ensemble, emanzipierte Frauen aller Coleur toben über die Bühne – und die Operette hat vielleicht den originellsten Anfang des gesamten Genres – der Vorhang geht auf, und wir hören und sehen einen Chor von Sekretärinnen, die in rhythmischen Achteln auf ihren Schreibmaschinen herumhämmern.

Das moderne Zeitalter triumphiert auf geradezu unverschämte Weise. Für 1906 war das Neuland. Leo Fall und seine Librettisten versuchen hier jede Alt-Wiener Nostalgie-Attitüde abzustreifen und die moderne industrielle Welt auf in einem frechen Operettenlicht zu zeigen.

Das Ganze spielt in Amerika, und dort triumphiert das moderne Zeitalter auf geradezu unverschämte Weise über die alte Operettenwelt – verarmte Aristokraten arbeiten für reiche amerikanische Kapitalistinnen und müssen mit ihren Minderwertigkeitskomplexen fertig werden, während die reichen Damen sich langweilen und recht depressiv sind. Das sind eigentlich Themen, die erst in den 20er und 30er Jahren Einzug halten in die Opern- und Operettenwelt.

Fall verzichtet aber vollständig auf moderne Musik, sein Handwerkszeug sind die Walzer, Märsche und Polken, die auch schon Millöcker verwendet hat. Heute sind uns deshalb vielleicht musikalisch andere Werke näher.

So sehr man die flotte, gut genähte, äußerst elegante und hinreißend instrumentierte Musik bewundern muß: Kalman hat ein ähnliches Thema in der Herzogin von Chicago zupackender gelöst, und reiche emanzipierte Frauen, die Männer in die Verzweiflung treiben, sind in der etwa zeitgleich entstandenen lustigen Witwe genialer gezeichnet. Ganz zu schweigen von Gershwins frühen Musicals.

Eine Operette mit schmissigen Hits: Ulf Schirmer dirigiert eigentlich keine Operette. Er kehrt hier mit dem Münchner Rundfunkorchester die opernhafte Seite des Werks heraus – und das ist erstmal gar nicht so falsch. Nichts wäre schlimmer, als bei dieser fragilen, komplexen Partitur den fröhlichen Haudrauf-Tambourmajor zu geben. Man sollte das Werk ernst nehmen: Da sind zwei große Finali von viertelstündiger Länge, wunderbare ironische Kommentare von Soloinstrumenten zu Singstimmen, die beiden Hauptfiguren haben sehr opernhafte ausgedehnte Duette.

Aber im Kern, bei aller Delikatesse, bleibt die Dollarprinzessin eben doch eine Operette mit schmissigen Hits. Und die gehen hier unter. Ich bewundere Ulf Schirmer wirklich für seine Vielseitigkeit, für seinen Mut, immer wieder unbekanntes Repertoire auszugraben, aber hier fehlt mir über weite Stecken der Schwung eines operettenaffinen Kapellmeisters. Es bräuchte hier wenigstens einen Funken Franz Marszalek, der das Doppelbödige, Frivole der Operette herauskehrt. Der Amerika-Marsch, der in der alten Marszalek-Aufnahme ein Höhepunkt des Werks ist, bleibt hier einfach ein rasches, lautes Stück ohne rechten Charme.

Wie Mehltau liegt eine gewisse Strenge auf allen Stimmen: Die Sänger sind nicht übel. Das klingt gönnerhaft, aber ich denke, im Operettenfach darf man das so sagen. Denn insgesamt ist Operette im 21. Jahrhundert das am miserabelsten  und instinktlosesten gesungene klassisches Genre; niemand würde es wagen, Lieder, Oratorien oder Opern in solch einer Qualität auf dCD zu bringen, wie es seit dem Jahr 2000 mit Operetten  geschehen ist. Natürlich gibt’s glanzvolle Ausnahmen, aber die sind rar. Daran gemessen ist diese Einspielung wirklich erfreulich seriös. Vielleicht zu seriös. Auch hier bleibt die Haltung der Sänger eher opernhaft.

Wir haben diesmal sehr gute Tenöre – oft gewinnen ja heute die Damen in den neueren Produktionen. Ferdinand von Bothmer, Ralf Simon, Thomas Mohr, das ist ein sehr angenehmes Trio mit sicheren Höhen.

Die Frauen klingen allesamt leicht oratorienhaft und kühl. Christiane Libor ist mir persönlich etwas zu dunkel und mütterlich für die Titelpartie der jungen experimentierfreudigen Dollarprinzessin. Geschmackssache. Insgesamt liegt aber wie Mehltau eine gewisse Strenge auf allen Stimmen; man hat über weite Strecken nicht das Gefühl, das ihnen diese Operette wirklich Spaß macht.

Das gilt nicht für den Chor des Musikalischen Komödie Leipzig, der hier nach München eingeladen wurde, die Leipziger stehen zu recht in dem Ruf, dieses Genre mit großer Begeisterung umzusetzen, und so finde ich eigentlich die großen Chornummern hier auch am gelungensten.

Und ich ziehe wie immer meinen Hut vor dem schönen Einführungstext von Stefan Frey im Booklet. Neid unter Autoren, sagt Tucholsky, ist immer ein guter Indikator für Qualität (Leo Fall: Die Dollarprinzessin/ Christiane Libor, Magdalena Hinterdobler, Angela Mehling, Thomas Mohr, Ferdinand von Bothmer, Ralf Simon, Marko Cilic, Münchner Rundfunkorchester, Ulf Schirmer/  CPO 4111675). Matthias Käther

Gounod: „La Nonne sanglante“

.

2018 jährte sich der Geburtstag von Charles Gounod zum 200. Mal – Grund für den Palazetto, im Juni  2018 drei  seiner Opern aufführen zwei mitschneiden zu lassen: Le tribut de Zamora (aus München im Januar 2018 für die Eddiciones Singulares), Faust in der Erstversion als Opéra-comique/mit Dialogen (soeben beim Palazetto Labrel Ediciones Singulares erschienen)  und La Nonne Sanglante (die es ja bereits 2008 in Osnabrück gegeben hat und bei cpo  777 388-2 in guter Ausstattung mit Libretto vorliegt, aber auch nun bei Naxos in der hier besprochenen Pariser Version als DVD-Mitschnitt herausgekommen ist/ DVD 2.2110632)

.

.

Der junge Charles Gounod auf einem Foto von Nadar/ OBA

Dazu Rolf Fath über die Nonne Sanglante in der Opéra-Comique: Schwer kommt die Ouvertüre mit ihrem harmonischen Wechselspiel in die Gänge. Die schwere Melodie und die flotten Rhythmen etwa, die das Erscheinen der Nonne begleiten, die chromatischen Eintrübungen, die die Welt des Übernatürlichen beschreiben und sich zusammen mit den Bläsern zu bedrohlichen Situationen bündeln, wie wir sie im vierten Finale wiederfinden. Ganz so schaurig, gespenstisch und finster, wie es das Sujet vorgibt, geht es allerdings im Orchestergraben bei Charles Gounods La nonne sanglante nicht zu, die 2018 an der Opéra-Comique erstmals seit der Uraufführungsserie von 1854 in der Opéra in der Salle Peletier, quasi ein paar Schritte um die Ecke der Opéra-Comique, wieder in Paris ihr Unwesen treibt. Immerhin geistert bereits im sonoren Moderato die weiße Frau über die Bühne, die von ihrem Geliebten verlassen wird und seither auf Rache sinnt, was das folgende Geschehen halbwegs plausibel erscheinen lässt. Der Treulose ist kein anderer als Graf Luddorf, der Vater der eigentlichen Hauptfigur Rodolphe. Wildes Kriegsgetümmel, Lederrocker, die sich im Zeitlupe bekämpfen oder zu stehenden Bildern arrangieren. Im Böhmen des 11. Jahrhunderts, wohin Scribe und sein Zulieferer Delavigne die Story nach The Bleeding Nun aus  M.G. Lewis Gothic Novel Ambrosio or the Monk (1796) versetzten, ist offenbar ewige Dunkelheit ausgebrochen.

Der vom Schauspiel kommende David Bobée, der sich 2016 in Caen erstmals an der Oper versuchte, hat das Operngrusical aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine endzeitmäßige Gegenwart geholt, wofür er zusammen mit Aurélie Lemaignen zu den schwarzen Lederuniformen (Kostüme: Alain Blanchot) eine ebenso schwarze Szenerie aus Türmen und Säulen, teilweise halbhoch gekachelt und zu Kathedralräumen zusammengeschoben, mit Spielpodesten und Leuchtröhren erfand. Das wirkt alles irgendwie halbherzig, provinziell, öde und klein gedacht und wird durch die größtenteils nichtssagenden Videos auch nicht ansprechender. In dieser Düsternis steht Rodolphe in schweren Stulpenstiefeln, sehr umfangreicher Lederhose und Wams und kann, wie es eine Einblendung klarmacht, seinem Schicksal nicht entgehen. Es ist nämlich so: Die Grafen Luddorf und Moldaw sind seit langem verfeindet, um sie auszusöhnen, schlägt der Eremit Pierre vor, dass die Moldaw-Tochter Agnès den Luddorf-Sohn Théobald heiraten solle. Darüber besteht Einigkeit. Allerdings lieben sich Agnès und der Théobald-Bruder Rodolphe. Sie verabreden zu fliehen. Zu diesem Zweck soll sich Agnès verkleidet als Weiße Frau um Mitternacht einfinden. Tatsächlich erscheint die Weiße Frau, der Rodolphe sein Ja-Wort gibt: Er hätte gewarnt sein müssen, denn ihr Händchen war eiskalt. Nun ist es zu spät. Im blut besudelten Gewand, mit grau verfärbten Händen und leerem Blick weicht sie nicht mehr von seiner Seite. Die Toten kommen zum Bankett, Rodolphe ist an die Erscheinung gebunden, die den Tod jenes Unholds fordert, dessen Opfer sie wurde. Bei der Hochzeit mit Agnes – Théobald ist inzwischen gefallen – erscheint sie abermals und fordert das Leben von Rodolphes Vater. In höchstem Furor stürzt Rodolphe davon. Luddorf ist bereit, für seine Tat zu bezahlen, um Rodolphe vor den mörderischen Gegnern zu schützen. Abermals erscheint die Nonne, die sich jetzt gerächt sieht, und löst den Fluch von Rodolphe, der seiner Agnès folgen kann. Wie sein Vater der Nonne.

„La Nonne sanglante“ von Gounod an der Pariser Opéra-Comique/ Szene/ Foto wie auch oben Pierre Grosbois

Wer die Geschichte nicht kennt, geht im optischen Trübsal leer aus (wären da nicht die Über/Untertitel). Zugegeben, die Szene, in der  sich die Toten im einstigen Festsaal des Schlosses einfinden, hat was. Schlösser, Schlachtfelder, Ruinen, Hochzeiten – es gibt noch die Hochzeit zweier Dorfbewohner – alles das findet keine Entsprechung. Und Gounods Musik vermag die Hoffnungen auch nicht immer zu erfüllen. Sie ist erhaben und ernst, teilweise, so in den Ballettszenen, die hier nicht getanzt werden, fast ein bisschen frivol, doch immer voll melodischer Würde. Von geradezu religiöser Inbrunst erfüllt ist die Anfangsszene des Eremiten, die erkennen lässt, dass sich Gounod vor seiner Hinwendung zur Oper ausgiebig mit geistlicher Musik beschäftigt hatte; die musikalische Melange aus Religiösem und Profanen kehrt in Faust wieder. Rodolphes Duette mit Agnès haben einen Hauch grand opéra, die Finali sind wuchtig und dramatisch, das alles ist gekonnt und oft voll melodischer Grazie.

Agnès und die Weiße Frau haben keine eigene Arie, dafür Rodolphes Vertrauter Arthur, den Jodie Devos zur Freude aller mit einem knackigen, quecksilbrig forschen Hosenrollen-Sopran singt. Auch der alte Luddorf hat kurz vor seinem Ende eine eigene Szene, aus welcher der offenbar kurzfristig besetzte Nebenrollen-Bariton Jérome Boutillier wenig macht. Vannina Santoni ist eine damenhafte Agnès, die im fünften Akt mit Kraft und Pathos agiert, Marion Lebègue eine musikalische, mezzodüster dräuende Nonne, Jean Teitgen ein charaktervoll dröhnender Eremit. Die weiteren Partien sind klein und ordentlich besetzt. Das wäre rasch vergessen, wäre nicht Michael Spyres, der mit männlichem und süßem Timbre singt, Kraft für die machtvollen Anrufungen hat und Finesse für ein zartes Piano, bei dem das hohe C sicher sitzt, freilich (an diesem Abend) mit etwas gequetschtem Ton, der aber diese immens umfangreiche Partie – der gesamte zweite Akt gehört quasi ihm – wie ein Gesangslektion ausbreitet, an der auch der berühmte Uraufführungstenor Guéymard nichts zu mäkeln gefunden hatte. Die Arie „Un jour plus pur“ im dritten Akt war übrigens für Berlioz, der sich vor Gounod lange mit dem viel gescholtenen Libretto geplagt hatte, der Höhepunkt der Oper. Die von Berlioz vertonten Passagen wurden erst im Juli 2007 vom Orchestre National de Montpellier aufgeführt.

„La Nonne sanglante“ von Gounod an der Pariser Opéra-Comique/ Szene/ Foto Pierre Grosbois

Die Mischung aus schwarzer Romantik und Gothic Novel verbunden mit den Hinweisen auf Freischütz, Robert le diable – man denke an das Ballett der aus ihren Gräbern steigenden Nonnen – und die Dame blanche ist nicht uninteressant. Die Opulenz und den dramatischen Geist arbeitete Laurence Equibey, eher eine brave Chorleiterin denn eine souveräne Directrice, mit dem Insula Orchestra nicht hinreichend heraus, gewaltige Lautstärke verwechselte sie mit Leidenschaft. Der koproduzierende Palazzetto Bru Zane wird für die Aufnahme (für Naxos) noch etwas nachjustieren müssen. Der von Christophe Grapperon instruierte accentus Chor war ausgezeichnet. Wie stets.

