Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Kein Happy End

 

 

Nicht gerade zu den liebenswürdigsten Märchen zählt das vom Goldenen Hahn, immerhin Rimsky-Korsakovs meistgespielte Oper, deren Libretto auf einem Text von Alexander Puschkin fußt. Die Brüsseler Oper hat daraus eine köstliche, auf dem schmalen Grat von Tragik und Komik sicher balancierende Produktion gemacht, in der trotz der Absurdität der Handlung  alles schlüssig erscheint, es viele Gags, aber keinen davon als Selbstzweck eingeführt, gibt und wo manches nachdenkenswert erscheint, so das auf Panzerrollen auf die Bühne gleitende weiße Hochzeitbett von Zar und Zarin. Wunderbar getroffen sind die altrussischen Typen, seien es die Bojaren oder der General, und das arme, geknechtete, demütig winselnde Volk wird zum nicht ganz eindeutigen Sympathieträger, provoziert es beim Zuschauer doch gleichermaßen Mitleid wie Verachtung. Köstlich sind die beiden Tierfiguren, der Papagei, aber ganz besonders der wirklich gockelhaft daher stolzierende Hahn, der schließlich dem Zaren den Garaus macht.

Die einzigen realen Figuren sind bekanntlich, und wie es der Magier am Schluss erklärt, er selbst und die Zarin von Shemaka. Viel pralleres Leben aber verkörpert auf der Bühne Pavlo Hunka als Zar Dodon mit sonorem Bass und mit vielen darstellreichen Facetten zwischen gespielter Ehrwürdigkeit und bemitleidenswerter Schwäche. Seine beiden missratenen Söhne Gvidon (Alexey Dolgov) und Afron (Konstantin Suhshakov) sind von der Maske und was die Kostüme betrifft herrliche komisch herausstaffiert und singen ansprechend. Eine mächtige Röhre hat Alexander Vassiliev für den General Polkan, auch er optisch wie aus einem russischen Märchenbuch entsprungen. Einen Tenor, der auch dem Gottesnarren gut anstehen würde, setzt Alexander Kravets für den zwielichtigen Astrologen ein. Mit gleisnerischen Höhen und feinen Konturen weiß Venera Gimadieva nicht nur den Zaren zu betören, auch optisch gestaltet sie trotz einer gewissen Unbeweglichkeit über weite Teile ihrer langen Szene hinweg die Rolle nachvollziehbar.  Nicht an den Regeln für Schöngesang zu messen ist die Leistung von Agnes Zwierko als Wirtschafterin, darstellerisch lässt sie keine Wünsche offen. Sheva Tehoval  lässt den Hahn durchdringend krähen, Sarah Demarthe ihn umwerfend komisch schreiten.

Für die Regie und die Kostüme ist Laurent Pelly verantwortlich, und beider Aufgaben entledigt er sich mit großer Einfühlsamkeit und mit viel Sinn für theatralische Wirkung. Barbara De Limburg schuf das Bühnenbild, das trotz aller Sparsamkeit bei den eingesetzten Mitteln von großer Aussagekraft ist und Russisches, Überzeitliches und Märchenhaftes miteinander verbindet.

Chorleiter Martino Faggiani sorgte für Boris Godunovs würdige Klagegesänge der unterdrückten, ratlosen Massen, der Chor für die mitreißendsten Augenblicke der Aufführung. Am Dirigentenpult zauberte Alain Altinoglu u.a. eine stimmungsvolle Einleitung zum zweiten Akt. Bei aller Klangseligkeit werden doch Schärfe und Biss der Partitur nicht verleugnet (BelAir C 147). Ingrid Wanja    

Gezwitscher im Wettstreit

 

Gerade hatte Nuria Rial bei dhm/Sony eine CD unter dem Titel Vocalise mit Kompositionen von Heitor Villa-Lobos und Bernat Vivancos veröffentlicht, da legt die Firma eine Platte ganz anderer Art nach: Baroque Twitter (88985497582). Im Dialog und Wettstreit mit dem Flötisten Maurice Steiger interpretiert die katalanische Sopranistin Arien, welche verschiedene Barockkomponisten nach Inspiration  durch Vogelstimmen geschrieben hatten. Sehr oft war in diesen Schöpfungen neben der menschlichen Stimme ein Soloinstrument gleichberechtigt eingesetzt.

Den Auftakt der Auswahl bildet eine Arie der Engelberta, „Usignolo che col volo“,  aus Andrea Stefano Fiorès gleichnamiger Oper (uraufgeführt 1708 in Mailand). Sie ist zum einen von tänzerischem Charakter, zum anderen bringen die gedämpften hohen Streicher auch eine träumerische Atmosphäre ein. Rial verleiht dem Flehen der traurigen Königin an die Nachtigall, zu ihrem fernen Geliebten zu fliegen, berührenden Nachdruck. Die Stimme ist von kristalliner Klarheit, hat aber auch an Wärme und Körper gewonnen. Steger untermalt den Gesang mit feinsten Zwitschertönen.

Melancholisch gibt sich die Titelheldin in ihrer Arie „Rondinella che dal nido“ aus Leonardo Vincis Oper Ifigenia in Tauride (Venedig, 1725). Sie wurde für die legendäre Primadonna Faustina Bordoni komponiert, woraus sich ihr virtuoser Zuschnitt erklärt. Die Sopranistin beweist hier, dass ihre Stimme trotz der gewachsenen Fülle nicht an Flexibilität verloren hat. Die Streichinstrumente beschreiben den Flug der Schwalbe und das begleitende Kammerorchester Basel malt diese Assoziation  unter Leitung von Stefano Barneschi plastisch aus.

Francesco Gasparinis Serenade L’oracolo del fato wurde im Auftrag von Prinz Filippo Hercolani als Geburtstagshuldigung für Elisabetta Cristina von Brunswick-Wolfenbüttel komponiert. Stimme und Flöte begrüßen in der Arie „Bell’augelletto che vai scherzando“ freudig den Sonnenaufgang.

Ein weiteres Bravourstück, da für den berühmten Kastraten Farinelli geschrieben, ist die Arie des Nicomede, „Amorosa rondinella“, aus der gleichnamigen Oper von Pietro Torri. Hier sind virtuose Koloraturgirlanden und langer Atem für schier endlose legato-Passagen gefordert. Die Solistin wird diesen Ansprüchen staunenswert gerecht. Die folgende Arie des Epicide, „Zeffiretti che spirate“, aus der Oper Eraclea von Tomaso Albinoni (Genua, 1705) ist dagegen ein getragenes Stück, welches das sanfte Wehen des Windes beschreibt.  In der Arie des Araspe „L’augelletto in lacci stretto“ aus Johann Adolf Hasses Oper Didone abbandonata sind Sängerin und Flötist dann wieder herausgefordert, sich gegenseitig an Virtuosität zu übertreffen. Der Wettstreit endet unentschieden, denn keiner steht dem anderen an Bravour nach.

Natürlich darf in einem solchen Album Antonio Vivaldi nicht fehlen. Und mit Barzanes „Quell’usignolo ch’al caro nido“ aus seiner Oper Arsilda regina di Ponto ist es natürlich auch eine Nachtigallen-Arie. Nuria Rial klingt hier besonders charmant und trägt das Stück mit Delikatesse und Koketterie vor. Der letzte Vokalbeitrag der Anthologie stammt aus Alessandro Scarlattis Serenade Il giardino d’amore. Die Arie des Adone „Più non m’alletta e piace“ schildert die Sehnsucht des Adonis, der sich nach der Göttin Venus verzehrt.

Dass Programm der Platte wird ergänzt durch einige Instrumentalbeiträge, in denen Maurice Steger mit seinem Flautino oder der Blockflöte brillieren kann.

Francesco Mancinis Sonata 14 in g-Moll entstand möglicherweise im Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit am Conservatorio di S. Maria di Loreto in Neapel. Die vier Sätze sind kontrastreich angelegt und wechseln zwischen einem beschaulichen Comodo, der präzise ausgearbeiteten Fuga, einem sinnenden Larghetto und dem abschließenden Allegro, in dem der Solist mit seinem spitzen Ton etwas manieriert wirkt.

Das Concerto in a-Moll für Flautino und Streicher von Charles Dieupart entstand um 1720 wahrscheinlich in London. Die drei kontrastreichen Sätze sind eher der Form der Sonate als des Solokonzertes verpflichtet. Zum Abschluss noch einmal Vivaldi mit seinem Concerto in F-Dur RV 442, dessen drei Sätze allesamt Bearbeitungen von Opernarien aus seiner Feder darstellen. Das Allegro mà non molto stammt aus La costanza trionfante, das Largo e Cantabile aus La virtù trionfante und das Allegro aus Orlando finto pazzo.

Nach dem Vorgänger-Album „Birds“ mit Dorothee Mields und Stefan Temmingh ist auch dieses sehr gelungen und eine Kaufempfehlung wert. Bernd Hoppe

Der Stunde der Anna Girò

 

Freunde der Barockmusik werden das Wiederaufleben der Vivaldi-Edition bei naïve begrüßen, denn nach fast dreijähriger Pause ist jetzt als Vol. 55 Dorilla in Tempe erschienen (OP 3060, 2 CD). Ungewöhnlich ist die Gattungsbezeichnung des Werkes, das nicht als dramma per musica oder opera seria untertitelt ist, sondern mit dem blumigen Begriff melodramma eroico-pastorale. Die Einspielung muss sich dem Vergleich mit einer Aufnahme von 1993 aus Nizza unter Gilbert Bezzina bei der Firma Pierre Verany stellen. Wie diese verwendet auch die Neueinspielung Vivaldis Version aus dem Jahre 1734. Denn uraufgeführt wurde die Komposition 1726 im Teatro Sant’Angelo von Venedig, danach aber mehreren Revisionen unterzogen: 1728 für  das Teatro Santa Margherita, ebenfalls in Venedig, 1732 für das Teatro Sporck in Prag und schließlich 1734 noch einmal für das Theater der Uraufführung. Diese letzte Version ist ein Pasticcio, denn Arien mehrerer anderer Komponisten (Hasse, Giacomelli, Leo und Sarri) wurden eingefügt und erklingen anstelle von denen Vivaldis. Die meisten sind dem Hirten Elmiro vorbehalten. Und in der Rolle der Nymphe Eudamia, der seconda donna des Stückes, trat erstmals die Mezzosopranistin Anna Girò auf, die später in Vivaldis Leben und Schaffen eine zentrale Rolle einnehmen sollte. Dorillas wunderbare Arie „Il povero mio cor“ anektierte die Sängerin für sich und nahm sie als „Koffer-Arie“ (aria di baule) mit auf ihre Tourneen.

In der Neuaufnahme bei naïve leitet der ausgewiesene Barock-Spezialist Diego Fasolis das Ensemble I Barocchisti. Er garantiert ein vitales, temperamentvolles Spiel, das allerdings mit seinen extremen Rhythmen gelegentlich auch manieriert wirkt. Die dreisätzige  Sinfonia bringt im letzten Allegro das berühmte Frühlings-Thema aus den Quattro stagioni, auch der Eingangschor nimmt es auf; der Coro della Radiotelevisione svizzera singt es mit munterem Schwung. Dagegen ist „Gemiti e lagrime“ ein Trauergesang, „Lieta, o Tempe“ am Ende des 1. Aktes dann wieder fröhlicher Jubel. Heftige Attacke verlangen „Con eco giuliva“ und „Si beva“ im 2. Akt. Diesen beschließen die von Fasolis  ungemein heftig angegangene Sinfonia al ballo und der Chor „Alla caccia!“.

Die Besetzung umfasst nicht weniger als vier Mezzosoprane und einen Alt, was im Klanggefüge eine gewisse Gleichförmigkeit mit sich bringt. Der Einsatz von Countertenören hätte hier vielleicht Abhilfe geschaffen. Denn in der Uraufführung sangen der Soprankastrat Filippo Finazzi den Schäfer Nomio und der Altkastrat Domenico Giuseppe Galetti den Schäfer Filindo. Ungewöhnlich ist auch die Zuordnung des Admeto, König von Thessalien und Vater Dorillas, der in der Premiere von dem Tenor Lorenzo Moretti gesungen wurde, für einen Bariton. Christian Senn gibt ihn mit weichem, sonorem Klang, verleiht aber seiner furiosen Auftrittsarie „Dall’orrido soggiorno“ dennoch gebührend energischen Nachdruck, allerdings nicht das nötige Fundament in der Extremtiefe. Mit „Se  ostinata a me“ von Domenico Sarri ist auch ihm eine Einlage-Arie, gleichfalls von herrischem Duktus, zugeteilt.

„Dorilla in Tempe“: „Hidden Harmonies The Secret Life of Antonio Vivaldi“ von André Romijn im Verlag Roman House Publishers Ltd 2007 gilt immer noch als eines der Strandardwerke zu Anna Girò/ ISBN-10: 0955410010/ ISBN-13: 978-0955410017 (daraus oben ein Ausschnitt aus dem Cover)

Die Titelrolle, die an Andromeda erinnert, soll sie doch einem Ungeheuer geopfert werden, das Tempe zu verwüsten droht, hatte Bezzina in seiner Einspielung mit einem Sopran besetzt, bei Fasolis ist es die italienische Mezzosopranistin Romina Basso. Ihr Auftritt mit „La speranza ch`in me sento“ lässt eine nobel und dunkel timbrierte Stimme mit sinnlichem Reiz hören. Den 2. Akt eröffnet Dorilla mit „Come l’ onde in mezzo al mare“ – einem Bravourstück von hohem Anspruch an die stimmliche Flexibilität der Sängerin. Basso meistert es unangefochten. Wunderbar in ihrer flirrenden Erotik klingt die Stimme in „Se amarti“.  Und im 3. Akt obliegt ihr mit „Il povero mio core“ jene klagende Arie, die später oft von Anna Girò interpretiert wurde.

Dem Hirten Elmiro, in den Dorilla verliebt ist, verleiht die italienische Mezzosopranistin Serena Malfi jugendliche Verve und sinnlichen Klang bei herber Höhe. Die bewegte Eingangsarie „Mi lusinga il dolce affetto“ mit virtuosen Koloraturgirlanden ist eine Einlage von Hasse. Auch das zweite Solo, „Saprò ben“, stammt von diesem Komponisten und verlangt der Interpretin bewegliche Läufe ab. „Vorrei dai lacci scogliere“ im 2. Akt ist eine Komposition Giacomellis, in der vor allem energischer Ausdruck gefragt ist. Die Arie im letzten Akt, „Non ha più pace“, gleichfalls aus der Feder Giacomellis, setzt noch einmal auf Bravour und Rasanz.

Die beiden Schäfer Nomio, der in Wahrheit der verkleidete Apollo ist und das Drachenungeheuer getötet hat, sowie Filindo (denen mit„ Bel piacer“ eine liebliche und mit„Rete, lacci“ eine stürmische Arie von Giacomelli zugedacht sind) haben technisch solide Interpretinnen in den Mezzosopranen Marina de Liso und Lucia Cirillo, wobei letztere auch heulende Töne produziert.

Die Anna-Girò-Partie der intriganten Eudamia nimmt Sonia Prina mit ihrer gewohnt unorthodoxen Tonproduktion wahr. Die Auftrittsarie „Al mio amore“ holpert in ihrem Fluss, „Arsa da rai“ im 2. und „Più non vo’ “ im 3. Akt irritieren durch grobe Effekte.

Ähnlich der französischen Barockoper mit ihren Divertissements beinhaltet auch  Vivaldis Melodramma  am Ende der drei Akte Ballette, die allerdings in der Einspielung nicht enthalten sind. Sie endet mit dem Chor „Il Cielo ancora“, der die Liebe preist. Bernd Hoppe

 

„Dorilla in Tempe“: „The Red Priest’s Annina: A Novel of Vivaldi and Anna Giro“ von Sarah Bruce Kelly im Verlag Bel Canto Press 2009/ ISBN-10: 0578025655/ ISBN-13: 978-0578025650

Im  Booklet zur vorstehend  beprochenen Ausgabe von Vivaldis Dorilla in Tempe bei naive  gibt es einen Aufsatz von Vincent Borel, der  die von Bernd Hoppe erwähnten textlichen  Eigenheiten der Oper ausführlich beleuchtet und der sich mit der Primadonna Vivaldis, Anna Girò beschäftigt: Dorilla – La stagione di Anna Girò. Der 9. November 1726 ist ein Festtag für Venedig. Es ist Martinstag. Die europäische Aristokratie kehrt von ihren Sommerresidenzen zurück. Auf den Weingütern ist die Lese zu Ende; bald wird der junge Wein abgefüllt; die Herbstfrüchte reifen in den Obstkellern und der Zehnte auf die Ernte ist schon eingezogen. Für diese von ihren Renten le­bende Gesellschaft, deren Reichtum sich ebenso sehr auf die Landwirtschaft wie auf den maritimen Fernhandel stützt, ist es an der Zeit, in die Palazzi und in ihr mondänes Leben zurückzufinden. Ihre Treffpunkte, die Theater, die ridotti und die casini, öffnen wieder ihre Pforten.

