Ein deutscher Belcantist

 

Der Bariton Jörn W. Wilsing (* 25.Oktober 1940  Hamm/Westf. – † 19. September 2010 Stuttgart) gehört für mich zu den schönsten, timbrereichsten deutschen Baritonen meines Opern-Lebens. Neben dem lyrischeren Barry MacDaniel (Amerikaner, gewiss, aber mit einen lange und zum Schluss exklusiv deutschen/Berliner Karriere) war Wilsing für mich der vollkommene Bariton von Belcanto-Prägung, stets in seiner Rolle, stets neben viel Humor auch eben kantiger, die vielen Facetten seiner Figuren herausbringend. Er kam oft nach Berlin auf Einladung Einhard Luthers zu dessen vielbeachteten Rundfunkkonzerten des damaligen SFB, sang Lortzings Sachs oder Moniuszkos Jacek (Halka) gleichermaßen charaktervoll, unverwechselbar, ebenso sattstimmig wie hochpersönlich. Er hat zu wenige offizielle Dokumente hinterlassen, aber Gottseidank hat die rührige HafG nun in vier Boxen manches  an Rundfunkaufnahmen versammelt, von denen es zum Glück doch reichlich gibt. Wilsing-Fans wie ich haben ein Fest. Und der bedeutende deutsche Bariton wird auf diese Weise verdientermaßen geehrt. Das ist schön. Und mit Dank bringen wir anschließend – mit einigen Kürzungen – den Text des renommierten Musikjournalisten Karl Ulrich Spiegel (ohne die Fußnoten) aus dem Booklet der ersten Box beim Hamburger Archiv für Gesangskunst. G. H.

 

Jörn W. Wilsing/ Foto privat

Ein letzter Kavalierbariton? Künstlerkarrieren im darstellenden Metier stehen in Zeiten globaler Medienmacht vielfach unter irrationalen und darum ungerechten Einwirkungen. Die dokumentierte Gesangshistorie bietet Beweise dafür: Kamen noch in der frühen Ära der akustischen Tonaufzeichnung nahezu alle, selbst nur regional bedeutsame Vokalisten auf die Tonträger, so reduzierte sich deren Präsenz mit der elektrischen Aufnahmetechnik und erst recht im Digital-Zeitalter stetig zugunsten internationaler bis weltweiter Prominenz. (…) Das Hamburger Archiv hat deren einige aus den Archiven geholt und in Editionen für die Gesangsgeschichte gesichert. In dieses Projekt fügt sich die vorliegende Präsentation des hochrangigen, entdeckungswürdigen Bühnensängers Jörn W. Wilsing.

Schon der Ansatz weist auf ein sanguinisches, lebenszugewandtes, selbstironisches  Naturell. Zeitzeugen berichten von einer humorvollen, integrativen, positiven Persönlichkeit. Das drückte sich akustisch in seinen Interpretationen aus – als „Face-in-the-voice“ und in lustvollen Attitüden. Das „W.“ im Namen ist eine Reverenz an seinen Vater Wilhelm. (…) Wilsing entdeckte noch vor dem Stimmwechsel seine Leidenschaft fürs Singen, trat als Gymnasiast bereits in Schulkonzerten auf, war schon da entschlossen, professioneller Sänger zu werden. Getreu der Familientradition stellten sich die Eltern nicht dagegen, nötigten ihn aber, „erstmal einen Brotberuf zu erlernen“. Nach zwei Praxisjahren strebte der fertige Industriekaufmann in seinen Wunschberuf. Er erreichte ein Vorsingen an der Kölner Hochschule.