.

Die Osnabrücker Aufführung (cpo  2010) ist hier unbekannt. Beispielsweise heißt es in hauptstädtischem Selbstbewusstsein nur, dass die durchaus erfolgreiche und aufwendigst inszenierte Oper nach elf Aufführungen von der Bühne verschwand, „pour n’ être jamais reprise nulle part“. Und zum ersten Mal in der Neuzeit szenisch stimmt ja auch nicht. Angeblich wollte der damalige neue Directeur der Opéra einen solchen Mist („ordure“) nicht auf seiner Bühne sehen. Bereits 2008 war Die blutige Nonne, die bis dahin als unbekanntes Phantom durch die Literatur gegeistert war, wieder auf die Bühne gelangt. Osnabrück hatte sich, wie sich jetzt zeigt, mit der Aufführung von Gounods zweiter Oper gar nicht schlecht geschlagen (9. Juni 2018).   Rolf Fath

.

.

Eine interessante Beobachtung macht der renommierte Musikwissenschaftler und Berlioz-Spezialist Hugh Macdonald im Vergleich der Nonne zu den Troyens:  In 1841 Berlioz composed at least the first act of a libretto by Eugène Scribe based on Matthew Lewis’s novel The Monk, but with little enthusiasm for the project from Scribe, and perhaps not from Berlioz either, the opera was never completed. Two Airs and a Duo survive in a manuscript at the Bibliothèque nationale de France, each preceded by recitative. The Duo is not complete, breaking off after nearly 400 bars of music. The libretto passed to Gounod, whose opera La Nonne sanglante, was played at the Opéra in 1854. From Gounod’s opera we have the words for the end of Berlioz’s duet, and these are so similar in rhyme and meter to the words of the duet for Cassandre and Chorèbe in Act I of Les Troyens, that it seems likely that the end of the duet in La Nonne sanglante was the same as the duet in Les Troyens. (…) Furthermore, the orchestration of both scenes is the same, with the four horns pitched in a combination of four different keys which is the same in both scores, and very unusual in Berlioz’s music. The situation in both operas is similar, Rodolphe pleading with Agnès to flee with him in La Nonne and Chorèbe pleading Cassandre to flee with him in Les Troyens. (…) Excerpts from Berlioz’s unfinished opera La Nonne sanglante were performed on 28 July 2007 as the closing concert of the 2007 Festival de Radio France and Montpellier Languedoc-Roussillon. The venue was Opéra Berlioz at Le Corum, Montpellier. Alain Altinoglu conducted the Orchestre national de Montpellier, with Cornelia Hunold, Frédéric Antoun, and Franck Ferrari as soloists. Among the pieces performed at the concert was the duo of Agnès and Rodolphe, completed for this performance by Hugh Macdonald. (…) Quelle: The Hector Berlioz website

.

.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Ehrlich

 

Das Buch passt zu ihm. Schmal, lakonisch, bescheiden. Und zurückhalten ist Bernard Haitink, auch grundehrlich: wenn es nichts zu sagen gibt, reichen eben ein paar Worte. Die Ehrlichkeit mag manch einem schmallippig vorkommen. Anekdoten, Klatsch, Privates darf man nicht erwarten. Peter Hagmanns und Erich Singers Gespräche und Essays Bernard Haitink „Dirigieren ist ein Rätsel“ kommen mit weniger als 200 Seiten aus (Bärenreiter Henschel, ISBN 9783761820919), um diese 65 Jahre lang dauernde Dirigentenlaufbahn, die Haitink „über Hindernisse hinweg zu einem singulären Lebensweg gestaltete“ zusammenzufassen. Viel Aufheben hat der medienscheue Bernard Haitink nie um sich gemacht. Nahm es hin, dass 1954 auf dem Programmzettel seines Abschlusskonzertes „Bernard“ statt „Hermann“ Haitink stand und nannte sich fortan Bernard.

Wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag und kurz vor seinem für den 6. September in Luzern angekündigten letzten Orchesterkonzert, wenn Haitink die Wiener, bei denen er sich 1972 mit Bruckners fünfter Sinfonie vorgestellt hatte noch einmal bei der Siebten dirigieren wird, kommt der Band zu rechten Zeit. Der großen Daten der über sechzigjährigen Laufbahn ist bekannt: die 27 Jahren währende, auch durch „Gewitterwolken“ getrübte Tätigkeit als Dirigent – Haitink betont, dass man in Amsterdam den Titel „Chefdirigent“ nicht kannte – des Concertgebouw Orchesters, bei dem er 1956 als Einspringer für Giulini 1956 debütiert hatte. Es folgten u.a. ab 1978 zehn Jahre beim Glyndebourne Festival, anschließend bis 1998 am Royal Opera House Covent Garden. Er war 2002-04 Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle, über Jahrzehnte regelmäßiger Gastdirigent bei den Wienern und Berlinern (Debüt 1964), in London (1967-79 beim London Philharmonic Orchestra), München (1958 erstmals beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks), Zürich, in Boston und Chicago. In den biografischen Skizzen, die zusammen mit Peter Hamanns Beschreibung und Wertung des Dirigierten den Rahmen für die Gespräche im Mittelteil des Buches bilden, spürt Erich Singer den musikalischen Vorbildern Haitinks nach, wobei es die Anlage des Buches mit sich bringt, dass es ständig zu Wiederholungen mit dem Interviews kommt. Geprägt wurde Haitink nicht von Willem Mengelberg, der das Concertgebouw über ein halbes Jahrhundert geleitet hatte und dessen spätromantischen, selbstherrlichen Stil Haitink ihm verpönt waren, sondern von Eduard van Beinum („….hat mich zutiefst beeindruckt“). Doch beide Herren begründeten die intensive Mahler- und Bruckner-Pflege, die Haitink in Amsterdam sowohl im Concertgebouw wie in Schallplattenstudios wiederaufnahm und fortsetzte. Haitinks Gesamtaufnahme der Brucker und vor allem Mahler-Sinfonien in den 1960er Jahren waren Meilenstein; eine Einspielung der Sinfonien Mahlers in den 90er Jahren mit den Berlinen Philharmonikern wurde nicht vollendet. Haitink spielte alle Sinfonien von Schostakowitsch ein, auch das eine Pioniertat, kümmerte sich früh um Ravel. Zu schweigen von all den Beethoven- und Brahms-Zyklen. Bemerkenswert bei dem so zurückhaltenden Haitink („Ich bin nicht sehr verbal“), der sich den Fragen zur Kunst des Dirigierens und ästhetischer Positionen gerne entzieht, da man „darüber eigentlich nicht sprechen kann“, ist seine deutliche geäußerte Abneigung gegen Bayreuth und gegen den übermächtigen amerikanischen Agenten Wilford, „der die von ihm vertretenen Dirigenten wie Marionetten an seinen Strippen führte“.

Das Opernschaffen – „Ich bin ein Dirigent, der auch Opern dirigiert“ – kommt in dem Buch etwas kurz. Für die immerhin zwanzig Jahre an zentralen Positionen des englischen Musiklebens müssen wenige Seiten ausreichen. „In Glyndebourne habe ich als völliger Dilettant in der Opernwelt angefangen“. Haitink lobt die Probenzeit beim Festival, den Umgang mit den Regisseuren Hall, Nunn, Vick, „das waren alles Vertreter der äußerst renommierten britischen Theatertradition“, die Atmosphäre. Mit dem Wechsel nach London und angesichts der beschlossenen Renovierung des Hauses, der langen Bauarbeiten und der Auflösung der Kompanie währen dieser Zeit musste Haitink, was ihm schwer fiel, auch politisch agieren: „Da habe ich etwas getan, was ich selten tue: Ich habe meinen Fuß dazwischen gestellt“. Die Meistersinger und zwei Ring-Produktionen (Götz Friedrich, Richard Jones) stehen auf der künstlerischen Haben-Seite, wozu Haitink auf seine unnachahmlich zurückhaltende Weise bemerkt, „Ich habe daran sehr gute Erinnerungen“. Ein paar Hinweise zu Regisseuren. Wenige Sänger werden genannt, darunter Felicity Lott und Maria Ewing, die Carmen „wie Edith Piaf gesungen“ habe. Hinsichtlich seiner Opernaufnahmen schwärmt er, man darf es schon als Schwärmen auffassen, von Daphne mit Lucia Popp („Die Aufnahme erinnert mich immer an diese wunderbare Sängerin… Sie hat die Hauptrolle bestechend schön gesungen“), spricht garstig über die Sophie in seinem Rosenkavalier und erwähnt auch, dass es nicht zu einer Gesamtaufnahme von Capriccio kam, weil er sich Jessye Norman nicht als Madeleine  vorstellen konnte: „Das war eine total verfahrende Situation. Ich war mit Philips nicht einig über das Engagement von Jessye Norman. Für diese späte Kammeroper von Strauss war ihre Stimme zu schwer, zudem sprach sie das für dieses Konversationsstück sehr wichtige Deutsch nicht akzentfrei“. Das Label siegte, doch Norman hätte nur für zwei Sitzungen zur Verfügung gestanden, „dieses Ansinnen lehnte ich entschieden ab. Darum kam die Aufnahme dann nicht zustande. Das ist die Opernwelt!“. Den in aufgewühlten Zeiten im November 1989 in Dresden entstandenen Fidelio mit Norman erwähnt er nicht. Rolf Fath

Mit Einschränkungen

 

Oberon ist die letzte Oper Carl Maria von Webers – und sie gilt als sein großes Abschiedswerk. Zu sehen und zu hören ist sie allerdings selten auf der Bühne. Der Mitschnitt einer konzertanten Aufführung aus Gießen ist jetzt beim Label Oehms Classics erschienen.

Oberon, das war der Sprung Webers ins internationale Konzertleben, ein Opernauftrag für London, die Chance des Freischützkomponisten, endlich zum allseits anerkannten Weltstar aufzusteigen – allerdings wusste Weber auch, dass dies sein letztes Werk sein würde, er war schon schwer tuberkulosekrank. Also hat er noch mal alles geben, und der Stilmix ist bis heute betörend. Elfenromantik, heroische Helden, ein Hauch Belcanto a la Rossini (Weber hatte sich mit ihm kurz zuvor in Paris ausgesöhnt). Das alles versehen mit äußerst delikaten Orchesterfarben, die noch einen Debussy inspirierten. Ganz große, eigenwillige, sehr persönliche Musik.

Die Fassung: Leider litt das Libretto an enormen Schwächen – es war ein Zauberspektakel, das nur wenig auf die Erfordernisse einer seriösen Opernpartitur einging. Schlüsselszenen tauchen nur im Dialog auf, nicht als Musiknummern. Weber wollte später für Deutschland nachbessern – kam aber nicht mehr dazu. Das Gießener Theater hat  Teile der posthumen Zusammenfassungen, Regieanweisungen und den Dialoge des ersten deutschen Bearbeiters, Theodor Hell, benutzt und diese Texte so für Erzähler arrangiert, dass sie wirklich klingen wie eine konzertante Originalfassung. Dieser Aspekt der Aufführung ist ausgesprochen gelungen.

Michael Hofstetter: Grund für den Mitschnitt war aber zweifellos der Dirigent Michael Hofstetter, der vor allem mit Opern-Wiederbelebungen der Vorklassik berühmt wurde, ihm haben wir etwa diverse Gluck-Wiederentdeckungen zu verdanken. Er gehört zu den wirklich klugen, abenteuerlustigen und unorthodoxen Dirigenten unserer Tage.

In gewisser Weise ist dies hier seine Feuertaufe auf CD – meist erscheinen nur Raritäten von Werken, bei denen es schwierig ist, Vergleiche mit anderen Dirigenten anzustellen. Hier im Oberon bleibt Hofstetter durchaus auf Augenhöhe solcher Oberon-Dirigenten wie Kubelik und Gardiner, sein Vorteil ist die perfekte Kenntnis der vorklassischen Werke, der Wurzeln, aus denen Weber hervorgeht. Bei ihm klingt Weber durchsichtig und saftig zugleich, ohne falschen Zungenschlag, man könnte ihn in der Hofstetter-Aufnahme nie mit einem obskuren Schubert oder frühen Wagner verwechseln. Manchmal arbeitet er mit provokant langsamen Tempi, die aber immer spannungsvoll blieben, und sein Gießener Orchester geht erstaunlich gut mit; da sitzt (fast) alles perfekt, auch in den Solostimmen. Also aus der Dirigentenperspektive gesehen ist das ein sehr sehr spannender Oberon.

Problematische Besetzung: Doch Oberon steht und fällt mit den Sängern. Meistens fällt er. So auch hier. Das ist keine Schande, denn die beiden Hauptpartien kaum singbar. Hüon und Rezia haben schon Sänger wie Jonas Kaufmann und Birgit Nilson den Schweiß auf die Stirn getrieben, Oberon ist gesangstechnisch ein Schreckgespenst der Operngeschichte. Aber gibt es überhaupt die ultimative CD- (oder LP-) Aufnahme dieser so problematischen Oper? Alle sind drastisch bearbeitet und keine kann zufrieden stellen.