Dorilla in Tempe wird an diesem Tag im Teatro Sant’Angelo uraufgeführt. Antonio Maria Luchinis Libretto wirkt wie ein Echo auf jenes Landleben: Es bietet weder ein heroisches Drama noch eine Tragödie con lieto fine, sondern ein Schäferstück, das in einem Tal Thessaliens spielt. Die Missgeschicke Dorillas, die an Andromeda erinnern (die von Perseus gerettet wurde), die Liebesintrigen und das dem Ungeheuer darzubringende Opfer geben Vivaldi Gelegenheit zur Entfaltung einer brillanten musi­kalischen Palette, in der Chor und Solisten häufig von Waldhörnern unterstützt werden. Vivaldi wird das Werk an anderen Spielstätten und mit anderen Besetzungen weiterverwerten: 1728 am Teatro Santa Margherita in Venedig, 1732 auf der Sporckschen Opernbühne in Prag und ein letztes Mal 1734, wieder im Sant’Angelo, seinem „Haustheater“ seit 1713. Diese Version von 1734, die einzige, deren Manuskript in Turin aufbewahrt wird, hat die vor­liegende Aufnahme ermöglicht. Dabei handelt es sich um ein Pasticcio, an dem mehrere Komponisten mitwirkten, vor allem Neapolitaner (Vinci, Sarro und Leo), deren Kompositionen an Stelle einiger von Vivaldis eigenen Arien zu hören sind.

Mit Dorilla in Tempe betritt die junge Anna Girò, Vivaldis treueste Interpretin, zum ersten Mal die Bühne von Sant’Angelo. Sie wurde 1710 geboren und debütierte im Teatro San Moise. In Dorilla übernimmt sie an der Seite Anna Maria Fabris die Rolle der Eudamia, der seconda donna. Die für Girö bestimmten Arien zeigen, dass Vivaldi sich bestens auf ihre Gesangstalente versteht. Für sie, die lange Zeit mit ihm durch dick und dünn gehen wird, gibt er der Aufrichtigkeit Vorrang vor der Virtuosität. Die mitreißende Arie „AI mio amore il tuo risponda“ , die sie hier erstmals vorträgt, wird sie in weite­ren Opern aufnehmen. Ein anderer ihrer „Schlager“ ist das klagende Ritornell „II povere mio cuore“ (III, 4). Diese sublime Arie, obschon bei der Uraufführung von der Sängerin der Dorilla interpre­tiert, eignet Anna Girò sich als „Kofferarie“ an, die sie während ihrer ganzen Laufbahn mitsich führt. (Koffearien/arie di baule sind feste Bestandteile im Gepäck der reisenden Sänger, die sie für jede Möglichkeit parat hatten).

„Dorilla in Tempe“: Serena Malfi beim George Enescu Festival (Bukarest) September 2017/ TVR

Bei der Uraufführung wurde die Rolle  der Dorilla von der ebenfalls debütierenden Angela Capuano als prima donna verkörpert; ein anderer junger Musiker, der Tenor Lorenzo Moretti, sang den Admeto. Auch der Soprankastrat Filippo Finazzi (Nomio) und der Altkastrat Domenico Giuseppe Galetti (Filindo) waren Debütanten. Der Impresario Vivaldi wusste die rechten Sänger auszuwählen – die Galetti zuge­dachte, ausdrucksstarke Arie „Col piacer del tuo comando“ (II, 1) beweist es. Diese jungen Talente werden bald die Truppe der Sporckschen Bühne ver­stärken, einer wichtigen Verbreitungsinstanz der Musik des Prete Rosso in habsburgischen Landen. Von den Darstellern der Uraufführung hatte nur Maddalena Pieri (Elmiro), die Mätresse des einfluss­reichen florentinischen Impresario Luca Casimoro degli Albizzi, bereits eine eindrucksvolle Laufbahn zu verzeichnen. Die szenisch wenige spektakuläre Aufführung von Dorilla in Tempe wurde vor allem durch ihre Chöre und Ballette – Raritäten in Vivaldis Opernschaffen – zu einem Publikumserfolg.

Der Président de Brosses, ein hoher Regierungs­beamter aus dem burgundischen Dijon, berich­tet von seiner Reise durch Italien, wie dort im 18. Jahrhundert ein solches Opernhaus betrieben wurde: „Dafür sorgt nicht wie in Frankreich eine bestallte Académie, bestehend aus einem Mitgliederstamm, der bei Bedarf erneuert wird. Hier ersucht ein Unternehmer, der den Winter über ein Opernhaus betreiben will, um die Erlaubnis des Gouverneurs, mietet ein Theater, stellt Stimmen und Instrumente zusammen, ver­handelt mit den Arbeitern und dem Bühnenbildner und macht am Ende oft Bankrott, ganz wie unsere Schauspieldirektoren auf dem Lande. Zur Sicherheit lassen die Arbeiter sich mit Logenplätzen auszahlen, die sie auf eigene Rechnung vermieten“ Die Schilderung dieses wohlinformierten Reisenden gilt für Sant’Angelo ebenso wie für die von Händel oder Porpora in London betriebenen Bühnen.

„Dorilla in Tempe“: Dirigent Diego Fasolis/ Opéra de Lausanne

Das Publikum, das 1726 Dorilla in Tempe ent­deckte, hatte das Privileg, einer der berühmtes­ten Kompositionen Vivaldis zu begegnen: dem „Frühling“. Die melodische Linie dieses Stücks aus den Vier Jahreszeiten ist im dritten Abschnitt der Ouvertüre zu vernehmen; sie wird vom Eingangschor aufgegriffen. In dem Chor „Ogni cor grato si mostri“ aus dem 1. Akt lässt sich eine Chaconne aus dem Chor „II destino, la sorte e il fato“ heraushören, der La Senna festiggiante krönte, eine 1726 verfasste Gedenkserenade. Bei Vivaldi geht nichts verloren, alles wird umgeschaffen.

Der Autor Vincent Borel ist einer der renommierten Musikschriftsteller Frankreichs und zudem Verfasser mehrerer Musikerbiographien wie die über Jean-Baptist Lully ( Ecrivain et journaliste français, Vincent Borel est un ancien élève de sciences Po à Grenoble. Jeune gâgneux féru d’opéra, Borel découvre en venant à Paris le monde de la nuit et de la techno avant de devenir journaliste, puis rédacteur en chef de feu Nova Mag. Il y a quelques années, il revient à ses premières amours classiques et baroques : il se nourrit alors de XVIe et XVIIe siècle et commence un grand projet de retranscription de la Bible de Lefèvre d’Etaples. Il a écrit un livre sur Lully et des romans. Son roman „Antoine et Isabelle“ a été couronné par le prix Page des Libraires 2010./ Source : http://www.chronicart.com)/ Foto Babelio

Die Dorilla-Version von 1734 Ist ein Pasticcio. In der Barockoper sind Wiederverwendung und Selbstzitat gängige Münze. Sie gelten nicht als ästhetischer Mangel. Originalität Ist für einen Künstler des 18. Jahrhunderts ein sehr relativer Wert. Das war schon in der Renaissance nicht anders, als Cristöbal de Morales, Josquin des Pres und Orlando di Lasso auf Volksliedern wie „Mille Regrets“, „L’Homme armé“ oder „Susanne un jour“ Messen aufbauten. Wenn sie der starken Nachfrage des Publikums entspre­chen wollten, hatten Händel und Vivaldi eine ganze Menge Musik zu produzieren.

Die Manuskripte von Dorilla in Tempe enthüllen auch, dass die Kompositionen Vivaldis zwischen 1726 und 1734 an Terrain verloren haben. Während Venedig der Geburtsort der öffentlich aufgeführ­ten Oper blieb, ist Neapel zu deren Konservatorium geworden. Hier züchtet man Kastraten wie am Fließband, und Komponisten wie Leo, Vinci, Hasse und Pergolesi schreiben virtuose Musik nach Maß für sie. Diese Kompositionen privilegieren die Durtonarten, die dekorativer und weniger kon­trastreich sind als das Vivaldische chiaroscuro. In der Gunst des Publikums stehen sie obenan. Bei der letzten Reprise seiner Dorilla macht der Impresario von Sant’Angelo zahlreiche Anleihen bei seinen Rivalen. Das hat mit den Launen neu engagierter Sänger, die das Publikum zu bezau­bern trachten, ebenso sehr zu tun wie mit Vivaldis eigenem Wunsch, nicht den Anschluss an die Mode zu verlieren. So finden sich in der Dorilla von 1734 unter 21 Arien acht Entlehnungen: Drei stammen von Hasse („Mi lusinga il dolce affetto“, „Saprö ben con petto forte“ und „Non ha piu pace“), eine von Domenico Sarro („Se ostinata a me resisti“), eine weitere von Leonardo Leo („Vorrei dai lacci sciogliere“) und drei von Giacomelli („Rete, lacci e strali“, „Bei piacer saria d’un core“ und „Non vo‘ che un infedele“).

Das Teatro Sant’Angelo war weniger renommiert als seine prunkvollen Rivalen, das San Cassiano und das San Giovanni Grisostomo, wo Bordoni und Farinelli Triumphe feierten. Wenn Vivaldi sein kleines Theater füllen sollte, konnte er sich dabei nur auf seine eige­nen Mittel und sein Gespür für neue Talente verlas­sen. Das sollte sich auch nicht ändern, bis er 1739 Sant’Angelo verließ, weil er darauf setzte, in Wien neu durchstarten zu können. Aber sein Asthma, seine Erschöpfung und der Tod des musikliebenden Kaisers Karl VI., eines seiner großen Bewunderer, ließen es nicht dazu kommen. Vincent Borel 2017 (Übersetzung Achim Russer/naive)

Letzte Rose

 

Mit einer Verspätung von acht Jahren erschien eine zwischen 7. und 9. Juni 2009 aufgezeichnete Produktion des Opernhauses Chemnitz bei cpo (777 500-2): Hans Pfitzners selten gespielte Oper in zwei Akten Die Rose vom Liebesgarten. Tatsächlich gehört dieses 1901 in Elberfeld uraufgeführte Werk zu einer der fünf Opern des nicht unumstrittenen Komponisten, von denen sich einzig Palestrina einigermaßen im Standardrepertoire halten konnte. Bereits die Entstehungszeit (komponiert zwischen 1897 und 1900) ortet sie im Fin de siècle ein.

So kurios (um nicht zu sagen abstrus) die Handlung aus heutiger Sicht auch anmuten mag – für das Libretto war James Grun verantwortlich –, sind die wagnerischen Einflüsse doch offenkundig. Thematisiert wird gleichsam der Widerstreit zwischen Himmel und Hölle, der beiden Hauptprotagonisten das Leben kostet, aber doch endlich zu einer wundersamen Auferstehung durch die im Titel genannte Rose führt. Trotz der unübersehbaren Vorbildwirkung des Bayreuther Großmeisters findet Pfitzner doch zu einem eigenen Stil, verschließt sich zeitgenössischen modernen Strömungen mitnichten und straft seine Kritiker, die ihn später einen Erzreaktionären heißen sollten, Lügen. Gar ein gewisser französisch-impressionistischer Einfluss ist zu verspüren – im Zeitalter des Wilhelminismus, in welchem Frankreich als Erbfeind schlechthin galt, nicht unbedingt selbstverständlich. Freilich, bereits 1904 bezeichnete der französische Komponist Gustave Charpentier das Sujet des Werkes allerdings trotzdem als zu keusch, um wahrhaft dem seinerzeit aufblühenden naturalistisch-veristischen Operngenre in Frankreich und Italien zugerechnet zu werden.

Für die Diskographie ist diese Einspielung von kaum überschätzbarem Wert, handelt es sich doch tatsächlich um die erste Komplettaufnahme in Stereo. Dass cpo der Studioproduktion den Vorzug vor dem Chemnitzer Premierenmitschnitt von 2008 gab, darf als vorteilhaft gelten. Die gesanglichen Leistungen sind insgesamt absolut adäquat, wobei der Tenor Erin Caves als Siegnot besonders herausragt. Als sein weibliches Gegenstück agiert die Sopranistin Astrid Weber als Minneleide. Der Bassist Kouta Räsänen gibt als Nacht-Wunderer den Bösewicht. Die restliche Besetzung präsentiert das gute Niveau des Ensembles des Theaters Chemnitz. Tadellos der von Mary Adelyn Kauffman einstudierte Chor und Kinderchor der Oper Chemnitz. Der damalige Generalmusikdirektor Frank Beermann, der sich als Dirigent bereits längst einen Namen gemacht hat, spornt die Robert-Schumann-Philharmonie an und liefert ein Plädoyer für diese Oper. Somit wird auch Max Regers („ganz großes, herrliches Werk“) und Gustav Mahlers („Seit der Walküre, erster Akt, ist etwas ähnlich Großartiges nicht geschrieben worden!“) Respekt vor demselben nachvollziehbar.

Warum aber konnte sich Die Rose vom Liebesgarten nicht dauerhaft im Repertoire halten? Da mag vor allem die doch etwas krude Handlung benannt werden. Auch Pfitzner selbst war sich der Schwächen des Librettos durchaus bewusst, wie der seinerzeitige Karlsruher (und spätere Münchner) GMD Joseph Keilberth 1937 festhielt: „Namentlich im II. Akt (Nachwunderer-Szene) macht er [Anm.: Pfitzner] sehr ausgedehnte Striche, die ich von seiner Hand noch besitze.“ Selbst der enthusiastische Mahler nahm Kürzungen im Orchestervorspiel vor.  Und doch dienten diese changierenden Klangfarben später Komponisten wie Anton von Webern, Alban Berg und Arnold Schönberg als Vorbild. Man könnte also fast meinen: Die Fachwelt war sich stets des Wertes dieser Pfitzner-Oper bewusst, einzig das Publikum erkennt diesen (letztlich bis heute) mitnichten. Die insgesamt sehr gelungene cpo-Produktion trägt ihren Teil dazu bei, hier ein Umdenken anzuregen. Daniel Hauser

„Let´s misbehave“

 

Viele große Opernsänger packt im Laufe ihrer Karriere die Lust, Seitenpfade zu betreten und mal was anderes zu singen. Zum Beispiel Jazz oder Musical. Nicht immer sind diese Ausflüge von Erfolg gekrönt. Jetzt hat sich Mezzosopranistin Magdalena Kožená an ein Cole Porter-Album gewagt. Ein Heimspiel. Dieses Album ist in Tschechien entstanden, wo Magdalena Kožená viel von ihrer Strenge abschütteln kann – sie ist hörbar zu Hause. „Let´s Misbehave“ – wenn sie diesen Porter-Song singt, spürt man die Selbstironie – sie probiert es halt mal aus mit dem Danebenbenehmen, ausgerechnet sie, die Meisterin der Selbstdisziplin. Es will nicht immer gelingen – aber manchmal schon. Und dann sind alle glücklich: Die Sängerin, das Ensemble und der Hörer, der hier mit dem abgefahrensten Kožená-Album ihrer bisherigen Karriere gewiss keinen Fehlkauf begangen hat.

Amerika mit einem Touch Brno. Sehr charmant. Überhaupt war es eine kluge Entscheidung, die ausgezeichneten Melody Makers für die Zusammenarbeit zu wählen und kein großes klassisches Orchester. Die sind so genial, dass sie manchmal die Kožená in den Hintergrund spielen – diese Big-Band ist schon mal die halbe Miete. Jetzt kann nicht mehr viel schiefgehen. Außerdem hat man historische Jazz-Instrumente gewählt und sehr schöne Arrangements aus Porters Zeit, oder doch zumindest welche im Stil der 30er- und 40er-Jahre. Die Songs werden mehr in die Richtung ihrer Originalpräsenz in den Musicals gerückt – spätere allzu verjazzte Varianten bleiben die Ausnahme. Vermutlich zur Enttäuschung manch eines Jazz-Fans, der dieses Album wohl mit spitzen Fingen anfassen wird wegen des klassischen Beigeschmacks. Doch man darf nicht vergessen, dass unser Bild von Cole Porters Musik heute verzerrt wird durch die späten Adaptionen solcher Ikonen wie Frank Sinatra oder Ella Fitzgerald – die Originalkompositionen waren oft für Sänger und Sängerinnen mit gut ausgebildeter Operettenstimme: Irene Bordoni oder Gertrude Lawrence, um nur zwei zu nennen. Magdalena Kožená klinkt sich in diesen Stil ein, erinnert in den besten Momenten beglückend an die Lawrence und schlägt sogar einige Original-Porter-Sängerinnen wie Lisa Kirk (die erste Bianca in „Kiss me Kate“) um Längen.