Stimmbildung – Partienstudium – Bühnenpraxis: Naturbegabung, Konzentration und Meisterpädagogik machten in weniger als zwei Jahren aus dem stimmbegabten Laien einen komplett stimmgebildeten Sänger, dem allerdings die Voraussetzungen für eine Bühnenlaufbahn noch fehlten. Die Semester 1962-64 wurden für ihn entscheidend: Ein Glettenberg-Schüler fand in der Szene offene Türen. Wilsing erlangte einen Platz in Glettenbergs Sommerakademie am Mozarteum in Salzburg, war dort primär auf die Erlernung von Partien aus vielfältigen Opernrepertoires konzentriert. Etwa gleichzeitig wurde ihm von der Landeshauptstad München ein Stipendium, ergänzt um einen Zuschuss vom Bayerischen Rundfunk, zu einem Vollzeitstudium am Münchner Richard-Strauss-Konservatorium in München zuerkannt. Es ermöglichte eine Wohnadresse in der bayerischen Landeshauptstadt, die ihm nach eigener Schilderung als Kultur- und Kommunikationsplatz zur Heimat wurde. Unter dem Supervising der Schauspiellehrerin Christa Gernot-Heindl erlernte er das Bühnenhandwerk: Darstellung, Artikulation, Sprachen, Bewegungslehre, Tanz & Pantomime … 1964 wurde ihm das Abschlussdiplom der Bühnenreife ausgestellt.

Damit war der Sänger Jörn W. Wilsing Kandidat für die Kader maßgeblicher Agenten. Vor Beginn der Opernspielzeit 1964/65 erhielt er ein Angebot zum Voll-Engagement am Landestheater Coburg – einem mittelgroßen Dreispartenhaus mit 550 Zuschauerplätzen am Schlossplatz des zauberhaften Städtchens, mit ca. 40.000 Einwohnern damals nicht größer als Goslar, Singen, Freising, Wetzlar, doch mit einem auf weite Einzugsgebiete abgestimmten Hochleistungs-Spielplan. Kaum vorstellbar: Es eröffnete die Spielzeit mit Wagners Lohengrin; und der Bühnendebütant Wilsing hatte seinen ersten Auftritt als Heerrufer – einer fast obligatorischen Bariton-Debütpartie (von Titta Ruffo 1888 bis Gerd Nienstedt 1954). Er war noch gar nicht motiviert für existenzielle Berufsausübung, hätte gern lange weiterstudiert. Man musste ihn förmlich zum Schritt ins Sängerleben nötigen.

Der Starterfolg bestätigte den Einstieg. Schlag auf Schlag folgten Erstfach-Partien. Er wechselte nach Giessen, dann nach Karlsruhe, wo er bis 1969 zum Ensemble gehörte. Zeitgleich begann seine Verbindung zum Sommerfestival Eutin. Schließlich holte ihn Intendant Kurt Pscherer fest ans Münchner Gärtnerplatztheater, als ersten Lyrischen Bariton neben dem hier etablierten Heinz Friedrich. Bis zum Beginn der 1970er hatte er sich als neue Größe im deutschen Opernbetrieb verankert, beherrschte schon zwei Dutzend Bühnenrollen: Mozarts Figaro-Graf,  Jeletzky in Tschaikowskys Pique Dame, Rossinis Barbier, Giorgio Germont in Verdis Traviata, Liebenau in Lortzings Waffenschmied, Fluth in Nicolais Lustigen Weibern, Marcel in Puccinis Bohème.

Zwischen Provinz & Professionalität: Im Münchner Engagement avancierte Wilsing rasch zum unverzichtbaren Universalisten, vom Publikum geliebt, von der Dramaturgie in praktisch allen Rollenfächern eingesetzt – von Mozart über Romantik und Spieloper, im italienischen, französischen, slawischen Repertoire, bis zur am Haus dominanten klassischen Operette. Das ging so fünf Jahre lang; dann wurden dem immer noch jungen Sänger Momente der Überforderung, der Verheizung in pausenlosen Einsätzen bewusst. Er spürte die Notwendigkeit eines Wechsels, ja Neubeginns. Er sondierte, erhielt ein Agenten-Angebot an die Dortmunder Bühnen – seit 1965 im modernen großen Haus unter der Generaldirektion des bedeutenden Operndirigenten Wilhelm Schüchter am Beginn einer Ära. Wilsing wechselte 1974 in die seiner Heimat so nahe Industriestadt, gewann dort zunächst mehr Freiräume, ruhigeres Studieren, Proben, Auftreten, dazu neue Partien von Donizetti bis Richard Strauss. Nur eine ‚Spielzeit, dann ereilte Schüchter unerwartet früh der Tod. Der inzwischen zu erheblichem Format gewachsene Sänger verabschiedete sich und ging – nunmehr im Status eines ersten Fachvertreters – erneut ans Staatstheater Karlsruhe, wo seinem Repertoire wieder neue, diesmal ins dramatische Fach ausgreifende Partien zufielen.