Man muss zur Ehrenrettung von Mirko Roschkowski (Hüon) sagen, dass er diese große stimmtechnisch alptraumhafte Partie für einen lyrischen Tenor erstaunlich gut meistert. Das Problem ist: diese Rolle ist eigentlich nichts für ihn, das ist eine bizarre Mischung aus Helden- und lyrischem Tenor, eigentlich eine Partie, die der französischen Tradition näher steht als der deutschen oder italienischen. Man braucht dafür Stimmen, die die Brillanz der Musik feuerwerksartig herüberbringen, und das gelingt hier nur teilweise. Das gilt auch für Rezia. Dorothea Maria Marks‘ Sopran ist einfach zu klein, obwohl sie sich im wörtlichen Sinne heroisch schlägt – doch ich habe beim Hören mitgebangt. Und das ist eigentlich immer ein Zeichen, dass der Kampf des Sängers mit den Noten nicht ausgefochten ist und das Ergebnis offen. Die übrigen Sänger (Clemens Kerschenbauer, Garga Peros, Dmitry Egorov, Karola Pavone und Roman Kurtz) bleiben unauffällig, aber reicht das?

Leider kommt hier aber auch noch eine hochproblematische Akustik hinzu, eine schlechte Aussteuerung, die sich gerade bei den hohen Stimmen bemerkbar macht durch ärgerliche Zisch-Echos – und so ist diese Aufnahme trotz interessanter Ansätze leider nur bedingt empfehlenswert ( Carl Maria von Weber: Oberon mit Mirko Roschkowski, Dorothea Maria Marx, Marie Seidler u. a.| Chor des Stadttheaters Gießen | Philharmonisches Orchester Gießen, Chor und Extrachor des Stadtteaters Gießen | Michael Hofstetter; Oehms Classics, 2 CD OC 984). Matthias Käther/Stefan Lauter

Franco Faccios „Amleto“

.

Nach Erstaufführungen im amerikanischen Albuquerque 2015 und Wilmington/Delaware 2016 (operalounge.de berichtete über beide) präsentierte Bregenz bei seinen Festspielen 2016 Franco Faccios vergessene Oper Amleto von 1865 – eine der spannendsten Opern-Wiederentdeckungen der letzten Jahre (in Europa). Dazu gab uns Antonio Barrese, eminenter Dirigent und Musikwissenschaftler, vor allem aber Wiederentdecker und Restaurator der Partitur des Amleto anlässlich seiner Bühnen-Produktionen der Oper in Albuquerque und Delaware ein ausführliches Interview zum Werk und den aufregenden Umständen der Ausgrabung in den Archiven des Musikverlages Ricordi, das wir hier aus gegebenem Anlass wiederholen. Von der Aufführung in Albuquerque gibt es inzwischen eine DVD und CD, aus Delaware zumindest einen Radiomitschnitt – Bregenz hatte also mitnichten die erste Wiederentdeckung des Amleto in moderner Zeit, wie von der Intendantin noch im Radio-Interview gerne behauptet wurde (wo auch Entdecker Barese kleingeredet wurde). Allerdings sind die amerikanischen Dokumente aus Copyright-Gründen der Universal/Ricordi nur in den USA und nicht ins Ausland lieferbar… Die Aufführung in Bregenz wurde am 20. Juli 2016 in Ö1 Radio und ORF3 TV live übertragen und liegt nun auf DVD bei C-Major/ Unitel/ Bregenzer Festspiele sowie als CD-Ausgabe bei Naxos (8.660454-55, 2 CD) vor, eine Besprechung von Matthias Käther findet sich am Schluss.. G. H.

.

.

Franco Faccio/OBA

Franco Faccio/OBA

Amleto von Faccio – zur Einführung: Ein fünfundzwanzigjähriger Komponist, dem bisher nur eine Vorstellung vergönnt war, und ein dreiundzwanzigjähriger Librettist bei der ersten bedeutenden Erfahrung mit einer Oper: der Musik und den Worten dieser beiden jungen Burschen, die die Kunstwelt von Kopf bis Fuß erneuern wollten, galt der Beifall des Genueser Publikums des Teatro Carlo Fenice.am 30. Mai 1865. Seitdem sind knapp 150 Jahre vergangen seit der Premiere von Amleto, eine tragedia irica  in vier Akten, an die Franco Faccio, der Komponist, und Arrigo Boito, der Librettist, viele Erwartungen und Hoffnungen geknüpft hatten. Es handelte sich um ein wahres und tatsächliches Manifest der Scapliatura (= Liederlichkeit, literarische Protest-Bewegung in Mailand), aber die Aufnahme war einige Jahre danach eine ganz andere, als die Scala dieselben Noten ohne Wenn und Aber auspfiff.

Es lohnt sich, die Geschichte dieser Oper sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, um die Gründe für den Misserfolg von 1871 zu verstehen, obwohl sie ohne Zweifel innovativ und originell war. Die Geschichte des Amleto von Faccio und Boito ist alles in allem eine kurze. Leider sind die Quellen nicht so zahlreich, wie man es erwarten könnte: Zum Beispiel weiß man von der Zeit vor der Komposition lediglich, dass die beiden jungen Leute voller Pläne und Initiativen waren, nachdem sie das Konservatorium von Mailand verlassen hatten. Warum ausgerechnet eine der bedeutendsten Tragödien Shakespeares?  Es scheint so, als habe Boito begonnen, an dem Libretto noch vor I Fiamminghi zu arbeiten, das dann am 2. Juli 1862 in Polen vollendet wurde. Viel zahlreicher sind die Zeugnisse von diesem unseligen Genueser Premierenabend des Jahres 1865. Zur Besetzung gehörten bedeutende Sänger wie Mario Tiberini als Hamlet, Angiolina Ortolani-Tiberini als Ofelia, Elena Corani und Antonio Cotogni als Königin und König. Die Tatsache, dass das Teatro Carlo Felice zwei fast Unbekannte akzeptiert hatte, ist auf das persönliche Eingreifen von Alberto Mazzuccato zurück zu führen, der am Konservatorium Lehrer Boitos gewesen war und Freund des Dirigenten Angelo Mariani, ebenfalls für dieses Debüt ausgewählt.

Die Zeitschrift  Movimento schrieb damals: „Gestern Abend öffneten sich die Pforten des Carlo Felice für die  angekündigte Aufführung der neuen Partitur von Franco Faccio, den Amleto. Groß waren die allgemeinen Erwartungen, da Zweifel laut geworden waren in Bezug auf  das neue Genre, an dem sich der junge Maestro versucht hatte. Das Publikum kam in Massen und in der Haltung, dessen, der zu  einem wohl bedachten Urteil, sagen wir es offen, mit Strenge bereit war. Aber die Bereitschaft zum Zweifel flaute schnell ab, und nach genauer Prüfung fiel die Entscheidung; man applaudierte und das ganz spontan, aus Überzeugung und mit Enthusiasmus. Ebenso las an es in der Gazzetta di Genova: „Der Oper wurde allgemein nach dem ersten Akt Beifall gespendet, nach dem Duett Ofelia und Amleto, am Ende des zweiten Akts, nach der Canzone der Ofelia im dritten Akt und nach dem Tauermarsch im vierten Akt. Der junge Maestro wurde mehrmals auf die Bühne gerufen.“

Ingrid Wanja übersetzt tapfer und unverzagt aus dem Italienischen für uns - Danke Ingrid!

Ingrid Wanja übersetzt tapfer und unverzagt aus dem Italienischen für uns – Danke Ingrid!

Das eindeutige Talent von Faccio wurde also anerkannt. Nicht derselben Meinung war Giuseppe Verdi, nach dessen Auffassung niemand etwas hatte verstehen können bei all dem „Krach“. Die sechs Jahre, die zwischen Genua und Mailand verstrichen, waren voller Abenteuer und Erfahrungen, vor allem die Teilnahme am Dritten Unabhängigkeitskrieg im Jahre 1866, der beide (Faccio und Boito) betraf, um nicht vom Fiasko des Mefistofele zu sprechen, des es 1868 an der Scala gab. Die Kunst der „Liederlichkeit“ bedurfte also einer schönen Auffrischung, so sehr, dass man 1870 von einer möglichen Wiederaufführung des Amleto in Florenz sprach. Man entschied sich jedoch für Mailand, die Scala und die Saison 1870/71. Tiberini wurde wieder engagiert für dieselbe Rolle, aber auch der Rest der Besetzung war vorzüglich, mit Virginia Pozzi-Branzanti als Ofelia und dem Dirigenten Eugenio Terziani als Dirigenten. Leider erkrankte Tiberini, und das Debüt an der Scala wurde um zwei Wochen verschoben. Aber das reichte nicht. Der Tenor aus den Marken war vollkommen ohne Stimme und desorientiert. Sein Auftritt war ein komplettes Unglück, viele Noten brachte er überhaupt nicht heraus. Faccio zeigte sich ruhig und gelassen, aber in Wirklichkeit hatte sich Nervosität seiner bemächtigt. Es gab zwar einigen Applaus, aber alles in allem sprach man sofort von einem Fiasko. Es ist wirklich schade, dass man Amleto nicht mehr zu Faccios Lebzeiten aufgeführt hat (er starb fünfzigjährig im Jahre 1891, nachdem er in Irrsinn verfallen war). Eigentlich handelte es sich, wie der Verleger Tito Riccordi bemerkte, um einen Amleto aufgeführt ohne Hamlet, vielleicht war es auch Schicksal, dass man diese Tragödie so schnell vergaß. Aber die große Leidenschaft, die Antonio Smareglia, einer der wichtigsten Schüler von Faccio, für die Partitur hegte, ist doch zu erwähnen, für eine Musik und eine Bearbeitung des Stoffes, die in dieser Epoche für zu ehrgeizig und wenig respektvoll gegenüber Shakespeare gehalten wurden. Aber man kann auch von einem wertvollen und konkreten Zeugnis sprechen, das die „Liederlichkeit“ im 19. Jahrhundert zu schaffen versuchte.  (Übersetzung Ingrid Wanja)  

.

. 

Anthony Barrese: Dirigent, Komponist und Musikwissenschaftler/AB

Anthony Barrese: Dirigent, Komponist und Musikwissenschaftler/AB

Und nun Fragen an Antony Barrese zu Faccios Amleto: Zunächst einmal die übliche Frage: Was hat Sie zu dieser Oper und zu dem Komponisten geführt? Ich selbst bin und war immer fasziniert von diesen compositori minori im überwältigenden Schatten von Verdi – wie Apolloni oder natürlich Gomes, Montèro, Carrer.Wie sind Sie also auf diesen Komponisten aufmerksam geworden?Hamlet ist mein Lieblingsstück von Shakespeare, und das schon seit meinen frühen Teenagerjahren. Als ich anfing, die Welt der Oper zu erforschen, war ich schockiert, als ich feststellte, dass es keine glaubwürdige (meiner Meinung nach) Opernbearbeitung des Themas gab. Und dann hörte ich, dass Boito ein Hamlet-Libretto geschrieben hatte, und dass es nicht nur sein erstes Shakespeare-Libretto war, sondern sein erstes Libretto überhaupt. Ich kam also wegen des Librettos zur Oper und entdeckte dann später die Musik, aber alles wegen meiner Liebe zu Shakespeares Hamlet.

Verdi ist der Eckpfeiler dieser Periode – was unterscheidet Faccio von Verdi? Wie individuell ist seine Musik im Vergleich zu Verdi? Hat er Rossini gekannt (sicher auch G. Tell und all das, wie Verdi)? Wie sehr ist er Donizetti und den Belcanto-Komponisten verpflichtet? Ich höre mir gerade Ihre Musikbeispiele von Amleto auf Ihrer Website an – seine große Arie und Szene – Hamlet als Tenor scheint so seltsam nach Thomas und all dem. Es macht ihn sicher jünger, vielleicht weniger gewichtig und traditioneller?

„Amleto“: Antonio Cotogni als Il Re der Uraufführung/AB

Faccios Musik ähnelt in vielerlei Hinsicht der von Verdi, aber in dem Maße, in dem er einzigartig ist, ist er definitiv mehr auf die orchestralen Farben bedacht. So gibt es zum Beispiel im Vorspiel des 3. Akts vor Ofelias Wahnsinnsszene wunderbare Stellen mit hohen Streichern und Flageoletts (ganz ähnlich wie zu Beginn von Lohengrin). Außerdem verwendet er sehr subtile Techniken wie Beckenschläge ppp, ein Effekt, den man vor dem Verismo nicht oft sieht. Zweifellos kannte Faccio Rossinis und Donizettis Musik. Während Spuren von Rossini nur schwer zu finden sind, wird Donizettis Präsenz in der Wahnsinnsszene von Ofelia deutlich, in der sie von einem Flötenobligato begleitet wird (Anklänge an Lucia di Lammermoor).

Hamlet mit einem Tenor zu besetzen, erscheint mir in der italienischen Tradition sinnvoller, vor allem im mittleren und späten Verdi, wo der Held ein Tenor ist und das Böse eine tiefere, dunklere Stimme hat. In der Tat sind alle Stimmtypen perfekt besetzt. Ofelia ist ein lyrischer Sopran, Geltrude liegt irgendwo zwischen einem Sopran und einem Mezzosopran, was ihr eine dunklere, eher matronenhafte Qualität verleiht. Und der Geist ist ein Basso profundo, was seiner Figur mehr dramatisches und musikalisches Gewicht verleiht.

„Amleto“: Signora Tiberini war die erste Ofelia/DeRenzis/AB

Außerdem entspricht Hamlets Gesangslinie viel mehr den späteren Verismo-Komponisten. Es ist keine besonders hohe Rolle (B ist die höchste Note, die er hat), und es gibt einen Mangel an gehaltenen hohen Noten. Das soll nicht heißen, dass die Gesangslinie nicht ausdrucksstark ist, denn das ist sie, und zwar an sehr wichtigen Stellen. Aber Faccio achtet darauf, die Gesangslinie im Zaum zu halten und sie nur in Momenten höchster musikalischer und dramatischer Bedeutung explodieren zu lassen.

