Klagen über den Genozid

 

 

 Ob Ian Krouse dereinst auch in Armenien auf einem Schlachtengemälde verewigt oder in anderer Form geehrt wird? Wie Franz Werfel, dem 2006 in Wien posthum die armenische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, weil er, wie ein armenischer Priester in den USA von der Kanzel predigte, der Nation eine Seele gegeben hatte. Mit seinem Roman über die 40 Tage des Musa Dagh, der den Überlebenskampf der Armenier während der Verfolgung durch das Osmanische Reich in den Jahren 1915-17 feiert, lieferte Werfel das literarische Nationaldenkmal Armeniens. Jedes Jahr kommt eine Viertelmillion Menschen auf den Hügel über Eriwan zum Genozid-Museum und der ewigen Flamme inmitten mächtiger Stelen, um an das Massaker zu erinnern und der Opfer zu gedenken. Anlässlich der 100. Wiederkehr des Völkermords gelangte als Auftragswerk der armenischen Gemeinde in der Diaspora in Los Angeles das Armenian Requiem des 1956 geborenen, vornehmlich durch seine Kompositionen für Gitarren-Quartett bekannt gewordenen Ian Krouse zur Uraufführung. Im Beiheft schildert der Dirigent und Musikologe Vatsche Barsoumian die Erstehung des zweiteiligen, 95minütigen Werkes, das auf keine entsprechende Tradition in der geistlichen armenischen Musik aufbauen kann und sich an die Struktur von Brittens War Requiem anlehnt. Er verweist auf die von ihm besorgte Auswahl und Bedeutung der insgesamt 15 Texte, darunter am Anfang und am Ende, im Prelude und Postlude, die Stimme der Opfer in Form zweier Gedichte der 1915 ums Leben gekommenen Atom Jartschanjan, bekannt unter seinem Pseudonym Siamanto, und Daniel Varoujan; außerdem Texte aus dem zehnten und elften Jahrhundert, die in den sechs Interludes mit Texten aus dem 19. und 20. Jahrhundert durchsetzt sind. Das Werk ist Rückbesinnung auf armenische Muster, eine Verbeugung vor Komitas Vardapet, dem Begründer der modernen klassischen Musik Armenien um 1900, und bewusste Hinwendung zur westlichen Formen von der Renaissance bis Brahms und Britten, wie sie ein Außenstehender wohl kaum erkennen und gebührend würdigen kann.

Der Eindruck des spektakulären Werks (2 CDs Naxos 8.559846-47), das dem armenischen Nationalinstrument Duduk eine besondere Aufgabe zuteilt (Ruben Harutyunyan), ist gewaltig. Vier Solostimmen, zwei off-stage-Trompeten (Jean Lindemann, Bobby Rodriguez), Orgel (Christoph Bull), Streichquartett, Kinderchor (Tziatzan Children’s Choir) sowie Chor und Orchester – die Lark Masters Singers (unter Leitung von Barsoumian) und das UCLA Philharmonia, das Orchester der University of California in Los Angeles – sind aufgeboten, um Anspruch und Bedeutung des Armenian Requiem zu unterstreichen. Neal Stulberg bringt dieses Bekenntnis zu plastischer Wirkung. Krouse hat eine Form gewählt, die den Wünschen an ein erstes Requiem in armenischer Sprache gerecht wird, kein dezidiert avantgardistisches Werk, aber dennoch eine ernsthafte zeitgenössische Musik, wirkungsvoll, großformatig, packend im Solo für die Mezzosopranistin, in dem sich Garineh Avakian aufreibt, im dem kurzen Gebet für den Tenor (Yeghishe Manucharyan) oder der zeremoniellen Würde des Baritons, mit der Vladimir Chernov gleich zu Beginn zu vernehmen ist.   Rolf Fath