Es zeugte vom Mut des neuen Salzburger Festspielintendanten Markus Hinterhäuser, im vergangenen Sommer drei Werke des 20. Jahrhunderts zu präsentieren, und die positive Aufnahme beim Publikum gab seinen Bemühungen um anspruchsvolles zeitgenössisches Musiktheater Recht. Einer der Höhepunkte war die Produktion von Bergs Wozzeck im Haus für Mozart, die harmonia mundi nun auf DVD und Blu-Ray herausgebracht hat (HMD 9809053.54).
Eine opulente, zuweilen gar chaotische Bilderwelt überflutet den Zuschauer in William Kentridges Inszenierung. Es ist ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Film und Bildender Kunst, wofür dem Regisseur Luc De Wit (Co-Regie), Sabine Theunissen (Bühne), Greta Goiris (Kostüme), Catherine Meyburgh (Video Design) und Urs Schönebaum (Licht) zur Seite standen. Die Einheitsszenerie stellt einen aufgetürmten Bretterberg mit ramponierten Möbeln, Fensterläden und Treppen dar. Eine Staffelei gibt dem Raum die Anmutung eines Ateliers, ein Filmvorführgerät dient zur Einspielung von historischen Dokumenten aus der Zeit des 1. Weltkrieges. Die expressiv schraffierte Wand im Hintergrund bringt Kentridges Stil als Zeichner ein und zeigt im Verlauf der Aufführung mehrere seiner typischen Sujets (abgestorbene Bäume, Sümpfe, Grasbüschel, Trümmer) als Projektionen grobkörniger Kohlezeichnungen. Beklemmend sind jene Bilder, welche an die Schrecken des Krieges erinnern: Schlachtfelder, Ruinen, Tote und Verwundete, Soldatengräber… Personifiziert sind sie in vier Mimen, die mit Gasmasken, Krücken und Rotkreuz-Schürzen omnipräsent sind und abgründige, gespenstische Metaphern abgeben. Auch die Puppe, mit der Maries Knabe spielt, trägt eine Gasmaske und reitet am Ende, von zwei Statisten geführt, auf einer Krücke als Abbild des Grauens.
An der Spitze einer grandiosen Besetzung steht Matthias Goerne in der Titelrolle, die er gesanglich und darstellerisch mit beeindruckender Präsenz und Ausdruckskraft ausfüllt. Mit den perfiden Experimenten des Doktors an dem ihm ausgelieferten Soldaten nimmt der Regisseur jene der NS-Ärzte an KZ-Insassen vorweg. Goerne hütet sich vor jeder naturalistischen Entgleisung, bleibt in seinem Spiel stets maßvoll und überzeugt gerade durch diese Schlichtheit. Sein warmer, sonorer Bariton besticht durch große Ausbrüche, welche die existentielle Not dieses Mannes hören lassen, aber auch lautmalerische Finessen und eine Schluss-Szene von beklemmender Spannung. Nur in der unteren Lage wird die Stimme gelegentlich vom Orchester überdeckt, wenn Vladimir Jurowski die Wiener Philharmoniker zu exzessiven Klangballungen antreibt. Man hört aber auch sehr subtile, kammermusikalisch transparente Momente, wie bei Maries Bibelszene. Insgesamt also finden Dirigent und Orchester zu einer Balance zwischen schroffen Klangblöcken und lyrischen Inseln. Die litauische Sopranistin Asmik Grigorian mit leuchtend-sinnlicher Stimme feierte ein erfolgreiches Salzburg-Debüt. Ihre Marie ist eigensinnig und selbstbewusst, die Bibelszene gerät durch die expressive Deklamation zum Höhepunkt ihrer Darstellung. Ihre großartige stimmliche wie schauspielerische Leistung führte sogleich zu einer weiteren exponierten Verpflichtung – der Titelrolle in Strauss’ Salome bei den diesjährigen Festspielen. Glänzend Gerhard Siegel als Hauptmann mit schneidendem Tenor in der exponierten Höhe und souveränem Gebrauch des Falsetts sowie Jens Larsen als Doktor mit skurriler Haltung und tragfähigem Bass. John Daszak ist ein eitler Tambourmajor mit potentem, gelegentlich gequält klingendem Tenor, der Marie fast vergewaltigt. Von ihm hebt sich der lyrische Tenor von Mauro Peter als Andres gebührend ab und zeichnet sich darüber hinaus noch durch den liedhaften Vortrag aus. Hoch besetzt sind die beiden Handwerksburschen mit Tobias Schnabel und Huw Montague Rendall im Wirtshausgarten, wo die Soldaten und Mägde sich in einer schaurigen Danse macabre vergnügen. Präzise Studien bieten Heinz Göhrig als Narr und Frances Pappas als Margret. Musikalisch gipfelt Bergs Oper nach Maries und Wozzecks Tod in einem aufgetürmten Orchester-Epilog den das Produktionsteam apokalyptisch bebildert und das Publikum betroffen entlässt. Bernd Hoppe