Gibt es Informationen über die Oper „Amleto“? Wurde sie oft aufgeführt? Wann und warum wurde sie nicht mehr gespielt? Amleto wurde 1865 im Teatro Carlo Felice in Genua uraufgeführt. Allem Anschein nach war es ein Erfolg, sowohl beim Publikum als auch bei den Kritikern. Bald nach der Premiere schlossen sich Boito und Faccio Garibaldis Armee an und kämpften für die italienische Einigung. Ihre Reisen brachten sie in engeren Kontakt mit der Musik Beethovens und Wagners (Wagner war in Italien zu dieser Zeit nur durch seine Schriften oder Klavierauszüge bekannt). Die erste Wagner-Oper, die in Italien erklang, Lohengrin, wurde erst 1871 aufgeführt). Dies trug zu den zahlreichen Überarbeitungen bei, die Faccio vornahm. Nach der katastrophalen Premiere von Boitos Mefistofele (La Scala 1868) wussten Faccio und seine Kollegen, dass sie einen Erfolg brauchten, und so wurde für 1871 eine weitere Aufführung von Amleto an der Scala geplant.

„Amleto“: Virginia Pozzi-Branzanti, Ofelia in Mailand/Fondo Antonio Cervi

Die Vorbereitungen verliefen reibungslos, bis in der letzten Woche der Sänger des Amleto (Tiberini) erkrankte und die Premiere um einige Wochen verschoben werden musste. Tiberini erholte sich, doch kurz vor der Premiere erkrankte er erneut. Die Theaterkommission der Scala befand Tiberini für gesund genug, um zu singen, und er machte weiter. Was dann geschah, war eine Katastrophe. Tiberini, immer noch sehr krank, konnte die Rolle nicht singen. Er markierte die Gesangslinie, transponierte Teile davon eine Oktave nach unten und hörte in anderen Abschnitten einfach ganz auf zu singen. Wie Giulio Ricordi sagte: „Hamlet wurde ohne Hamlet aufgeführt“. Es war ein desaströser Abend, und Faccio ließ das Stück nie wieder aufführen. Tatsächlich wurde es seit jenem Abend an der Scala, dem 12. Februar 1871, nicht mehr aufgeführt.

Der einzige Grund dafür, dass es seither nicht mehr aufgeführt wurde, ist, dass außer dem autographen Manuskript des Komponisten kein Material vorhanden war. Entgegen der üblichen Praxis wurde von Ricordi nie ein vollständiger Klavierauszug des Werks angefertigt. Als ich also auf das Material stieß, musste ich es buchstäblich Note für Note aus dem autographen Manuskript der Gesamtpartitur abschreiben. Nachdem ich die Partitur transkribiert hatte, machte ich mich daran, einen Klavierauszug zu erstellen, so dass ich sofort hören konnte, wie die Musik klang.

.Ich denke, der einfachste Grund, warum das Werk seit 1871 nicht mehr aufgeführt wurde, ist, dass 1) Faccio es nie wieder spielen ließ und 2) es nach seinem Tod kein Material (Klavierauszug, Kopien der Gesamtpartitur, Orchesterstimmen usw.) gab, außer dem autographen Manuskript des Komponisten, das nicht für Aufführungszwecke bestimmt ist.

.

„Amleto“: Das Ehepaar Tiberini sang die Uraufführung in Genua/Ipernity

Einige Bemerkungen zur Oper. Struktur, Anordnung der Stimmen und Figuren, musikalische Anmerkungen. Sie sind selbst Komponist (und haben italienische Wurzeln): Worin liegt für Sie der Reiz? Die Struktur des Werks lehnt sich sehr stark an Shakespeare an, ebenso wie die Figuren. Viele Nebenfiguren werden weggelassen (Osric, Rosencrantz und Guildenstern usw.), aber viele der kleinen Figuren werden beibehalten (Spielerkönig und -königin, Lucianus, Totengräber usw.). Wie ich bereits sagte, sind die Stimmen sehr typisch für die italienische Oper des 19. Der Held (oder Anti-Held) Amleto wird von einem Tenor gesungen. Die süße, unschuldige Ofelia – ein Sopran. Die ältere und weise Geltrude wird von einem reicheren, dunkleren Sopran gesungen (im Libretto ein „Mezzosopran“). Der böse König Claudio, ein hoher Verdi-Bariton, und der Spettro, ein Basso rofundo. Auch die kleineren Rollen machen Sinn: sowohl der Totengräber als auch Polonio werden von komischen Bässen gesungen, Hamlets Freunde Orazio und Marcello von Comprimario-Bässen und Laertes von einem Comprimario-Tenor.

.

Einige Bemerkungen zu Faccio? Seine Stellung in Verdis Leben, als Dirigent von Aida und so weiter. Gibt es ein gutes Buch über ihn? Es ist schwierig, Informationen zu finden. Es gibt zwei Bücher über Faccio, beide von Raffaello de Rensis, eines heißt Franco Faccio e Verdi, das andere heißt L’Amleto di Franco Faccio. Beide Bücher enthalten einen Großteil des gleichen Materials. In seiner Jugend war Faccio zusammen mit Boito eine wichtige Figur in der Scapigliatura-Bewegung junger Komponisten, Schriftsteller, Künstler usw., die die italienische Kunst radikalisieren und aus ihren traditionellen Fesseln befreien wollten.

„Amleto“: Marco Tiberini war der Uraufführungssänger/DeRensis/Ipernity

Es gibt nur sehr wenige Werke der Scapigliatura-Kunst, die Einfluss hatten. Vieles davon waren Polemiken und Manifeste. Tatsächlich wurde Amleto als der beste Versuch eines solchen Beispiels angesehen, vor allem nachdem Boitos Mefistofele bei seiner Uraufführung ein solcher Reinfall war. Trotz ihrer antagonistischen Haltung gegenüber Verdi wurden sowohl Faccio als auch Boito später offensichtlich zu großen Bewunderern und Verfechtern von Verdis Musik. Im selben Jahr, in dem Amleto an der Scala ein Desaster war, leitete Faccio die italienische Erstaufführung von Aida an der Scala. Anschließend dirigierte er die Uraufführung von Otello (neben vielen anderen wichtigen italienischen Werken) und wurde sozusagen der erste Musikdirektor der Scala, der maestro scaligero.

.

1871 ist ein spätes Datum für italienische Komponisten im konventionellen Stil, die Veristen stehen an der Schwelle – ich höre in der Musik viel vom zeitgenössischen Idiom von Gomes (Fosca nämlich): War das so oder wie sehr unterscheiden sich diese Komponisten voneinander? Verdi hat eine andere Richtung eingeschlagen, denke ich – aber das führt zu Catalani und Mascagni, oder? Ich denke, es gibt definitiv Nuancen des Verismo in der Musik. Besonders in der Musik von Amleto. Zwischen der Uraufführung 1865 und der Inszenierung an der Scala 1871 gab es viele Änderungen. Am auffälligsten ist dies bei der Arie „Sein oder Nichtsein“ von Amleto, die in der ursprünglichen Fassung viel deklamatorischer war. Wie ein ausgedehntes Rezitativ. Tatsächlich lautete die Kritik an der ursprünglichen Fassung, dass es „zu wenig Melodie“ und „zu viel Rezitativ“ gebe. Eine Kritik, die sich Faccio bei der Überarbeitung zu Herzen nahm. Aber selbst bei einer größeren Überarbeitung, wie der Wahnsinnsszene von Ofelia, behielt er die deklamatorische Qualität in der Vokalmusik bei, erweiterte aber die melodische Gestaltung im Orchester.

Er war ein brillanter Orchestrator und nutzte das Orchester eindeutig, um eine Stimmung zu erzeugen. Zum Beispiel hören wir im 1. Akt, Szene 2 auf dem Schloss von Elsinore, bevor wir Hamlet, Horatio und Marcellus sehen, 4 Solocelli (Schatten von Guillaume Tell und Vorboten des Liebesduetts im 1. Akt von Otello und des Abschnitts im 3. Faccio setzt das Orchester auch sehr wirkungsvoll in der Marcia Funebre im 4. Akt ein, die dem Drama zwischen der Komödie der Totengräber und der Konfrontation zwischen Laertes und Hamlet etwas Luft zum Atmen gibt. Es ist ein faszinierendes Stück, das für sich allein stehen kann, aber auch im Kontext des Dramas funktioniert.

.

„Amleto“: Der junge Franco Faccio zur Zeit der Komposition/DeRensis/Sammlung Heinsen

Meine Ausbildung als Komponist hat mir bei der Aufbereitung dieses Materials in unschätzbarer Weise geholfen. Zum Beispiel waren viele Seiten des autographen Manuskripts verblasst. Aber ich fand heraus, dass, wenn ich den Bass und die Gesangslinie herausfinden konnte, der Rest relativ einfach war, wenn man der Logik der tonalen Harmonie folgte. Wenn ich in der Bratschenstimme nicht erkennen konnte, ob es sich um ein C oder ein B handelte, ich aber wusste, dass der Bass ein Ab war und der Tenor ein Es sang, war die Bratschenstimme höchstwahrscheinlich ein C, weil es die Terz des Akkords war. Solche Dinge wurden auf fast jeder Seite sehr nützlich. Der Reiz, eine italienische Oper aus einer der größten Perioden des italienischen Musikschaffens wieder aufleben zu lassen, und die Aussicht, dass sie möglicherweise eines Tages zum Standardrepertoire gehören wird, ist sehr aufregend.

.

Karikatur Franco Faccios/Sammlung Heinsen

Einige Bemerkungen zur Edition, zur Realisierung, zum Projekt? Ich wurde zum ersten Mal auf eine italienische Hamlet-Oper mit einem Boito-Libretto aufmerksam, als ich im Winter/Frühjahr 2002 zum ersten Mal für die Sarasota Opera arbeitete. Im Jahr 2003 nahm ich Kontakt zu Gabriel Dotto auf, einem in Mailand lebenden Musikwissenschaftler, der früher für den italienischen Verlag Ricordi gearbeitet hatte. Ich hatte gehört, dass viele der Archive während des Krieges zerstört worden waren, und ich war mir nicht sicher, ob Ricordi das Autogramm von Amleto noch hatte. Er antwortete mir: „Wie das Glück (und eine ziemlich heldenhafte Anstrengung der Ricordi-Leitung vor sechzig Jahren) es wollte, wurden keine Autographen des historischen Archivs im Krieg zerstört, da die Sammlung heimlich an einen sicheren Ort gebracht wurde.“ (Obwohl die „Produktionskopien“ von Partituren, Leihbibliotheken usw. bei den Bombenangriffen verloren gingen).

Da Ricordi zu dieser Zeit ein neues Domizil in der Biblioteca Brera im Herzen von Mailand bezog, schickte er meinen Brief an Maria Pia Ferraris, die leitende Archivarin des neu eröffneten Ricordi-Archivs. Es stellte sich heraus, dass Ricordi tatsächlich einen Mikrofilm des Autographs besaß, und als dieser eintraf, begann ich mit der mühsamen Aufgabe, das Manuskript zu transkribieren. Zur gleichen Zeit fand meine Frau eine Kopie (ebenfalls ein Mikrofilm) von Boitos Libretto in der Performing Arts Library in New York. Das Libretto war besonders wichtig, da Faccios Handschrift schwer zu entziffern und die Qualität des autographen Manuskripts schlecht war. Der anerkannte amerikanische Musikwissenschaftler und Verdi-Experte Phillip Gossett war unglaublich großzügig und half mir, die handschriftlichen Eigenheiten der Partitur zu entziffern.

.

Franco Faccio: zeitgenössische Karikatur/Sammlung Heinsen

Wie bereits erwähnt, war die Erstellung des Zusatzes ein mehrjähriges Projekt, das noch nicht abgeschlossen ist. Nachdem ich das autographe Manuskript Note für Note auf Notenpapier transkribiert hatte (ein Prozess, der weit über ein Jahr dauerte), gab ich die gesamte Partitur in ein Notensatzprogramm ein. Danach fertigte ich eine Transkription einer Klavierpartitur an, um sie leichter verwenden zu können, und gab dann die gesamte Klavierpartitur in ein Notensatzprogramm ein. Danach verbrachte ich Jahre damit, Korrekturen vorzunehmen, Fehler zu finden, die beiden verschiedenen Libretti (1865, 1871) zu vergleichen und die Partitur generell zu überarbeiten. Als beschlossen wurde, dass wir das Werk an der Opera Southwest aufführen würden, begann ich mit der Anfertigung der Orchesterstimmen. Die Anfertigung der Orchesterstimmen förderte viele weitere Fehler in der Orchesterpartitur zutage, und das Durchspielen des Stücks am Klavier offenbarte Fehler im Klavierauszug.