Sicher – nicht jede Nummer gelingt ihr gleich gut, und manches Arragement ist Geschmackssache. Beispielsweise hätte mir bei „I’ve got you under my Skin“, da der Song ja ursprünglich für eine hohe Frauenstimme komponiert war (Virginia Bruce 1936), die leise lyrische Originalversion besser gefallen als die Annäherung an die überschätze lärmende Fassung von Sinatra. Man spürt – das ist ein liebevolles Experiment. Was gäbe ich darum, wenn Frau Kožená ins Labor zurückkehrte, um aus einem großartigen Versuch mit kleinen Anfangerschwächen ein ausgereiftes Produkt zu machen. Dann vielleicht mit Irving Berlin oder George Geshwin… (Magdalena Kožená, Ondrej Havelka & His Melody Makers, Brnofon BRF001-2). Matthias Käther

Henri Rabauds „Mârouf“

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Endlich kommt sie doch, die Karawane, auf die Mârouf nie zu hoffen wagte. Sie war nur ein Trick, um in Khaitan und beim dortigen Sultan als reicher Kaufmann Eindruck zu schinden. In Kairo gab es für den armen Flickschuster kein Halten mehr, nachdem ihn die zänkische Gattin Fattoumah beim Kadi wegen angeblicher Brutalität verleumdete und man ihm die Bastonade gegeben hatte. Und das alles nur, weil er ihr statt eines Kuchens mit Honig einen mit Zucker brachte. Mârouf schließt sich Schiffsleuten an, schippert den Nil hinunter, führt sich dank der Überredungskunst seines Jugendfreundes Alt glänzend beim Sultan ein und heiratet dessen Tochter Saamcheddine. Man stattet ihn reich aus, leert für den reichen Schwiegersohn die Schatzkammern. Nur die Kamele und mit ihnen die Reichtümer treffen nie ein. Mârouf gesteht Saamcheddine seinen Schwindel, sie findet das nicht weiter schlimm, da sich beide aufrichtig lieben, und flieht mit ihm vor dem leicht beunruhigten Vater und seinem geifernden Vizir. Wir wären nicht in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht, wenn es für das kleine Problem nicht eine Lösung gäbe. Ein Zaubergeist erscheint, erfüllt Mârouf ein Wunsch. In allerletzter Minute, als die Mamelucken bereits die Säbel wetzen, um ihn und Ali zu köpfen, erscheint die Karawane. Die Zweifler sinken in den Staub, alle preisen Allah.

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Rabauds „Mârouf“ an der Opéra-Comique/ Szene/ Foto Photo wie auch oben : Vincent Pontet

Zwei Monate vor Ausbruch des Ernsten Weltkriegs war Henri Rabauds Mârouf, Savetier de Caire die späte Blüte eines Orientalismus, der in Frankreich von Rameaus Indes galantes bis zu Lakmé und Les pêcheurs des perles Tradition hatte und sich um Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt der Kolonisation in den algerisch, maurischen, arabischen Raum verlagerte, etwa mit Félicien Davids Sinfonie Le désert,. Reyers Poem Le Sélam, Lalos Ballett Namouna und vielen anderen erlebten oder erdachten musikalischen Reisebeschreibungen. Als die Zeiten der Märchen vorbei schienen, bildet Mârouf als durchkomponierte komische Oper eine Ausnahme, so federleicht und witzig der Text von Lucien Népoty, so großartige die Musik, die man, wie jetzt an der Opéra-Comique, unter Marc Minkowski gehört haben muss, um sie in ihrer Schönheit und Sinnlichkeit zu schätzen. Die vorhandenen CDs wirken vergleichsweise farblos und blutarm. Der malerische Orientalismus hielt sich noch in der Zwischenkriegszeit tapfer auf den Bühnen. An der Opéra wurde Mârouf 1928 gegeben, wo Georges Thill die von Jean Périer, der auch der erste Pélleas war, kreierte Titelpartie übernahm, woraus wir ersehen, dass sie sowohl mit einem Tenor wie einem hohen Bariton, Bariton-Martin, besetzt werden kann.  Bereits 1917 war die Oper in New York unter Pierre Monteux mit Giuseppe de Luca und Frances Alda erklungen, 1929 dirigierte sie Franz Schalk in Wien. Später wurde sie in die Provinz abgedrängt, wo Mârouf 1975 in Nantes (wovon es eine CD gibt), 1981 in Straßburg und 2000 in Marseille gespielt wurde.

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Rabaud, ein Großneffe der Meyerbeer-Halévy-Auber-Sängerin Dorus-Gras, war Schüler Massenets, errang 1894 mit einer Daphne den Rom-Preis, wirkte ab 1904 als Dirigent an der Opéra-Comique, später auch an der Opéra und hatte 1918/19 nach Karl Muck und vor Pierre Monteux die Chefposition beim Boston Symphony Orchestra inne. 1920 schließlich wurde er als Nachfolger Faurés Direktor des Pariser Conservatoire. Als einer der ersten schrieb er 1924 und 1927 Musik für zwei Filme. Das hört man bereits seinem Mârouf an, wird mancher sagen. Tatsächlich wirken die manchmal in reine Vokalisen sich auflösenden Gesangsmelismen, die illustrative, stimmungsvolle arabischen Buntheit, die niemals vordergründig ist, wie ein Soundtrack zum Kalif von Bagdad. Pentatonik und ein rhythmisiertes Sprechsingen à la Pélleas sind weitere Kenzneichen der Partitur,  durchzogen vom französischen Wagnerisme, der aufgrund der Hurtigkeit, des bizarren Humors und der grotesken Wendungen des Fünfakters nie öde wird.

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Langweilig wird es in der Inszenierung des Opéra-Comique-Chefs Jérôme Deschamps ohnehin nicht. Wie Onkel Jacques Tati weiß er, wie man aus schlichten Situationen komödiantische Funken schlägt, dabei in der Regel geschmackssicher und subtil bleibt. Was anderes als ein Bilderbuch lässt sich bei dem Werk aufschlagen. Leicht scheint es sich Olivia Fercioni mit ihren Spielhäuschen und Pappwürfeln zu machen. Das das reicht aber völlig aus, um mit wenigen Strichen das Armenviertel in Kairo, den Sultanspalast oder die Wüste zu skizzieren, denn Vanessa Sannino greift bei den Kostümen in die Vollen, setzt auf die aufgetürmten Turbane immer noch ein charakterisierendes Accessoire drauf, beispielsweise einen Fuchs bei intriganten Vizir, bläst die Mamelucken zu Popanzen auf und gibt dem Sultan und seiner Tochter eine Kopfbedeckung und ein Kleid so riesengroß und seidig aufgeplustert, als wollen sie gleich wie ein Ballon abheben. Türkisfarbene Odalisken, Eunuchen, Marktbetreiber, Muezzin, possierliche Esel, spuckende Kamele, ein Hamam und die Sphinx – alle sind da. Eine liebevolle Parodie.

Rabauds „Mârouf“ an der Opéra-Comique/ Szene/ Foto Photo wie auch oben : Vincent Pontet

Und das in einer Farbenpracht, die an Leon Baksts Kostüme für die Ballets Russes denken lässt, die im Jahr vor Mârouf in Paris mit Scheherazade für Furore gesorgt hatten und 1914 die Josephslegende und einer Ballett-Version des Goldenen Hahns. brachten – die andere Sensation des Jahres war der erste Pariser Parsifal. Mârouf an der Opéra-Comique, in einer Produktion von 2013, die mittlerweile auch in Bordeaux zu sehen war, wo Minkowski amtiert, ist ein federleichtes Schauvergnügen. Jean-Sébastian Bou ist der Mârouf unserer Tage, ein charmanter Verführer und Tagträumer, dem seine Lüge kurzzeitig zur Verzweiflung bringt, ein bezwingender Schauspieler, der auch in einer modernen Filmromanze reüssieren könnte, und ein Sänger, der Maroufs schmeichelnde Liedchen mit feinnerviger Intensität  singt Mârouf hat, wie auch alle anderen Personen, keine Arie im traditionellen Sinn, sondern eine Folge subtiler Chansons und schmeichelnder Kurzarien, die einen lockeren Interpreten brauchen. Vannina Santoni sang die Saamcheddine mit hinreichendem, leicht verschleiertem Sopran, Jean Teitgen war ein Sultan von gewaltiger Komik, Aurélia Legay eine nur keifende Fattoumah und Franck Leguérinel ein stimmloser Vizir. Die Mischung aus Impressionismus, Wagnerisme und Oeintalismus brachte Marc Minkowski mit Chor und Orchester aus Bordeaux zu derart überzeugender Wirkung als habe auch ihn der Zaubergeist aus der Wüste berührt. Rolf Fath

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Dazu auch der Hinweis auf einige Aufnahmen: mit Henri Legay beim ORTF 1964; mit Henri Clement und Lina Dachary unter Gustave Cleoz ORTF 1961; mit Géori Boué und RToger Bourdin bei Malibran ORTF 1951; mit Michel Lecoq unter Jesus Etcheverry bei Vega/Accord ca. 1965 / G. H.

 

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Das Yiddish Theatre in New York

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Aktueller denn je sind die Zeugnisse einer gelungenen Integration von Auswanderern/ Flüchtlingen/ Migranten in ihrem Gastland – über kaum ein Thema wird ja gegenwärtig so viel diskutiert wie genau darüber. Deshalb ist es spannend zu sehen, wie sich die jüdischen (russischen und polnischen) Auswanderer des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf der Flucht vor Verfolgung und Progromen in den USA einrichteten (namentlich New York als Anlaufstelle), wie sie ihre eigene Sprache, Kultur, Folklore und Gewohnheiten institutionalisierten und im Laufe der Zeit zu einer der beherrschenden Life-Style-Formen der USA machten. Sie verhalfen – wie viele ihrer Zeitgenossen – dem jüdisch geprägten Unterhaltungstheater (namentlich dem Musiktheater) zu ungeahnter Blüte. Das ist eine Periode des amerikanischen Theaterlebens, von der bei uns in Europa und Deutschland kaum etwas bekannt ist.

Das National Yiddish Theatre in New York ist so ein Ort, an dem  heute der jiddischen Traditionen aus Osteuropa gedacht wird. Eine mit viel Beifall bedachte Aufführung des Musicals  Di goldene Kale (Die goldene Braut) von Joseph Rumshinsky war dem auf dem Theatergebiet spezialisierten Steven Ledbetter, Autor, Musikkritiker und Musikwissenschaftler von Rang, einen langen Artikel zum Jiddischen Theater in Amerika wert, den wir von unseren Freunden des ORCA (Operetta Reserach Center Amsterdam/ Kevin Clarke) mit Dank in unserer eigenen deutschen Übersetzung übernehmen. G. H.

Cover for the catalogue of New York’s Yiddish Theater „From the Bowery to Broadway“ Columbia University Press, ISBN-10: 0231176708, ISBN-13: 978-0231176705

Steven Ledbetter: Ein unwahrscheinlicher Hit, das 1923 entstandene jiddische Musical Di goldene Kale (Die goldene Braut) von Joseph Rumshinsky, kam nach jahrelangen Recherchen, ausgelöst durch eine Partitur, die in der Harvard Music Library gefunden wurde, in einer exzellenten Produktion des National Yiddish Theatre Folksbiene in der Edmond J. Safra Hall im Museum of Jewish Heritage (Manhattan, New York City) heraus. Ich fand die Show so reizend und zufriedenstellend wie alles in der Stadt und war damit nicht allein. Die New York Times bedachte sie mit einer sehr positiven Rezension und inkludierte einen Videoclip mit Auszügen aus verschiedenen Liedern, die einen Eindruck vom Werk und der Inszenierung geben.

Obschon der ursprüngliche, monatelange Zyklus vorüber ist, wurde von möglichen Auftritten in Philadelphia und vielleicht anderswo, einer kommerziellen Aufnahme oder gar eine DVD-Produktion gesprochen. Ich habe die Entwicklung des wissenschaftlichen Projekts von seinem Ursprung in der Harvard Music Library bis zu seinem unerwarteten Aufblühen in New York verfolgt, und da nahezu niemand den Komponisten oder die Musik mehr kennt, biete ich diesen Artikel als kleinen Einblick in einen reichen und weitgehend vergessenen Teil des amerikanischen Musiktheaters.

Grand Theater advertising Jacob P. Adler in “The Jewish King Lear,” c. 1905. (Photo Byron Company Museum of the City of New York, J. Clarence Davies Collection)/ ORCA mit Dank

Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts war das jiddische Theater sehr erfolgreich, besonders in New York, wo im Laufe von etwa drei Jahrzehnten eine große Anzahl neuer Einwanderer aus Osteuropa eintraf. Die meisten von ihnen sprachen Jiddisch, eine Sprache, die wie Englisch eine Verschmelzung verschiedener Quellen darstellt – in diesem Falle aus Mittel- und Osteuropa, einschließlich einer starken Portion Deutsch, gefärbt mit Obertönen das Russischen, Polnischen, Litauischen und Rumänischen sowie Überresten des Hebräischen. Jiddisch wurde zu einer lingua franca für die Ankömmlinge aus weiten Teilen Osteuropas, wo die Behörden ihr Bestes gaben, um die Juden zu vertreiben.

In Amerika standen diese neu angekommenen Immigranten, wie Neuankömmlinge aus anderen Kulturen und Ländern vor ihnen, vor der Herausforderung, eine neue Sprache und neue kulturelle Praktiken zu erlernen, während sie, so gut sie konnten, an ihren bekannten und beliebten Traditionen – sozial und religiös – festhielten.

Von den 1890er bis in die 1920er Jahre mussten die neuen Immigranten in ihrer neuen Heimat Fuß fassen, was sie durch eine Verschmelzung alter und neuer Erfahrungen schafften. Das Theater bot einen einfachen Weg für die Sprecher einer bestimmten Sprache, die eine bestimmte Kultur teilten, sich der Neuheit der Neuen Welt zu stellen und gleichzeitig so viel vom Mitgebrachten zu bewahren wie möglich. Das jiddische Theater, ein ziemlich neues Genre, erfunden im östlichen Europa der 1880er Jahre und vom zaristischen Regime großflächig unterdrückt, bot Unterhaltung und Ablenkung, Beispiele für eine erfolgreiche Lebensweise sowie eine Unterweisung in dem, was sie in Amerika erwartete.

ORCA-Chef Kevin Clarke vor dem Yiddish Theatre/ ORCA

Einige der Stars wurden, zumindest innerhalb ihres eigenen ethischen Zirkels, hochberühmt. Zwei der größten Stars waren Boris und Bessie Thomashevsky, die von einer großen Fangemeinde, darunter der junge George Gershwin, zum Idol stilisiert wurden, aber in der Welt außerhalb der jiddischen Sprache fast unbekannt blieben. Boris und Bessie waren die Großeltern von Michael Tilson Thomas, und für die meisten Menschen, die nicht in New York City aufgewachsen waren, wo die Mehrheit der neu eingewanderten Juden wohnte, wäre ihre erste bedeutende Verbindung zur Tradition höchstwahrscheinlich ein Konzertprogramm gewesen – im Wesentlichen ein Vortrag mit einer Vorstellung von singenden Schauspielern –, zusammengestellt und dirigiert von Michael Tilson Thomas im Laufe des letzten Jahrzehnts, schließlich ausgestrahlt von PBS (The Thomashevskys: Music and Memories of a Life in the Yiddish Theater)

Composer Joseph Rumshinsky (1881-1956)/ORCA).

Und dann gab es noch andere, die ein breites Publikum erreichten, wie Molly Picon und Jacob Adler, deren Tochter Stella Marlon Brando, Robert De Niro und vielen anderen die Schauspielerei beibrachte.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts engagierte Boris Thomashevsky einen jungen Komponisten, der neu aus Wilna, Litauen, eingetroffen war: Joseph Rumshinsky (1881-1956), der später zum vielleicht bedeutendsten Komponisten des jiddischen Theaters werden sollte. Sein Erfolg war so groß, dass er „der jüdische Victor Herbert“ genannt wurde.

Rumshinsky gehörte zur ersten Generation bedeutender Komponisten des jiddischen Musiktheaters, die vom Ethnomusikologen Mark Slobin von der Wesleyan University in seinem Buch Tenement Songs: The Popular Music oft he Jewish Immigrants (Illinois Press, 1982) diskutiert wurde. Hierbei handelt es sich scheinbar um die bis heute einzige substanzielle Studie über den musikalischen Aspekt des jiddischen Theaters. Diese frühe Gruppe dieser Komponisten wuchs in Osteuropa mit den musikalischen Traditionen der Shul (Synagoge) und des Khazn (Kantor) auf, die einen musikalischen Jungen als einen Meshoyrer (Chorknaben) akzeptierten. Wenn sich sein Talent als ausreichend erwies, erhielt er Gesangsunterricht und lernte später Noten zu lesen und Elemente der Theorie und Komposition zu studieren, um sich so den Rahmen für eine Karriere zu schaffen.

Joseph Rumshinsky:“Di goldene Kale“ am Yiddish Theatre/ Foto Moody/ ORCA

Der junge Rumshinsky erwies sich beim fortgeschrittenen Unterricht als so geeignet, dass er den Spitznamen „Yoshke der notnfresser“ (Joey der Notenfresser) bekam. Er erinnerte sich später, dass diese musikalischen Erfahrungen in Verbindung mit der Anbetungstradition „für Juden, die Oper, die Operette und die Sinfonie“ standen. Eine spätere Generation der Komponisten des jüdischen Liedes in Amerika, deren Ausbildung weltlicher und theaterorientierter war, wurde allgemein bekannter, als einige ihrer Lieder (wie Sholom Secundas „Bei mir bist du sheyn“ von 1932) in der allgemeinen Musikkultur Amerikas populär wurden.

