TRAJANS GLÜCK

 

Die französische Barockopern hat es in Deutschland immer noch schwer: Lully oder Jean-Philippe Rameau schaffen es hierzulande kaum einmal auf die Bühne, dabei sind die oft allegorischen Figuren und metaphorischen Bilder ihrer Opern eine dankbare Aufgabe für Regisseure und erlauben Spektakel und Phantasie. Auf Tonträgern sieht die Auswahl schon anders aus, Einspielungen kommen inzwischen nicht mehr nur aus Frankreich, sondern wie in diesem Falle sogar aus Amerika.

Rameaus Le Temple de la Gloire ist keine Tragédie lyrique, sondern eine Opéra ballet, das Libretto stammt von Voltaire, mit dem Rameau nicht zum ersten Mal zusammenarbeitete. Die Uraufführung in Versailles erfolgte 1745 (das Jahr, in dem auch Platée aufgeführt wurde). Die Originalfassung verwendete Dirigent Nicholas McGegan für eine szenische Produktion, die im April 2017 im kalifornischen Berkeley präsentiert wurde und als Live-Aufnahme nun als Ersteinspielung in befriedigender Aufnahmequalität bei Philharmonia Baroque Productions vorliegt. Für die Produktion gab es einen regionalen Grund: Libretto und Partitur aus dem 18. Jahrhundert sind einer der Schätze aus der Musikbibliothek der Berkeley Universität und die einzige bekannte überlieferte Quelle des Originals. Le Temple de la Gloire war 1745 kein Erfolg, eine überarbeitete Version 1746 ebenso nicht. Voltaire schrieb drei voneinander unabhängige Akte mit unterschiedlichen Figuren – eine Konstellation, die man aus anderen Werken des Typs Opéra ballet kennt (bspw. Les Indes galantes). Alle Akte vereint ein gemeinsames Thema, beim Tempel des Ruhms ist das das Streben und Handeln des Souveräns. Der Prolog erzählt, wie die allegorische Figur des Neids versucht, sich gegen den Widerstand der Musen mit dämonischer Hilfe Zutritt zum Ruhmestempel auf dem Parnass zu verschaffen, doch von Apollo und anderen Helden überwältigt wird. In den folgenden drei Akten versuchen drei Herrscher Ruhm zu erringen, zwei scheitern. Der mythische Gründer Babylons Belus ist zu gewalttätig, dem griechischen Gott Bacchus mangelt es an Tugendhaftigkeit, nur der römische Kaiser Trajan überzeugt durch Großherzigkeit. Er lehnt nicht nur bescheiden den Einzug in den Tempel des Ruhms ab, sondern fordert einen Tempel der Glückseligkeit für die Menschheit. Voltaire versteckte in seinem philosophisch anmutenden Libretto eine Kritik an Ludwig XV. und ein Lob der Aufklärung: ein großer König ist weder Eroberer noch Tyrann, sondern hat stets das Glück der Menschen im Blick. Trajans Glück scheint Ludwig XV. nicht gefallen und nicht geteilt zu haben.

McGegan engagierte sich seit vielen Jahren für eine Aufführung, seit 1985 leitet er das Philharmonia Baroque Orchestra (PBO) und hat damit eines der führenden amerikanischen historisch informierten Ensembles mit Originalinstrumenten zur Verfügung, die bei dieser Aufnahme mit über 40 Musikern (u.a. mit Flöten, Oboen, Fagotten, Hörnern und Trompeten) spielen. Die Instrumente sind präsent, man hört ein hochmotiviert und in bester Laune spielendes Ensemble und erlebt eine typische Rameau-Oper mit ihrem musikalischen Ideenreichtum – den vielen kurzen Nummern und fliegenden Wechseln zwischen Solo, Ensemble, Chor und Tanz, die aber aufgrund der regelmäßig unterbrochenen und allegorischen Handlung auch undramatisch  wirken kann. McGegan hält die Balance und kostet den Klang sowie die instrumentellen Details und Finessen aus. Die Aufnahme hat leider eher die Nachteile von Live-Aufnahmen: man hört Bühnengeräusche und Applaus, die Aufnahmequalität ist nur zufriedenstellend, man befindet sich im Abstand zur Bühne, nicht mitten im Geschehen. Die Gesangssolisten haben mehrere Rollen. Mit den Sängern hatte man im Gegensatz zu den Sängerinnen nicht durchgehend Glück bei den Aufnahmen. Tenor Aaron Sheehan gibt zwei Helden (Apollon, Trajan) ohne ihnen überzeugende Statur zu verleihen, seiner Stimme mangelt es als Apollon noch an Durchschlagskraft, als Trajan an Statur. Der junge französische Tenor Artavazd Sargsyan ist als Bacchus in den hohen Lagen mit etwas zu angestrengt klingender, nicht agil wirkender Stimme, seine Arriette „Venez, troupe aimable, volez, suivez-moi“ mag kaum verführen. Bariton Philippe-Nicolas Martin (u.a. als Bélus) und auch Bariton Marc Labonnette  (u.a. als L’Envie und Le Grand Prêtre de la Gloire) bleiben zu blass und kommen nicht richtig in ihre Rollen, ihre Konzentration scheint eher auf der szenischen Darstellung gelegen haben. Die vier Soprane in den begleitenden Frauenrollen hingegen klingen unbeschränkt, offen und mühelos. Die puertoricanische Sopranistin Camille Ortiz ist bspw. eine reizvolle Érigone, Gabrielle Philiponet eine stimmschöne Plautine, Chantal Santon-Jeffery ist u.a. La Gloire ausdrucksstark. Der Chor des Philharmonia Baroque Chorale ist engagiert dabei und hat szenisch einiges zu tun. Das Booklet enthält das Libretto, einiges an Informationen und auch Fotos der Bühnenproduktion in Berkeley, angesichts derer und der nicht ganz überzeugenden Live-Qualität der Aufnahme eine Studio-Aufnahme oder eine DVD-Produktion dieses bemerkenswerten Werks sinnvoller erscheinen will (2 CDs, Philharmonia Baroque Productions/ Naxos Vertrieb, PBP10). Marcus Budwitius