Franco Faccio/Karikatur/Sammlung Heinsen

Was die Umsetzung des Stücks angeht, so haben wir 2004 das Trio des dritten Akts an der Sarasota Opera in einem Konzert mit ihren Apprentice Artists aufgeführt (mit Klavierbegleitung), und 2007 habe ich Ofelias Trauermarsch in einem Konzert mit dem Dallas Opera Orchestra dirigiert. Darüber hinaus sind mir keine weiteren öffentlichen Aufführungen dieser Musik in den Vereinigten Staaten bekannt. Unser Projekt im Oktober/November 2014 an der Opera Southwest war die amerikanische Erstaufführung der gesamten Oper. Bevor wir mit den Proben in Albuquerque begannen, haben wir ein Vorabkonzert der gesamten Oper mit der Baltimore Concert Opera in Baltimore Maryland gegeben. Diese Aufführungen haben mit Klavierbegleitung stattgefunden, ohne Inszenierung, ohne Kostüme, ohne Bühnenbild, etc. Nur der Gesang und das Klavier. Bei Opera Southwest haben wir dann 2014 die komplette Oper mit Orchester, Bühnenbild, Kostümen, Licht, Make-up, Inszenierung usw. aufgeführt (Amleto / Alex Richardson; Claudio / Shannon DeVine; Geltrude / Caroline Worra; Ofelia / Abla Hamza; Laerte / Javier Gonzalez; Polonio / Matthew Curran; Lo Spettro / Jeff Beruan; Orazio / Joseph Hubbard; Marcello / Paul Bower) an der Delaware Opera zudem 2016 (Joshua Kohl/ Amleto; Sarah Asmar / Ofelia; Tim Mix / Claudius,; Lara Tillotson / Geltrude; Matthew Vickers / Laertes; Ben Wager / Lo Spettro).
.

.

Büste Faccios in seinem Heimatort Monza/Sammlung Heinsen

Ein paar Worte über den Komponisten: Franco Faccio (8. März 1840, 21. Juli 1891) war ein italienischer Komponist und Dirigent. Der in Verona geborene Faccio wurde als Dirigent der Musik von Verdi bekannt. Er studierte Musik in Mailand und begann nach seinem Abschluss eine Karriere als Komponist. Er schrieb die Opern I profughi Fiamminghi (Mailand, 1863) und Amleto (Genua, 1865), letztere eine der vielen Opern, die auf William Shakespeare’s Hamlet basieren. Beide Opern hatten weder bei den Kritikern noch beim Publikum Erfolg. Die für den Amleto komponierte Marcia Funebre gilt jedoch als ein wichtiges Beispiel für Faccios Lyrik. Seine Popularität wird durch die Transkriptionen für Blasorchester im späten 19. Jahrhundert deutlich. Noch heute kann man diesen Teil der Oper in Korfu während der Osterzeit hören, wenn die Kapelle der Philarmonischen Gesellschaft von Korfu ihn während der Epitaph-Litanei des Heiligen Spyridon am Morgen des Karsamstags aufführt. 1867 wurde Faccio Direktor des Mailänder Konservatoriums und 1872 wurde er zum Direktor des Mailänder Teatro alla Scala ernannt. Faccio dirigierte die Uraufführung von Verdis Otello (1887), in der seine langjährige Geliebte Romilda Pantaleoni als Desdemona, Francesco Tamagno als Otello und Victor Maurel als Jago mitwirkten. Er dirigierte auch die Londoner Erstaufführung von Otello, bei der Tamagno seinen Triumph als Mohr wiederholte. Zuvor hatte er bereits die italienische Erstaufführung von Aida (1872) und die Premiere der überarbeiteten Fassung von Simon Boccanegra (1881) dirigiert. Faccio starb in Monza im Alter von nur 51 Jahren. (Übersetzung G. H.)

.

.

.

Dazu Matthias Käthers Ansicht zu CD und DVD aus Bregenz bei Naxos und C-Major: Faccio war ein wichtiger Verdi-Dirigent, er leitete unter andrem die erste italienische Aida und die Otello-Premiere, und er hätte sicher auch den Falstaff dirigiert, wenn er nicht zwei Jahre vor der Premiere an Krebs gestorben wäre – also ein gewiefter Verdi-Kenner, der sich wie kein anderer mit den Finessen des älteren Maestro auskannte. Und das merkt man seiner Hamlet-Oper auch an, die ganz auf typische Verdi-Kontraste setzt.

Doch ihn einen Epigonen zu nennen wäre ungerecht. Denn das Aufregende an Faccio ist, dass sein Hamlet in groben Zügen die Spätwerke Verdis vorwegnimmt. Vieles ist so radikal in diesem Werk von 1865, dass man es eigentlich in den 1880er oder 90er Jahre verorten würde. In der Tat gehörte Faccio zu einer kleinen wilden Gruppe, die zum Teil das vorwegnahm, was die Veristen um Mascagni und Leoncavallo 25 Jahre später umsetzten. Leider kam diese Gruppe damals mit ihren Ideen viel zu früh und war wenig erfolgreich. Übrigens gehörte auch ein junger begabter Dichter und Komponist dazu, der noch viel von sich reden machen sollte – Arrigo Boito. Und der hat auch das Libretto für diesen Hamlet verfasst. Das ist deswegen spannend, weil Boito später für Verdi auch zwei Shakespeare-Bearbeitungen schreiben sollte, Otello und Falstaff.

Die Hamlet-Premiere in Genua 1865 wurde freundlich aufgenommen, fand aber wegen der Radikalität der Oper keine große Resonanz im restlichen Italien, geschweige denn der Welt.  1871 war an der Mailänder Scala ein Revival geplant. Doch der Hamlet-Sänger war so schrecklich indisponiert, dass er nicht nur schlecht sang, sondern auch verbal überhaupt nicht zu verstehen war. Es gab ein gigantisches Fiasko, und Faccio war so verletzt, dass er nicht nur alle weiteren Aufführungen untersagte, sondern nie wieder eine Oper schrieb. Das Werk blieb vergessen, bis es der Musikwissenschaftler Anthony Barrese vor wenigen Jahren wieder ausgrub – und nach einer kleinen US-amerikanischen Premiere 2014 gab es die vielbewunderte europäische Erstaufführung bei den Bregenzer Festspielen 2016. Genau diese Produktion ist hier mitgeschnitten und verewigt worden. Die Inszenierung von Olivier Tambosi war ein großer Erfolg, und es wurde sogar die Vermutung geäußert, dass diese Oper demnächst eine Repertoireoper werden könnte.

Faccios Oper „Amleto“ in der deutschen Erstaufführung in Chmenitz/ Szene/ Foto Nasser Hashemi (Staatstheater Chemnitz 18 November 2018/ Produktion aus Bregenz 2016; Dirigent Gerrit Prießnitz; Hamlet Gustavo Peña ; Claudius Pierre-Yves Pruvot; Polonius Magnus Piontek; Horatio Ricardo Llamas Márquez; Marcellus Matthias Winter; Laertes Cosmin Ifrim; Ophelia Guibee Yang; Gertrude Katerina Hebelkova; Der Geist / Ein Priester Noé Colín; Der König Gonzago / Ein Herold Tommaso Randazzo; Die Königin Giovanna Ina Yoshikawa; Lucianus / Erster Totengräber André Eckert; Zweiter Totengräber Alexander Jahn; Chor der Oper Chemnitz; Robert-Schumann-Philharmonie

Ich bin da weniger optimistisch. Auch andere visionäre Opern jenseits des Verdi-Kanons wie Boitos Mefistofele oder Catalanis La Wally haben es nicht ins Repertoire geschafft. Hamlet hat schöne Momente – allerdings sind die meisten Einfälle auch nicht besser als die in Ambroise Thomas‘ Shakespeare-Oper, und sollte jemand die (längst fällige) Hamlet-Vertonung von Mercadante reanimieren, müssten wir auch noch über ein zweites Konkurrenzwerk nachdenken. Faccios Hamlet ist ohne Zweifel visionär, und grade als gut inszeniertes Spektakel wirkt das Werk stark. Allein schon wegen Boitos genialer Adaption, die sehr viel vom authentischen Shakespeare rettet, ist es hörenswert. Aber rein musikalisch wird Faccio wohl stets eine Assoziationskette zum Verhängnis, für die er nichts kann. Man fragt sich natürlich: was wäre das wohl für eine tolle Oper geworden, wenn Boito den Text nicht Faccio, sondern Verdi angeboten hätte! Man merkt dann doch, grade an den entscheidenden Stellen: es bleibt oft bei der aufgeregten Geste der großen Oper ohne echte Schöpferkraft, es fehlt manchmal an neuralgischen Stellen der Funke des echten Genies – wie etwa im berühmten Monolog „Sein oder Nichtsein“.

Hier haben wir den seltenen Fall, dass ein Werk nicht so sehr wegen der Interpretation unbefriedigend bliebt, sondern wegen der Musik. Erstaunlich, mit welcher Leidenschaft sich die Beteiligten in die Partien werfen, der Tscheche Pavel Cernoch ein bisschen auf den Spuren von Jose Carreras, aber im positiven Sinne und großem gestalterischen Eigenanteil, Claudio Sgura als schurkischer Baritonkönig voller Emphase und großem Pathos (den es auch braucht), Dsamihla Kaiser als Mutter Gertrude beeindruckend auf dem Weg zur Eboli in Verdis späteren Don Carlos. Die Romänin Iulia Maria Dan schlägt sich mutig mit der schwierigen Rolle der Ophelia herum, meist erfolgreich und stimmschön. Sehr beeindruckend auch die Energie von Paolo Carignani am Pult der Wiener Symphoniker. Hier wurde nichts falsch gemacht, und Verdi-Fans sollten sich das unbedingt anhören. Dennoch bleibt ein wehmütiges Gefühl: da haben wir Verdis Dirigenten und Verdis Librettisten, aber das ergibt leider noch keinen Verdi. Und der wäre vielleicht der Einzige, der aus dem Stück wirklich nicht nur eine schöne Oper, sondern eine Jahrhundert-Sensation gemacht hätte. Matthias Käther

.

Foto oben: Edwin Booth als Hamlet 1860/Wikipedia; Links: http://anthonybarrese.com/biography/     http://anthonybarrese.com/projects/amleto-project/excerpts/ 

.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

.

Raffiniertes Kunstmärchen

 

Fast hundert Jahre nachdem Wagner Die Feen abgeschlossen hatte, legte Alfredo Casella seine ebenfalls auf Carlo Gozzis La donna serpente (Die Frau als Schlange, 1762) basierende Opera fiaba vor. Während Wagners erste Oper mehrere Jahrzehnte auf ihre erste Aufführung warten musste, gelangte Casellas Märchenoper im März 1932 auf die Bühne des Teatro Reale dell’ Opera in Rom, wo sich unter der Leitung des Komponisten und in der Inszenierung von Giovacchino Forzano u.a. Alessio de Paolis und Giovanni Inghilleri der in typischer Gozzi-Manier wie eine russische Matroschka verschachtelten Handlung annahmen. Es ist eine ziemlich unterhaltsame Oper, die zwei Jahre später nach Mannheim gelangte, doch dann selbst auf italienischen Bühnen (1942 an der Scala, 1982 in Palermo) eine ausgesprochene Rarität blieb. Im Rahmen eines „Festival Casella“ erinnerte 2016 das Teatro Regio in Turin unter Verwendung einer zwei Jahre zuvor beim Festival in Martin Franca gezeigten Inszenierung von Arturo Cirillo an die einzige Oper des 1883 in Turin geborenen (und 1947 in Rom gestorbenen) Casella , der wie Alfano, Malipiero, Pizzetti und Respighi der generazione dell’ottanta, also der Generation nach Puccini und den Veristen angehörte, die zumeist auf ältere italienische Musiktraditionen zurückgriffen. Zwar zeigte sich Casella in seiner Jugend von Wagner beeinflusst, aber La donna serpente wirkt in der wendigen Stilvielfalt, den hurtigen Rezitativen, den gewitzten Parlando-Einwürfen und den mehr als fünfzig kurzen Nummern, Minuten-Arien und Duetten, Terzett, Quartett und Quintett wie ein Zwilling von Prokofjews Gozzi-Oper Die Liebe zu den drei Orangen und in den zahlreichen Nummern der als Chorballett konzipierten Oper tatsächlich wie eine neoklassizistische Widerbelebung höfischer Divertissement-Opern.

In der Abkehr von Wagner oder Verdi finden sich in der Wiederbelebung klassischer Formen und Formeln Rossini-Reminiszenzen, aufrüttelnde Strawinsky-Rhythmik, puccineske Melodien für das Liebespaar, elegante Madrigalkunst, dabei farbig und bläserstark brillant instrumentiert, was Gianandrea Noseda und das Orchester des Teatro Regio lustvoll ausspielen, wozu nicht nur die Vorspiele zu jedem Akt, die Märsche, Tänze und Kampfszenen ausreichend Gelegenheit bieten; wie von der Liebe zu den drei Orangen gibt es von der Donna serpente eine Suite, frammenti orchestrali op. 50. Die drei Akte samt Vorspiel lassen trotz aller knalligen Rezitativ-Eile auch schmalen Raum für ernste Seiten und tiefe Gefühle. Das ist mehr als eine Farce. Arturo Cirillo mischt in seiner sehenswerten Inszenierung (Naxos 2.110631 DVD, mit einem informativen englischen Text von Ivan Moody) die Commedia dell’Arte-Aktionen mit stummen Spielern auf, halb Tänzer, halb Akrobaten, mit bloßem Oberkörper und in bunten Pluderhosen, die hier nicht nur neckisches Ornament sind, sondern die instrumentalen Momente, darunter den Traum des Altidòr, poetisch ausleuchten. Mit wehenden Mänteln, Turbanen, gerafften Röcken, Federkleidern, kunstvollem Haarputz und den Fantasiegewändern der Stegreifkomödie (Kostüme von Gianluca Falaschi) wird das sowohl märchenhaft illusionistische wie stilisierte Spiel zu einem raffinierten Kunstmärchen. Das ist durchgehend sehr hübsch anzusehen. Dario Gessatis Ausstattung mit ihren Kreisausschnitten und Halbbögen, den bläulichen Stimmungen und dem blutroten Mond (Licht: Giuseppe Calabrò) ist geschmackvoll, etwas plakativ vielleicht, im wahrsten Sinn des Wortes nicht sehr tief, was vermutlich den szenischen Gegebenheiten der Freilichtbühne beim Festival della Valle d’Itria geschuldet ist.