Trotz seines späteren Erfolges als Hauptkomponist des jiddischen Theaters in Amerika, fehlte Rumshinsky sowohl in der 1980er wie auch in der 2000er Ausgabe des New Grove als auch in der ersten Auflage des New Grove Dictionary of American Music. Schließlich erschien er erstmals in der zweiten Auflage des American Grove mit einem kurzen Artikel – indes ohne ein Werkverzeichnis, das angeblich um die 90 Musicals umfasste.

Angesichts des Mangels an allgemein zugänglichen Informationen über ihn werde ich einige wesentliche Details seines Hintergrunds kurz aufführen, die aus Slobins Buch stammen, das auch Zitate aus den Memoiren des Komponisten enthält (Auszüge werden in Anführungszeichen stehen).

Rumshinskys Vater war Hutmacher, aber ein musikalischer Mann, der seine Lehrlingen zum Singen ermutigte – manchmal hebräische Lieder, die er ins Jiddische übersetzte und dann „die Musik auf seine eigene Weise improvisierte“.  Wenn das Geschäft schlecht war oder andere Schwierigkeiten drohten, sangen sie Passagen aus den Psalmen „mit dem Wohlklang der Lehrlinge: es brachte dein Herz mit seiner Süße und Traurigkeit zum Schmelzen“. Aber wenn das Hutgeschäft gut lief, leitete er einen Frage-und-Antwort-Typ des Liedes mit jedem, der mitsang. „Die fröhlichen Lieder waren halbrussisch, halbpolnisch, vermischt mit Jiddisch und Hebräisch, und das Werk sollte dem Tempo und der Stimmung der Musik folgen.“ Rumshinskys Mutter war eine Gesangslehrerin – „Nicht, Gott verbiete es, für Geld!“ Sie lehrte Hochzeitslieder für die Mädchen vor Ort. Die Beschreibung macht klar, dass es sich um eine sehr vielseitige Gesellschaft in sozialer und musikalischer Hinsicht handelte.

Joseph Rumshinsky:“Di goldene Kale“ am Yiddish Theatre/ Foto Moody/ ORCA

Der junge Yoshke wurde zum Kantor in Wilna gebracht, wo er sang und zu seiner großen Freude zum ersten Mal einen vollen Chor hörte. Eine musikalische Karriere war klar erkennbar. Er überredete seinen Vater, ihn an eine Schule mit einer säkularen Ausbildung zu schicken, wo er Berichten zufolge binnen eines Monats Notenlesen lernte und das Klavierspiel begann. Von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem Umzug nach Amerika verfolgte er verschiedene Arten musikalischer Aktivitäten. Manchmal schrieb er für eine Synagoge, fand sich aber zunehmend vom Theater angezogen. Er war begeistert von einer Aufführung von Shulanis, einem Stück von Abraham Goldfadn, dem Begründer des jiddischen Theaters in Litauen um 1880 herum. Aber als diese Tradition vom Zaren verboten wurde, konnte sie nur in der Neuen Welt gedeihen. Inzwischen lebte er ein vagabundierendes Musikleben und lernte Musik aus verschiedenen Traditionen, darunter russische Operette und deutsche Lieder. In Lodz gründete er einen nationalistischen jüdischen Chor, der seinen offenen Nationalismus unterdrücken musste, um Probleme mit der zaristischen Polizei zu vermeiden, und einen Skandal bei der älteren Generation auslöste, sangen doch Jungen und Mädchen zusammen.

Die Gefahr, in die Armee des Zaren eingezogen zu werden, motivierte ihn schließlich zu schneller Flucht nach London und nicht lange danach nach New York. Dort war sein vielseitiger Hintergrund hilfreich. Er wurde zunächst damit beauftragt, einen Chor zu trainieren, der Rubinsteins Oper Der Dämon auf Russisch singen sollte, und eine neue Orchestrierung zu besorgen, da es schwierig war, Material aus Russland zu bekommen. Er schrieb auch leichte Klavierstücke für S. Goldberg, einen Musikverleger mit einem Geschäft in der Lower East Side. Er gab einer Vielzahl an Einwanderern Klavierstunden, von denen viele in ihrem Bestreben, der Mittelschicht anzugehören, ein Klavier gekauft hatten. (Die Gershwins waren eine solche Familie, die es für den schüchternen Bücherwurm Ira gekauft hatten; aber kaum dass das Klavier im Apartment stand, nahm es dessen Bruder George in Beschlag und ließ nicht mehr davon los.)

Molly Picon in the Yiddish film The Jolly Orphan, 1929. From New York’s Yiddish Theater From the Bowery to Broadway.

Aber der Umzug nach New York brachte Rumshinsky auch in eine Region, in der das jiddische Theater florierte. Nicht lange nach seiner Ankunft wurde er von Boris Thomashevsky angestellt, um an seinen Shows zu arbeiten, womit eine lange Karriere begann, die zu Dutzenden Musicals und anderen Werken führte, darunter eine ernste Oper, Ruth, in den späten 1940er Jahren, die unaufgeführt blieb.

Es ist sein 1923er Hit Di goldene Kale (Die goldene Braut), die kürzlich in New York elegant und clever in einer außerordentlich schönen Version wiederbelebt wurde und sich durch eine exzeptionelle Präsentation der Lieder und Tänze auszeichnet. Dieses Werk hat diesen Aufsatz motiviert. Kurz vor dem Ende der freien und offenen Einwanderung aus Osteuropa entstanden, muss das Libretto heute ziemlich modern erscheinen, mit zwei kontrastierenden Akten, die Charaktere zunächst in ihrem Heimatland präsentierend und die meisten davon dann bei ihrem neuen Leben in den Vereinigten Staaten. Gleichzeitig wird an die große Operettentradition angeknüpft. Am auffälligsten war für mich die Ähnlichkeit mit der Situation in Lehárs Lustiger Witwe: Die weibliche Hauptprotagonistin ist eine unverheiratete Frau mit großem Reichtum (bei Lehár ist sie die Witwe eines sehr vermögenden Mannes; bei Rumshinsky ein armes jüdisches Mädchen, das von seiner Mutter getrennt wurde, aber deren kürzlich verstorbener Vater nach Amerika gegangen war und ein Vermögen gemacht hatte). In der jiddischen Show fühlt Goldele, dass ihre Mutter nach wie vor am Leben sein muss, und sie versprach, denjenigen Verehrer zu heiraten, der sie ausfindig machen kann (trotz der Tatsache, dass sie einen favorisierten Geliebten hat).

Der Weg zur Wiederbelebung war lange und nahm nicht weniger als sechs Jahre wissenschaftlicher Arbeit in Anspruch. Quellen für Theaterstücke und Musicals, die am Kessler’s Second Avenue Theater und anderen Häusern in der jiddischen Tradition gespielt wurden, sind meist verloren oder verstreut. Die erste Aufgabe besteht schlichtweg darin, die große Menge an fehlendem Material zu finden.

Molly Picon in a Yiddish Theater production, 1919/ ORCA

Der erste Anstoß zu einer Rekonstruktion von Di goldene Kale war eine Konferenz amerikanischer Musikwissenschaftler im Raum Boston 1984, als Michael Ochs, der damalige Musikbibliothekar in Harvard, eine handschriftliche Kopie eines Klavierauszuges fand. Wie bei solchen Partituren üblich, ist kein gesprochener Dialog enthalten und hat man keine Vorstellung, wie die Orchestrierung aussieht. Gleichwohl stellte er die Partitur bei einer Ausstellung für die jährliche Konferenz der damaligen Sonneck Society (heute Society for

Poster for the “Hassidic” operetta “The Rabbi’s Temptation” at Manhattan Theatre, 1932. The show by Sholom Secunda and Sholem Steinberg was first produced in 1924-25./ Ledbetter/ ORCA 

Nachdem er sich aus Harvard zurückgezogen hatte, beschloss er, ein Projekt zu dieser Operette zu machen und begann, die Texte zu übersetzen. Am YIVO Institute for Jewish Research in New York (das eine außergewöhnliche Sammlung von Materialien zum jiddischen Theater besitzt) fand er ein Schreibmaschinenmanuskript des Librettos unter den Papieren, welche die Enkel der Librettistin Frieda Freiman und die Kinder der Schauspielerin Flora Freiman gestiftet hatten.

Was es ermöglichte, die Partitur zu rekonstruieren, war ein Geschenk von Manuskripten aus Rumshinskys Nachlass, die von seinen Kindern Murray Rumshinsky und Betty Rumshinsky der UCLA vermacht wurden. Hier fand Ochs die Vorlage (keine vollständige Orchesterpartitur!), mit der der Komponist 1923 die Uraufführung dirigierte, sowie die einzelnen Orchesterpartien. Diese Materialien ermöglichten es ihm, die gesamte Partitur wiederherzustellen, indem er alle Einzelteile zusammenfügte. (Ein Operndirigent an der Met würde niemals ohne Partitur arbeiten, aber es ist sehr selten für den Dirigenten einer kommerziellen Show, etwas Ausführlicheres als eine Klavierpartitur zu haben.)

Wie Michael Ochs mehrfach lächelnd beschrieb, ist es Ironie, dass er aus einer älteren jüdischen Familie mit deutschen Wurzeln stammt, einer Gruppe von Menschen, die im späten 19. Jahrhundert dazu tendierten, auf die verarmten Neuankömmlinge aus den Schtetls herabzublicken, die nicht einmal richtiges Deutsch sprachen. Seine Vorfahren hätten sich nicht dazu herabgelassen, die Vorstellungen im Second Avenue Theater zu besuchen. Doch ein Jahrhundert später ist er zum Hauptakteur bei der Wiederentdeckung der Brillanz von Joseph Rumshinsky und seines entzückenden Hits von 1923 geworden. Jetzt, wo die Partitur wiederhergestellt ist, wird sie in der Reihe Music oft he United States of America (MUSA) erscheinen, herausgegeben von der American Musicological Society, und wird das erste wissenschaftliche Aufführungsmaterial eines jiddischen Musicals überhaupt darstellen. Laut Michael Ochs spielten Rumshinsky und diese Operette „eine wichtige Rolle in der Entwicklung des amerikanischen Musicals. Irving Berlin, Yip Harburg und die Gershwins besuchten, wie viele andere Broadway- und Tin-Pan-Alley-Persönlichkeiten, regelmäßig die jiddischen Theateraufführungen.“

Der Autor Steven Ledbetter/ ORCA/ Facebook

Die wunderbare Gelegenheit, die Ergebnisse all dieser Jahre wissenschaftlicher Arbeit tatsächlich zu sehen und zu hören, wurde durch die Hilfe von Chana Mlotek von YIVO möglich, die Michael Ochs ihrem Sohn Zalmen, dem künstlerischen Leiter des National Yiddish Theatre Folksbiene, vorstellte, der Musikdirektor dieser Produktion wurde. Zunächst wurde die Show im Mai 2014 auf minimalistische Weise mit einer klavierbegleiteten Aufführung der Lieder präsentiert. Dann wurde die Partitur im August 2015 mit Orchesterbegleitung an der Rutgers University aufgeführt. Die offensichtliche Qualität im Konzert führte direkt zur Inszenierung von Bryna Wasserman und Motl Didner von 2. Dezember 2015 bis 3. Januar 2016. Etwa 300 Sänger/Schauspieler haben für die acht Soloparts und das Ensemble vorgesprochen, was Spielraum für den Aufbau einer prächtigen Besetzung gab, die sowohl den Anforderungen einer Oper als auch dem ethnischen Kitsch gerecht wurde. Das Titellied offeriert einige Aromen dieses stilistischen Schmelztiegels. Die Aufnahme stammt aus einer Reihe von Liedern des jiddischen Theaters von Naxos in der bedeutenden Reihe Jewish Music in American Life. Es sind neun Lieder von Rumshinsky von neun verschiedenen Werken enthalten, eine willkommene Einführung in die Arbeit dieses Meisters des Musiktheaters.

Die Edmond J. Safra Hall wurde zu seinem stilvollen Garten geschmückt, der im ersten Akt als Schtetl diente, bevor sie sich zu unserer großen Belustigung im zweiten Akt in eine elegante New Yorker Wohnung verwandelte. Diese Transformation war eines der Highlights der Produktion. Die Charaktertypen wurden in ungemeiner Detailfülle dargeboten. Der amerikanische Cousin Jerome, gespielt von Glen Steven Allen, trainierte sogar sein Jiddisch mit amerikanischem Akzent. Der stattliche Adam Shapiro verkörperte Pavlova denkwürdig während des Kostümballs. Zalmen Mlotek leitete die rund 20 Spieler mit echter Hingabe und stilistischem Elan. Die Platzierung des Orchesters hinter einem Glitterstoff gab ihnen die Möglichkeit, zur entsprechenden Zeit aufzutauchen.

Als Musikwissenschaftler, der manchmal Jahre damit verbracht hat, staubige Materialien zu bearbeiten, kenne ich das Gefühl, ein wissenschaftliches Projekt zu sehen, das zu einer ansehnlichen Menge an gedruckter Musik führt, die dann niemand aufführt – wodurch der Zweck all dieser Bemühungen weitgehend untergraben wird. Aber in diesem Falle haben es die glücklichsten Umstände möglich gemacht, dass dieses lange, komplexe Projekt von Tausenden gehört und gesehen wurde – in der Hoffnung, dass dies auch für zukünftige Produktionen gelten möge. Steven Ledbetter

Dank an ORCA und Kevin Clarke, vor allem aber an Steven Ledbetter für die Freundlichkeit, uns seinen Artikel zu überlassen/ Übersetzung Daniel Hauser. Steven Ledbetter is a free-lance writer and lecturer on music. He got his BA from Pomona College and PhD from NYU in Musicology. He taught at Dartmouth College in the 1970s, then became program annotator at the Boston Symphony Orchestra from 1979 to 1997. Foto oben: The original Playbill for Di goldene Kale, 1923. Photo Steven Ledbetter Archive/ ORCA

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Gemischtes Glück

 

Erst jetzt veröffentlicht Naxos/Unitel die bereits vor drei Jahren in der Oper Stuttgart aufgenommene Produktion von Jommellis Dramma per musica  Il Vologeso (2 DVD 2.110395-96). Die Württembergische Staatsoper hatte in der Saison 2014/15 den 300. Geburtstag des Komponisten zum Anlass genommen, den Vologeso als eines seiner zentralen Werke unter dem Titel Berenike, Königin von Armenien herauszubringen. Es war die erste szenische Aufführung nach fast 250 Jahren. Dabei hatte der Komponist im Dienste des Herzogs von Württemberg Stuttgart von 1753 bis 1768 zu einer Metropole europäischer Opernkultur erhoben, doch gerieten seine Werke später in Vergessenheit. Vor 20 Jahren realisierte Frieder Bernius in Form einer konzertanten Aufführung (mit CD-Einspielung) die Wiederentdeckung der Oper in moderner Zeit.

Ein Jahr hat Berenice um ihren vermeintlich gefallenen Verlobten Vologeso, König der Parther, getrauert. Fast gibt die Königin dem Werben des siegreichen römischen Feldherrn Vero, der sich in sie verliebt hat, nach, da kehrt der tot geglaubte Geliebte schwer verstümmelt zurück. Berenice steht nun zwischen zwei Männern, aber auch Vero ist im Konflikt zwischen Berenice und seiner Verlobten Lucilla. Der letzte Akt bringt das traditionelle lieto fine – Vero bittet Lucilla um Vergebung und wird römischer Kaiser; Berenice und Vologeso sind wieder glücklich vereint

Jommelli in Stuttgart/Szene/Foto A. T. Schaefer

Liest man die Namen des Stuttgarter Produktionsteams, muss man sich auf einen Regietheater-Abend einstellen. Denn das im Dauereinsatz befindliche Duo Jossi Wieler/Sergio Morabito (Inszenierung) und die mit ihm untrennbar verbundene Anna Viebrock (Ausstattung) haben schon manchem Klassiker des Repertoires ihren eigenwilligen, oft befremdlichen Stempel aufgedrückt. Auch hier warten sie mit einer sehr divergierenden Optik auf. Im Hintergrund der Bühne ist ein Prospekt mit maroden Neubauten zu sehen, davor stehen Säulen von historischer Architektur, ein Brunnen und ein stufenförmiges Theaterpodest, auf dem das Spiel um Liebe und Macht gezeigt werden soll. Die Sänger in Jogging-Anzügen, T-Shirts und Turnschuhen legen ihre Kleidung teilweise ab und wechseln zu historischen Gewändern mit Gehröcken, Hüten und Perücken. Der Mix aus beiden Stilen bleibt während der gesamten Aufführung erhalten, immer wieder steigen die Sänger aus ihrer barocken Gewandung aus und legen ihre Perücken ab mit dem Ergebnis einer extrem auseinander klaffenden Ästhetik. Auch die Personenführung ist konfus, denn die Regisseure beziehen neben der Bühne auch den Orchestergraben und den Zuschauersaal in das Geschehen ein, was stets für Verwirrungen sorgt. Das lieto fine wird gebrochen, wenn Vero, den Lucilla mit Schärpe und Krone schmückt, sich von der Situation überfordert zeigt und bedrohlich schwankt. Eine Szene der Auflösung folgt, in der auch die Musik stockt, und die Sänger sich ihrer Kostüme entledigen.

Eine Besetzung von recht unterschiedlichem Niveau ist in Stuttgart versammelt. Den stärksten Eindruck hinterlässt der Tenor Sebastian Kohlhepp in der Rolle des Lucio Vero. Optisch ist er mit seiner strohblonden Haartolle und in der Physiognomie fast ein Trump-Double (eine erstaunliche Vision des Produktionsteams  – war doch 2015 noch keine Rede vom neuen amerikanischen Präsidenten). Darstellerisch muss er Berenice mit albernen Spielchen, ob mit einem Fisch oder anderen ausgestopften Tieren, necken und sich in Begleitung seiner Verlobten Lucilla huldvoll dem Volk präsentieren wie der amerikanische Präsident. Gesanglich beweist er hohes Niveau in der perfekten Stimmführung und der Formung der Koloraturen. Seine Arie im 1. Akt, „Luci belle“, klingt schwärmerisch und lockend, die im 2., „Sei tra’ ceppi“, ist ein wilder Zornesausbruch, weil Vologeso sich weigert, ihm Berenice zu überlassen. Der deutsche Tenor meistert dieses Stück von heroischem Charakter mit Glanz. Die von Streichern zart umspielte Cavatina „Che farò“ zeigt dagegen seine lyrischen Qualitäten. Und zu Recht empfängt er für seine bravouröse Interpretation der Arie im 3. Akt, „Uscir vorrei“, die zwischen schmerzlich-klagender und grimmiger Stimmung wechselt, den stürmischen Beifall des Publikums.

Die weibliche Hauptrolle der Berenice nimmt Ana Durlovski mit einem interessant timbrierten Sopran wahr, dessen erregtes Vibrato für den Seelenzustand der Figur steht. Mit heftiger Attacke geht sie ihre Arie „Se vive il mio bene“ an, die einem verzweifelten Aufschrei gleicht. In „Tu chiedi il mio core“ weist sie energisch Veros Werben zurück, schwankt dabei immer wieder in ihrem Entschluss aus Angst um Vologesos Leben, was zu lyrischen Einschüben führt. Die Situation ist vergleichbar Konstanzes Martern-Arie in Mozarts Entführung im Anspruch an den dramatischen Affekt und die lyrische Emphase. Im Terzett am Ende des 2. Aktes eskaliert die Situation, denn Berenice hat Vero ihr Herz versprochen, das er ihr freilich aus dem Leib reißen müsse. Dieser fühlt sich getäuscht und rast, während Vologeso und Berenice in unerschütterlicher Liebe zueinander stehen. Der 3. Akt hält für die Sopranistin nach einem ausgedehnten Recitativo accompagnato eine große, vom Orchester filigran umspielte  ombra-Arie bereit, in der Berenice von Visionen gepeinigt wird, Vologesos abgeschlagenes Haupt zu sehen.

Der Titelheld ist eine klassische Hosenrolle und Sophie Marilley setzt dafür einen passend strengen Mezzosopran ein. Mit vehementer Attacke schleudert sie die Koloraturen ihrer ersten Arie, „Invan minacci“, heraus, scheut als Ausdrucksmittel auch nicht verfärbte Töne oder Schreie. Die untere Lage ist etwas schwächer ausgebildet, wovon die Arie im 2. Akt, „Cara, deh“, zeugt. Mit Helene Schneiderman ist die Lucilla zu reif besetzt. Der Mezzo klingt ältlich und hat Mühe mit der Ausformung des vokalen Zierwerks, der Ausdruck wirkt verhärmt. Die Arie im 2. Akt, „Partirò“, schildert die Enttäuschung der Zurückgewiesenen, das Solo im letzten Akt, „Amor non sa“ ist ein munterer Diskurs über die Liebe. Eine akustische Prüfung ist Catriona Smith als Flavio, die zwar engagiert spielt und singt, aber mit grellem, jaulendem Klang nervt. Gleich die erste Arie „Crede sol“, bringt sie technisch an Grenzen, die im 2. Akt, „Rammentagli chi sei“, kann den Eindruck kaum verbessern. Die Besetzung ergänzt Igor Durlovski als Aniceto mit einem Counter von durchschnittlicher Qualität, der in seiner Arie „So ben comprenderti“ gleichfalls in Bedrängnis gerät.

Das Staatsorchester Stuttgart spielt Jommelis Musik in ihrer Mischung aus höfischer Galanterie, fein ziselierter, kammermusikalischer Transparenz und straffem Impetus unter Gabriele Ferros kundiger Führung engagiert und klangvoll. Bernd Hoppe

Huguette Tourangeau

 

Kaum einem Opernfan der großen romantischen Werke wird der Name der kanadischen Altistin Huguette Tourangeau unbbekannt sein – im Umkreis der Sutherland-Opern ist sie immer wieder auf Platten  zu hören. Und man erstaunt ob ihrer unglaublichen Tiefe, ob der Besonderheit ihrer bemerkenswerten und hochindivuellen Stimme. Cremig wie eine spanische Süßspeise, herb wie ein bitterer Mandellikör und fast drei Oktaven umgreifend, hatte sie eine wirklich herausragende, dunkle, samtige Altstimme. Glottis und forsches Brustregister eingeschlossen – eine ideale Barock- und Belcanto-Altistin. Vielleicht klang sie in manchen Partien, wie ihrer unvergesslichen Mignon, ein wenig zu robust, aber als Parseis neben der Esclarmonde der Sutherland beherrscht sie die Szene, fügt sich ideal in die Duette und Ensembles ein. Carmen war vielleicht nicht so ganz ihre Lage, aber die bei Decca aufgenommene Thérèse, die Muse/ Nicklausse  im Bonynge-schen Hoffmann und vieles mehr lassen sie als eine der Großen des dunklen Gesangs bestehen – mit einer Stimme wie samtiger Burgunder.

Sie ist nun mit achtzig am 21. April 2018 im heimischen Montréal gestorben, sah auf den letzten Fotos vielleicht nicht mehr ganz so ravissante aus wie auf den wunderbaren Decca-Covers, denen sie einen Teil ihres Ruhms auch verdankt, denn diese gewisse geheimnisvolle Aura umgab sie photographisch von Beginn an, als ihre ersten Solo-Platten auf den Markt kamen. Sie war eine Entdeckung von Richard Bonynge, in dessen entourage sie viel auftrat und ohne dessen Ehefrau auch ihre Karriere langsam auslief. Sie war die Rollenbegleiterin der Sutherland in deren späteren Jahren, anders als die Vorgängerin Marilyn Horne, dunkler, glutvoller und eben geheimnisvoller. In ihrer großen Zeit ließ sie immer wieder die Musikfans aufhorchen ob dieser ungewöhnlichen Stimme mit der delektablen Klangfarbe und den mutigen Brusttönen. Und was hatte sie für ein Rollenrepertoire! Von Händels Cesare bis zu Carmen, von Bertarido bis Malika, von Orfeo bis Adalgisa und Elisabetta/Maria Stuarda durchmaß sie mehr als dreißig Partien und machte diese zu den ihren, unvergesslich. Nachstehend ein Auszug aus Wikipedia und eine ausführliche Würdigung aus der Canadian Encyclopedia (in Englisch). G. H.

 

Huguette Tourangeau (* 12. August 1938 in Montreal; † 21. April 2018)  wurde am Konservatorium in Québec unter anderem von Richard Bonynge ausgebildet, der ihr wichtigster Förderer war. Er beteiligte sie an Aufführungen als Partnerin von Joan Sutherland und auch an einigen seiner Operneinspielungen. 1964 gewann Tourangeau den Gesangswettbewerb „Auditions of the Air“ in New York. Gemeinsam mit dem Ehepaar Bonynge/Sutherland trat sie in Seattle als Mallika in Lakmé, in London als Urbain in Les Huguenots, in San Francisco als Elisabetta in Maria Stuarda, Adalgisa in Norma und als Prinz Orlofsky in Die Fledermaus auf.

Außerdem war sie in Vancouver, Boston, Hamburg, Amsterdam, Mexiko-Stadt, Dallas, Houston, Philadelphia und Santa Fé zu hören. 1973 gab sie ihr Debüt an der Metropolitan Opera New York als Nicklausse in Les Contes d’Hoffmann mit Plácido Domingo als Partner. Sie war vor allem Interpretin des französischen sowie des Belcanto-Repertoires. Ihr Ehemann Barry Thompson war von 1975 bis 1978 Leiter der Oper in Vancouver. (Quelle Wikipedia)

 

Huguette Tourangeau: (Marie Jeannine) Huguette Tourangeau. Mezzo-soprano (born in Montreal on 12 August 1938;  died on 21 April 2018), deuxieme prix (CMM) 1964. She graduated in pedagogy and piano from the Marguerite-Bourgeoys College and in 1958 enrolled at the CMM for voice study with Ruzena Herlinger, repertoire with Otto-Werner Mueller, and declamation with Roy Royal. In 1962 she was soloist in Monteverdi’s Vespro della Beata Vergine for the Montreal Festivals. In 1964 she made her debut as Mercédès in Carmen under Zubin Mehta, who encouraged her to take part in the Metropolitan Operaregional auditions. A finalist among the 5000 candidates, she won a $2000 prize from the Fisher Foundation and was engaged to sing 1964-5 with the Metropolitan National (touring) Company.

In the summer of 1964 Tourangeau sang Cherubino in The Marriage of Figaro under Richard Bonynge’s direction at the Stratford Festival, and during the 1965-6 season she appeared in the title role of Carmen in 56 North American cities with the Metropolitan National Company and repeated the role with the New York City Opera. During Expo 67she appeared as Siebel in Faust. Around that time she began to appear and record with Joan Sutherland and Bonynge. She was heard in Seattle (Mallika in Lakmé), London (Urbain in Les Huguenots), and San Franciso (Elisabetta in Maria Stuarda, Adalgisa in Norma, and Orlofsky in Die Fledermaus). At the Hamburg State Opera, in the title role (originally alto castrato) of Handel’s Julius Caesar and then in Carmen, she was a marked success. In the fall of 1972 she appeared in Vancouver and Edmonton performances of Lucrezia Borgia.

On 28 Nov 1973 Tourangeau made her Metropolitan Opera debut as Nicklausse in The Tales of Hoffmann (the New York Times described her as ’splendid‘). The same year, she sang Bertarido in Handel’s Rodelinda at the Holland Festival. Tourangeau excels also in light opera, and in 1972, and again in 1973, with the Santa Fe Opera, she sang the title role of The Grand Duchess of Gerolstein. In June 1974 she joined Joan Sutherland in Australia for the inaugural season of the Sydney Opera House. Other important roles Tourangeau sang in the 1970s included Dorabella in the Metropolitan Opera’s Così fan tutte (1975), Arsace in Semiramide for the Vancouver Opera (1975), Rosina in the Edmonton Opera’s The Barber of Seville (1976), the title role in Carmen (16 performances) for the Sydney Opera (1977), and Elisabetta in Maria Stuarda at Covent Garden (1977, her debut there). In 1978 she sang Zerlina in Don Giovanni at the Metropolitan, in 1979 Orfeo in Orfeo ed Euridice at the Holland Festival, and Carmen with the Société lyrique d’Aubigny at the Grand Théâtre in Quebec City.

In 1977 Tourangeau became the first recipient of the Canadian Music Council’s artist of the year award. Her voice is a flexible mezzo-soprano adaptable to the wide range of the mezzo repertoire, from Rossinian coloratura to the robust sound required by the trouser roles of German opera or the lyric mezzo of the French heroines. She began teaching voice in Montreal in 1984. Her husband, Barry Thompson, was manager of the Vancouver Opera 1975-8 and of the Edmonton Opera Association. Huguette Tourangeau was appointed a Member of the Order of Canada in July, 1997. (Quelle Canadian Encyclopedia/ Foto oben: Ausschnitt aus der Decca-LP/ CD „Arias from forgotten Operas“)

Newcomer, Breakdancer, Countertenor

 

Der 1990 geborene Countertenor Jakub Józef Orliński ist auch ein gefragter und gefeierter Breakdancer, der bereits in Werbefilmen namhafter Firmen und Konzerne aufgetreten ist. Ein Talent, das der junge Pole 2017 in der Rolle des Orimeno in Cavallis Erismena beim Festival in Aix-en-Provence auch auf der Bühne bewies. In Frankfurt sang er in dieser Saison die Titelrolle in Händels Rinaldo, bei den Karlsruher Händel Festspielen partizipierte er letztes Jahr in einem Konzert, die Kritiken zu seiner Stimme sind vielversprechend. Nach einer Vivaldi-CD bei Erato ist nun beim polnischen Label Ëvoe Music eine Händel-CD namens Enemies in Love erschienen, die Orliński zusammen mit der polnischen Mezzosopranistin Natalia Kawalek sowie dem mit 10 Musikern besetzten Klangkörper Il Giardino d’Amore unter Dirigent und Violinisten Stefan Plewniak aufgenommen hat, der die Sänger mit federnd-akzentuiertem und flottem Spiel schwungvoll begleitet. Beide Sänger haben jeweils vier Arien, zusammen singen sie vier Duette. Natalia Kawałek gehörte 2014-16 dem Jungen Ensemble des Theater an der Wien an und sang dort u.a. Armida in Rinaldo und Carmen, beim Glyndebourne Festival debütierte sie 2016 als Cherubino. Ihre Stimme ist jung und agil und bereits mit schöner Ausdrucksbandbreite. Sie startet mit der Gleichnisarie der Dorinda „Amor e qual vento“ aus Orlando, die sie fast beschwingt und mit Mut zur stimmlichen Tiefe interpretiert. Die flattrige Arie der Ginevra „Volate Amori“ aus Ariodante gelingt ihr leicht dahin geseufzt, „Vo far guerra„, Armidas von virtuosem Cembalo bravourös begleitete Arie aus Rinaldo, hat man im gesanglichen Affekt schon bestimmter gehört, das Arioso der Armida „Furie terribili“ bringt die Leidenschaften vokal zum Kochen. Jakub Józef Orlińskis Auswahl ist weniger temperamentvoll als bei Kawałek, er beginnt mit „A dispetto d’un volto ingrato“ aus Tamerlano, das bei ihm mehr nachdenklich als zornig klingt, seinen Koloraturen fehlt ein wenig die Prägnanz. Aus Partenope folgt „Furibondo spira il vento„, doch das Furibondo drückt sich viel mehr in der Musik als im Gesang aus. Das langsame „Stille amare“ aus Tolomeo gelingt hingegen ausdrucksstark. Bei „Dove sei, amato bene?“ aus Rodelinda bietet sich ein aktueller Vergleich an. Franco Fagioli hat auf seiner vor wenigen Monaten bei DG erschienen CD mit Händel-Arien ebenfalls dieses Stück gesungen und es wehmuts- und sehnsuchtsvoll zelebriert und damit im Ausdruck besser getroffen als Orliński, bei dem es an ein schlankeres Wiegenlied erinnert. Die Duette funktionieren, beide Stimmen ergänzen sich sehr gut ohne aufgrund der unterschiedlichen Farben zu verschmelzen, zu hören sind „Troppo oltraggi la mia fede“ aus Serse, ein traurig-schönes „Io t’abbraccio!“ aus Rodelinda, ein adäquat konfrontierendes „Fermati!“ aus Rinaldo und am Schluß steht der ruhig-sehnsüchtige Abschied, „Addio! mio caro bene“ aus Teseo. Orliński und Kawałek mag es noch gelegentlich an Ausdruck mangeln, dennoch hat man hier zwei attraktive Stimmen, von denen man auch weiterhin noch hören sollte. Das viersprachige Programmheft ist informativ und wertet die CD weiter auf. (Ëvoe Music, Ëvoe 005) Marcus Budwitius

Zum Hundertsten

 

Astrid Varnay war meine erste Brünnhilde. Nicht auf der Bühne. Sondern auf der Schallplatte. Schon in ganz jungen Jahren hatte ich mir die Reclam-Texthefte der Werke Wagners vom knapp bemessenen Taschengeld im Jenaer Antiquariat gekauft. Für ein paar Groschen. Einige waren noch in Fraktur gedruckt. Also eignete ich mir das altmodische Schriftbild an. Ich las und las und verstand trotzdem nicht alles. Tagelang brütete ich über der Götterdämmerung. Was bedeutete das bloß? Es gab noch kein Internet, das rasch zu befragen gewesen wäre. Der Vierzehnjährige (ich) blieb sich seiner Phantasie überlassen. Enttäuscht war ich, dass dieses Werk nicht mit einem gigantischen Schlusschor schloss, sondern nur mit dem nicht enden wollenden Gesang der Brünnhilde. Wie würde das wohl klingen?

Meine erste Wagnerplatte war das auf einen Querschnitt mit eigenen Übergängen zusammengedampfte Rheingold unter Rudolf Kempe. Musste ich mir so prachtvoll wie den Gewitterzauber und den Einzug der Götter in Walhall das Ring-Finale musikalisch vorstellen? Der Zufall wollte es, dass ich bald an Peter, einen Studenten der Theologie, geriet. Wir kamen auf Musik, auf Wagner. Und schon zog er eine Platte hervor: „Starke Scheite schichtet mir dort“ und „Heil dir Sonne“. Das war eine Offenbarung, eine Initialzündung. Nur einmal erlebt man das so in seinem Leben. Meine Liebe zu Wagner und ganz allgemein zur Musik ging in starkem Maße von dieser Platte aus. Wie sich die Stimme mächtig erhob, über dem Orchester triumphierte, gegen das Feuer warf und schließlich mit feierlicher Geste darin verstummte. Endlich hatte ich auch begriffen, was Götterdämmerung bedeutete und, dass dieser Gedanke auch eine starke musikalische Komponente hat. Die Varnay konnte ihn mir vermitteln. Mehr noch. Sie brachte die Texte, die ich zuerst auswendig gelernt hatte, zum Klingen, versah sie mit einer völlig neuen Dimension. Seither habe ich sie nie mehr nur rein literarisch lesen können wie ein Stück von Ibsen, Hauptmann oder Lessing. Mit der Varnay im Ohr wandelten sie sich immer in Töne.

Mit der Zeit traf ich zwar auf schönere Stimmen. Wahrhaftigkeit im Ausdruck aber hatte mich die Varnay gelehrt. Deshalb fand ich nie Gefallen an technisch geschulten Stimmen mit perfektem Sitz, traumwandlerischer Sicherheit und Glanz. Gesang muss mitteilen, Text und Melodie glaubhaft machen können. Geschichten erzählen, deuten, Worte und Gesten auslegen. Mir scheint, die Varnay hat immer gewusst, was sie singt. Im Vergleich mit der um sechs Jahre älteren Martha Mödl dringt sie nicht ganz so tief in die Figuren vor. Sie bleibt immer eine Spur allgemeiner. Wenn die Mödl auf der Bühne stirbt, wird die Varnay allenfalls ohnmächtig. Beide unterhielten ein herzliches Verhältnis, frei von Konkurrenzneid. Sie duzten sich. Und nicht nur einmal schwärmte die Varnay von der magischen Tiefe der Kollegin und nannte sie eine „Operntragödin reinsten Wassers“.

Astrid Varnay kam am 25. April 1918 in Stockholm zur Welt. Dort waren ihre Eltern, gebürtige Ungarn, als Sänger engagiert. 1920 siedelte die Familie nach New York um. In ihren Memoiren „Hab mir‘s gelobt“, die 1997 im Henschel Verlag Berlin erschienen sind, ist alles nachzulesen. Die Sängerin erzählt genau, atmosphärisch dicht und unterhaltsam. Für mich gehört dieses Buch, das eine neue Auflage verdiente, zu den besten seiner Art, weil ihr eigenes Leben mit den Ereignissen der Zeit und mit den Erinnerungen an namhafte Kollegen verwoben ist. Der Titel greift ein Zitat der Marschallin aus dem Schlussterzett des Rosenkavalier auf. Hugo von Hofmannsthal, der Textdichter von Strauss, ist eine unversiegbare Quelle für in Worte gefasste Lebensweisheiten. Die Varnay hat selbst die Marschallin gesungen, 1953 an der Met und auf einer der üblichen Rundreisen des Ensembles durch die amerikanischen Bundesstatten. Sie war eine ihrer wenigen Rollen außerhalb des Wagner-Fachs in den USA. Ein Mitschnitt von 1953 hat sich erhalten, der es aber mit anderen berühmten Marschallinen nicht aufnehmen kann.

Die Memoiren von Astrid Varnay sind im Henschel Verlag Berlin erschienen (ISBN 3-89487-267-5). 

Was bleibt von der Varnay in ihrem virtuellen hundertsten Jahr? Die schon erwähnte Platte, die eine meiner Lieblingsplatten geblieben ist, hat längst den Weg auf CD gefunden. Aufgenommen zwischen 1954 und 1955 im Münchener Herkulessaal, wird das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunk von Hermann Weigert, dem Ehemann der Sängerin geleitet. Noch in den USA hatte er mit ihr, die gerade mal zwanzig war, das gesamte, für sie infrage kommende Wagner-Repertoire erarbeitet. 1944 wurde geheiratet. Weigert hatte frühzeitig die Möglichkeiten erkannt, Opernmusik mithilfe von Tonträgern zu den Menschen in ihre eigenen vier Wände zu bringen. So war er bereits Ende der 1920er Jahre maßgeblich daran beteiligt, im Rahmen der Electrola-Edition „Heimbühne“ Opern in Kurzform auf Schelllackalben zu pressen. Weigert war nicht der begnadetste Dirigent, dafür aber ein umtriebiger Organisator, Manager und Lehrer, ohne den die Karriere seiner Frau ganz anders verlaufen wäre. Studioeinspielungen stehen in der Diskographie der Varnay nicht in der umfangreichsten Abteilung. Zu erwähnen sind noch die Todesverkündigung aus der Walküre, besagtes Siegfried-Finale, der Prolog aus der Götterdämmerung „Zu neuen Taten, teurer Helde“ sowie große Szenen aus Tristan und Isolde. Immer ist Wolfgang Windgassen ihr Partner, mit dem sie auch sehr oft auf der Bühne gestanden hat. Von der Varnay zu reden, das schließt Windgassen ganz automatisch mit ein. Obwohl beider Stimmen diametral sind – hier die mitunter wild auffahrende Hochdramatische, dort der eher lyrische Windgassen – geben sie letztlich dennoch ein Paar ab, das mehr durch Professionalität als durch natürliche stimmliche Übereinstimmungen zusammen findet. Sie konnten sich aufeinander einstellen und setzen sich nicht durch Alleingänge vom jeweils anderen ab. Beide waren das, was heute als Teamplayer gilt.

Die Astrid-Varnay-Box bei der Deutschen Grammophon

Die Deutsche Grammophon hatte die Wagner-Aufnahmen, wozu auch die Wesendonck-Lieder und Beethovens Konzertarie Ah! Perfido“ gehören, ergänzt um einige Szenen aus Opern von Verdi – Un ballo in Maschera und La Forza del destino – in einer handlichen Edition aus drei CDs herausgebracht, die noch immer zu haben ist (474 410-2). Verdi liegt der Varnay weit weniger als Wagner. Er gerät zu scharf, ohne Italianità. Allenfalls die Lady Macbeth, die live vom Maggio Musicale Florenz in der Originalsprache (1951) und aus dem Studio des Westdeutschen Rundfunks (1954) in Deutsch überliefert ist, kann sie durch Gift und Galle in der Stimme glaubhaft machen. Den stärksten Eindruck hinterlässt sie in ihren vielen Mitschnitten. Im Studio vor dem Mikrophon muss sie sich zu sehr zügeln und zurücknehmen. Obwohl ihre Disziplin als Künstlerin anerkannt ist, beim Singen braucht sie die Freiheit der Bühne. Dort habe ich sie leider nicht erleben können. Ich war zu jung, und die Varnay trat in der DDR, wo ich wohnte, nur Anfang der Sechziger einmal als Isolde in Dresden auf, vor meiner aktiven Opernzeit. Wer aber ihrer Vorstellungen besuchte, wurde – wie mir alle versicherten – von ihrer Bühnenpräsenz, ihrer Gestaltungskraft und der hoch individuellen Stimme mitgerissen, die über schier endlose Reserven gebot. Die Liveaufnahmen vermitteln davon nach übereinstimmender Aussage von Zeitzeugnissen einen starken Eindruck. Ihre Domäne war und blieb jedoch Richard Wagner. Schon 1951 bei den ersten Bayreuther Festspielen nach dem Zweiten Weltkrieg war sie als Brünnhilde im Ring des Nibelungen dabei. Ihre letzte Vorstellung – ebenfalls in dieser kräftezehrenden Rolle in der Götterdämmerung – sang sie am 23. August 1967.

Diese Walküre gehört zum ersten Ring-Zyklus, der 1955 im Bayreuther Festspielhaus in Stereo mitgeschnitten wurde. Er ist bei Testament erschienen (SBT4 139).

Das war eine der Vorstellungen, in denen mit der Varnay, die mit Birgit Nilsson alternierte, Martha Mödl als Waltraute und Ludmila Dvorakova als Gutrune, Anja Silja als Dritte Norn und Helga Dernesch als Wellgunde gleichzeitig fünf Brünnhilden auf der Bühne standen. So etwas war seinerzeit nur in Bayreuth möglich. Offiziell sind nunmehr Ortrud (Teldec 1953 und Philips 1962), Senta (Teldec und Orfeo 1955, Brünnhilde in der Götterdämmerung (Testament 1951) sowie komplette Ringe (Testament 1955, Orfeo 1953 und 1956) auf CD erschienen. Der dritte Aufzug der Walküre aus dem von Herbert von Karajan geleiteten ersten Nachkriegs-Ring erschien bei EMI. Hinzu kommen zahlreiche Mitschnitt bei Labels, die nicht den offiziellen Segen der Festspielleitung fanden, die aber den Ruhm der Sängerin schon frühzeitig auf LPs und CDs in alle Welt trugen. Als Besonderheit muss der Ring von 1955 herausgestellt werden, weil er – wie der Holländer aus demselben Jahr – in Stereo ist. Decca war damals mit der neuesten Technik angereist und hatte zunächst die Absicht, den Mitschnitt offiziell herauszubringen, sich dann aber für die Studioproduktion in London unter Georg Solti entschieden. Teldec (damals der deutsche Arm der Decca) hingegen schnitt den Holländer ebenfalls mit und brachte ihn ärgerlicherweise in Mono heraus, obwohl ja die Stereo-Bänder vorlagen, wie man auf den sehr viel später nun in England erschienenen Decca-Billig-LPs erfuhr. Testament holte die Ring-Bänder aus dem Decca-Archiv, restaurierte sie und überraschte damit 2006 eine staunende Öffentlichkeit. So packend, so dramatisch, ja rauschhaft hatte die Ring-Musik aus dem verdeckten Orchestergraben in dieser Phase der Festspiele bisher nie geklungen. Auch die Sänger schienen leibhaftig aus den Lautsprechern herauszutreten. Das Drama vollzog sich plötzlich im Wohnzimmer jener Sammler, die sich die Anschaffung der viel gepriesenen Editionen gönnten. Wenig später legte Testament nach und brachte aus dem zweiten Aufführungszyklus von 1955 ebenfalls in Stereo Walküre und Götterdämmerung heraus. Diesmal blieben mehr Bühnengeräusche bewahrt, was die Authentizität verstärkte. Die Varnay wechselte sich mit der Mödl als Brünnhilde ab und übernahm die Sieglinde, die ihr darstellerisch wie stimmlich nicht mehr so lag, sowie die Dritte Norn, mit der sie ebenfalls besetzt war.

Dabei ist Sieglinde ihre Schicksalspartie. Die junge Elevin war mir gerade mal 22 Jahren nach einem sehr erfolgversprechenden Vorsingen an die Metropolitan Opera engagiert worden, was ohnehin eine Ausnahme darstellte. Noch vor ihrem offiziellen Debüt als Elsa rettete sie am 6. Dezember 1941 eine Aufführung der Walküre, indem sie für die erkranke Lotte Lehmann, einen Weltstar, einsprang. Durch die Radioübertragung erlangte sie auf einen Schlag Berühmtheit. Ein neuer Stern am Opernhimmel war aufgegangen. Die Geschichte wurde oft erzählt worden. Auch ihre Memoiren beginnt die Varnay damit. Der Radio-Mitschnitt dieser Vorstellung wurde bisher aber nie offiziell auf den Markt gebracht. Dabei hat er durch das sichere und leidenschaftliche Auftreten der Debütantin, die bis dahin niemand kannte, seine ganz eigenen musikhistorischen Qualitäten.

Diese Schallplatte der Deutschen Grammophon mit den Schlussszenen aus Siegfried und Götterdämmerung trug erheblich zum Ruhm von Astrid Varnay bei.

Wenngleich es möglich gewesen wäre, sind aus der Glanzzeit der Varnay keine Filmdokumente überliefert. In dieses Manko teilt sie sich mit vielen Sängerkollegen ihrer Generation. Wir sind auf Beschreibungen ihrer Bühnenpräsenz angewiesen – und auf Fotos. Am meisten zitiert wird noch heute der Künstlerische Leiter der Bayreuther Festspiele Wieland Wagner. Auf seine leeren Bühnen angesprochen, sagte er: „Wozu brauche ich einen Baum auf der Bühne, wenn ich Astrid Varnay habe.“

Dafür gibt es aus ihrer späten Phase, in der sie einen altersbedingten Fachwechsel vollzogen hatte, gleich mehrere Produktionen (und einige optische Dokumente auch bei youtube). Aus der Salome war inzwischen die Herodias, aus der Elektra die Klytämnestra geworden. Der Regisseur Götz Friedrich hatte sie 1974 und 1981 für die Verfilmungen der Einakter für die Deutsche Grammophon geholt – musikalisch betreut von Karl Böhm. Beide Charaktere sind als morbide, dem Verfall preisgegebene Endzeitgestalten angelegt. Mit den Resten ihrer Stimme macht sie dieses Konzept durchaus glaubhaft und scheut sich nicht, das eigene Alter erbarmungslos zur Schau zu stellen. Was in einer Vorstellung auf großer Bühne gut und richtig sein kann, muss im Fokus der Kamera noch lange nicht funktionieren. Friedrich und mit ihm seine singenden Darsteller – ausgenommen Teresa Stratas als Salome – tragen zu dick auf und neigen dazu, ihre Rollen zu überzeichnen. Insofern wirken die Filme auf mich trotz ihrer größeren Nähe zur Gegenwart historischer als manche Tonspur, die dreißig Jahre früher aufgezeichnet wurde. Rüdiger Winter

Das große Foto oben ist ein bearbeiteter Ausschnitt des Coverbildes der EMI-Dacapo-Langspielplatte (Lauterwasser): Astrid Varnay als Brünnhilde dar. Auf der LP finden sich auch noch die Hallenarie und der Liebestod unter George Sebastian sowie Elsas Traum und die Szene der Kundry „Ich sah das Kind“ unter Hermann Weigert. Beide Male spielt das Philharmonia Orchestra London. Eine CD-Neuauflage bei Warner wäre begrüßenswert.

Festspieldokument aus Karlsruhe

 

Von den drei deutschen Händel-Festspielstätten ist Karlsruhe die jüngste – erstmals 1985 wurden dort Händel-Festspiele in Zusammenarbeit mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe veranstaltet. Von Beginn haben sich die Festspiele das Ziel gestellt, seltene Werke des Komponisten wiederaufzuführen. So im Jahre 2016 das Dramma per musica Arminio, das bei seiner Uraufführung in London 1737 wenig Erfolg hatte und seither zu den kaum gespielten Opern Händels zählt. 2017 wurde die Produktion wegen des großen Erfolges wieder aufgenommen und von Cmajor für eine DVD-Veröffentlichung aufgezeichnet (744408, 2 DVD).

Seit einigen Jahren ist der österreichische  Countertenor Max Emanuel Cencic (* 21. September 1976 in Zagreb) eine feste Größe im Karlsruher Festspielgeschehen. Inzwischen tritt er dort nicht nur als Sänger in Erscheinung, sondern auch als Regisseur – wie bei diesem Arminio, wo er die Titelrolle verkörpert und das Stück, das einen spätantiken Konflikt zwischen Germanen und Römern behandelt, inszeniert hat. Das Libretto von Antonio Salvi hatte 1703 bereits Alessandro Scarlatti  vertont, Händel und ein unbekannter Mitarbeiter kürzten vor allem die überlangen Rezitativ-Passagen der Vorlage.

Für Cencic ist Arminio „eine der besten Opern, die Händel je geschrieben hat“. Im Bühnenbild von Helmut Stürmer, einem Architekturgebilde auf der Drehbühne, das den Eindruck der Zerstörung weckt, inszeniert er schlüssig (mit einigen neckischen Gags und überdeutlichen sexuellen Anspielungen, die entbehrlich gewesen wären). Die Sänger, die in opulenten barocken Kostümen von Helmut Stürmer und Christoph Häcker zu großer Wirkung kommen, positioniert er zumeist an der Rampe oder auf einem Podest im Zentrum, was ihnen die gebührende Aufmerksamkeit sichert.

Der Titelheld ist ein Cheruskerfürst, der aus der Schlacht mit römischen Legionen geschlagen ins germanische Reich zurückkehrt und mit seiner Gattin Tusnelda flieht. Ihr Vater Segeste verrät die Flucht dem römischen Feldherrn Varo, der Tusnelda begehrt und Arminio gefangen nehmen lässt. Er verlangt von ihm bedingungslose Unterwerfung, doch Arminio widersetzt sich standhaft und fürchtet auch den Tod nicht. Der Konflikt löst sich im 3. Akt und führt zum lieto fine – Arminio ist wieder glücklich vereint mit seiner Tusnelda und verspricht Segestes Sohn Sigismondo die Hand seiner Schwester Ramise.

Regelmäßig arbeitet Cencic mit dem Dirigenten George Petrou und dessen Ensemble Armonia Atenea zusammen. Auch hier sorgt der Klangkörper für ein affektreiches Spiel, setzt schon in der Overture energische Akzente und weiß die emotionalen Kontraste der Musik plastisch auszumalen.

Die Handlung beginnt mit dem Duett Arminio/Tusnelda „Fuggi, mio bene“, das in seinem erregten Duktus die ernste Situation des Paares, das eilig seine Flucht vorbereitet, widerspiegelt. Lauren Snouffer ist ein neuer Stern am Händel-Himmel – ein kristallklarer, in der Höhe leuchtender Sopran mit der gebührenden Flexibilität für das barocke Zierwerk. In der Arie „Scagliano amore“ zeigt sie mit furiosen Koloraturen eindrücklich ihren Seelenzustand zwischen Gattenliebe und dem Hass auf den römischen Eroberer Varo. Gegen Ende des 1. Aktes demonstriert sie in der schmerzlich-empfindsamen Arie „E vil segno“ ihre lyrischen Qualitäten und beschließt den 2. Akt betörend mit „Rendimi il dolce sposo“, wonach Varo sie brutal vergewaltigt.  Im 3. Akt kann sie bei „Va, combatti“ noch einmal ihre Bravour demonstrieren und am Ende ihre Stimme mit der ihres Gatten ein weiteres Mal in einem Duett („Ritorna nel core vezzosa“) vereinen.  Beide besingen in prachtvollen Barockroben freudig und in schönster vokaler Harmonie ihr Glück.

Max Emanuel Cencic zeigt schon im ersten Solo des Titelhelden „Al par della mia sorte“ seine optimale Form an; die Stimme klingt rund und weist auch in der exponierten Region keine Schärfen auf. Der Forderung, sich den Römern zu beugen, widersetzt er sich heldenhaft – davon zeugt seine effektvolle Arie „Sì, cadrò“ mit wilden Koloraturläufen. In starkem Gegensatz dazu steht das  leidvoll-getragene „Vado a morir“ als bewegendes Seelengemälde des Abschieds von seiner Gattin, in welchem Cencic die Stimme ganz sanft fließen lässt. Freudig bewegt ist seine Arie im 3. Akt, „Fatto scorta al sentier della Gloria“, welche mit jubelnden Koloraturen die wieder gewonnene Freiheit preist.

Seinem Gegenspieler Varo verleiht Juan Sancho den hochmütigen Ausdruck des Siegers und einen Tenor von männlich-entschlossenem Klang. Seine erste Arie, „Al lume di due rai“, erfüllt er mit energischer, zum Kampf bereiter Gebärde. Auch„Mira il Ciel“ im 3. Akt ist von heroisch-auftrumpfendem Charakter, und Sancho setzt seine Stimme mit angemessener Attacke ein.

Pavel Kudinov sorgt als Segeste mit reifem Bass von leicht brummigem Ton für die dunklen Farben im Klanggefüge. Sein Sohn Sigismondo als Liebhaber von Arminios Schwester Ramise ist eine klassische Hosenrolle. Aleksandra Kubas-Kruk singt sie mit larmoyantem Mezzo, was die klagende Arie „Non sono sempre vane larve“ noch unterstreicht. Den 1. Akt beendet sie mit „Posso morir“, das zwischen introvertierten Passagen und solchen von aufbrausendem Duktus wechselt, in denen man in der oberen Lage unangenehm bohrende Töne vernimmt. Am besten gelingt ihr das Koloratur gespickte „Quella fiamma“ im 2. Akt, weil es auch das virtuose Vermögen der Interpretin erkennbar macht. Die Figur der Ramise inszenierte Cencic unangebracht als Komische Alte. Schon die fuchsrote Perücke als hoher Turmbau wirkt lächerlich, nicht weniger die drollige Mimik und Gestik der offenbar auch alkoholisierten Jungverliebten. Gaia Petrone wirft sich lustvoll in diese bizarre Aufgabe, lässt dazu einen interessant getönten Alt hören. Die Stimmführung ist unorthodox, aber nicht ohne Effekt. Die Besetzung bietet in Person von Owen Willetts als römischer Tribun Tullio noch eine angenehme Überraschung. Der Countertenor wartet in der Arie „Non deve Roman petto“, die seinen leichtfertigen Charakter offenbart, mit Sinnlichkeit und Koloraturgewandtheit auf. Auch sein Solo im 2. Akt, „Con quel sangue“, zeigt die Stimme in schönem Ebenmaß des Tones und mühelosem Fluss der Verzierungen.

2019 wird Max Emanuel Cencic in Karlsruhe Serse inszenieren und auch darin den Titelhelden singen – in Konkurrenz zu Franco Fagioli als Arsamene. Da darf man bei Cmajor schon jetzt wegen einer DVD-Produktion anklopfen. Bernd Hoppe

Holperige Träume

 

Zu früh? Il bel sogno ist nicht nur der Titel einer CD mit dieser und anderen Arien, er meint  auch den Traum einer jungen Sängerin, Carolina Lopez Moreno, die augenblicklich noch studiert, die aber mit Hilfe von 135 Unterstützern einer Crowdfunding-Kampagne bereits ungewöhnlich früh zu den Ehren einer Recital-CD gelangte, die der Hörer mit gemischten Gefühlen aufnimmt. Natürlich gefällt die junge, frische, mädchenhafte Sopranstimme, unüberhörbar aber sind auch Intonationsschwächen, die bereits im ersten Track, der Arie der Louise aus Charpentiers gleichnamiger Oper auftreten. Die Stimme klingt im Piano und in der mezza voce sehr schön, im Forte und dann besonders in den Höhen jedoch scharf, ja stellenweise sogar kratzig. Dort blüht der Sopran auch nicht auf, sondern wird eher dünn. Man wird hin- und hergerissen zwischen der Bewunderung für die angenehme Mittellage, die feinen Schwelltöne und der Enttäuschung über die scharfen Höhen. Für Liùs „Signor ascolta“ wünscht man sich neben der hellen Stimme auch Schattierungen, mehr chiaro-scuro und einen Schwellton am Schluss, der nicht ins Scharfe abgleitet. Violettas “Addio del passato“ zeigt eine schöne Melancholie im Timbre, aber zu wenig Agogik, und in beiden Strophen hätte man aus dem Schlusston mehr machen können. Hier und auch anderswo sind Stimme und Instrument (es begleitet Doriana Tcharakova am Flügel) nicht harmonisch aufeinander abgestimmt, das Klavier hämmert manchmal geradezu in die Stimme hinein. Gounods Juliette merkt man in der Interpretation von Lopez Moreno an, dass die Stimme über dem höchsten Ton kein Polster nach oben mehr hat, und ertrotzte Höhen sind bekanntlich kein reiner Hörgenuss. In der Rondine meint man eher eine Lisette als eine Magda zu hören, während die Ilia dem Entwicklungsstand des Soprans angemessen erscheint, der Charakter der mädchenhaften Figur sehr gut herausgearbeitet wird.

Die beiden moderneren Stücke aus Brittens Peter Grimes und Previns A Streetcar Named Desire werden in ihrer jeweiligen Atmosphäre, besonders  der Zustand zwischen Klarheit und Wahn im zweiten, gut getroffen, während die Operette (Vilja-Lied und Stolz‘ „Du sollst der Kaiser meiner Seele sein“) nicht zu dem jetzigen Zustand der Stimme passt, einfach zu wenig Erotik, Raffinesse und Erfahrung mit der Gattung  vernehmen lässt (ARS 754). Ingrid Wanja

Paolo Carrer: „Markos Botsaris“

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Angesichts der bizarren Drohungen des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan gegen Griechenland und seines Anspruches auf bestimmte griechische Inseln, angesichts der berechtigten alten Feindschaft der Griechen und Türken (wegen der unter großen Opfern errungenen Freiheit von den Türken/ Osmanen erst im 19. Jahrhundert und auch wegen der skandalösen und von der internationalen Gemeinschaft kaum  geahndeten Besatzung von Süd-Zypern) und angesichts der mürrisch gezahlten Milliarden-Leistungen für Griechenland seitens der EU mag man vergessen, was für ein Kulturland die EU retten wollte: nicht nur einen Verwalter der antiken Trümmer, sondern eben auch eine Gesellschaft, die sich als eigener Staat (mit zum Teil erzwungener und nicht uneigennütziger Hilfe des Westens) erst im 19. Jahrhundert etablierte und nach einer so wechselvollen Okkupation durch Fremdmächte (Osmanen) Identität und den Anschluss an Westeuropa suchte – in politischer wie kultureller Hinsicht.

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Eines der seltenen Fotos mit Carrer vor dem Plakat seiner Werke/Lyra

Kaum bekannt ist die Operngeschichte des Landes, das sich nach der Befreiung von den Türken Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest in der Oberschicht akut am Westen zu orientieren versuchte, vor allem in musikalischer und literarischer Hinsicht – erst an Italien, dann Deutschland und Frankreich (bemerkenswerter Weise ist die Popmusik dort nach wie vor orientalisch beeinflusst). In der Vergangenheit haben wir bereits einige Opern von Samara und Carrer vorgestellt, dessen Marathon-Salamis erst 2003! unter Byron Fidetzis an der Athener Oper Premiere in moderner Zeit hatte, ebenfalls eine Befreiungsoper. Aber als seine bedeutendste Oper gilt Markos Botsaris von 1858. Die Zahl 8 spielt eine weitere Rolle: 1828 gelang die Befreiung Griechenlands von den Türken….. Der undendlich scheinende Kampf der Kurden um eine eigene Identität drängt sich hier ins Bewusstsein…

Pavlas Carrer (oder westlich auch: Paolo Carrer, der stets auf seinem griechischen Namen bestand) war einer jener ausländischen Komponisten, an denen das Italien der Verdi-Zeit so reich war. Sie alle erhielten ihre musikalische Formierung meist in Mailand und gingen dann – nach beträchtlichen Erfolgen in Italien – in ihre Heimatländer zurück, wo sie umjubelte Nationalkomponisten wurden. Wie seine Kollegen Gomes (Fosca), Montero (Virginia), Zaijc (Amelia) oder sein etwas späterer Landsmann Samara (La Martire) wurde auch Carrer (um beim italienischen Namen angesichts seiner italienischsprachigen Opern zu bleiben) – nach einer Kindheit auf Korfu und in England und nach einem ersten Musikstudium bei Cricca und Mirangini auf seiner Heimatinsel Zakynthos – ebendort ausgebildet, denn 1850 übersiedelte er aus dem erst 1821 gegen die Türken revoltierenden Griechenland nach Italien und erlernte im Musikzentrum Mailand bei Bosserone, Tassistri und Winter sein Handwerk. Seine ersten Opern wurden in der Folgezeit mit Glanz am Teatro Carcano aufgeführt (so Dante e Beatrice 1852, lsabella d’Aspeno 1853 und La Rediviva 1854).

Zu Carrers Oper: Markos Botsaris/ Wiki

Bereits 1857 kehrte Carrer nach Zakynthos zurück, wo er die beiden letztgenannten Werke aufführen konnte. In beiden Fällen sang die Sopranistin lsavella (sic) Yara die Hauptrolle, und Carrer heirate sie kurz darauf  (was sich auf die Sopranlastigkeit seiner weiteren Opern auswirkte). 1858 wurden erstmals Auszüge seiner gegen die ehemalige türkische Herrschaft gerichteten Oper Marcos Botsaris in Athen in Anwesenheit des Königs (der von den westlichen Siegermächten eingesetzte deutsche Otto) gegeben. Das ganze Werk zu spielen bereitete Probleme, weil die ionischen Inseln (Zakynthos war der Heimatort Carrers) nach der Vertreibung der Türken unter britischer Herrschaft standen, während Festland-Griechenland bereits unabhängig war und das Thema der Oper Marcos Botsaris ein mühsam unterdrücktes, pangriechisches Vereinigungsverlangen anstachelte, das politisch nicht opportun schien und Griechenlands Position gegenüber den Weltmächten problematisch machte. Noch 1861, als in Patras eine komplette erste Aufführung zustande kam, gab es Unruhen im Publikum, als im 1. Akt das interpolierte Freiheitslied „O yero Demos“ erklang und weitere Aufführungen darauf untersagt wurden – Oper als Ausdruck politischen Volkswillens lässt an Verdi und Auber denken.

Zwischen  Verdi und dem Verismo – die Musik: Carrer muss als eine der großen Pionierfiguren in der Geschichte der abendländischen (i. e. westlich orientierten) Musik in Griechenland nach der abgeschüttelten Unterdrückung durch die Ottomanen gelten. Er war dort vor seinem späteren Kollegen Samara vielleicht der am meisten gespielte griechische Komponist im 19. Jahrhundert. Er gilt zudem als einer der wichtigsten Vertreter der ionischen (d. h. nicht dem Festland zugehörigen) Schule Griechenlands, der er sich mit seinen Opern über bedeutende Persönlichkeiten der griechischen Geschichte und in seiner Wendung gegen die türkische Unterdrückung widmete. Trotz seiner sehr kurzen Ausbildungszeit in Italien, aber doch auch durch seine vorausgehende Formierung in italienischer Idiomatik, erinnert sein Stil sehr an die Sprache eines frühen Verdi, wenngleich seine Opern große Ähnlichkeiten zu Bellini (Norma vor allem) und Donizetti aufweisen. Dabei zeigt seine Musik nicht wirklich die sonst für diese Exil-Komponisten typische „Ponchielli“-Sprache eines allgemeinen parallel-verdianischen Idioms. Sie ist sehr reichhaltig an Cabaletten, plötzlichen Stimmungsumschwüngen, an Chorpassagen, die mit fast reißerischen Momente an den Trovatore oder Attila erinnern, an langen, hervorragend aufgebauten Solo­-Auftritten mit dankbaren und außerordentlich belkantesken Ausformungen, ohne in wirklich konservativen Ziergesang münden. George  Leotsakos schreibt im Opera Groves von einer „spontan  eingefangenen“  Melodie  mit Blick auf enorme  Bühnenwirksamkeit, üppig und flüssig in ihrem Effekt und von direkter dramatischer Zielrichtung .

Zu Carrers „Markos Botsaris“:Griechischer Freiheitskampf 1822/ Versenken der türkischen Flotte vor Chios/ farbige Lithographie/OBA

Carrers Begabung lag in der Tat eher im Erfassen von Atmosphäre statt in der Ausbreitung des Dramas – das schlägt sich in großen Tableaus  und  kontemplativen Soloszenen nieder, die hinter dem Voranschreiten der dramatischen Handlung zurückbleiben. Der Dirigent und eigentliche Pionier bei der Wiederentdeckung der griechischen Oper heute, Byron Fidetzis, der die Opern von Samara, Carrer und anderen im Westen kaum bekannten Komponisten Griechenlands mit entscheidenden Aufführungen/Aufnahmen wiederbelebt, versucht sogar, etwas spezifisch „Griechisches“ in diesen Werken zu beschreiben. Bei Carrer spricht er von der Einbindung folkloristischer  Lieder und Elemente, von einer bewussten Hinwendung zu einer neuen „griechischen Ästhetik“ der klassischen Musik, von spezifischen diatonischen und modal orientierten Strukturen dieser Musik, die viele Elemente der deutschen (!), russischen und nachfolgenden französischen Musik reflektiert und damit auf spätere, heutige Komponisten wie Kalomiris (Mutters Ring) weisen. Im Falle von Carrer muß zudem berücksichtigt werden, dass er ein außerordentlich abgeschiedenes Leben auf seiner Insel Zakynthos führte, also fast ohne Außeneinwirkungen das einmal Gelernte der ständigen Suche nach Ausdruck für neue Kompositionen unterzog . Er schrieb im weiteren Verlauf nach Marcos Botsaris (Athen 1858/ Patras 1861), Frossini (1879 Patras), Fior di Maria ovvero Misteri di Parigi nach Sué (Korfu, 1868), Maria Antonietta (Zakynthos 1884),  Despo (Patras 1882/Lyra CD), Marathon-Salamis (Salamis 1886, unaufgeführt und erst 2003 in Athen premiert, dazu auch unseren Artikel in der Rubrik Die vergessene Oper) sowie O konte Spourghitis (Athen 1888).

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Die Oper: Byron Fidetzis schreibt dazu: „Die Oper von Karrer, Markos Botsaris,  wurde um 1858 komponíert und am 18. (30.) April 1861 in Patras uraufgeführt im italienischen Original. Leider sind Partitur und der originale Klavierauszug verschollen, und nur ein miserabler Klavierauszug in einer schreckliche griechische Übersetzung ist erhalten mit allerdings genügenden Informationen über die Instrumentation.  Ich habe die Oper, diesen Informationen folgend, wieder instrumentiert und die Uebersetzung möglichst verbessert. Resultat ist die Aufführung von 29/4/15 mit dem Radioorchester Athen und University Choir.“

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Paolo Carrer und seine Frau, die Sängerin lsavella (!) Yara/OBA

Der tragische Titelheld Markos Botsaris (um 1788-1823) war ein griechischer General, Held des Griechischen Unabhängigkeitskrieges und Hauptmann der Soulioten. Er gehört zu den am meisten verehrten Nationalhelden in Griechenland. Botsaris wurde in einen der führenden Clans der Soulioten in der Region Souli, Epirus, geboren. Er war der zweite Sohn des Hauptmannes Kitsos Botsaris, der 1809 in Arta auf Befehl von Ali Pascha ermordet wurde. Der Botsaris-Clan kam aus dem Dorf Dragani (heute Ambelia) nahe Paramythia. Nach der Einnahme von Souli durch Ali Pascha im Jahre 1803 zogen sich Botsaris und die verbliebenen Soulioten auf die Ionischen Inseln zurück, wo er elf Jahre lang im Souliotenregiment der französischen Armee diente und einer der Regimentsoffiziere wurde.

1814 schloss er sich der griechischen patriotischen Gesellschaft namens Filiki Eteria an. 1820 kehrte er mit anderen Soulioten nach Epirus zurück und kämpfte während der Belagerung von Ioannina in der osmanischen Armee gegen Ali Pascha. Bald aber wechselten die Soulioten die Seiten und kämpften fortan mit den Truppen Ali Paschas gegen die Osmanen, wofür sie ihre ehemalige Region Souli zurückerhielten.

Zu Carrers „Markos Botsaris“: die auch in der Oper festgehaltene legendäre Ansprache des Bischofs Germanos an die Aufständischen/ Wiki

1821 nahm Botsaris an der Revolution gegen das Osmanische Reich teil. Er und andere Soulioten-Hauptleute, darunter Kitsos Tzavelas, Notis Botsaris, Lampros Veikos und Giotis Danglis, nahmen nur souliotische Mitstreiter in ihren Reihen auf. Beim Ausbruch des Griechischen Unabhängigkeitskrieges zeichnete er sich durch Mut, Hartnäckigkeit und Können als Partisanenführer bei den Kämpfen in Westgriechenland aus und trat bei der Verteidigung von Messolonghi während der ersten Belagerung der Stadt (1822/23) auffällig in Erscheinung.

In der Nacht des 21. August 1823 führte er einen gefeierten Angriff von 350 Soulioten auf Karpenisi, wo etwa 3.000 osmanisch-albanische Truppen die Vorhut der Belagerungsarmee von Mustafa Pascha, dem Pascha von Shkodra (das moderne Nordalbanien), bildeten. Dort gelang es ihm, die Belagerten neu anzuspornen. Botsaris‘ Männer überfielen das gegnerische Lager und verursachten schwere Verluste, doch wurde Botsaris selbst von einer Kugel in den Kopf getroffen und getötet. Er wurde mit zahlreichen Ehren in Messolonghi bestattet. Nachdem die Osmanen die Stadt 1826 erobern konnten, wurde sein Grab von ihren Truppen geschändet.

Viele seiner Familienmitglieder wurden zu Schlüsselfiguren des griechischen politischen Establishments. Markos‘ Bruder Kostas (Konstantinos), der ebenfalls bei Karpenisi kämpfte und den Sieg vollendete, wurde später zu einem angesehenen griechischen General und Parlamentarier im Königreich Griechenland. Er starb am 13. November 1853 in Athen. Markos‘ Sohn Dimitrios Botsaris, geboren 1813, war dreimal Minister unter den Königen Otto und Georg I. von Griechenland. Er starb am 17. August 1870 in Athen. Seine Tochter Katerina „Rosa“ Botsari stand in den Diensten von Königin Amalia von Griechenland. Evangelos Zappas, der berühmte Wohltäter und Begründer der modernen Olympischen Spiele, war Adjutant und enger Freund von Markos Botsaris.

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Zu Carrers Oper: Tod des Markos Botsaris/ Gemälde von Peter von Hess/ Wiki

Viele Philhellenen, die Griechenland besuchten, bewunderten Botsaris‘ Mut und zahllose Poeten schrieben Gedichte über ihn. Der amerikanische Dichter Fitz-Greene Halleck schrieb ein Gedicht mit dem Titel Marco Bozzaris. Juste Olivier schrieb 1825 ebenfalls ein preisgekröntes Gedicht. Der griechische Nationalpoet Dionysios Solomos verfasste ein Gedicht mit dem Titel Über Markos Botsaris, in welchem er die Trauer über Botsaris‘ Dahinscheiden mit den Wehklagen Hektors vergleicht, wie es im letzten Buch der Ilias beschrieben ist. Seine Erinnerung wird nach wie vor in populären griechischen Balladen hochgehalten.

Botsaris gilt weiterhin als der Autor eines griechisch-albanischen Lexikons, das 1809 auf Drängen von François Pouqueville, Napoleons Generalkonsul am Hofe Ali Paschas in Ioannina, auf Korfu geschrieben wurde. Dieses Wörterbuch ist für die Kenntnis des ausgestorbenen Souliotendialekts von Bedeutung. Obgleich das Buch als Botsaris-Wörterbuch bekannt ist, hat der Gelehrte Xhevat Lloshi in mehreren Werken argumentiert, dass Botsaris dieses Wörterbuch wahrscheinlich nicht selbst geschrieben hat, zum einen aufgrund seines jugendlichen Alters, zum anderen aufgrund einer Notiz Pouquevilles, die besagt, das Lexikon sei auf Anregung von Markos‘ Vater, Onkel und zukünftigem Schwiegervater entworfen worden.

In der griechischen Musik komponierte der zakynthische Komponist Pavlos Carrer im Jahre 1858 zu seinen Ehren die Oper Marco Bozzari. Im selben Jahr wurden Auszüge dieser Oper in Anwesenheit König Ottos in Athen aufgeführt. Außerdem gibt es mehrere Botsaris gewidmete Volkslieder, etwa einen Tsamikos aus Zentralgriechenland namens Lied des Markos Botsaris sowie von der griechischen Minderheit in Südalbanien (Nordepirus). Populäre Dramen und Schulspiele wurden kurz nach seinem Tode geschrieben.

Botsaris wurde zwischen 1976 und 2001 auf der Rückseite der 50-Lepta-Münze abgebildet. Als einer der Nationalhelden des griechischen Pantheons schmückt sein Antlitz oftmals griechische Klassenzimmer, Regierungsbüros und Kasernen.

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Dirigent und Pionier der griechischen Musik, Byron Fidetzis/Lyra

Inhalt und Aufbau der Oper: 1.Akt: Vorspiel. Dörfliche Szene in den Ruinen von St. Georg, nahe Botsaris‘ Haus in Kalavryta: Griechische Partisanen, genannt Klephten (meint Briganten, eine Spezialeinheit, welche die Osmanen bekämpfte), und junge Männer vor Ort besingen die Notwendigkeit, die Türken zu bekämpfen und versichern sich selbst, dass ihnen das Kreuz Jesu dabei helfen werde. Canzonetta: Markos mit Chor. Markos erzählt von seinem Leben – dies ist der einzige Teil der Oper, der immer auf Griechisch gesungen wurde; das Lied „O gero Demos“ machte den Komponisten berühmt und wurde oftmals als Nationalhymne angesehen; selbst heute ist es so bekannt, dass es viele für ein Volkslied halten, und es war ebenfalls dieses sehr patriotische Lied, das erste Pläne für eine Premiere im Jahre 1858 verhinderte, da die Briten, die die griechischen Inseln besetzt hatte, die Türken nicht provozieren wollten. Markos und Chor: Die Klephten fragen Markos, warum er so traurig sei, doch in diesem Moment trifft eine Botschaft des Erzbischofs Germanos ein, dass die Revolution gegen die Osmanen begonnen habe. Alle müssen sich in Kalavryta versammeln. Sofias Arie: Sie sucht nach Botsaris in seinem Haus und spricht zu seiner Frau. Sie spricht vom Massaker in Konstantinopel und schwört Rache, begleitet vom Chor. Szene des Erzbischofs Germanos: Rezitativ und Gebet. Die Priester berichten von der Tragödie Griechenlands unter osmanischer Herrschaft und beten für Freiheit. Finale I: Marsch und Eid der Soldaten und des Volkes für die Freiheit. Germanos nimmt ihren Eid auf das Kreuz ab, bis zum Tod für die Revolution und die Befreiung von der osmanischen Herrschaft zu kämpfen.

Zu Carrers „Markos Botsaris“/ein wunderbares Damen-Duett im 1. Akt/Vassiliki Karayanni und Mina Polychronou/ Ionian

2. Akt: Im türkischen Lager in der Nähe von Messolonghi. General Mustafa Pascha erzählt von der Revolte des Ali Pascha von Ioannina und seinem Tod. Gleichzeitig ist er Opfer seines schlechten Gewissens, wenn er an Sofia denkt, die er betrogen und zurückgelassen hat. Er bedauert auch, dass er seine Religion aufgegeben hat und Türke wurde, um Karriere als Janitschar zu machen. Ein Klagelied einiger Derwische ist zu hören. Hussein Bey informiert ihn, dass die Soldaten einen Spion gefangen haben. Mustafa hofft, dass er von diesem Spion Informationen über die griechischen Stellungen in der von den Türken belagerten Stadt Messolonghi gewinnen kann. Dann betritt er die Moschee zum Gebet. Sofias Kavatine: Der griechische Spion ist niemand anders als Sofia in Männerverkleidung. Während sie auf die Rückkehr von Mustafa Pascha wartet, erkennt sie einen Ring in der Nähe – es ist genau derselbe Ring, den ihr der Christ Milos vor vielen Jahren als Zeichen seiner Liebe geschenkt hat. Sie denkt, dass Mustafa der Mörder von Milos und ihrer Eltern ist. Trompeten sind aus der Ferne zu hören. Sofia ist in Aufruhr: Jesus ist mit mir, Gott hilft mir – Freiheit für GriechenlandDuett Sofia-Mustafa: Als Sofia Mustafas Stimme außerhalb des Zeltes hört, realisiert sie, dass er Milos ist. Sie konfrontiert ihn und prangert ihn an: Du bist ein Verräter an deiner Religion und an deinem Vaterland. Mustafa gibt seine Apostasie zu. Hussein kommt herein und meldet ihm, dass ein Bote von Markos Botsaris eingetroffen sei. Mustafa sagt zu Sofia, dass ihre einzige Möglichkeit zu überleben diejenige sei, mit dem griechischen Boten nach Messolonghi zurückzukehren. Aber der Gesandte ist niemand anders als Markos selbst, verkleidet als einfacher Soldat. Er offenbart Sofia gegenüber seine Identität und lädt Mustafa offiziell zu Verhandlungen und einem Friedensvertrag ins griechischen Lager ein. Mustafa stimmt zu und Markos geht mit Sofia. Während sie ihre Pferde besteigen, schreit Markos triumphierend, wer er ist, und sie stürmen davon.

Zu Carrers „Markos Botsaris“/ Anna Stylianakis im Konzert in Athen 2023/Foto youtube

3. Akt: An der Küste nahe Vasiladi. Es ist Nacht, Mondschein. Die Klephten singen von ihrer Hoffnung nach Freiheit. Duett Markos-Mustafa: Markos denkt über den bevorstehenden Frieden nach, dann fragt ihn Mustafa, warum er verkleidet ins türkische Lager gekommen sei. Markos erwidert, dass er Sofia habe retten wollen, von der er wusste, dass sie bei den Türken sei. Mustafa erkennt, dass Markos nichts über seine Vergangenheit und seine Affäre mit Sofia weiß. Er schlägt Markos vor, Muslim und Türke zu werden, Wesir sogar. Dies wäre die Bedingung, den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Markos lehnt vehement ab. Finale III: Alle laufen weiter und Sofia tadelt Mustafa als Abtrünnigen. Jeder Anwesende verurteilt Mustafa alias Milos, der verschämt und gebrochen abgeht.

3. Akt: Intermezzo. Der heroische Tod des Markos Botsaris.. Chysi singt ein WiegenliedTrio Chrysi, Markos, Germanos: Markos sagt Lebewohl zu seinen Männern und zu seiner Familie. Die Soulioten singen ein KlageliedFinale IV: Die Griechen bereiten einen Durchbruch aus der belagerten Stadt in einer nächtlichen Attacke vor, um ihre Frauen und Kinder zu retten. Obwohl sie in der Schlacht triumphieren, wird Markos verwundet und stirbt. Das Volk huldigt seinem Helden. Byron Fidetzis/G. H.

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Ein italienisches Libretto gibt es in der Staatsbibliothek München zum Downloaden, ein musikalisches Dokument von der Athener konzertanten Aufführung von 2015 unter Byron Fidetzis, dem ich hier noch einmal ganz ausführlich danken möchte, kursiert nur Sammlern. Bei youtube finden sich vereinzele kurze Dokumente zur Oper, von Carrer wie auch Samara u. a. auch vollständige  Opern aus der ehemaligen Lyra-CD-Edition. Und als Sensation nun auch Samars Lionella konzertant aus Athen 2023 ebenfalls unter Byron Fidetzis und ebenfalls bei youtube. Angekündigt ist für 2024 Samaras vollständige Oper Medgé.

Inzwischen sind aus 2023 zwei vollständige Konzertmitschnitte des Markos Botsarisbei youtube erschienen, einer aus Patras mit viel Einführungsgerede (Christopoulos, Fidetzis Patras 02.01.2023) und ein weiterer vom Konzert aus der Maria Callas Olympic Concert Hall in Athen (Klironomis Styrianakis, Fidetzis Athen .23.01.2023), bei dem der Dirigent selbst eine Einführung gibt – letztere extrem gut gesungen, namentlich von der Sopranistin Anna Stylianakis, die auch die Titelpartie in der erwähnten Lionella Samaras innehat.

Die obigen Beiträge stammen aus verschiedenen Quellen, vor allem von Byron Fidetzis, der sich so unglaublich um die Wiederentdeckung der griechischen klassischen Musik in vielen Aufführungen, CD-Ausgaben und Ausgrabungen gekümmert. Dank an Daniel Hauser für die wie stets fabelhafte Übersetzung. Redaktion G. H. 

Vermächtnis

 

Das Cover der CD lässt Die Verlobung im Kloster oder Eine Nacht in Venedig, aber mit traurigem Ausgang, vermuten, niemals aber Il Tabarro aus Puccinis Trittico. Eine in einen roten Domino gewandete Blondine, eine güldene Maske in der Hand, schreitet durch einen Kreuzgang mittelalterlichen Anstrichs und guckt tragisch, der Wind bauscht ihren Mantel zu attraktivem Gewoge. So unüberlegt die äußere Aufmachung, so großzügig und kenntnisreich ist das Booklet gestaltet mit einer Einführung in den Einakter, Künstlerportraits und dem Libretto in Italienisch, Englisch und Deutsch. Wichtiger aber noch ist, dass eine der schönsten, wenn nicht die bedeutendste, leider viel zu früh verstummte Tenorstimme unserer Zeit auf der CD verewigt ist.

Es handelt sich um Johan Botha, gleichermaßen kompetent im italienischen wie im deutschen Fach und als Luigi ein Wunder an Strahlkraft, an melancholischem Timbre und an einer Stimme ohne Registerbrüche präsentierend. Herzzerreißend ist die Klage „Hai ben ragione“, ergreifend der Aufschrei „Preferisco morir“, extrem leidenschaftlich und dabei doch kontrolliert das „Folle di gelosia!“ Die CD ist einfach sein Medium, weil die etwas unglückliche Optik den vorzüglichen akustischen Eindruck nicht trüben kann.

Ein würdiger Gegenspieler ist ihm als Michele Wolfgang Koch mit guter Diktion, mit virilem Timbre, das die lauernde Gewaltbereitschaft vernehmen lässt, und mit sehnsuchtsvollem „Ah, ritorna“. Der Bariton zeigt das Vermögen, jede Seelenregung, auch wenn man den Text nicht verstehen könnte,  dem Zuhörer zu vermitteln.

Die Giorgetta von Elza van den Heever dürfte für manchen Geschmack zu spitzig klingen, nicht erotisch genug und nur in „E ben altro il mio sogno“ etwas weicher und damit rollengemäßer. Von der unterdrückten Lebens- und Liebeslust kann sie dem Hörer wenig vermitteln, eine typische Puccinistimme ist die ihre nicht. Rollengemäß recht schrill ist die Frugola, sehr eindringlich im „Ho sognato“, von Heidi Brunner. Charles Reid verkörpert gleich drei Partien mit Il Tinca, Liebender und Liederverkäufer und weiß jeder der Partien ein unverwechselbares vokales Profil zu verleihen. Janusz Monarcha ist der bassbärbeißige Il Talpa.

Wie ein schwerer grauer Himmel über der Seine lastend hört sich das Vorspiel unter Bertrand De Billy an, leichtfüßig die tänzerischen Elemente und durchgehend ist das ORF Wiener Radio Sinfonie Orchester der kompetente Vermittler einer überaus dichten Atmosphäre, die den Hörer gefangen zu halten weiß (Capriccio 5326). Ingrid Wanja