Jörn W. Wilsing in „Zar und Zimmermann“ an der Hamburgischen Staatsoper/ Foto HafG

Die Kontinuität seines Aufstiegs schien gesichert, denn nun öffneten sich Opernhäuser der ersten Reihe für Gastauftritte mit Medienresonanz: die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, die Hamburgische Staatsoper, die drei Berliner Opernhäuser Staatsoper, Deutsche Oper & Komische Oper, dazu Staatstheater deutscher Bundesländer. Dann ereignete sich eine so unerwartete wie absurd erscheinende Zäsur: Am Karlsruher Staatstheater wechselte 1976/77 die Intendanz. Der bisherige Regisseur Günter Könemann avisierte eine „Verjüngung des Ensembles“, brachte neue Solisten mit, reduzierte das Stammensemble. Das traf auch den bereits angesehenen Jörn W. Wilsing.

Doch dieser war längst kein Lückenfüller mehr. Er hätte mit Gastspielverträgen und Rundfunkarbeit eine Laufbahn weiterführen können, die Mann und Familie solide gesichert hätte. Doch dem Niederschlag folgte gleich der Auftrieb: Die Württembergische Staatsoper Stuttgart, eines der großen deutschsprachigen Häuser von europäischem Rang, legendär seit der Nachkriegsära Schäfer & Leitner, als Winter-Bayreuth von Wieland Wagner, medienberühmt mit einem Ensemble der Stars, offerierte ihm ein festes Engagement. Er nahm an – und hatte ein Haus- und zugleich Rollen-Debüt als Phoenix in Händels Deidamia.

Er füllte eine Vakanz: Das durch Sänger wie Mödl, Eipperle, Borkh, Wissmann, Pütz, Hoffman, Plümacher, Windgassen, Traxel, Tobin, Welitsch, von Rohr, Neidlinger uvm. repräsentierte Ensemble hatte – nach fast 40 Jahren mit Engelbert Czubok als Platzhirsch – dringend Bedarf an Nachfolgerbaritonen fürs Lirico- und Spinto-Fach. Dessen Serioso-Segment war erfolgreich mit Raymond Wolansky besetzt worden. Für die lyrischeren, breiter sortierten, komödiantischen und belcanto-nahen Aufgaben stand mit Wilsing nun eine, wie sich beweisen sollte, ideale „Kombi“-Lösung ins Haus.

Resonanz ohne Medienbasis: Stuttgart wurde zum Ziel und Gipfel der Sängerlaufbahn des Jörn W. Wilsing. Hier fand er optimale Arbeitsbedingungen, vielfältige neue Gestalten in einem Breitspektrum von Werken – darunter adäquate Spielräume für sein Komödiantentalent in Spieloper und Buffa, für Charakterisierung, Vitalisierung, Suggestion. Dazu ein sachverständiges, begeistertes, treues Publikum. Sein Rollenrepertoire wuchs weiter. Es umfasste nun sämtliche Epochen, Kulturen und Sparten der Opernspielpläne. Diese erweiterten sich noch in externen Konzertauftritten, Funkproduktionen, TV-Shows.

In durchaus reduzierter Auswahl seien genannt: Mozarts Don Giovanni, Masetto, Guglielmo Sprecher, Papageno. Webers Graf Ottokar. Kreutzers Jägersmann. Rossinis Figaro, Dandini, Haly, Rudolphe. Donizettis Enrico, Belcore, Impresario, Malatesta. Lortzings Zar Peter, Konrad, Graf Eberbach. Wagners Wolfram, Melot, Beckmesser, Kothner, Donner, Gralsritter. Verdis Conte di Luna, Marquis Posa, Ford. Gounods Valentin. Bizets Escamillo. Aubers Lord Kookborne. Offenbachs Orpheus, Roi Carotte, Bobèche, Bobinet, Choufleury. Jh.Strauß‘ Dr. Falke, Frank & Homonay. Tschaikowskys Onegin & Tomsky. Smetanas Thomas, Krushina, Micha. Dvoráks Jäger. Leoncavallos Silvio. Puccinis Marcello, Sharpless, Ping. Giordanos Roucher. Humperdincks Peter. R. Strauss‘ Faninal, Musiklehrer, Harlekin, Justizrat. d’Alberts Morruccio. Prokofievs Don Ferdinand. Orffs Petrus. Suppés Boccaccio. Millöckers Erminio. Lehárs Danilo.

Auch die überregionalen Auftritte setzten sich fort. Schon 1973 war Wilsing bei den Salzburger Festspielen als Arbace in Mozarts Idomeneo herausgestellt worden. 1988 präsentierte die Stuttgarter Oper bei den Schwetzinger Festspielen Rossinis La Cenerentola unter Gabriele Ferro mit Rockwell Blake, Doris Soffel, Wolansky, Berger-Tuna und Jörn Wilsing als Dandini – einer Partie, die zu seiner gefeierten Glanzrolle werden sollte. In Wiederbelebungen aus dem vorklassischen Metier glänzte er mit Singprüfsteinen wie Kitheron in Rameaus Platäa oder Conte Perucchetto in Haydns La fedeltà premiata. Im zeitgenössischen Repertoire brillierte er auch als Sängerdarsteller: Lehrer in Jasager/Neinsager und Dreieinigkeitsmoses in Mahagonny von Kurt Weill. Narr in Kreneks Das geheime Königreich. Doktor in Die Nase von Schostakovich. Escalus in Romeo und Julia von Sutermeister. Mammon in Das verlorene Paradies von Penderecki. 1994 wurde er vom Württembergischen Kultusministerium zum Kammersänger ernannt.

Jörn W. Wilsing als Belcore in „L´Elisir d´amore“/ in Karlsruhe/ Foto HafG

Herausragende, bleibend wichtige Auftritte hatte der Sänger bei Rundfunkanstalten – beim SWR und SFB, Studio + Live. In Berlin gab es zwischen 1978 und 1992 in einer Produktionspartnerschaft des Berliner Opernhistorikers, Archivars und Dokumentaristen Einhard Luther mit dem Sender Freies Berlin und dem Berliner Konzertchor des Dirigenten Fritz Weisse eine mehrjährige Aufführungs- und Sendefolge wenig bekannter Opernwerke konzertant in der Berliner Philharmonie. Zur Aufführung kamen Werke von Lortzing, Marschner, Moniuszko, Dvoràk und als eine Art Krönung Ruggiero Leoncavallos für Kaiser Wilhelm komponierte Brandenburg-Oper Der Roland von Berlin von 1904. In den zentralen Bariton-Partien war stets Jörn Wilsing besetzt.

Einhard Luther war ein erklärter Wilsing-Fan und überzeugt davon, dass dessen Bühnenrepertoire ungeachtet seiner Breite und Fülle noch lange nicht die stimmlichen & sängerischen Ressourcen des Baritons erfasse. Er arrangierte deshalb im SFB auch Aufnahmesitzungen mit Arien-Recitals aus Charakter- und Drammatico-Partien. Sie gelangen mit dieser CD-Edition erstmals auf Tonträger und in die dokumentierte Gesangsgeschichte. Die Ergebnisse sind – wie zu hören – von umwerfender Attraktivität. Sie helfen, heute eine Präsenzlücke zu füllen, die dem erstklassigen, in vielem maßstäblichen Vokalisten und Bühnensänger von einer maßstabfernen Tonträger-Industrie zugemutet wurde.

Ein deutscher Belcantist: Wer den Namen Wilsing kannte und – der Medienrealität folgend – für einen guten Bariton der zweiten Reihe mit Schwerpunkt im leichten und Unterhaltungsgenre hielt, kann beim Anhören der hier versammelten Tondokumente von einer Überraschung in die nächste, schließlich in Begeisterung bis zur Fanship fallen. Wir hören, repertoire-übergreifend, eine perfekt geschulte, an Eignungsvielfalt kaum überbietbare, wohlklingende Baritonstimme der tradierten Kategorie Kavalierbariton. Allein die äußeren Merkmale Timbre, Faktur, Volumen, Umfang stellen sie neben weit bekanntere, Fachkollegen und an die Seite anerkannter deutscher First-rate-Baritone der Epoche, etwa Poell, Braun, Kunz, Oeggl, Günter, Blasius, Gester, Peters, Grumbach, McDaniel, Wolfrum, Tichy – dann Gutstein, Waechter, Brendel und nicht zuletzt Prey, der in teils identischen Partien, dazu Lied- und Song-Beständen grenzenlose, nahezu provokant extreme Vermarktung erfuhr.

Provokant mag deshalb die Feststellung wirken: Wilsing ist all denen und auch ihm in nahezu allen Kriterien ebenbürtig, in Details sogar überlegen. Das ist beweisbar – unter vokalen, vor allem aber sängerischen Gesichtspunkten. Maßstäbe kommen aus dem Vergleich – für Wilsing mag die Grammatik der klassischen Gesangskunst reichen. Charakteristik und Färbung der Naturstimme sind die eines Baritono lirico mit dramatischen Optionen, (um zu allbekannten Vorbildern zu greifen:) etwa in Nähe zu den Deutschen Schlusnus, Reinmar, Hüsch, den Italienern Campanari oder Tagliabue, den Franzosen Renaud oder Albers. Stimmbildnerisch weist er die für Glettenberg-Schüler typische Manier auf, die ein Perfektions-Indiz ist: Präzise, doch unaufdringliche Intonation, schwingende Legatoführung auf pulsierendem Atem, vor allem bruchfreie Registerverblendung, gekrönt von kaum gedeckter, dafür flammend-strahlender brillanter Höhe über G‘/Gis‘ hinaus. In späteren Wirkungsjahren, wenn sich die Stimme als ein wenig gesetzter, breiter darbietet, tönt auch das tiefere Register um noch einen Hauch gewichtiger = sonorer.

Weil der Sänger über eine nahezu vollkommene Technik gebietet, vermag er variante Klanggestalten zu formen und suggestiv zu vermitteln – vom schlanken Jünglingston zum körperhaft-maskulinen Kerl-Charakter. Anders als  diverse Fachkollegen deutscher Provenienz beherrscht er meisterlichen Canto fiorito, also souveränen Umgang mit Verzierungen, Koloraturen, Figurationen, etwa hörbar in seiner Glanzpartie als Rossinis Dandini. Es versteht sich, dass er – wieder viel natürlicher als der immer etwas sentimentalisch-plüschig klingende Hermann Prey – ein geradezu geborener Bühnenkomiker, Bonvivant, Charmeur in Buffa, Operette, Musical war. Seine sanguinische, grundheitere Persönlichkeit vermittelt sich überdies in den Ausdrucksnuancen seines Singens: Er wusste mit rein musikalischen Mitteln im Gesang zu lächeln, zu bezaubern, zu verführen. Mehr als ein Sänger also: ein singender Mime – und ein Stilist.

Jörn W. Wilsing als Falke in der „Fledermaus“ am Münchener Gärtnerplatztheater/ Foto HafG

Stagione lirica conclusa: Am Ende der 1990er Jahren erkrankte der Sänger schwer. Ein Herzleiden und ein aggressiver Diabetes zwangen ihn zu tiefgreifender Umstellung seiner Lebensweise. Unter starken Medikamenten, die seine Motorik einschränkten, verlor er an Beweglichkeit und Belastbarkeit. Doch er mochte vom geliebten Metier und vom ihn liebenden Publikum nicht lassen. So gab er schrittweise große und fordernde Rollen auf, zog sich auf Episodisten und Comprimarii zurück, die er mit Charakterisierungskunst, Präsenz und Selbstironie erfüllte. Er überstand die Frist bis zur Verrentung diszipliniert, ohne Einbußen an Humor und positiver Weltsicht. Zum sogenannten Lebensabend blieben ihm kaum fünf Jahre, beeinträchtigt von eskalierenden Leiden. Sein Tod verstörte Freunde und Kenner.

Er ist beigesetzt auf dem Stuttgarter Friedhof Heslach. In den Erinnerungen zahlreicher deutscher, vor allem Stuttgarter Opernfreunde hat er einen Ehrenplatz – als Idealbild eines meisterlichen Sängers und als Bühnenphänomen von Graden.

Jörn W. Wilsings tönende Hinterlassenschaft war allzu lange ein ungehobener Schatz in Archiven und Privatsammlungen. Die marktbezogenen handelnde (häufig nicht-handelnde) Tonträgerbranche hat diese Ressource an Stimme, Gesang, Singdarstellung kaum genutzt. Nahezu ein Jahrzehnt nach seinem Hingang ist es hohe Zeit für ein Wilsing-Revival. Es müsste zur Entdeckung werden. Diese Edition soll helfen, sie in Gang zu setzen (Foto oben:Wilsing als Phoenix in Händels „Deidamia“ in Karlsruhe/ Foto Wilsing). Karl Ulrich Spiegel

 

Vol.1: CIMAROSA Il Maestro di Capella/ ROSSINII La Cenerentola – Il Barbiere di Siviglia/ DONIZETTI Anna Bolena – L’Elisir d’amore – Lucia di Lammermoor – La Favorita – Don Pasquale/ VERDI Don Carlo – La Traviata – Falstaff/ PONCHIELLI La Gioconda/ LEONCAVALLO I Pagliacci – Der Roland von Berlin/ GIORDANO Andrea Chénier/ MEYERBEER Ein Feldlager in Schlesien – Dinirah – L’Africaine/ THOMAS Hamlet/ GOUNOD Faust/ BIZET Les Pêcheurs de Perles/ CHABRIER Die Bildungslücke/ MONIUSZKO Halka/ MUSSORGSKY Chowanschtschina/ DVORAK Der Jakobiner – Dimitrij/ TSCHAIKOVSKY Pique Dame

Vol. 2: KREUTZER  Das Nachtlager von Granada/ MARSCHNER Hans Heiling/ LORTZING Zar und Zimmermann – Hans Sachs/ WAGNER Parsifal/ NESSLER Der Trompeter von Säckingen/ D’ALBERT Die toten Augen/ SCHILLINGS Mona Lisa/ S. WAGNER Herzog Wildfang/ WALTERSHAUSEN Oberst Chabert/ KRENEK Das geheime Königreich/ WEILL Der Ja-Sager/ BREDEMEYER Der Nein-Sager/ WALTER Andreas Wolfius/ SUTERMEISTER Romeo und Julia

Vol. 3: Lieder: LOEWE Der Edelfalk – Prinz Eugen/ OFFENBACH Der Winter/ GRIEG Der Jäger/ ZILCHER Hölderlin (Sinfonischer Zyklus für Bariton und Orchester)/ KÜNNEKE Löns-Lieder-Suite/ SALMHOFER Heiteres Herbarium/ Geistliche Werke: BRUCH Achilleus/ SGAMBATI Messa da Requiem

Vol. 4: SUPPÉ Die schöne Galathée – Banditenstreiche – Boccaccio/ STRAUSS Casanova/ MILLÖCKER Gasparone/ ZELLER Der Vogelhändler/ HEUBERGER Der Opernball/ LINCKE Im Reiche des Indra/ LEHÁR Die lustige Witwe – Zigeunerliebe/ KÜNNEKE Robins Ende – Die große Sünderin – Die lockende Flamme/ OFFENBACH Das Mädchen von Elizondo – Salon Pitzelberger – Die elektromagnetische Gesangsstunde/ GROTHE Das Wirtshaus im Spessart/ SCHULZE Schwarzer Peter/ RODGERS Pal Joey – Oklahoma/ BERLIN Anny get your Gun

  1. Else Elsing

    Ja, eine sehr schöne Zusammenstellung. Leider läßt die technische Aufbereitung bisweilen zu wünschen übrig. Liegt wahrscheinlich am zu Grunde liegenden Material (div. Live-Aufnahmen von Opernaufführungen: nur dumpf und dunkel, leider). Oder z.B. die Arie aus „Dinorah“:Ah! mon remords te venge auf CD 3 Vol.1: vollkommen übersteuert und klirrend, schade. Aber schön, dass nach Jahren doch noch leiner gedacht wurde

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  2. Gundula Voß

    Längst überfällige sehr schöne, vielfältige Zusammenstellung eines leider zu Unrecht so vernachlässigten Baritons, der es verdient hätte, zu Lebzeiten eine solche Hommage zu erleben

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