Es geht um die Menschwerdung der Tochter des Feenkönigs Demogorgón. Miranda hat sich in Altidòr verliebt, den König von Téflis, und ist dafür bereit, ihre Unsterblichkeit aufzugeben. So sei es. Unter einer Bedingung: Miranda darf dem Gatten ihre wahre Identität nicht enthüllen, und dieser darf sie nie verfluchen. Klappt das neun Jahre und einen Tag lang, wird Altidòr Miranda endgültig zur Frau erhalten. Andernfalls wird sie für 200 Jahre in eine Schlange verwandelt. Das wird im 20minütigen Prolog erzählt. Wir erinnern uns, dass Motive aus Gozzis Märchenspiele auch bei der Entstehung von Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten eine Rolle spielten. Die Handlung setzt genau neun Jahre später ein, während der Höflinge und Feen, Ungeheuer, Amazonen, Soldaten, Priester und Ammen mit falschen Vorspiegelungen an den Nerven des Paares zehren. Tatsächlich verflucht der König seine Gattin. Das Lamento der Schlangenfrau und ihr Wechselgesang mit dem Chor, Responsorio, zu Beginn des dritten Aktes gehört zu den umfangreichsten geschlossenen Nummern der Oper, zugleich zu den schönsten. Carmela Remigio, vielleicht etwas hart im gläsernen Feenton, kann in dieser Recitar Cantando-Szene („Vaghe stelle dell’Orsa“) als Miranda ihre stilistische Vielseitigkeit ausspielen und eine eindrucksvolle Figur erschaffen. Wie das für alle Beteiligten gilt, Pierro Prettis heldisch angespitzten, pathetisch schmachtenden König Altidòr, Erika Grimaldis kriegerische Schwester Armilia, Sebastian Catanas Demogorgòn-Bariton und die vielen Buffi wie Francesco Marsiglia als Alditrúf, Marco Filippo Romano als Albrigór, Roberto de Candia als Pantúl, Fabrizio Paesano als Tartagil, dazu Anna Maria Chiuri als Feen-Schwester Canzàde und Kate Fruchterman als Smeraldina. Natürlich können alle Unbill beseitig, alle Nebel gelichtet und alle Prüfungen bestanden und fast ein Meisterwerk bestaunt werden.  Rolf Fath

BAROCKE TRAVESTIE

 

Bei den zahlreichen Einspielungen und Aufnahmen barocker Arien kann sich bei aller Begeisterung manchmal eine gewisse Monotonie einstellen, Arie um Arie, Affekt nach Affekt, Nummer folgt Nummer. Dabei wußte man schon vor 300 Jahren um den Reiz (und die Ökonomie) des Pasticcios, bei der man Opern aus vorhandenem Material so zusammenstellen wollte, daß sich der Eindruck eines Ganzen einstellen sollte. Die Doppel-CD mit dem irreführenden Titel Baroque Gender Stories ist so eine Arienzusammenstellung, die man als Ganzes wahrnimmt, als eine gelungene Kombination barocker Musik unterschiedlichster Herkunft, der man 85 Minuten sehr gerne zuhört. Es gibt Musik und Arien aus Siroe in den Versionen von Johann Adolf Hasse, Baldassare Galuppi, Georg Christoph Wagenseil, Tommaso Traetta und Georg Friedrich Händel, der auch mit Deidamia, Serse und Alcina vertreten ist, Semiramide riconosciuta von Giovanni Battista Lampugnani und Antonio Porpora sowie aus Antonio Vivaldis Orlando furioso und Hasses Achille in Scirro. Mit Mezzosopranistin Vivica Genaux und Countertenor Lawrence Zazzo hat man zwei routinierte Sänger gewählt, bei denen man weiß, was man an ihnen hat. Der gemeinsame Nenner der Arien-Auswahl ist die barocke Travestie, es geht um Figuren, die etwas verbergen oder enthüllen wollen und um Arien mit ambivalenter Situation. In manchen der ausgewählten Opern gibt es Frauenrollen, die sich als Männer verkleiden (z.B. Emire in Siroe, Amastre in Serse, Bradamante in Alcina, Semiramide) sowie den als Frau verkleideten Achill (Deidamia bzw. Achille in Scirro) und manche Rollen wurde im 18. Jahrhundert variabel von einem Mann oder einer Frau gesungen. Genaux und Zazzo singen beide Prima Donna und Primo Uomo, in zwei Duetten übernimmt Genaux die Männerrolle, Zazzo die Frau. Die Travestie in der Barockoper geschah ursprünglich aus Gründen der Sittlichkeit. Daß Kastraten die Bühnen der Barockopern dominierten lag in gewisser Weise daran, daß manche kirchliche Würdenträger singende Frauen als unsittlich empfanden. Außerhalb Roms war das anders und als dann die Kastraten verschwanden, transponierte man für einen Tenor oder Frauen sangen in Hosenrollen. Diese Werke erzählen weder „Gender Stories“ noch geht es um Geschlechterrollen – die Besetzung der Rollen hat nichts damit zu tun, kastrierte Männer sind kein drittes Geschlecht, das Verbergen der wahren Verhältnisse war nur temporär, Verwechslungskomödien und Bühnenwerke, in denen sich Frauen als Männer verkleideten, thematisieren binäre Beziehungen. Als CD-Titel wäre wohl Baroque Travesty zutreffender gewesen. Ob man mit Gender Stories mehr Geld verdienen kann, sei dahin gestellt, wichtiger ist hier die überzeugende Qualität der Konzeption und Interpretation, die diese Aufnahme über den Durchschnitt erhebt und bemerkenswerte Arien kombiniert, bspw. das verweifelte „Rendimi l’idol mio“ Galuppis, Wagenseils leidenschaftliches „Esci, crudel. d’affanno“, Traettas düsteres „Che furia, che mostro“ sowie viele weitere Arien und Duette. Genaux‘ Mezzosopran und Zazzos Alt-Counter ähneln sich in der Stimmfarbe und tragen weiter zur Geschlechterverwirrung bei, wobei es für den situationsbedingten Ausdruck beim Zuhören allerdings kaum interessant ist, ob es sich nun um Hosen- oder Rockrolle handelt. Genaux‘ Stärke bei Ausdruck und Koloratur sowie Zazzos durchdachte Stimmführung harmonieren und Wolfgang Katschner erweist sich hier als idealer Taktgeber, er läßt seine Lautten Compagney Berlin oft extrovertiert bzw. quasi handgreiflich (Lampugnanis „Tu mi disprezzi“) aufspielen. Eine Doppel-CD mit Schwung und Leidenschaft die durch die Zusammenstellung jenseits von Arien- und Affektroutine auftrumpft (2 CDs, harmonia mundi, 19075943092). Marcus Budwitius

Kontrastprogramm

 

Wieder überrascht die katalanische Sopranistin Nuria Rial bei ihrer Stammfirma dhm mit einem Recital der besonderen Art. Nach dem Programm „Muera Cupido“, das auf diesen Seiten besprochen wurde, wartet sie nun mit einer Anthologie, betitelt Mother“, auf, in welcher Arien des Barock mit Arabischen Gesängen kombiniert werden (19075936412). Die Arien stammen aus Werken von Händel und Telemann, beginnend mit Rezitativ und Kavatine aus Händels Kantate  Il pianto di Maria, die eigentlich Giovanni Battista Ferrandini zugeschrieben wird. Die Stimme der Sopranistin entfaltet sich hier mit besonderer Klarheit, Schlichtheit und Gefühlstiefe. Davon profitiert auch die Arie des First Woman aus Salomon, „Can I see my infant gor’d“, welche die ergreifende Bitte einer Mutter beschreibt, die ihr Kind zurückhaben möchte.

In der Arie „Komm, o Schlaf“ aus Telemanns Germanicus will sich Agrippina, die Mutter Caligulas, samt ihrem Schmerz in tiefer Nacht vergraben. Das folgende Duett zwischen Nitocris und Cyrus aus Belshazzar, „Great victor“, das Frieden und Versöhnung verspricht, bietet die Überraschung der CD, denn die renommierte syrische Mezzosopranistin Dima Orsho, der die Arabischen Gesänge anvertraut sind, vereint sich mit Nuria Rial auch in diesem Händel-Duett – allerdings mit befremdlicher Wirkung. Bei den arabischen Titeln, so dem syrischen Lied zum Karfreitag „Wa Habibi“, klingt ihre Stimme angemessen herb und kehlig. Darüber hinaus ist Orsho auch eine bekannte Komponistin. Eigens für diese Veröffentlichung hat sie das dreiteilige Duett „Ishtar – The greater Mother“ komponiert. Besungen wird in den Abschnitten „The Oracle“,The Fertile“ und „The Transcendent“ die Mutter der arabischen Welt, „Göttin aller Göttinnen“ genannt. Reizvoll mischen sich hier traditionelle europäische mit arabischen Instrumenten.

Die beiden Sängerinnen werden begleitet vom Ensemble Musica Alta Ripa unter Danya Segal. Instrumentalstücke wie die Musette aus Händel Il pastor fido, die Ouverture aus Israel in Egypt oder das Tamburino aus Alcina bilden stimmige Überleitungen zu den einzelnen Mutterbildern. Bernd Hoppe

Hochzeitsnacht im Büro

 

Jeder wird fündig in dieser Glyndebourne-Version von Madama Butterfly. Hochbetrieb in Goros Heiratsvermittlung. Die GIs können aus einer großen Zahl von Bildern in den Karteikästen an der Wand wählen. Einer der GIs, die bis 1952 in Japan stationiert waren und laut eines Kriegsbräutegesetzes ihre ausländischen Ehefrauen zu Amerikanerinnen machen durfte, ist B.F. Pinkerton. Bei „Goro’s“ schaut er sich das von einem Filmprojektor auf die kleine Leinwand geworfene Angebot „Yanks Marry Japanese Maids“ ebenso interessiert an wie die Japanerinnen, die sich durch eine solche Heirat und die praktischen Instruktionen („Learning tob e an American Wife“) ihren Traum vom American way of life zu erfüllen hoffen. „America for ever“: da grüßt die Freiheitsstatue.

Die alten schwarz-weiß Filme (Video Design: Ian William Galloway), die auch dem Liebesduett jede Sentimentalität rauben, gehören zu den gelungensten Momenten der Inszenierung. Mit allen Uneben- und Tumbheiten, die sich aus der Verlegung der Handlung in Goros Heiratsvermittlung ergeben, der gegenüber sich neben dem Tattoo-Studio praktischerweise ein Hotel befindet, erzählt Annilese Miskimmon Puccinis Japanische Tragödie in Glyndebourne, wo ihre 2016 on tour ausprobierte Inszenierung 2018 die Erstaufführung des Werks beim Festival markierte. Die Aufnahme (Opus Arte Bluray OA 807166) entstand am 21. Juni. Dabei bleibt Miskimmons Inszenierung, für die Nicky Shaw das japanische Büro mit allen historischen Büroutensilien ausstattete, reichlich hergebracht, wenngleich die irische Regisseurin zeigt, dass es sich nicht um ein Einzelschicksal handelte, wodurch der im dritten Akt von seinen Gefühlen übermannte Pinkerton nicht ganz als der skrupellose unsympathische Draufgänger erscheint. Er macht’s wie alle. Letztlich ein Geschäft mit Vorteil für beide Seiten, erhielten die ausländischen Ehefrauen der GIs doch durch den Bund die begehrte amerikanische Staatsbürgerschaft. Doch Pinkerton hat gar nicht die Absicht, seine Braut mitzunehmen, obwohl er ihr vor der unromantischen Hochzeitsnacht im Büro ein hübsches Kostüm schenkt. Also richtet sich Butterfly richtet sich in ein amerikanisches Puppenhaus ein.

Bereits 1983 hatte Ken Russel eine ähnlich amerikakritische Auffassung in seiner in den späten 1930er Jahren kurz vor Pearl Harbor spielenden und mit der Atombombe auf Nagasaki endenden Inszenierung geteilt, wobei seine theatralisch ungleich spannendere und krassere Umsetzung nicht die gebührende Aufmerksamkeit fand, da sie am Rand des Opernlebens beim Spoleto Festival in Amerika und Italien gezeigt wurde. Glyndebourne hat dafür die besseren Sänger. In der Titelrolle setzt Olga Busuioc in die Fußstapfen ihrer moldawischen Landmännin Biesu, die in den 1960er Jahren einen Preis als beste Cio-Cio-San errang. Busuioc ist im ersten Akt stimmlich noch ein bisschen flach, singt aber dann aber mit Beginn des zweiten Aktes mit großer Leidenschaft, Emphase, auch Brillanz, etwas spitz und scharf in „Un bel di vedremo“, doch üppig in „Trionfa il mio amor“ und mit zunehmender emotionaler Hingabe und Pathos, die rühren. Das ist Busuiocs Show. Joshua Guerreros Pinkerton sieht auf die Ferne ein bisschen aus wie Travolta, er singt mit Druck und Geradlinigkeit, gleicht fehlende Süße und spezifisches Timbre durch sensible Töne und gesteuerte Leidenschaft aus und punktet durch die Inbrunst, mit er vom „Fiorito asil“ Abschied nimmt. Vielleicht kommt im Duett auch noch keine richtige Stimmung auf, da sich Goro im Hintergrund herumtreibt und Geldscheine zählt,

Der Bassbariton Michael Sumuel scheint als Sharples nicht richtig besetzt, dafür ist die amerikanische Mezzosopranistin Elizabeth DeShong eine stimmlich geradezu luxuriöse, sehr fein klingende und behutsame Suzuki, und Carlo Bosi gibt dem Goro eine herrlich feiste Fratze. Omer Meir Wellber hält das streng klingende London Philharmonic Orchestra an den gefährlichen Stellen zurück, steuert aber bei den Bildern von einer Schiffsüberfahrt zu Beginn des zweiten Aktes Puccinis Melos pathetisch aus, verleiht dem Summchor eine schöne Melancholie und gibt der Musik ansonsten eine nüchterne Dringlichkeit.

