„Was ein Mann! Wie ein Baum!“, lüstern beschaut sich Maries Nachbarin Margaret die aufziehende Militärmusik mit dem Tambourmajor an der Spitze. „Er steht auf seinen Füßen wie ein Löw“ fügt Claudia Mahnke mit deftigem Mezzosopran als Marie hinzu, deren reife Mütterlichkeit in dem mit praller Mittellage gesungenen „Eia popeia“-Wiegenlied und der warmherzigen Bibelszene zum Ausdruck kommt. Endlich mal kein kreischend aufgedrehter Sopran. Im Gegensatz zum kraftstrotzenden Tambourmajor ist ihr Franz jedoch ein verirrter Hänfling, der „Vielem auf der Spur ist“. Der ehemalige Soldat Franz Wozzeck wird zum verzweifelten Mörder an seiner Geliebten, die ihn betrügt. Ein ähnlich Gebrochener, wie der ehemalige Soldat Alban Berg, den der „große Krieg“ tief getroffen, verletzt und traumatisiert hat und dem bereits ein „eiliger Gang durch die Stadt“ schier unmöglich sei, wie er seinem Lehrer Schönberg berichtete. Die Oper Wozzeck, die Berg quasi direkt nach dem Besuch von Georg Büchners Schauspiel Woyzeck 1914 in Angriff nahm, begleitete ihn durch diese quälenden Zeit und die folgenden Nachkriegsjahre, wobei ihn seine Kriegs-Erfahrungen der Titelfigur näherbrachten, „Steckt doch auch ein Stück von mir in seiner Figur, seit ich ebenso abhängig von verhassten Menschen, gebunden, kränklich, unfrei, resigniert, ja gedemütigt diese Kriegsjahre verbringe. Ohne diesen Militärdienst wäre ich gesund wie früher“. Die 1921 fertiggestellte, mit Unterstützung von Alma Mahler-Werfel gedruckte und 1925 unter Erich Kleiber in Berlin uraufgeführte Oper war mit rund 20 sich anschließenden Produktionen ein ziemlicher Erfolg. Dieser hielt bis Ende 1932 an und wiederholte sich nach dem Zweiten Weltkrieg.
Fast unmöglich, von einer Aufführung nicht berührt zu sein. So auch von der Frankfurter Aufführung aus dem Jahr 2016, die rechtzeitig zur Wiederaufnahme in der aktuellen Spielzeit 2018/19 auf dem Stammlabel der Oper Frankfurt, bei Oehms Classics, auf CD erschien (2 CD OC 974). Immerhin gab es schon seit Jahren keine Neuaufnahme auf CD. Die Einspielung zeichnet sich durch ihre theatralische Kraft, ihre Bühnennähe und die Unmittelbarkeit des szenischen Geschehens aus, das in der technisch ausgezeichneten, die Singstimmen begünstigenden Aufnahme durchgehend spürbar ist. Prägnant gesetzt sind die Figuren: der Doktor, dem Alfred Reiter gleich in „Natur! Aberglaube, abscheulicher Aberglaube“ eine abgefeimte Gefährlichkeit gibt, dass uns die Fratze fast direkt anspringt. Der grell-quallig schwadronierende Hauptmann des gutmütigen Peter Bronder. Der aufgeblähte, nicht wirklich glänzende Tambourmajor des Vincent Wolfsteiner. Der Norweger Audun Iversen wirkt mit seinem gestandenen, wenig farbenreichen Bariton wie verloren inmitten des Geschehens, krank, unbeteiligt, dennoch getrieben, ein Jedermann, der mit rotem T-Shirt und Jeans auch durch die Einkaufszonen schlurfen könnte – wie man es den Fotos von Christof Loys aus den 1820 Jahren in die Gegenwart versetzter Inszenierung im Beiheft (Kostüme: Judith Weihrauch) entnehmen kann; Iversen bietet statt fehlender Basstiefe derbe, aggressive Ausbrüche, es fehlt an Projektionskraft.
Im Beiheft ist auch das Musikalische Szenarium aus drei Akten mit jeweils fünf Szenen und den zugeordneten Kompositionsmustern – Fünf Charakterstücke, Symphonie in fünf Sätzen und Sechs Inventionen (vor der letzten Szene mit den spielenden Kindern steht bekanntlich ein Orchesterzwischenspiel) – aufgelistet, dessen genau austarierte Struktur Sebastian Weigle sowohl als Rückschau auf das 19. Jahrhundert wie Aufbruch in die Moderne souverän fasst. Das Gefährliche, Bedrohliche und Ungewisse, das die Musik in den flirrenden Solo-Passagen aufnimmt, kommt unter den kräftigen Konturen des ausgewühlten Orchesters nicht hinreichend zum Ausdruck. Das Frankfurter Ensemble kann sich, wie meist, hören lassen: Martin Wölfel als Narr, der auch am Ende das „Hopp, hopp! Hopp, hopp!“ von Maries Kind übernimmt, Martin Mitterutzner als sensibler Andres, Katharina Magiera als Margaret. Rolf Fath