Im zweiten Akt hat Cio-Cio-San den amerikanischen Lebensstil völlig angenommen, trägt offenbar ihr Hochzeitsgeschenk, ein türkisfarbenes Kostüm, und schminkt sich wie eine amerikanische Hausfrau. Überhaupt ist im Häuschen, dessen Rückseite wie eine Schwibbogen-Sägearbeit aussieht, alles in bester amerikanischer 50er Jahre Nüchternheit eingerichtet. Einschließlich der amerikanischen Flagge. Nur beim garstigen Goro fährt die sittsame Hausfrau aus der Haut und attackiert ihn mit ihren Absätzen. Wie ein Operetten-Husar wirkt Simon Mechlinskis unterbesetzter Yamadori, reizend ist der kleine Rupert Wade als Sorrow, im Kostüm mit Hütchen und Handtasche – allerdings in rot – wie eine Doppelgängerin Cio-Cio-Sans erscheint die toughe Kate von Ida Ränzlov. Aber Miskimmon schärft die Tragödie nicht weiter zu, setzt in den gesofteten Farben auf der Bühne die Ästhetik ähnlich gearteter Film-Melodramen fort.  Rolf Fath

Von der Kunst der scheinbaren Leichtigkeit

 

Nur absoluten Fans wird die große Elisabeth Schwarzkopf auch als Operettensängerin in Erinnerung sein, gilt sie doch als die Liedersängerin ihrer Generation und darüber hinaus als Mozart- und Strauss-Interpretin par excellence. Aber die herrlichsten und verführerischsten Operetteneinspielungen, komplett und einzeln-arig, sind unter den frühen Aufnahmen der Sängerin zu finden, namentlich unter Otto Ackermann in den Fünfzigern in London mit einem vom Ehemann Legge handverlesenen Ensemble. Dazu kam die die Fledermaus unter Herbert von Karajan 1955. Neben der wunderbaren und hochsuggestiven Einzel-Arien-Operetten-LP/CD mit solchen Perlen wie Giuditta, Der Vogelhändler, Die Dubarry, Casanova u. a. (von 1959, alle Columbia) sind es die Gesamtaufnahmen der Fünfziger, Der Zigeunerbaron, Die Lustige Witwe (I)Das Land des Lächeln, Die Fledermaus  sowie Eine Nacht in Venedig (ach dies köstliche „Frutti di mare..“), auf denen das ganze Talent des unerreicht Scheinbaren sichtbar wird (Die Lustige Witwe von 1963 unter Lovro von Matacic ist da schon recht reif und nicht mehr so spielerisch, man nimmt mehr an der harten Arbeit teil).

Das DELBARRE Abendkleid von Elisabeth Schwarzkopf: Abend- oder Ballkleid aus gelber Moiré-Seide, ca. 1897. Londoner Label: (Frau) „Delbarre, Elizabeth Street, 73. Eaton Square“, ca. 1897; getragen von Elisabeth Schwarzkopf, abgebildet in „The Woman in Fashion“, 1949 von Doris Langley-Levy Moore,  bei Batsford; 1St Edition edition (1949);  LXXI und LXXII, Seite 132 / in Antique Gown/ s. auch  Amazon; Joseph A. Admire schreibt: The hook for this long-out-of-print book is that the vintage fashions, mainly from the 19th century, are modelled by the British celebrities of the day. Thus, you get luminaries such as Vivien Leigh and a young Vanessa Redgrave dressed in the height of Regency, Victorian, Edwardian and flapper costumery. Numerous high-quality full-page photos in B&W (photographed by Felix Fonteyn, husband of Margot Fonteyn, who also appears as one of the models). Every outfit is accompanied by a page-length discussion. Highly recommended as a fashion and classic-film collectible!

Kunst ist Können und nicht Realität – die Schwarzkopf macht uns glauben, sie sei diejenige selbst, deren Arien und Couplets sie singt. In diesem Moment ist sie die fremde Rolle, die mit ihr als reale Person herzlich wenig zu tun hat. Sie verfügt über das Geheimnis, uns eine lebendige Gestalt vorzustellen, die in diesem Moment der Präsentation (und die war ganz sicher keine spontane, sondern hart erarbeitete) uns völlig überzeugt und gefangen nimmt. Sicher, mancher würde andere vorziehen – ich z. B. Sena Jurinac als Saffi, die erdiger und „realer“ scheint. Und der Schwarzkopf wird immer wieder ihre „Manier“ vorgeworfen, eine gewisse „Zickigkeit“ – was blanker Unsinn ist, denn die künstlerischen Ausdrucksmittel eben dieser Sängerin führen zu eben diesem, für mich wie für viele, überzeugenden Ergebnis. Das gilt auch für andere operettennahen Rollen wie ihre hochpersönliche Arabella und selbst für die recht späte und nur durch die Absage von Maria Callas zustande gekommene Giulietta (Les Contes d’Hoffmann  von 1965 unter Cluytens), die noch einmal (und auch da für mich unerreicht) von ihrer großen Kunst der scheinbaren Sinnlichkeit profitiert.

Nachstehend haben wir – apropos Offenbach und sein Jubiläumsjahr 2019 (gewiss ein etwas angestrengtes á propos) – ein Gespräch „ausgegraben“, das Schwarzkopf-Kenner Thomas Voigt mit ihr zum Thema Operette geführt hat und das im März 1995 in der Opernwelt erschien. Es gibt noch einmal die immense Einsicht dieser großen Sängerin in ihre Kunst wider. Danke Thomas für den Text!

 

Elisabeth Schwarzkopf: die Operetten-LP bei Columbia

Frau Schwarzkopf, Sie haben einmal gesagt: Eine Operette gut aufzuführen, ist beinahe noch schwieriger als eine Mozart-Oper. Was macht denn das Leichte so schwer? Operette verlangt viel mehr Improvisation. Das heißt, dem Zuhörer soll alles improvisiert erscheinen, aber es darf natürlich niemals improvisiert sein. Und dazu braucht man vor allem einen erstklassigen Dirigenten, der dem Sänger Freiheiten läßt, der diese Rubato-Kunst, dieses „give-and-take“ beherrscht. Einer, der das fabelhaft gekonnt hat, war Otto Ackermann, mit dem wir den Großteil unserer Operetten-Aufnahmen gemacht haben. Wir Sänger durften uns Freiheiten herausnehmen, mußten aber immer im Rahmen bleiben. Und das ist halt die große Kunst: genau zu wissen, wie weit die Freiheit gehen darf.

 

Diese Aufnahmen, die ihr Mann Walter Legge in den 50er und 60er Jahren produziert hat, gelten nach wie vor als Maßstab. Es sind überaus feinsinnige, kunstvolle Interpretationen – vielleicht sogar Verfeinerungen der Stücke. Nein, nein, diese Qualität steckt schon in den Stücken; es steht alles da, man muß es nur herauslesen. Und selbstverständlich haben wir Operette mit derselben Sorgfalt – auch mit derselben Technik – gesungen, mit der wir Mozart und Strauss gesungen haben. Jedenfalls haben wir uns bemüht, unsere Partien mit der größtmöglichen vokalen Eleganz abzuliefern. Das können Sie auch in den sogenannten Buffopartien hören, die sonst oft in den Sprechgesang abrutschen. Das hat bei uns der Erich Kunz gesungen, und er hatte nun wirklich eine bildschöne, sinnliche Stimme.

 

Also könnte jeder gute Mozartsänger auch mit Erfolg Operette singen? Oder braucht man nicht doch „das gewisse Etwas“? Natürlich muss der Witz, die Ironie und all das, was zwischen den Noten steht, dauernd anklingen. Das war ja bei den Aufnahmen unser Bestreben: An Ausdruck hörbar zu machen, was man sonst eher nur im Gesicht und in der Gestik sehen würde – so dass man die Figuren vor Augen hat, wenn man sie nur hört. Eine klangliche Dramaturgie vor dem Mikrophon, das war das ZieI. Und das heißt nicht, dass da etwa eine Stimme zurechtfrisiert wurde. Mein Mann wollte immer, dass jede Stimme so klingt, wie sie live in einem Haus mit sehr guter Akustik gehört wird. Und da können Sie zum Beispiel auf den Aufnahmen hören, dass meine Stimme gar nicht riesig war.

 

Elisabeth Schwarzkopf: LP-Ausgabe des „Land des Lächelns“/ Columbia

Hätten Sie die Rosalinde oder die Lisa in Lehárs Land des Lächelns denn auch live singen können – und wollen? Die Rosalinde hätte ich schon gerne auf der Bühne gesungen, mit einem Dirigenten, der die Möglichkeiten meiner Stimme hätte einschätzen und das Orchester durchsichtig machen können. Da kommt es eben darauf an, daß der Dirigent weiß, bei welchen Stellen und in welcher Lage der Sänger Gefahr läuft, vom Orchester zugedeckt zu werden.

 

Braucht man für die Lisa nicht fast schon eine Tosca-Stimme? Nicht ganz. Man kann sie schon mit einer schlanken, biegsamen Stimme singen. Viele große Operetten-Sängerinnen haben ja in der Oper das Repertoire von der Susanna bis zur Gräfin gesungen haben. Nehmen Sie zum Beispiel Esther Rethy, die eine wundervolle Sophie im Rosenkavalier war und die später dann das große Operetten-Fach gesungen hat.

 

Lehárs erste Lisa war Vera Schwarz, die unter anderem eine Lady Macbeth singen konnte. Und sie konnte auch Mozart singen. Aber das ist eine große Ausnahme. Und ich glaube, dass es nicht so sehr auf die Größe der Stimme ankommt wie auf den Umfang. Denken Sie zum Beispiel an den Csárdás der Rosalinde. Da gibt es wohl kaum eine Sängerin, die sich nicht davor fürchtet – weil man außer der Höhe auch eine grundsolide Mittellage und eine klingende Tiefe braucht.

 

Elisabeth Schwarzkopf: „Eine Nacht in Venedig“/ Columbia-LP

Haben Sie überhaupt jemals Operetten auf der Bühne gesungen? Nur in meinen Anfängerjahren in Berlin. Da war zum Beispiel die Arsena im Zigeunerbaron, wo ich als Einlage den Frühlingsstimmenwalzer singen durfte. Und ich glaube, ich habe auch einmal die Adele gesungen.

 

Spaß ist für Sie ein Reizwort. Aber gehört nicht die Freude, die Lust am Singen bei der Operette einfach dazu? Nein, die Freude kommt immer erst hinterher, wenn es einem gelungen ist, dem Stück gerecht zu werden. Ich habe nur ein einziges Mal in meinem Leben mit Freude gesungen, und das in Così fan tutte unter Josef Krips in Chicago. Selbstverständlich müssen Sie die Freude, die Lust, das Lachen und das Lächeln in die Stimme legen können – aber das ist etwas ganz anderes. Die Lust am Singen ist eher den Italienern, den Spaniern und den Slawen gegeben – aber nicht uns Nordeuropäern. Und das kommt sicher von der Sprache her.

 

Ihre Operetten-Aufnahmen haben im Ausdruck. vor allem eines: Ironische Distanz. Diesen etwas süffisanten, raffinierten, ironischen Ton, den man für die Operette unbedingt mitbringen muß, hatte ich auf Platten von Fritzi Massary und Yvette Guilbert gehört.

 

Elisabeth Schwarzkopf: auf mehreren Schellacks der Querschnitt vom „Wiener Blut“ mit Rupert Glawitsch und den Kräften des Deutschen Opernhauses Berlin unter Walter Lutze bei Telefunken

Die aber in Stimme und Ausdruck. ganz anders waren: chansonhaft, fast kabarettistisch. Natürlich haben Sänger dieser Generation ihre Stimme anders eingesetzt, als wir sie dann später eingesetzt haben, aber sie hatten eine grundlegende Stimmschulung. Was ja auch notwendig war, denn sie haften ja täglich auf der Bühne zu singen – und ohne Mikrophone, wohlgemerkt. Und natürlich auch ohne klammheimliche Verstärkung seitens der Tontechnik, wie es heute in manchen Opernhäusern fast schon an der Tagesordnung ist – ein Betrug am Publikum, für den ich keine Worte finde. Das ist ein Verlust an Integrität, wie er schlimmer nicht sein kann.

 

Was sind, außer der Improvisationskunst, für Sie die Kriterien für eine gute Operetten-Aufführung?  Ein Schlüsselbegriff ist sicher „Geschmack“ – leider ein Wort, das aus dem heutigen Sprachgebrauch fast verschwunden ist. Dazu könnte man einiges sagen. Doch auf Regisseure und Inszenierungen will ich in diesem Zusammenhang lieber nicht zu sprechen kommen. Wenn Sie Glück haben, werden Sie für eine Operetten-Produktion schon noch einen großen Dirigenten und auch geeignete Sänger finden; aber in erster Linie brauchen Sie einen großen Regisseur, der das Können hat – und eben Geschmack. Wie zum Beispiel Giorgio Strehler. Von dieser Qualität müßten Operetten-Inszenierungen sein.

 

Elisabeth Schwarzkopf: die späte „Lustige Witwe“ von 1963 bei EMI, vom Coverfoto oben ein Ausschnitt

Nun läßt sich nicht immer alles so dezent und diskret zeigen. Nehmen Sie den zweiten Akt der Fledermaus: Müßte da nicht ein Regisseur etwas deutlicher werden, indem er zeigt, was da mit den braven Bürgern passiert? Ach, so viel passiert auf dem Ball ja gar nicht. Natürlich ist da die große Verbrüderung am Schluß – aber da spricht eben die Musik die Hauptsprache, und in der Musik ist wirklich nichts Obszönes drin.

 

Und. was ist mit Zweideutigkeiten wie in Fritzi Massarys Aufnahme von „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“? Da besteht der Reiz gerade in der Andeutung. Und das ist für mich fast das Hauptkriterium für eine gute Operetten-Aufführung: Andeuten – und nicht mit dem Holzhammer arbeiten. Da kann ich nur mit Hofmannsthal sagen: „Und in dem wie, da liegt der ganze Unterschied.“

 

(aus: Opernwelt, März 1995; mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion Opernwelt)

Überwältigendes

 

Nobel geht die Welt zugrunde! Dieses Zitat des russisch-ukrainischen Schriftstellers Nikolai Gogol mag auf den ersten Blick nicht unpassend erscheinen für die neue Luxusausgabe, welche das Eigenlabel der Berliner Philharmoniker vorlegt: Mit der 22 hybride SACDs umfassenden Hardcover-Edition Wilhelm Furtwängler: The Radio Recordings 1939-1945 ehrt das führende Orchester Deutschlands seinen vermutlich bedeutendsten Chefdirigenten und beschränkt sich gleichzeitig doch bis auf eine einzige Ausnahme auf die berühmten Kriegsaufnahmen, die unter Kennern oft als seine allerbesten angesehen werden. Um es gleich vorwegzunehmen: Wirklich Neues wird man hier gleichwohl nicht vorfinden. Furtwängler-Fans kennen die hier vorgelegten sämtlichen Rundfunkmitschnitte der Kriegsjahre seit geraumer Zeit in unterschiedlichen Ausgaben und Klangqualitäten. Also lediglich alter Wein in neuen Schläuchen? Nicht ganz!

Zunächst aber noch einige grundsätzliche Ausführungen. Enthalten sind 42 Werke in Produktionen der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG), wobei die Jahre 1942 bis 1945 eindeutig den Schwerpunkt bilden, nämlich 21 der 22 SACDs ausmachen. Auf der ersten CD sind die einzig auf Schellack erhaltenen Konzerte vom 19. Jänner 1939 – und somit die einzige Vorkriegseinspielung (Furtwänglers eigenes Klavierkonzert mit Edwin Fischer) –sowie vom 13. September 1939 – also kurz nach Kriegsbeginn (Händels Concerto grosso Nr. 5 sowie Beethovens fünfte Sinfonie) – enthalten. Bereits hier zeigt sich ein Charakteristikum der Edition, haben sich doch nicht alle seinerzeit im Konzert aufgeführten Werke als Tonaufnahme erhalten. So ist die im erstgenannten Konzert ebenfalls dargebotene erste Sinfonie von Beethoven genauso verschollen wie etwa drei Minuten im Finalsatz der fünften Sinfonie im letzteren. Bei den übrigen enthaltenen Aufnahmen handelt es sich durchgehend um Tonbandproduktionen. Bereits auf dieser ersten SACD zeigt sich der Gewinn durch die Neuausgabe, ist die bisher klanglich doch nur arg desolat überlieferte Einspielung hier doch erstmals trotz aller Einschränkungen halbwegs genießbar dokumentiert.

Die Tonband-Aufnahmen sind den bekannten Überspielungen klanglich per se überlegen. Im Allgemeinen ist das Klangbild räumlicher (beinahe pseudo-stereophonisiert) und natürlicher als in den bislang landläufig bekannten offiziellen Ausgaben der Deutschen Grammophon Gesellschaft und von Melodija. Letzteres Label legte viele der Jahrzehnte lang verloren geglaubten Furtwängler-Aufnahmen, die in die Sowjetunion verschleppt worden waren, erstmals vor. Doch auch gegenüber ambitionierten neueren Ausgaben von Labels wie Tahra oder der Société Wilhelm Furtwängler können diese Neuauflagen punkten. Störgeräusche wurden behutsam gefiltert, was in den meisten Fällen durchaus als gelungen bezeichnet werden darf; nur ab und an wäre weniger vielleicht mehr gewesen, da sich besonders an den leisen Stellen gewisse Klangartefakte der entfernten Publikumsgeräusche erhalten haben. Dies mindert den grundsätzlichen Wert dieser Vorgehensweise allerdings nur marginal.

Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Archiv Berliner Philharmoniker

Das hochinformative, nicht weniger als 184 Seiten umfassende Begleitbuch (welches wirklich die Bezeichnung Buch verdient) listet zunächst sämtliche hier berücksichtigten Konzerte minutiös auf und spart, grau unterlegt, auch die als Toneinspielung verschollenen Werke der Programme nicht aus. Diese Akribie ist absolut begrüßenswert und hebt sich wohltuend ab von einer gewissen Schludrigkeit, wie sie bei neueren Editionen der letzten Zeit häufiger zu beobachten war. Überhaupt macht diese luxuriöse Box einiges her und rechtfertigt damit letztlich auch den hohen Anschaffungspreis, bei dem umgerechnet gut zehn Euro pro SACD aufgewendet werden müssen. Insofern versucht sich das Eigenlabel der Berliner Philharmoniker bewusst von den ramschartig auf den Markt geworfenen Mammutboxen der Majors abzuheben. Klasse statt Masse. Dies gilt auch für die Spielzeiten der SACDs, die durchschnittlich nur etwa 50 Minuten Musik enthalten, dabei aber die Geschlossenheit und den Zusammenhang der einstigen Konzertprogramme wahren.

Zur künstlerischen Qualität der hier enthaltenen Aufnahmen muss im Grunde genommen nicht mehr allzu viel gesagt werden. Sie zu preisen, hieße Eulen nach Athen tragen. Auf der zweiten SACD ist ein reines Richard-Strauss-Programm enthalten mit den Vier Liedern mit Orchesterbegleitung (Solist: Peter Anders) und dem Don Juan. Auf SACD 3 hat man eine bislang vornehmlich in der Filmfassung bekannte Darbietung des Meistersinger-Vorspiels vor versammelten Arbeitern der AEG-Fabrik in Berlin vom 26. Februar 1942 berücksichtigt. Den Rest des Programms machen Schumanns Klavierkonzert (mit Walter Gieseking) sowie Beethovens Siebente aus, wobei hier unsicher ist, ob letztere ebenfalls auf den März 1942 datiert werden kann oder nicht doch eher vom Oktober/November 1943 stammt. Diese Unklarheiten verdeutlichen die schwierige Quellenlage, deren Aufarbeitung trotz intensiver Bemühungen nach wie vor an ihre Grenzen stößt. Dem Furtwängler’schen Feuerwerk tut dies freilich keinen Abbruch, sind gerade diese Tondokumente der fürchterlichen letzten Kriegsjahre doch in ihrer existenziellen Eindringlichkeit niemals überboten worden, nicht einmal vom Maestro selbst. Die meisten Mitschnitte stammen aus der bei Kriegsende leider völlig zerstörten Alten Philharmonie in Berlin, die im Booklet großartig in Farbe rekonstruiert wurde und einen vagen Eindruck ihrer einstigen Pracht vermittelt. Dort wurde auch die vielleicht berühmteste Furtwängler-Aufnahme überhaupt eingespielt: Beethovens Neunte vom März 1942 mit dem Solistenquartett Tilla Briem, Elisabeth Höngen, Peter Anders und Rudolf Watzke sowie dem Bruno Kittelschen Chor, der wenig später im selben Jahr 1942 in Deutscher Philharmonischer Chor umbenannt wurde. Die Unerbittlichkeit der Darbietung macht dieses Tondokument zum Zeitdokument ersten Ranges, mutet der Beethoven-Schiller’sche Humanismus doch kurz nach der berüchtigten Wannseekonferenz geradezu grotesk an. Eine zuweilen schwer erträgliche Angelegenheit, die nur wohldosiert konsumiert werden will, die dafür aber umso nachhaltiger wirkt. Quelle ist nach wie vor die Kopie des Moskauer Rundfunks aus dem Konvolut Russland des Reichsrundfunk-Originals, welches bis zum heutigen Tage nicht wiederaufgetaucht ist. Gleichwohl hat man hier klanglich das Menschenmögliche herausgeholt und den künstlich hinzugefügten Hall reduziert.

Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker in der Alten Philharmonie Berlin/ Foto Rudolf Kessler/ Archiv Berliner Philharmoniker

Es ist in jedem Fall unendlich schade, wieviel an Ton-Aufnahmen der RRG aus dieser Zeit vermutlich unwiederbringlich verlorenging. Von den etwa 250 zwischen 1942 und 1945 produzierten Stereo-Aufnahmen (!) haben sich nur einige wenige erhalten, darunter das fünfte Beethoven‘sche Klavierkonzert mit Walter Gieseking, allerdings nicht unter Furtwänglers Stabführung und daher hier nicht berücksichtigt. Wie der Begleitband ausführt, ist es sicher bezeugt, dass die RRG bei den letzten Bayreuther „Kriegsfestspielen“ von 1944 eine komplette Aufführung der Meistersinger von Nürnberg unter Furtwängler per Übertragungswagen stereophon aufzeichnete. Auch diese Bänder sind verschollen. Dieses Malheur kann getrost zu den größten Unglücksfällen in der Geschichte der Tonaufzeichnung gezählt werden.

Zu den besonders hervorzuhebenden Aufnahmen dieser Box muss selbstredend auch die legendäre Interpretation der fünften Sinfonie von Bruckner gerechnet werden, welche im Oktober 1942 in der Philharmonie mitgeschnitten wurde. Wie sehr sich diese völlig säkularisierte Darbietung dieser Klangkathedrale doch vom weihrauchgetränkten Bruckner-Bild unterscheidet, das seinerzeit eigentlich dominierte. Auch Furtwänglers eigene, ein knappes Jahrzehnt später entstandene Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern wirkt im direkten Vergleich geradezu handzahm.

Dass sich Furtwängler auch für zeitgenössische Komponisten einsetzte, belegt unter anderem die Einspielung der zweiten Sinfonie von Ernst Pepping (November 1943) und des Hymnischen Konzerts für Orchester und Orgel mit Sopran- und Tenorsolo des heute praktisch vergessenen Heinz Schubert (Dezember 1942). Mit Erna Berger und Walther Ludwig standen – wie seinerzeit üblich – hochkarätige Solisten zur Verfügung. Ungewohnt auch Furtwänglers Beschäftigung mit der Musik des nordischen Komponisten Jean Sibelius, die immerhin in einigen Tonaufnahmen mündete. Der inkludierte Konzertmitschnitt vom Februar 1943 überliefert der Nachwelt eine der packendsten Aufnahmen der Tondichtung En saga sowie des Violinkonzerts (Solist: Georg Kulenkampff). Gerne hätte man den großen Furtwängler auch zumindest bei der zweiten Sinfonie des Finnen erlebt, die er augenscheinlich aber niemals einstudiert hat. Dominant freilich trotz allem Ludwig van Beethoven, dessen Werke unter Furtwänglers Stabführung besonders gut dokumentiert sind. Zu den schon genannten Aufnahmen gesellen sich noch die vierte Sinfonie (zweifach: einmal ohne, einmal mit Publikum), eine weitere Einspielung der fünften Sinfonie (diesmal vollständig), die Pastorale, die Coriolan-Ouvertüre sowie das vierte Klavierkonzert (mit Conrad Hansen).

Trotz aller Bemühungen: Der Kopfsatz der einzigen Furtwängler-Aufnahme der sechsten Sinfonie von Bruckner (November 1943) bleibt auch hier verschollen. Hiervon ebenfalls stark betroffen das Schumann-Violinkonzert (Solist: Pierre Fournier) aus demselben Mitschnitt, das einzig im Finalsatz komplett erhalten ist. Das Nämliche gilt für Furtwänglers letztes Konzert mit den Berliner Philharmonikern vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, welches am 22./23. Jänner 1945 im Berliner Admiralspalast stattfand. Einzig der Schlusssatz der ersten Brahms-Sinfonie hat sich hiervon erhalten. Auch hier gilt: Besser hat Furtwängler das wohl nie dirigiert.

Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker: die im Krieg zerstörte Philharmonie/ Archiv Berliner Philharmoniker

Zu den bedeutendsten daneben enthaltenen Ton-Dokumenten müssen auf jeden Fall die Unvollendete (Dezember 1944) und die Große C-Dur (Dezember 1942) von Schubert, die vierte Sinfonie von Brahms (Dezember 1943), die neunte Sinfonie von Bruckner (Oktober 1944) sowie das zweite Klavierkonzert von Brahms mit Edwin Fischer (November 1942) wie auch Adrian Aeschbacher (Dezember 1943) gerechnet werden. Zu Vergleichszwecken lässt sich auch Mozarts Sinfonie Nr. 39 Es-Dur KV 543 – die dem Dirigenten offenbar nahegehendste Mozart-Sinfonie –, die doppelt berücksichtigt werden konnte (1942 oder 1943 und Februar 1944), heranziehen.

Ein informatives, gut 13-minütiges, von Gert Fischer geführtes Interview mit dem Tonmeister Friedrich Schnapp aus den 1970er Jahren rundet die Edition schließlich ab. Summa summarum kann für diese Prunkausgabe nur die Höchstnote vergeben werden, da sie in allen Belangen vorzüglich abschneidet und eine spürbare Verbesserung gegenüber im Grunde genommen allen bisherigen Ausgaben bringt, was den hohen Preis erklärt und letztlich auch rechtfertigt. Ein wenig Dekadenz darf also sein. Daniel Hauser

Dank an Stefan Stahnke für die Bereitstellung der Fotos aus dem Archiv der Berliner Philharmoniker; Foto oben: Wilhelm Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker.