Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Unnötig, aber bewegend

 

Welch ein Zufall, an ein und demselben Tag im Fernsehen aus Salzburg die aktuelle Tosca-Inszenierung aus Salzburg und die neue Blu-ray von major mit einem Feature über die altbekannte Aufnahme des zweiten Akts von 1964 mit Maria Callas und Tito Gobbi aus London zu sehen und zu hören. Und warum lässt die Salzburger Produktion trotz des betörenden Gesangs von Anja Harteros kalt, während die Aufnahme mit Callas und Gobbi auch beim gefühlten hundertsten Betrachten und trotz nicht überragender Schwarz-Weiß-Optik tief bewegt? Regie in London führte Franco Zeffirelli, in Salzburg Michael Sturminger, der mit albernen Mätzchen wie einem Schluss à la High Noon und einem Kinderschießkommando jegliche aufkommende Stimmung im Keim erstickt. Zudem ist eine Verlegung in die Jetztzeit bei einem Werk, in dem Ort und Zeit statdtplangenau und  auf die Minute festgelegt sind, besonders töricht.

Man sollte sich zunächst den zweiten Teil der Blu-ray zu Gemüte führen, der den zweiten Akt ohne Unterbrechung zeigt, erst danach den ersten Teil mit Sequenzen daraus, die immer wieder durch die Meinungen der zu der künstlerischen Leistung Befragten unterbrochen werden, was weniger aggressiv macht, wenn man zunächst die Aufnahme ohne Unterbrechung genossen hat.

Das Feature stammt von Holger Preusse, der vor allem englisch- und deutschsprachige Interviewpartner vor die Kamera geführt hat, die sich mehr (Jürgen Kesting) oder weniger (Kristine Opolais, Wolfgang Joop) kompetent äußern, auch ein Zeitzeuge, der vom Hin und Her der Absagegerüchte berichtet, wird befragt. Weitere Beiträge gibt es mit dem unverzichtbaren Rolando Villazon, mit Thomas Hampson oder Anna Prohaska, mit den Dirigenten Rufus Wainwright und Antonio Pappano, und Brian McMaster bekennt:“I’ll always remember the performance, of course. I will, I’m just  really lucky to have been there, blessed in an way.“

Es geht in dem Film nicht nur um die Aufführung in London (Tonaufnahmen von Tosca mit der Callas gibt es noch von 1953 unter Victor De Sabata, ebenfalls mit Gobbi, aber nicht mit Cioni, sondern Di Stefano und von 1964, auch mit Gobbi, dem faszinierendsten, süffisantesten Scarpia aller Zeiten, aber mit Bergonzi und unter Georges Pretre), sondern auch um die Qualität der Stimme, die als im Vergleich zu der Aufnahme von 53 nach der Meinung vieler Kritiker nicht mehr zufriedenstellend war. Durchgehend wird im Film die Meinung vertreten, dass trotz gewisser Abstriche das Zusammen von expressiver Stimme und ebensolchem darstellerischem Einsatz jede Kritik verstummen lassen müsse.

Das Figurproblem der jungen Callas, die Einbußen an Stimmgewalt durch forcierte Abmagerung, das üble Spiel, das Onassis mit der Sängerin trieb. Damit kommt man auf fernsehtaugliche 90 Minuten Sendezeit, denn das Dokument wurde für Arte geschaffen (Blu-ray major 745104). Ingrid Wanja              

Antonio Smareglias „Nozze istriane“

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Sehr wenige Theater außerhalb Triests und einiger Städte an der istrischen Küste der Adria haben in der Vergangenheit Antonio Smareglias Opern aufgeführt, die jedoch für Aufmerksamkeit in Prag oder Wien gesorgt hatten. Im heute kroatischen Pola am 5. Mai 1854 und im selben Jahr wie Catalani geboren, begann Antonio  Smareglia sehr früh  mit seiner musikalischen Ausbildung, zuerst in Wien als kulturellem Zentrum  Mitteleuropas jener Jahre (und er war als Sohn einer kroatischen Mutter und eines österreichischen Vaters deutschsprachig aufgewachsen), später in Mailand, wo er die Freundschaften von wichtigen Persönlichkeiten des Musiklebens wie Arrigo Boito und Luigi lllica gewann. Ausgebildet wurde er bei dem Komponisten und Lehrer Antonio Faccio (dessen wiederaufgefundener Amleto vor kurzem in der Musikwelt für Ausehen sorgte und der nun auch als Video von den Aufführungen in Mörbisch zu haben ist). In jenen Jahren florierte besonders in Mailand die nonkonformistische  Kulturbewegung der scapigliatura,  deren antiromantische, antirhetorische Ideale auch auf Smaraglia abfärbten.

Der Komponist und seine Librettisten: Luigi Illica, Antonio Smareglia & Francesco Pozza/ OBA

Diese „Junge Schule“ der Tempelstürmer wurde im musikalischen Bereich von der ebenfalls jungen Musikfirma Sanzogno gefördert, die es wagte, sich neben dem übermächtigen Musikverlag Ricordi zu etablieren, die auch den Verlag der Witwe Lucca (wo Catalani verlegt wurde) „schluckte“ – durchaus einer der Gründe, warum Smareglia in der späteren Folge kaum aufgeführt wurde. In jenen Jahren war der Austro-Kroatische Konflikt mit Italien evident, und Smareglia spürte in Mailand die Fremdheit einer Welt, mit der er sich weniger identifizieren konnte als in Wien. Vielleicht auch um diesem Konflikt zu entgehen, verließ er das dortige Konservatorium 1877 und vervollständigte sein Studium selbst – später äußerte er sich enttäuscht und desillusioniert über seine mangelnde Zugehörigkeit zu keiner der beiden Kulturen. Dennoch war Mailand der Aufführungsort seiner ersten Werke: Preziosa 1879 und Bianca da Cervia bereits an der Scala 1882, letztere deutlich in Anlehnung an das Modell der Grand Opéra, aber auch bereits Trägerin seiner Vorstellungen von Harmonik und Instrumentation.

Bei seinem zweiten Wien-Aufenthalt von 1888 bis 1894 experimentierte Smareglia mit neuen Ausdrucksformen und betonte damit einmal mehr seine Distanz zu den gängigen Opern der Jahrhundertwende in der Folge Verdis. Dabei zog er überzeugend die Aufmerksamkeit eines so eminenten Kritikers wie Eduard Hanslick und Komponisten wie Johannes Brahms auf sich. In diese Phase gehören seine Opern II vassallo die Szigeth in Wien 1889 und Cornill Schutt 1893 in Dresden, dann in Prag (ab 1928 als Pittori fiamminghi vielfach in Italien aufgeführt). Beide Opern wurden in deutscher Übersetzung der Libretti von lllica gegeben (Bote & Bock).

Smareglia: Klavier-Potpourri aus Melodien der „Nozze istriane“/ Wiki

Zurück in lstrien, begann Smareglia die Arbeit an einem Genrestück aus seiner engsten Heimat, die Nozze istriane (Die Istrische Hochzeit in  deutsch), die am Teatro Comunale der Hafenstadt und Verbindungsachse Triest 1895 aufgeführt wurden. Wie für Wolf-Ferrari übernahm Triest auch bei Smareglia immer wieder die Verbindungsfunktion zwischen lstrien /Venedig und Italien/ West-Europa. Die Handlungs-Szene war das Dorf Dignano an der istrischen Küste, wo sich das brutale Drama zwischen der mit einem Betrug in eine ungeliebte Ehe gestoßenen Marussa und ihrem eigentlichen, mittellosen Geliebten Lorenzo abspielt. Die Musik charakterisiert diese ambivalente Umgebung der armen Bauern zwischen den Kulturen mit Assoziationen an italienische Melodik durchaus im Umfeld der Cavalleria, aber durchsetzt mit istrisch-kroatischen Volksweisen, wie sie Smareglia von seiner kroatischen Mutter vorgesungen worden waren. Es war für ihn als Komponisten bezeichnend, dass er nach Jahren der Auseinandersetzung mit der italienischen und österreichischen Kultur sich seiner eigenen Wurzeln besann und zu einem eigenen Idiom fand.

Smareglia: „Nozze istriane“/ Bongiovanni

Die Nozze istriane wurden in nur ein paar Monaten komponiert, und die Premiere konnte mit denselben Stars glänzen wie die Cavalleria Mascagnis, mit Gemma Bellinconi und Roberta Stagno, dirigiert von Giuseppe Pome, dem Bruder des berühmteren Alessandro. Nach nur zwei Vorstellungen 1895 kehrte die Oper immer wieder nach Triest zurück (1908, 1921, 1954 und 1973) Im ganzen sind die Nozze wohl die am häufigste aufgeführte Oper Smareglias; und auch in Wien erreichte das Werk in deutscher Sprache als lstrianische Hochzeit an der Volksoper 1908 mit über 20 Vorhängen einen enormen Erfolg. Nach dem Tod des Komponisten am 15. April 1929 wurde mit dieser Oper die römische Arena von Pola 1933 eröffnet, und der Kritiker Maria Corsi hielt die Wirkung auf das Publikum fest: Nozze istriane ist ein Drama der armen Leute, musikalisch durchdrungen von unterdrückter Sorge, geschrieben ohne jegliches ästhetisches Vorurteil, jenseits alter oder neuer Formeln, offen gegenüber einer Melodie, die in der Reinheit der klassischen Linie geformt war. Die Oper wurde vom Publikum enthusiastisch gefeiert und viele Male wiederholt.“ Die Musik wird in der Tat – von den ersten sehnsuchtsvollen Anfangstakten des e-Moll-Vorspiels an bis hin zum schnellen, tragischen Finale – von einer starken dramatischen Spannung getragen und besitzt nicht einen Moment des Nachlassens oder der erzählerischen Umschweife. Die Charaktere in dieser kurzen Tragödie lllicas haben präzise Beziehungen zu sich selbst und ihrer Umwelt und sind in die fatale Unentrinnbarkeit der Aktion verstrickt. Wie aber auch in allen anderen der Smareglia-Opern ist das Orchester der Hauptakteur, immer intensiv und unvorherbestimmbar, angereichert mit erstaunlich moderner Tonalität und einem subtilen, komplexen harmonischen Geschmack voller Kummer und düsterer Tonarten. Der beglückende Zug findet sich in der musikalischen Verhaftung zum lokalen Ambiente, zu wilden Landschaftsschilderungen der istrischen Küste. In diesem Sinne folgen die Nozze einem exquisiten naturalistischen Impuls und nicht einem literarischen (wie die Cavalleria) oder einem kriminellen (wie die Pa­gliacci), sie sind tief empfunden und im modernen Sinne „wahr“, wahr auch für den Komponisten selbst, der hiermit seinen eigentlichen Ausdruck fand.

Smareglia: „Nozze istriane“ – hier eine Postkarte zu Tascas Oper „A Santa lucia“ mit den beiden Hauptdarstellern Gemma Bellinconi und Roberto Stagna, die auch die Smareglia-Oper in der Uraufführung sangen/ OBA

Aufführungen: Weitere Opern von ihm wurden selten aufgeführt. Aus der Beziehung zu seinem Schüler Silvio Benco entstand die mythische Falena (Die Motte) von 1897 am Teatro Rossini in Venedig, die thematisch bei einer allerdünnsten Handlung die Mächte der Sexualität und der Keuschheit gegenüberstellt, in deren Spannungsfeld der Mann steht, in diesem Falle innerhalb einer Handlung in einem mythischen Land „an der Küste des Atlantiks“. Wie bei Wagner und anderen Komponisten auch kämpft hier das Dunkel gegen das Licht, und die Musik ist voll dieser sich subtil verschiebenden Schwebezustände unterschiedlicher Helligkeit. 1976 gab es La falena zuletzt am Teatro Verdi von Triest mit Leyla Gencer und unter Gianandrea Gavazzeni; das Staatstheater Braunschweig hatte den Mut, die Oper 2016 aufzuführen. Mit Denia Mazzola gab es zudem 2017 in Mailand die Oper konzertant.   Oceana mit praktisch keiner Handlung folgte an der Scala 1903, und schließlich wurde Smareglias letzte Oper, L’abisso, ebenfalls an der Scala 1911 uraufgeführt; seit 1900 war der Komponist blind, nicht überraschend drehen sich seine letzten Werke um Leiden und Erlösung – die Ideale der scapagliatura hatten sich in einen dekadenten und halluzinatorischen Symbolismus verwandelt.

Dokumente/ Verbreitung: Die Oper Le Nozze istriane ist bei der verdienten Firma Bongiovanni in Bologna als Mitschnitt einer hochbesetzten Aufführung von 1973 mit der jungen Maria Chiara als Marussa im Triestiner Teatro Verdi her­ ausgekommen (GB 113/ 4 – wesentlich der bekannten Aufnahme von der italienischen RAi von 1961 in ziemlich abscheulichem Klang mit Renata Mattioli vorzuziehen). Aufgeführt wurde das Werk ab 1985 rund 13 Mal in Italien und zweimal in Pola open-air. Seeger (Opernlexikon) nennt noch 1896 Prag in Tschechisch und Wien 1908 in der deutschen Übersetzung von Falzari. Als neuer Mitschnitt geriet dann auch die Aufführung von 1999 in Triest bei Bongiovanni auf die CD, die fabelhafte und damals ganz junge Svetla Vassileva ist die Marussa neben Ian Storey und Alberto Matromanrino unter Tiziano Severini – außerordentlich empfehlenswert, zumal nun in stereo (GB2265/66).

Smareglia: „Nozze istriane“ in Triest 1999/ Teatro V erdi Trieste

Die Falena ist ebenfalls, und ganz überraschend, als Mitschnitt aus Triest 1976 mit Leyla Gencer und Gianandrea Gavazzeni bei Bongiovanni erschienen. Und auch das Staatstheater Braunschweig hatte den Mut, das Werk aufzuführen. Zumindest wurde die Aufführung im Radio übertragen, wenngleich leider nicht als CD mitgeschnitten –  wir haben bei operalounge.de darüber ausführlich berichtet. Angekoppelt an die Bongiovanni-Falena finden sich Ausschnitte aus der Oceana Smareglias (nur drei Aufführungen zwischen 1903 und 1949, die letzte dann in Triest, woher die Musikstücke stammen). Youtube bietet zumindest das auch visuelle Dokument der Aufführung in Zagreb 2003 unter Zoran Juranetz  Von L´Abisso gibt es eine unter Sammlern kursierende Aufnahme aus Triest 1979 mit Rita Orlandi Malaspina und Amedeo Zambon.

Ingrid Wanja übersetzt tapfer und unverzagt aus dem Italienischen für uns – Danke Ingrid!

Das Frühwerk Preziosa fand seine letzte Bühnenpräsenz natürlich wieder in Triest, 1886, Bianca da Cervia ebenfalls hier 1885, Re natale nur einmal, in Venedig 1887, II vassallo di Szigeth wurde als Der Vasall von Szigeth 1889 an der Wiener Hofoper uraufgeführt, danach nur noch 1930 in Pola und Triest und 1931 bei der RAi­ Voriäuferin EIAR in Rom gebracht. Cornill Schutt wurde nach der Premiere 1893 am Königlichen Theater von Dresden und anschließend in Prag nur noch einmal in deutscher Sprache 1900 im damals noch deutsch­kundigen Triest und danach italianisiert als Pittori fiamminghi 1928, 1930 und 1991 in Triest und 1931 in Novara gegeben. Auch hiervon kursiert eine Live-Aufnahme unter Sammlern von 1991, die es ebenfalls bei youtube gibt (Cornill Schut: Daniel Munoz, Franz Hals: Carlo Striuli, Craesbecke: Franco Giovine , Elisabetta: Milena Rudiferia , Gertrud: Rita Lantieri , Kettel: Cinzia di Molo Orchestra e coro del Teatro Verdi di Trieste 05 Maggio 1991).  Silvano Frontalini dirigiert bei Bongiovanni eine CD mit Ouvertüren aus den genannten Opern. Geerd Heinsen

(Der Artikel zu Le Nozze istriane fußt auf dem Beitrag von Fernando Battaglia in der Beilage zur ersten Bongiovanni-CD-Ausgabe mit Maria Chiara, die italienischen Aufführungsdaten zu Smareglia-Opern entnahmen wir dem Programmheft des Teatro Verdi Triest zu Pittori fiamminghi, 30. April 1991. Dank an Ingrid Wanja für die Übersetzungshilfe.)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Barock-Diva auf Abwegen

 

Eine neue CD mit einem ganz ungewöhnlichen Programm legt Nuria Rial bei Sony vor (8888375442). Die katalanische Sopranistin ist eine renommierte Interpretin im Barock-Repertoire – hier wandelt sie mit ihrer Platte Vocalise auf ungewohntem Terrain. Begleitet wird sie von den Acht Cellisten des Sinfonieorchesters Basel in Kompositionen von Heitor Villa-Lobos und Bernat Vivancos. Letzterer arrangierte auch das katalanische Volkslied „El Cant dels Ocells“, das der Cellist Pablo Casals bei jedem seiner Konzerte im Exil als letztes Musikstück spielte. Die Sängerin hat diesen „Gesang der Vögel“ in das Programm ihrer CD aufgenommen – als Reverenz an ihre Heimat, war diese Melodie doch viele Jahre die heimliche Hymne der spanischen Flüchtlinge in der Fremde. Es ist eine Musik voller Melancholie, die zunächst a capella erklingt, bis später die Instrumente eine sanfte, einfühlsame Melodie anstimmen. Fast keusch führt die Solistin ihre Stimme und berührt damit sehr.

Vivancos’ eigene Komposition „Vocal Ice“ widmete er Nuria Rial und dem Baeler Cello-Oktett. Sie erklingt hier als Weltpremiere – ein schwermütiger Gesang in Form einer Vokalise, der von Liebe und Trost künden soll und im Gedenken an Michelangelos Pietà entstand. Rial findet hier zu besonders zarten, sensiblen Tönen, die wie aus einer fernen Welt zu kommen scheinen.

Astor Piazzollas Suite Las Cuatro Estaciones Portenas als instrumentaler Beitrag in der Reihenfolge Sommer, Herbst, Winter, Frühling auf die acht Titel der Platte verteilt. Ursprünglich für Streicher, Klavier, E-Gitarre und Bandoneon komponiert, fertigte der britische Cellist James Barralet 2013 eine Bearbeitung für acht Celli an, die hier erklingt. Mit dem „Verano“ als argentinischem Tango beginnt die Platte sehr sinnlich, rasant im Rhythmus, aber auch in melancholischer Stimmung. Der „Otono“ ist von herber, spröder Tongebung, findet später zu melodischen Inseln und verlangt den Musikern insgesamt ein hohes Maß an Virtuosität ab. Sehr elegisch hebt der „Invierno“ an, bietet duftige, träumerische Stimmungen. Die „Primavera“ markiert das Finale der Programmfolge und sichert ihr einen flotten Ausklang mit effektvollen rhythmischen Akzenten.

Ein Klassiker ist der Zyklus „Bachianas Brasileiras“ von Villa-Lobos, den der brasilianische Komponist für Sopran und acht Cellos als Hommage für Johann Sebastian Bach schrieb. Das bekannteste Stück daraus, und bereits von vielen berühmten Sängerinnen eingespielt, ist Nummer 5. Rial singt die Aria (Cantilena) mit tiefer Empfindung, lässt ihren leuchtenden, typisch mediterranen Sopran schweben, getragen von warmen, sonoren Klängen der Cellisten. In der Dança (Martelo) beweist sie Temperament und ein jazziges Feeling. Bernd Hoppe

 

Michel Sénéchal

 

Der große und bedeutende französische Sänger Michel Sénéchal ist tot, er starb am 1. April 2018 in Paris im Alter von 91 Jahren. Er kann als die Personifizierung der französischen Oper gelten. Nach einem Studium am Pariser Konservatorium debütierte Sénéchal 1950 am Monnaie in Brüssel. Während seines Kontrakts für drei Spielzeiten sang er dort das lyrische Tenorrepertoire, wie er es später sowohl an der Pariser Oper als auch an der dortigen Opéra-Comique und in allen Theatern in ganz Frankreichs tat. Seine Rollen umfassten Rossinis Almaviva und Comte Ory, Hylas in Berlioz‘ Les Troyens, Paolino in Cimarosas Il matrimonio segreto, Georges Brown in Boieldieus La Dame blanche und drei von Mozarts wichtigsten Tenorpartien: Tamino, Ferrando und Don Ottavio. In Aix-en-Provence sang Sénéchal 1956 die Travestierolle von Rameaus Platée, eine seltsame Kreatur von atemberaubender Heimlichkeit, die von sich selbst glaubt, schön zu sein. Der Erfolg in dieser Rolle war so enorm, dass er aufgefordert wurde, sie auch in Amsterdam, am Monnaie und an der Opéra-Comique zu singen.

Nachdem er sich allmählich von den Hauptrollen entfernt hatte, installierte sich Michel Sénéchal als Star unter den Comprimario-Sängern. Seine Vignetten, so kurz sie auch sein mögen, waren von einer Größenordnung, die sofort das künstlerische Niveau einer jeden Produktion steigert, bei der er mitwirkt. Sein raffiniertes Gespür für Make-up, Bewegung auf der Bühne, komisches Timing und die Ergreifung jedes Elements der Ironie, das er unvergesslich macht, basiert auf dem Fundament einer schönen leichten Tenorstimme, die gut ausgebildet und immer angenehm zu hören ist. So bedeutend wurde dieser Nebenrollenkünstler, dass der Katalog mannigfaltige Aufnahmen seines Kernrepertoires offeriert. Sein einziger Vorgänger in dieser Nische, der eine ähnliche Prominenz erlangte, war der schweizerische Tenor Hughes Cuenod, selbst ein unauslöschlicher Künstler, jedoch einer mit einer gar noch leichteren Stimme.

Michel Sénechal als Rameaus Platée in Aix-en-Provence/ Wikipedia

Allmählich etablierte Sénéchal seine Vormachtstellung hinsichtlich Charakterrollen. Darunter waren Monsieur Triquet in Tschaikowskis Eugen Onegin (eingespielt mit Solti); Schmidt in Werther; Trabuco in Verdis La forza del destino; Scaramuccio in Ariadne auf Naxos; Erice in Cavallis L’Ormindo; Valzacchi im Rosenkavalier; die Teekanne in Ravels L’Enfant et les Sortilèges und Gonzalve in dessen L’Heure Espagnole (triumphal gesungen beim Glyndebourne Festival 1966); Rodriguez in Don Quichotte; Brahmin in Roussels exotischem Padmâvatî; wie auch La Dancaire und Don Basilio, die er jährlich bei den Salzburger Festspielen, beginnend 1972, sang. Sénéchal wurde für die Rollen des Don Jerome aus Prokofjews selten aufgeführter Verlobung im Kloster ausgewählt, welche 1973 in Straßburg inszeniert wurde.

Für sein Debüt an der Metropolitan Opera am 8. März 1982 wurde er für Les Contes d’Hoffmann engagiert, wo er die vier komischen Tenorrollen übernahm, was bis dahin fast zu einer charakteristischen Verteilung geworden war. Weitere Rollen an der Met waren Guillot in Massenets Manon und Mozarts Don Basilio. Daneben setzte sich Sénéchal auch für zeitgenössische Opern ein. In Toulouse sang er 1985 den Fabien in der Premiere von Marcel Landowskis Montségur. Im selben Jahr trat er als Papst Leo X. in Boehmers Docktor Faustus an der Oper von Paris auf.

Sénéchals Meisterschaft im Charaktertenorfach führte ihn immer wieder ins Aufnahmestudio. Seine vier komischen Charaktere im Hoffmann sind dreimal eingespielt worden, während er in James Levines Aufnahme des Andrea Chénier neben seinem hoch angesehenen italienischen Kollegen Piero di Palma sowie Scotto, Domingo und Milnes in weiteren Rollen dokumentiert ist. Neben Offenbachs Hoffmann und einer geradezu mustergültigen Einspielung von Orphée aux enfers unter Plasson 1978 tritt Sénéchal neben Felicity Lott in einer im Jahre 2000 erschienenen Aufnahme von La belle Hélène in Erscheinung.

Viele, viele Aufnahmen dokumentieren seinen Ruhm und seine unendliche Begabung für seine Partien, in denen er sans-pareille brillierte. Namentlich bei der französischen EMI nahm er über drei Jahrzehnte immer wieder auf, aber auch bei den älteren Firmen wie Vega oder Chant du Monde findet man seinen Namen. Er bleibt als Synonym für die lyrischen Charakterrollen der französischen Oper unerreicht.  Herbert Strong (Übersetzung Daniel Hauser)

PORTIONIERTER GENUSS

 

Die Opern von Nicola Porpora sind heutzutage immer noch Raritäten und kommen nur langsam wieder stärker ins Bewußtsein des Barockmusikpublikums. Bei Glossa hat man sich für die Doppel-CD L’amato nome aus dem kaum bekannten Schaffen des Neapolitaners Nebenwerke vorgenommen, die einst ausgesprochen populär waren. Die Kantaten für den Prince of Wales mit der Opuszahl 1 erschienen 1735 in London, also in dem Jahr, als Porpora Polifemo und Ifigenia in Aulide und dessen Konkurrent Händel Alcina und Ariodante auf die Bühnen Londons brachte. Der Prince of Wales war Friedrich Ludwig, der älteste Sohn und Thronerbe des englischen Königs Georg II. aus dem Haus Hannover. Beide verstanden sich bekanntlich denkbar schlecht, der Prinz protegierte die Opera of the Nobility mit Porpora und war auch selber musisch begabt – er spielte Cembalo und Cello. Es gibt Hinweise, dass Porpora diese Werke zumindest teilweise nach London mitgebracht hatte und der aufwändige und teure Druck mit Widmung an den Prinzen auch ein Verkaufsargument für wohlhabende Kenner sein sollten. Tatsächlich waren diese zwölf Kammerkantaten für Continuo, Sopran und Alt auf Texte von Pietro Metastasio.ein Erfolg für Porpora und ein geschickter Schachzug, um sein Schaffen und Können in musikalisch reduzierter Umgebung unter Beweis zu stellen. Noch Jahrzehnte später finden sich schriftliche Quellen, die diese Werke als außerordentlich und modellhaft rühmen, bis ins 19. Jahrhundert wurden sie gedruckt. Porpora gelang hier eine musikalische  Inszenierung  von Metastasios Texten, die den damaligen Geschmack und die Ideale des Arkadischen darstellen – es geht bspw. um Apollo, Nymphen, Cupido, Schäfer und Landschaften sowie um Herzschmerz und Sehnsucht. Die Kantaten können als Beispiel für Porporas galanten Stil herangezogen werden, ihre eingänglichen Melodien galten als bezaubernd, die Rezitative beschrieb man damals als natürlich, die Modulationen als angenehm, im Aufbau bestehen sie aus 2 Arien mit verbindendem Rezitativ oder aus dem doppelten Paar aus Rezitativ und Arie. Im Beiheft erfahren die Kantaten eine andere Einschätzung, sie setzen beim „Zuhörer eine profunde Wertschätzung von Porporas Können voraus„. Dirigent Stefano Aresi leitet zwei Musiker aus dem Barock-Ensemble Stile Galante, das Continuo ist bei dieser Aufnahme nur mit Cembalo und Cello besetzt – eine Entscheidung, die für Kammerkantaten historisch verbürgt ist und doch eine gewisse klangliche Monotonie auslöst. Das könnte auch der Grund dafür sein, daß Aresi im Beiheft empfiehlt, nicht alles in einem Rutsch durchzuhören, sondern sich die einzelnen Kantaten portionsweise, in zeitlichem Abstand und langsam zu Gemüte zu führen. Die Cellistin Agnieszka Oszanca meistert zwar die melodiösen Passagen mit klanglicher Schönheit, die Cembalistin Andrea Friggi spielt mit Eleganz und mit Anmut, dennoch leidet das heute verwöhnte Ohr an dieser Kargheit, musiziert wird in so vollendeter Ausgewogenheit, dass es schon mal ermüden kann. Die jeweils sechs Arien sind auf vier Sängerinnen verteilt, jede singt drei. Die Sängerinnen halten sich an die stilistische Konstante, nicht nur in den Dacapo-Passagen improvisierte Verzierungen zu verwenden, also die Technik des cercar/anticipatione della nota zu pflegen. Verzierungen und stilistische Fragen wurden mit dem Dirigenten erarbeitet. Die Sängerinnen sind sehr gut besetzt, die Stimmfarben sind unterschiedlich gewählt, die ausgedehnten und stark verzierten Gesangslinien der Arien stellen die Interpreten vor die Herausforderung, langen Atem und sichere Technik zu beweisen. Die Mezzosopranistin Marina De Liso überzeugt mit warmen Farben, Ausdruck und Koloratur klingen attraktiv, sie singt die Kantaten Nr. 8 „Or che una nube ingrata„, 9 „Destatevi, oh pastori“ und 11 „Oh dio, che non è vero„. Auch die zweite Mezzosopranistin Giuseppina Bridelli ist hörbar eine versierte Sängerin für Rollen der Barock/Rokoko-Epoche, ihre Stimme ist verführerisch und etwas tiefer,  sie singt Nr. 7 „Veggo la selva e il monte„, Nr. 10 „O se fosse il mio core“ und 12 „Dal povero mio cor„. Emanuela Galli leiht ihren schönen und einschmeichelnden Sopran den Kantaten Nr. 2 „Nel mio sonno almen talora„, 5 „Scrivo in te l’amato nome“ und 6 „Già la notte s’avvicina.Der Sopran von Francesca Cassinari ist jünger, mädchenhafter, sie übernimmt die Kantaten Nr. 1 „D’amore il primo dardo„, 3 „Tirsi chiamare a nome“ und 4 „Queste che miri, oh Nice„. Die Kantaten haben nicht den Effekt, Pomp und Glanz, den man heute in den diversen Sammlungen mit Opernarien hören kann (Max E. Cencic sei als aktuelles Beispiel genannt), die Selbsteinschätzung Aresis, dass es sich um Porpora für Kenner handelt, ist nachvollziehbar. (2 CDs, Glossa, GCD 923513 ) Marcus Budwitius

Jugendwerke zum Geburtstag

 

Manche Preise führen einen recht verwirrenden Titel – so wurde der renommierte Rom-Preis, einer der wichtigsten musikalischen Auszeichnungen des 19. Jahrhunderts, nicht etwa an italienische Komponisten vergeben, sondern an französische. In der Edition des Palazetto Bru Zane bei ediciones eingulares werden die interessantesten Preisträger vorgestellt. Dem jungen Charles Gounod ist zu seinem Jubiläum 2018 die 6. Folge gewidmet.

Der Prix de Rome: Das ist ein Musik-Preis des Pariser Konservatoriums, der seit 1803 vergeben wurde. Die Gewinner erhielten Italien-Stipendium und konnten dann in Rom Musik vor Ort studieren. Erhalten haben ihn zum Beispiel Berlioz, Dukas, Camille Saint-Saëns sowie Bizet. Und eben auch Charles Gounod, dessen opernhafte Kantate „Fernand“ 1839 den ersten Preis gewann. Beworben hat er sich dreimal – auch die beiden Kantaten die keinen ersten Preis gewannen, wurden hier eingespielt: „Maria Stuart et Rizzo“ (1837) und „La Vendetta“ (1838).

Die Idee, mit der raren Musik der Preisträger (diese Werke dienten nur akademischen Zwecken und wurden oft nur gelesen, nicht aufgeführt, so dass sie bis heute kaum jemand gehört hat) eine eigene CD-Edition zu bestücken, klingt erst einmal wieder nach einem Schreibtischeinfall. Musik von Studenten aus dem 19. Jahrhundert – so berühmt die Namen auch sein mögen – das muss nicht unbedingt spannend sein.

Aber weit gefehlt: Um den Rompreis zu gewinnen, brauchte es ein extrem hohes Niveau. Und das meiste, was hier auf mittlerweile sechs Alben zu hören ist, besticht durch enorme Qualität. Und oft, wie im Fall Gounod, ist es natürlich auch faszinierend herauszufinden, wie viel vom späteren berühmten Komponisten man schon erahnt.

Gounod wirkt schon in den drei Kantaten ganz als der feinsinnige, visionäre Opernkomponist der er später einmal sein wird. Manches ist vielleicht melodisch noch nicht so exquisit wie im Faust und der Mireille, aber die Szenen haben schon einen erstaunlichen dramatischen Drive. Und vor allem bestechen fast alle Nummern durch rhythmische Finessen.

Frühe Meisterwerke: Außergewöhnlich an Gounod war, dass er sich nie so recht entscheiden konnte, ob er nun Opern- oder Kirchenmusiker sein wollte. Er war leidenschaftlicher, schwärmerischer Katholik, und von Anfang an hat er sich in beiden Richtungen ausprobiert.

Die zweite CD des Albums dokumentiert die geistliche Musik, die Gounod während seines Rom-Aufenthalts komponiert hat bzw. die hier inspiriert wurde. Gounod war zutiefst bewegt von Orten wie der Sixtinischen Kapelle, aber auch von Palestrinas Musik, die er hier kennenlernte. Die Kirchenmusik auf dieser CD (zwei Messen und zwei kleinere Werke) ist der eigentliche Schatz, der hier gehoben wird, die wirkliche Entdeckung. Die Kantaten sind Übungsstücke, die Messen frühe Meisterwerke.

Prachtvoll und Luxuriös: Die Prix-de-Rome-Reihe des Labels ediciones singulares gehört zu den aufwändigsten und liebevollsten Klassik-Editionen der letzten Jahre. Schon allein die Aufmachung ist atemberaubend, sie ist gestaltet wie ein Buch mit vielen informativen Texten. Leider sind diese – einziger Wermutstropfen – nur in französischer und englischer Sprache.

Beeindruckend auch, was hier an Sängern aufgeboten wird, schon allein quantitativ. Man hätte an Solisten für die drei Kantaten und vier Kirchenwerke eigentlich nur vier bis fünf Interpreten gebraucht. Aufgeboten wurden neun, jede Kantate ist anders besetzt, in heutigen Zeiten der Sparzwänge wirklich verschwenderischer Luxus.

Vielleicht ist nicht jeder Sänger eine absolute Idealbesetzung, aber kleine Schwächen verteilen sich eben gut auf den beiden CDs. Zusammengehalten wird alles sehr souverän vom Dirigenten Hervé Niquet, der die Werke wirklich jugendlich und mit Verve zelebriert und in jedem Takt den großen Respekt spüren lässt, den er vor diesen frühen Arbeiten des Komponisten hat. Ein mehr als nur würdiges Geburtstagsgeschenk an den 200 Jahre jungen Gounod (Preisträger Prix de Rome, Vol. 6: Charles Gounod; mit Gabrielle Philipponet, Sopran, Chantal Santon-Jeffery, Sopran, Sebastien Droy, Tenor, Alexandre Duhamel, Bass; Flämischer Radiochor; Brüsseler Philharmoniker; Hervé Niquet; Ediciones singulares 1030/ Foto oben „Marie Stuart“ – Illustration zu Niedermeyers gleichnamiger Oper bei Chocolat Guerrier). Matthias Käther

Die Leuchtende

 

Anlässlich ihres achtzigsten Geburtstags (am 11.02.2018) würdigt Deutsche Grammophon das Werk der schweizerischen Ausnahmesopranistin Edith Mathis mit dieser Ausgabe auf sieben CDs. Die Aufnahmen sind zwischen 1960 und 1984 entstanden und bieten einen Überblick über Mathis‘ Schaffen in den Bereichen Oper, Oratorium und Lied. Erstmals auf CD erscheint hier, neben Einspielungen zusammen mit Größen wie Christoph Eschenbach, Wolfgang Sawallisch, Karl Richter, Carlos Kleiber oder Seiji Ozawa, eine Auswahl aus Mathis‘ Interpretationen aus Wolfs Italienischem Liederbuch mit Karl Engel. Darüber hinaus sind Aufnahmen mit Karl Böhm enthalten, der für Mathis wohl künstlerisch prägendste Dirigent, der sie auch mit Deutsche Grammophon in Kontakt brachte. Ergänzt wird das Set durch ein 40-seitiges Booklet, in dem Peter Hagmann, aufbauend auf einem Interview mit Edith Mathis, speziell geführt für die Box, durch das Repertoire leitet. DG

 

Zum achtzigsten Geburtstag von Edith Mathis hat die Deutsche Grammophon eine Kassette mit sieben CDs mit Aufnahmen der Schweizer Sängerin auf den Markt gebracht, die den verzückten Hörer aus dem Staunen nicht herauskommen lässt. Dieses gilt gleichermaßen der schönen Sopranstimme wie dem auf drei der CDs festgehaltenen Liedrepertoire, das einmal mehr den Kopf darüber schütteln lässt, dass dieses kostbare Erbe im Musikleben von heute eine so geringe Rolle spielt, ist man doch geradezu berauscht von dem Melodienreichtum der Brahmsschen Volkslieder, Duette, Liebeslieder-Walzer, die dazu noch in einer nicht zu überbietenden Besetzung mit neben der Jubilarin Brigitte Fassbaender, Peter Schreier und Dietrich Fischer-Dieskau vorgestellt werden. Diese und die auf den CDs 5 und 6  festgehaltenen Lieder von Schumann, Mozart und Wolf zu hören, ist das reinste, kompletteste Vergnügen, dass man sich denken kann, und der Mathis gelingt es sogar, die Texte von Frauenliebe und -leben goutierbar zu gestalten. Die Frische, das hörbare Engagement, mit der, vor allem von Karl Engel oder Christoph Eschenbach am Klavier begleitet, u.a. das Italienische Liederbuch und die Gesänge aus Wilhelm Meister interpretiert werden, sind zutiefst berührend und eine reine Freunde.

Die ersten beiden CDs sind Geistlichem gewidmet, beginnend mit Bachs „Jauchzet Gott in allen Landen“, in denen die Reinheit und Klarheit des Soprans, die Präzision auch in den Prestoteilen besonders zur Geltung kommen. Die sanfte, runde Höhe, das Wissen um die Bedeutung von Rezitativen, die bruchlos durch alle Register geführte Stimme, die angemessen instrumental geführt wird, lassen keinen Wunsch offen. Für „Wie freudig ist mein Herz“ hat die Stimme einen schönen Jubelton, lieblich ist ihr Klang für „Lebens Sonnen“, und eine schöne Melancholie ohne Larmoyanz bringt „Seufzer, Tränen“ zur Geltung.

Edith Mathis: Mozarts Susanna vom Dienst, nicht nur in Berlin, Wien und München/ Foto Buhs/DG

Noch leuchtender und energischer scheint der Sopran in den Stücken aus Händels Messias zu sein, und frischer als in den Arien aus Haydns Jahreszeiten ( gemeinsam mit Siegfried Jerusalem) kann ein Sopran nicht klingen. So altmodische Vokabeln wie lieblich oder anmutig drängen sich beim Hören von den Ausschnitten aus der Schöpfung auf, große Bögen sind dem Adler gewidmet und feine Schwelltöne wetteifern mit denen von Fischer-Dieskau.

Klar führt der Sopran in Mozarts Requiem, aufblühen kann er bei Dvorák, und eine tröstende Engelsstimme scheint der Hörer in Brahms‘ Deutschem Requiem zu vernehmen.

Die dritte CD ist ganz Mozarts Opernpartien gewidmet, allerdings fehlen leider Pamina (Welch schöne Erinnerungen knüpfen sich daran!) und Contessa, stattdessen sind es die „leichteren“ Damen, die sie hier verkörpert. So ist die Mathis eine Zaide voller vokaler Anmut, eine innige, verletzliche Ilia von sanfter Melancholie und eine Susanna kapriziöser Zärtlichkeit. Auch ihre Zerlina ist keine Soubrette, hat eine ausgesprochen gute Mittellage. Das gilt auch für Marzelline aus Fidelio, die sehnsüchtig und doch auch energisch klingt und einen wunderbar poetischen Beginn des „Mir ist so wunderbar“ hören lässt. Unter Carlos Kleiber war die Mathis das Ännchen mit komischer Dramatik für den Kettenhund und mädchenhafter Frische für den Schelm und den schlanken Burschen. Dass Edith Mathis auch Mezzopartien sang (Sie war ein begehrter Cherubino.) kann man an der Marguerite aus Berlioz‘ Faust-Vertonung nachvollziehen. Wunderschön leuchtet „D’amour l’ardente flamme“, während die Stimme ihrer Sophie mit dem silbernen Glanz der Rose wetteifert.

Also: ein würdiges Geburtstagsgeschenk und für den Hörer Quell des Entzückens für eine wunderschöne Stimme und ein größerer Beachtung würdiges Repertoire (Lieder!) (DG 7 CD 479 8337). Ingrid Wanja  

Anschluss und Ausschluss

 

„Barbara Denschers Buch ist eine Fundgrube für Informationen zu einem halben Jahrhundert Operetten- und Theatergeschichte, und zugleich ein bewegendes Dokument jüdischen Lebens in Wien.“ Das schreibt der Librettologe und Romanist Albert Gier im nachstehenden Artikel zum neuerschienenen Buch von Barbara Denscher im transcript Verlag über den Librettisten von Johann Strauss und Franz Léhar, Victor Leon. Dieses hervorragend recherchierte Buch lässt eine vergangene Welt neu erstehen und hat über das Sujet der Operette hinaus eine enorme Wichtigkeit für die Wissens- und Erfahrungsvermittlung. Kevin Clarke vom Operetta Research Center Archive, auf deren Seite dieser Artikel, erstmals erschien,  stellte uns Albert Giers Artikel mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors zur Verfügung. G. H.

 

Victor Léon (1858-1940, hier links neben seinem langjährigen Komponistenpartner Franz Léhar/ Dank an ORCA) hat im Lauf seiner mehr als fünfzigjährigen Theater-Karriere über hundert Bühnenstücke geschrieben, knapp die Hälfte davon wird auf dem Titelblatt als „Operette“ bezeichnet (die Grenzen zu eng verwandten Gattungen wie „Singspiel“ oder „Vaudeville“ sind fließend). Er verfasste (oft gemeinsam mit Partnern) die Bücher zu bis heute vielgespielten Werken wie Der Opernball (Richard Heuberger), Der Rastelbinder und Die lustige Witwe (Franz Lehár), Der fidele Bauer und Die geschiedene Frau (Leo Fall). Léon war eine Schlüsselfigur der Wiener Operettenszene von den 1880ern bis in die 1920er Jahre. Dennoch hat ihn die (insgesamt überschaubare) Forschung zur Operette bisher ebenso vernachlässigt wie die meisten seiner Librettisten-Kollegen. Zum einen wirkt hier die Diffamierung der meist jüdischen Textdichter durch die nationalsozialistische Hetzpresse nach, zum anderen bildungsbürgerliche Vorurteile gegenüber angeblich minderwertigen Libretti: Das Libretto sei „derjenige Teil der Oper, auf den einzugehen nicht lohnt“, schrieb sarkastisch Peter Hacks[1], als Verfasser mehrerer Libretti ein Betroffener. Wenn aber schon die Opernbücher durchweg schlecht sind, was soll man dann von den Texten der mit hochnäsiger Ignoranz verachteten Operette erwarten?

Umso erfreulicher ist es, dass  Barbara Denscher Victor León eine mehr als 500 Seiten umfassende, ungemein detaillierte „Werkbiographie“ gewidmet hat (sie ist aus ihrer Wiener Dissertation hervorgegangen, vgl. S. 14). Die Quellenlage zu Léons Karriere ist hervorragend: Sein Nachlass, „48 große Boxen mit 894 Mappen und mehreren tausend Einzeldokumenten“ (S. 13), wurde von seiner langjährigen Geliebten und Freundin Anna Stift durch die Wirren des Krieges gerettet und gelangte nach ihrem Tod (1994) in die Wienbibliothek im Rathaus. Barbara Denscher hat aber nicht nur Léons Nachlass vollständig ausgewertet, sondern z.B. zur Karriere seines Vaters, der Rabbiner in Senica (Slowakei), Pécs (Ungarn), Augsburg und möglicherweise München war, ehe er Anfang der 1870er Jahre nach Wien zog, wo er als Journalist und Chefredakteur verschiedener Zeitschriften tätig war, und zu Victors frühen Jahren auch andere Archive konsultiert; für die Uraufführungen seiner Bühnenwerke und den Erfolg beim Publikum werden häufig Presseberichte herangezogen. Das Buch ist hervorragend dokumentiert und dürfte das, was sich über Victor Léons Karriere noch in Erfahrung bringen lässt, weitgehend vollständig zusammenfassen.

Dabei stellt sich die Verfasserin auch die Frage, inwieweit Léons individuelle Biographie und Karriere repräsentativ sind für seine „historischen Lebenswelten“, die „Sozialgruppe“, der er angehört (S. 13). Als sehr erfolgreicher Vertreter des assimilierten Judentums war Léon immer wieder mehr oder weniger versteckten antisemitischen Anwürfen ausgesetzt. Als vielbeschäftigter Librettist interagierte er mit Koautoren, Komponisten, Theaterdirektoren und Sängern, daher gibt das Buch auch Einblick in den Operettenbetrieb vor und nach dem Ersten Weltkrieg.

„Vilja, oh Vilja“: Victor Léons und Franz Léhars Dauerbrenner im Frontespiece des Klavierauszugs/ ORCA

Nachdem er das Gymnasium abgeschlossen hatte, wurde Léon 1877 in die Schauspielschule des Konservatoriums aufgenommen. Etwa gleichzeitig begann er, für von seinem Vater herausgegebene Zeitschriften Erzählungen, Gedichte und auch „Theater-Causerien“ zu verfassen (Barbara Denscher informiert ausführlich über diese frühen Arbeiten). 1877 schrieb er für einen befreundeten Komponisten sein erstes (verlorenes) Operettenlibretto Nausikaa im Stil der Antike-Travestien Jacques Offenbachs, das das Interesse F. Zells (eig. Camillo Walzel) erregte, der damals mit Richard Genée das produktivste und erfolgreichste Librettisten-Tandem bildete. Einen ersten großen Erfolg erzielte Léon 1881 mit der abendfüllenden Operette D’Artagnan und die drei Musketiere nach dem Roman von Dumas, die u.a. in Lemberg, Hamburg, Budapest, Linz und Prag gegeben wurde; der Komponist Rudolf  Raimann ist heute völlig vergessen, wie die meisten Musiker, mit denen Léon in diesen frühen Jahren zusammenarbeitete.

Nicht alles, was der junge Dichter zur Aufführung brachte , war originell: Der Einakter Tao-Ti-Ti (Musik von Franz Rumpel, 1884, Ronacher-Theater im Prater) ist der Inhaltsangabe (S. 51) zufolge ein Plagiat von Offenbachs Île de Tulipatan, nur wurde der Schauplatz (zweifellos zwecks Verschleierung) nach China verlegt.

Einen Karrieresprung bedeutete 1887 Léons Zusammenarbeit mit Johann Strauss, obwohl Simplicius nach dem Roman von Grimmelshausen bestenfalls ein halber Erfolg war. Der Komponist, der sich (wie Léon sich später erinnerte) für den Stoff spontan begeisterte (S. 70), war mit dem Libretto (vor allem mit dem II. Akt) dann weniger zufrieden: „Dieser Kerl Léon lässt sich nichts sagen“, schrieb er an seinen Theateragenten Lewy (S. 78) – eine gewisse Halsstarrigkeit, gepaart mit Empfindlichkeit und der Neigung zu Temperamentsausbrüchen[2], scheint dem Librettisten in der Tat eigen gewesen zu sein, und er hat damit wohl sich und anderen gelegentlich das Leben schwer gemacht.

Barbara Denscher: Der Operettenlibrettist Victor Léon, transcript Verlag Bielefeld, 516 Seiten, ISBN-13: 9783837639766

Frau Denscher dokumentiert die Auseinandersetzungen um das Simplicius-Buch genauer, als das in der bisherigen Forschung geschehen ist. Sie zitiert auch einen Brief Léons an Strauss, in dem der Librettist sich das Ziel setzt, „wahre Menschen“ zu zeichnen und „eine Handlung […] mit menschlichen Conflicten, menschlichen Situationen“ zu entwerfen (S. 83). 1934 erinnerte er sich, ihm habe für Simplicius „der crasse Verismo“ vorgeschwebt, wie er wenig später die Opernbühne eroberte (S. 84). Die Frage sei gestattet: Hat das in der Operette jemals funktioniert? Rückt nach Wagner die regelmäßige Periodik der Operettenmusik Figuren und Geschehen nicht automatisch in eine Distanz, die ‚Wahrhaftigkeit‘ nicht zuläßt, weshalb auch der Text ein Distanz schaffendes Element – Karikatur oder Satire (Offenbach), Absurdität (Gilbert & Sullivan), Märchenhaftigkeit, Exotismus… – benötigt, wenn nicht ein inkohärentes Konglomerat entstehen soll? Max Kalbeck, der Simplicius als „eigenthümliches Misch- und Zwittergeschöpf“ aus komischer Oper und Operette bezeichnete (S. 89), hat das Dilemma zutreffend benannt.

1886-1900 entstanden nicht weniger als sechzehn Bühnenwerke in Zusammenarbeit mit Heinrich von Waldberg; die Presse sprach oft von ihrer „Firma“, oder auch von einer „Fabrik mit Dampfbetrieb zur Herstellung von Theaterstücken“ (S. 125f.). Spezialität der beiden war die Bearbeitung französischer Stücke (S. 136f.), in diesem Bereich traten sie die Nachfolge von Zell und Genée an. Auch als dramaturgischer Berater von Ignaz Wild, der 1894 die Leitung des Theaters in der Josefstadt übernahm, richtete Léon den Blick vor allem nach Frankreich. Bei der Eröffnungspremière (Operette Tata-Toto, Text Bilhaud/Barré, Musik Antoine Banès, 28.9.1894) führte er auch Regie (S. 140f.); seine Inszenierungen wurden in der Presse immer häufiger (und meist lobend) erwähnt.

Der Opernball (1898) für Richard Heuberger ist das erfolgreichste Libretto von Léon und Waldberg und das erste Werk Léons, das heute noch regelmäßig auf den Spielplänen steht. Frau Denscher geht auf die Umstände der Entstehung und auf die Uraufführung der Operette ein (S. 151-158) und konzentriert sich dann auf die Figur des Stubenmädchens Hortense (S. 159-162), das im Opernball „eine größere und vor allem auch wesentlich selbstbewusstere Rolle“ habe als in der französischen Vorlage (Ernst Marischka machte diese Änderung im Drehbuch zum Opernball-Film von 1939 wieder rückgängig, S. 162-164).

Zu Victor Léon: Das Traumpaar – Mizzi Günther and Louis Treumann, the original Viennese stars of ‚Die lustige Witwe.‘ (Operetta Research Center)

Eine andere Änderung der Librettisten, die die Aussage des Stücks nicht unwesentlich verändert, übergeht Frau Denscher allerdings: In der Komödie Les Dominos roses von Alfred Delacour und Alfred Hennequin sind Georges wie Paul Lebemänner; Georges ist ein eleganter Müßiggänger, seine Frau Marguerite akzeptiert stillschweigend, daß er ihr nicht absolut treu ist. Paul verbirgt seine kleinen Abenteuer geschickt vor seiner Angèle, die überzeugt ist, daß er ganz in seiner Arbeit (als Geschäftsführer einer Spinnerei) aufgeht. In Paris (wo Paul und Angèle bei ihren Freunden zu Gast sind) hat Paul bereits einige Damen ausgemacht, die näher kennenzulernen lohnend wäre. Beim Opernball werden beide Männer von ihren Frauen dupiert (und Angèle verliert die Illusionen, die sie sich über ihren Paul gemacht hat), aber diese Niederlage vermag der männliche Stolz zu verkraften.

In der Operette hat Paul, der in Orléans der Liebling der Damen ist, ein großes Ziel: Er will endlich eine echte Pariserin erobern! Dabei stellt er sich nun freilich entsetzlich ungeschickt an und scheitert auf der ganzen Linie: Wenn er zuletzt erfährt, daß Hortense, die einzige Frau, der er beim Opernball nähergekommen ist, aus seiner Heimatstadt Orléans stammt, kann er nur noch resignieren und seine Frau zur Heimreise auffordern. Das letzte Bild, das im Gedächtnis haftet, ist das eines reuigen Sünders, der an den heimischen Herd zurückkehrt – und das hat nun eine ganz andere Wirkung als der Schluss der Komödie, wo Angèle bereit scheint, ihrem Paul künftig mehr Freiheiten zuzugestehen.

Zu Victor Léon Postkartenszene aus „Der Rastelbinder“ von Franz Léhar/Sammlung Schneider

Auch Léons Opernlibretti (S. 181-202) und Sprechstücke („Zeitbilder“, S. 203-216), die häufig aktuelle Themen aufgreifen, werden detailliert besprochen, obwohl sich nichts davon im Repertoire gehalten hat. – Das Buch zu Wiener Blut, das Léon gemeinsam mit Leo Stein schrieb, hätte ursprünglich Richard Heuberger komponieren sollen, der allerdings mit den „wienerischen Urwüchsigkeiten“ (so Léon, zit. S. 222) nicht zurechtkam. Johann Strauss erklärte sich schließlich bereit, die Musik aus seinen Instumentalkompositionen zusammenzustellen (S. 219); nach dem Tod des Komponisten übernahm Adolf Müller, der, so Léon, von Strauss noch detaillierte Informationen über dessen Konzeption erhalten hatte, diese Aufgabe (S. 219f.). Die Uraufführung (26.10.1899) war nicht wirklich erfolgreich, erst mit einer Neuinszenierung im Theater an der Wien (1905) trat das Werk seinen Siegeszug über die Bühnen der Welt an (S. 230).

Zur „Entdeckung“ des jungen Militärkapellmeisters Franz Lehár durch Léons Tochter Felicitas kann Frau Denscher Irrtümer und Erfindungen früherer Biographen berichtigen (S. 249-254). – Das erste gemeinsame Werk von Léon und Lehár, Der Rastelbinder (1902, Ko-autor des Textbuchs Julius Wilhelm), wird überzeugend als Geschichte von „Migration und Assimilation“ (S. 263[3]) gedeutet.

Die lustige Witwe ist ohne jeden Zweifel die erfolgreichste Operette, zu der Léon das Libretto schrieb, insofern ist es folgerichtig, daß ihr nicht weniger als drei Kapitel gewidmet sind (S. 285-318). Die zitierten Quellen belegen eindeutig, daß Léon Heuberger das Buch entzog, weil dieser für das ‚Slavische‘ der Musik, das offensichtlich auch Louis Treumann, der erste Danilo, einforderte, kein Gespür hatte; der Komponist brachte dafür offensichtlich kein Verständnis auf und wollte das Buch trotzdem komponieren (S. 286-288). Unterschiede zwischen der Vorlage, Meilhacs Komödie L’Attaché d’ambassade, und dem Libretto werden herausgearbeitet (S. 294-304): Daß Meilhacs deutsches „Birkenfeld“ durch „Pontevedro“ (= Montenegro) ersetzt wird, ermöglicht aktuelle politische Anspielungen (S. 294-297), auch auf die österreichischen Verhältnisse (S. 298ff.; Wahlrechtsdiskussion, S. 301f.)[4]. Das dritte Kapitel (S. 305-318) behandelt den einzigartigen Erfolg der Operette: bis 1910 gab es mehr als 18.000 Aufführungen weltweit (S. 317)[5]!

Zu Victor Léon: Alberto Spadolino in der Georg Jacoby Production der “Lustige Witwe,” 1940. (Photo from Matthias Kauffmann’s “Operette im ‘Dritten Reich’./ Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München )/ Dank an ORCA

Mit Leo Fall (S. 319-350) brachte Léon den Fidelen Bauern (im Rahmen der von Léon organisierten Operettenfestspiele zum Mannheimer Stadtjubiläum 1907, S. 326; die Kritik, „dass das Werk ein ‚Rührstück‘, aber keine Operette sei“, S. 328, ist vollauf berechtigt), Die geschiedene Frau sowie (mit deutlich weniger Erfolg) Die Studentengräfin und Der Nachtschnellzug (beide 1913) auf die Bühne; die Zusammenarbeit litt unter Falls Unzuverlässigkeit (S. 343f.).

Einem kurzem Kapitel über Léons Einkünfte (S. 351-356) ist u.a. zu entnehmen, daß die Tantiemen, die er 1911 vom Felix Bloch Verlag enthielt, nach einer Umrechnungstabelle der Deutschen Bundesbank knapp über 672.000 € heutiger Währung entsprächen (S. 351).

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieg schrieb Léon nach einer ungarischen Vorlage das Buch zum „Singspiel“ Gold gab ich für Eisen für Emmerich Kálmán (UA 17.10.1914, S. 389-396), das die zu dieser Zeit obligaten hurrapatriotischen Sprüche enthält (S. 393f.). Sollte der Librettist die nationale Besoffenheit der ersten Kriegswochen geteilt haben, ist jedenfalls schnell Ernüchterung eingetreten: In den Libretti der folgenden Jahre kommt Kriegspropaganda nicht mehr vor.

In den zwanziger Jahren schrieb Léon weiter Operettenlibretti, aber die ganz großen Erfolge blieben aus. Die gelbe Jacke für Lehár (nach einer Idee von Lizzy Léon, S. 409f.) erzielte bei der Uraufführung 1923 einen Achtungserfolg (S. 414f.), aber erst in der Umarbeitung von Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda (Das Land des Lächelns, 1929), die Léons glückliches Ende in einen Verzichtsschluss umwandelt, wurde das Stück zu einer der meistgespielten Operetten überhaupt (S. 410-414). Ein Versuch, gemeinsam mit Ernst Decsey Operetten für den Rundfunk einzurichten (Oktober 1931), endete nach kurzer Zeit im Streit (S. 447-452). Auch beim Film vermochte Léon nicht Fuß zu fassen (S. 456-460). Nach dem sog. „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland blieben der Librettist und seine Frau vor allem dank des Engagements von Anna Stift von Verfolgung verschont; Victor Léon starb am 23.2.1940 in seiner Villa in der Wattmanngasse (S. 473-476).

Barbara Denschers Buch ist eine Fundgrube für Informationen zu einem halben Jahrhundert Operetten- und Theatergeschichte, und zugleich ein bewegendes Dokument jüdischen Lebens in Wien. Albert Gier/ ORCA

 

Zu Victor Léon: Der Autor und Musikwissenschaftler Albert Gier/ Foto BR

[1]Versuch über das Libretto, in: P.H., Oper, München 1980, 199-306: 209. [2] Vgl. dazu auch einen ausführlichen Brief von Ernst Decsey an Léon vom 5.11.1931 (zu gemeinsamen Rundfunkarbeiten), S. 450-452. [3] Suza als „nicht-assimilierte Migrantin“ (S. 266) zu bezeichnen, ist problematisch, da sie nicht die Absicht hat, in Wien zu bleiben, sondern hier nur ihren Milosch sucht (den es auch wieder ins heimische Dorf zieht). [4]Frau Denscher weist darauf hin, daß Madeleine und Prax bei Meilhac nie ein Liebespaar waren (S. 300), dagegen übergeht sie die (recht weit hergeholte) Motivation für Praxens Liebeserklärung, die Léon mit Recht nicht übernommen hat: Nachdem der Attaché behauptet hat, Madeleine nicht zu lieben, erfährt sie, daß ein anonymer Wohltäter einem jungen Bankangestellten, der eine ihm anvertraute große Summe in der Spielbank verloren hatte, den Verlust ersetzt und ihn so vor Schande (oder vor dem Suizid) bewahrt hat, und schwört, wenn dieser Unbekannte ein lediger Mann sei, werde sie ihn heiraten. Mit diesem Eid ist sie für Prax (der nicht weiß, wen sie heiraten will) scheinbar unerreichbar geworden; er kann ihr endlich seine Liebe gestehen, ohne fürchten zu müssen, daß sie ihm finanzielle Interessen unterstellt. Wie sich herausstellt, war der Wohltäter niemand anders als Prax selbst. [5] Für die Londoner Erstaufführung war ursprünglich Mizzi Günther, die erste Wiener Hanna, vorgesehen, sie wurde dann aber durch eine gesanglich schlechtere Engländerin ersetzt (S. 311f.); die nächstliegende Erklärung ist sicher, daß Günther nicht in der Lage gewesen wäre, auf englisch zu singen (und zu sprechen!). (Foto oben: Willy Gauses „Hofball in Wien“/ Ausschnitt/Wiki)

Erstling

 

Nun endlich lieferbar nach langer Warteschleife und angesichts seines umjubelten Auftritts als Vasco da Gama in Frankfurt doppelt willkommen: A Fool For Love heißt die erste Platte des amerikanischen Tenors Michael Spyres, die er 2010 in Moskau für DELOS aufgenommen hat und dabei vom Moscow Chamber Orchestra unter Constantine Orbelian zuverlässig begleitet wird (DE 314). Nach seinem Debüt als Rodolfo in La bohème bei einer Tournee-Produktion des Opera Theatre Saint Louis gelang ihm 2006 als Jaquino in Fidelio am Teatro San Carlo Neapel der Einstieg in die internationale Opernkarriere. Schon früh trat er beim Festival Rossini in Wildbad auf und etablierte sich bald als Spezialist für den Gesangsstil dieses Komponisten, was ihn natürlich auch zu den Festspielen nach Pesaro, der Geburtsstadt des Komponisten, führte.

In seinen Anfängerjahren sang Spyres die typischen Rollen des tenore di grazia-Repertoires – Conte Almaviva im Barbiere oder Nemorino im Elisir d’amore. Beide zählen zu jenen Figuren, die närrisch vor Liebe sind, was auch auf die anderen Helden auf dieser CD zutrifft. Musikbeispiele aus diesen populären Werken – Almavivas virtuoses „Cessa di più resistere“ und Nemorinos schwärmerisches „Una furtiva lagrima“ – finden sich natürlich auf der CD, die mit Tonios „Ah! mes amis“ aus Donizettis Fille du régiment beginnt, einem Bravourstück par excellence, das nicht weniger als neun hohe Cs erfordert. Spyres absolviert sie in bewundernswerter Manier, serviert die Arie mit hinreißendem Schwung. Ähnlich souverän gelingt ihm die anspruchsvolle Schluss-Szene des Edgardo aus Donizettis Lucia. Die Stimme klingt in all diesen Ausschnitten noch sehr jugendlich und hell, verströmt den gebührenden Charme und die Zärtlichkeit eines  jungen Liebhabers.

Zeugnisse der Vielseitigkeit von Spyres sind Don Ottavios „Il mio tesoro“ aus Mozarts Don Giovanni, Lenskis wehmütiges  „Kuda“ aus Tschaikowskys Eugen Onegin, Toms „Here I stand“ aus Stravinskys The Rake’s Progress und die wegen ihrer heiklen Tessitura gefürchtete Arie des Italienischen Sängers „Di rigori armato“ aus dem Rosenkavalier von Strauss. In nicht weniger als fünf Sprachen ist der Solist auf der CD zu hören. Mit Rodolfos „Che gelida manina“ aus Puccinis La bohème und dem Lamento des Federico „È la solita storia“ aus Cileas L’Arlesiana finden sich auch gelungene Ausflüge in anspruchsvolles lyrisches Repertoire. Und nicht zuletzt sind die Beiträge aus dem französischen Fach von Bedeutung, hat Spyres doch live Offenbachs Hoffmann sowie mehrere Partien von Rossini und Meyerbeer gesungen. In der Anthologie sind Nadirs „Je crois entendre encore“ aus Bizets Les pecheurs de perles und Werthers „Pourquoi me réveiller“ aus der gleichnamigen Oper von Massenet vertreten. Sie beweisen die spezielle Eignung des Tenors für dieses Fach, denn er weiß seine Stimme betörend zu führen und mit delikaten Kopftönen zu bezaubern.

Als Encore serviert Michael Spyres noch den Schlager „Dein ist mein ganzes Herz“ aus Lehárs Das Land des Lächelns und krönt damit seine staunenswerte Vielseitigkeit. Inzwischen hat der Tenor vor allem bei Opera Rara und Naxos in mehreren Gesamtaufnahmen mitgewirkt und auch Porträts aufgenommen. Seine Africaine/ Vasco da Gama von der Oper Frankfurt wurde für Oehms Classics mitgeschnitten. Dieses Debüt bei DELOS war das große Versprechen, das er später glänzend zu bestätigen wusste. Bernd Hoppe

Archäologisches aus Wien

 

Fündig geworden in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek ist der Tenor Markus Miesenberger auf der Suche nach Notenmaterial von Giovanni Bononcini und zugleich aufmerksam auf den Namen eines der Sänger namens Silvio ohne einen hinzugefügten Familiennamen. Auch auf anderen Besetzungszetteln fiel ihm der schlichte Vorname auf und ließ ihn zu dem Schluss kommen, dass es sich um einen Star an der kaiserlichen Hofoper handeln müsse, der jedem so bekannt war, dass man allein aus dem Taufnamen schließen konnte, um wen es sich handle. Bei weiteren Nachforschungen kam der Sänger zu dem Schluss, es müsse  um Silvio Garghetti gehen, dessen Vater Pietro Santi bereits in Wien als Sänger gewirkt hatte. Silvio Garghetti wirkte mehr als zwei Jahrzehnte zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts als lyrischer Tenor (das lassen die Partien vermuten) in Wien, Joseph I. komponierte eine Einlagearie  in Zianis Oper  La Flora für ihn. Aus den 28 Opern- und Oratorienarien, als deren Interpret Garghetti überliefert ist, hat sich Markus Miesenberger fünfzehn ausgewählt, begleitet von der Neuen Wiener Hofkapelle in wechselnder Besetzung. Sie lassen nachvollziehen, dass sich die Stimme Silvios vom lyrischen zum eher heldischen bis zum Charaktertenor entwickelt haben muss. Die Arien liegen etwas tiefer als die für heutige Tenorstimmen, die Vergleiche mit verschiedenen Gerichten der italienischen Küche, die der heutige Sänger im Booklet vornimmt, erscheinen allerdings recht gewagt und nicht immer nachvollziehbar. Aber sie sind halt Geschmackssache im doppelten Sinne.

Es beginnt mit einer Arie von Johann Joseph Fux, in der der Tenor eine recht herbe, leicht trockene Stimme vorstellt, die angenehm instrumental geführt wird und deren Timbre zu barocker Musik sehr gut passt. Auch in Zinnis Arie aus La Flora fällt das erneut auf, ist die geforderte Verhaltenheit sehr schön getroffen.  Einen energischeren und damit angemessenen Tonfall nimmt der Tenor in der dritten Arie, von Giovanni Bononcini stammend, an, und das vokale Zupacken steht sowohl dieser als auch der Arie von Antonio Caldara aus La verità nell’inagnno gut an. Sehr gut harmonieren Tenor und Trompete in Bononcinis „Farò guerra alla terra“, der Koloraturen mächtig zeigt er sich in Fux‘ Arie aus Pulcheria. Natürlich ist auch die Musik Josephs I. vertreten, besonders gefallen kann  Contis Arie „Ardo anch’io“ durch ihre Bewegtheit und die vielfältigen Variationen, insgesamt liegt der Tenorstimme mehr noch als das Elegische das Kämpferische, so wie im abschließenden  „Se al mio braccio“ von Conti zu hören. Die Instrumentalisten tragen nicht wenig zum angenehmen Eindruck bei, den das Hören der CD hinterlässt (PC 10372). Ingrid Wanja  

 

Dazu vielleicht auch Auszüge aus der interessanten Kritik von Brian Robin zur neuen PAN-CD, von deren Titelhelden Silvio Garghetti sich im Netz kein Bild finden lässt: This is an interesting but ultimately seriously flawed project that leaves too many unanswered questions. (…) No further biographical detail has come to light, it being recorded only that ‘Silvio sang in numerous performances of operas and oratorios between 1706 and 1719’, making the assertion that he was a ‘star’ tenor at least questionable.

So far so good. Despite the lack of hard facts the hypothesis is at least tenable. However it is when Miesenberger attempts to tie Garghetti’s name to the arias on the disc that everything starts to unravel. Although he calls the source of all the arias recorded here operas, it is impossible to identify a significant number of them as such. I suspect that these pieces are rather dramatic cantatas or the kind of single-act serenata with a licenza that were popularly used to celebrate Imperial birthdays and so on. This suspicion is enhanced by the number of arias that have only sparse or continuo accompaniment, several of which also include obbligato parts. Miesenberger’s carelessness with nomenclature arouses suspicions about his scholarship that are compounded when one realises that his notes fail to mention that Garghetti was not the only ‘star’ tenor at the Viennese court during this period. Both Antonio Borosini and his son Francesco, Handel’s first Bajazet in Tamerlano, were employed there, the former nearing the end of his career, the latter just starting his. It is therefore a near certainty that given the lack of data, at least some of the arias recorded here were written for one or other Borosini. That certainly applies to the somewhat undistinguished ‘Di mia glorie’ from Francesco Conti’s Alba Cornelia  of 1714, which is a 3-act opera. Both Borosinis sang in it and given the extremely unlikely scenario that the opera included three tenor roles, it cannot have been composed for Garghetti. Indeed on the evidence provided here, it would not be possible to claim indisputably that any of these arias were composed for him.(…) but truth to tell there is little here that would set the Danube on fire.

That impression may at least in part be conveyed by Miesenberger’s performances. Although his lyric tenor is intrinsically quite pleasing he does not display the technique nor the necessary Italianate elegance and fluency for this repertoire. His way with embellishment is frequently perfunctory, with poorly articulated turns and some unstylish ornamentation of repeats; there’s a particularly wild example in the da capo of Antonio Bononcini’s Arminio  (1706), an opera (?) not listed in the composer’s New Grove  worklist. The Neue Wiener Hofkapelle provide efficient if hardly inspiring support, being in any case far too small an ensemble to do justice to the more fully scored arias that do come from operas that were originally written for an orchestra that employed up to 30 strings. In sum, I fear that this is a well-meaning but unsatisfactory attempt to cast light on a repertoire certainly in need of further investigation. Brian Robin in Early Music Review

Italienische Lehrjahre

 

Im Innenhof des aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stammenden Palazzo Ducale, in dem in der Ortsmitte Martina Francas alle wesentlichen Opernaufführungen des Festivals stattfinden, gab es 2017 und nun als Mitschnitte auf DVD (DYN-37802) und CD (2 CD, CDS780202) von Dynamic die vierte der italienischen Opern Giacomo Meyerbeers, die 1820 an der Mailänder Scala uraufgeführte Margherita d’ AnjouEs folgten noch zwei Jahre später, ebenfalls an der Scala, L’esule di Granata sowie 1824 in Venedig Il crociato in Egitto. Dann war das italienische Kapitel abgeschlossen. Meyerbeer hatte aber nicht nur seinen Vornamen zu Giacomo italienisiert, sondern auch den entsprechenden italienischen Opernstil adaptiert. Magherita wirkt wie aus einer parallelen Rossini-Welt, auch ein wenig wie Pacini, doch ist diese in die Schublade des Melodramma semiserio gesteckte Oper ein merkwürdig hybrides Werk, was der zur Verfügung gestandenen Besetzung geschuldet ist. Meyerbeer musste neben dem soprano leggiero und dem männlichen Protagonisten vom Typ Rossini-Tenor, eine in Hosenrollen erfahrene Altistin sowie drei Bässe, darunter einen Buffo, unterbringen, wodurch sich komische Elemente in die ernste Geschichte der Margherita d’Anjou, der Witwe Heinrich VI., schleichen, die in den Rosenkriegen Macht und Thron und ihr Leben sowie das ihres Sohnes zu behalten versucht. Das Rondo-Finale gehört, ganz und gar unüblich, der zweiten Sängerin, Isaura, die nahezu während der gesamten Oper in Männerkleidern auftritt, da sie dem mit ihr heimlich vermählten Edoardo de Lavarenne nachreist. Großmütig verzichtet die Königin auf ihre Liebe zu Edoardo und gibt den Weg für Edoardo und Isaura frei. Es ist Mitternacht, wenn Isaura ihr  Rondo singt, das wie ein mit immer neunen Leuchtfontänen aufwartendes Koloraturfeuerwerk die Oper überstrahlt, und wie Cenerentola jubilieren darf. Endlich angetan mit einem netten kleinen Weißen und zierlichem Hütchen.

Nicht nachvollziehbar, wie Alessandro Talevi auf die, schlicht gesagt, törichte Idee verfiel, die von Felice Romani lose zusammengeschnürten historischen Fakten und die bunte Liebeshandlung der im 15. Jahrhundert spielenden Ereignisse auf die von Meryl Streep verkörperte Miranda Priestley in Der Teufel trägt Prada und die von Frauen wie Anna Winfour regierte Welt der Laufstege und internationalen Mode-Wochen zu übertragen. Erstens hat die von Margherita verteidigte Welt nichts mit der Kunstwelt der Mode zu tun, zweitens ist Talevis Umsetzung viel zu banal und vordergründig, zu provinziell und kleinkariert, um den dramatischen Konstellationen zu entsprechen. Sie bietet die entsprechenden Bilder hinter den Kulissen der Modeschauen mit hektisch wuselndem Personal, 90er-Jahre Mode, Punks mit roten und blauen Haarkämmen und Schottenröcken. Die Inszenierung wurde gleichermaßen bejubelt wie ausgebuht. Im zweiten Teil hält sich Margherita in ihrer französischen Heimat auf. Das Wellness-Resort, in dem sich alle in weißen Frotteemänteln den Beauty-Behandlungen und der Entschleunigung hingeben, wirkt wie ein Zitat von Dews Berliner Hugenotten und dem „Beau Pays de la Touraine“ am Swimmingpool, doch scheint mir Talevis Umsetzung ungleich flachbrüstiger.

Musikalisch befindet sich Meyerbeer auf der Höhe der Zeit, bringt dem eineinhalbstündigen ersten Akt in nur fünf Nummern unter, was zu breiten Blöcken führt, wobei Margheritas Cavatina, Cabaletta und Stretta in ein umfangreiches Chor- und Ensemblestatement eingebettet ist. Doch die ariose Szene bleibt immer noch das A und O der Partitur. Dazu gehören neben ihrer Auftrittsszene auch Szene und Arie der Margherita zu Beginn des zweiten Akts, wovon vor allem die vom Cellosolo getragene zweite Szene Giulia De Blasis mit leichtem Triller gut gelingt. Ihr lyrischer Ziersopran hat in der Vollhöhe seine Grenzen, bleibt ein wenig leicht und bleich, wie denn die ausstrahlungsarme De Blasis sowieso keinen Gedanken an Streep oder Winfour aufkommen lässt. Anton Rositskiy, aus dem Frankfurter Iwan Sussanin als Sobinin in guter Erinnerung, singt die anspruchsvolle Partie des Duca de Lavarenne, bei der Rossini, Bellini und Donizetti in der dreiteiligen Arie „E riposta in quest accenti“, deren Abschnitte abwechselnd von Trompeteten, Cello und Holzbläsern begeleitet werden, alle Tenorhürden auf einmal aufgestellt zu haben scheinen, trotz einiger Quetscher in der extremen Höhe mit Überzeugungskraft, schöner Phrasierung und Elan, und seine Cavatine im zweiten Teil trägt er mit Anmut vor. Eigentlich hätte ihm der Schluss gehört, denn für das Final-Rondo ist Gaia Petrones dumpfer Mezzosopran einfach zu unbedeutend (das war in Leipzig 2005 immerhin die junge Marina Prudenskaja). Das Terzett der drei Bässe Michele, Glocester und Carlo ist reinster Plappergesang alter Schule, in dem der Buffo Marco Filippo Romano mit kundigem Rossini-Stil, Bühnenpräsenz und einem gut sitzenden, natürlich strömendem Bass als Modeschwuchtel Michele Gamautte hervorsticht. An Präsenz, nur ein wenig an Stimmfülle, steht ihm Laurence Meikles spielfreudiger Carlo Belmonte, der einst von der Königin verstoßen wurde und sich auf die Seite Glocesters geschlagen hat, kaum nach, Bastian Thomas Kohl ist ein unauffälliger Bass. Fabio Luisi leitet den etwas uneinigen Chor aus Piacenza und das Orchestra Internazionale d’ Italia mit gediegener Spielkultur, ohne dem Werk einen spezifischen Charakter zu verleihen (Foto oben: Meyerbeers „Margherita d´Anjou“ beim Festival della Valle d`Itria in Martina Franca 2017/ Szene/ Foto Festival della Valle d`Itria/ Paolo Conserva). Rolf Fath

Ein neuer Stern am Mezzo-Himmel

 

Als „eine Weltstimme“ bezeichnete Anna Tomowa-Sintow die georgische Mezzosopranistin Anita Rachvelishvili, als sie mit ihr 2013 im Berliner Schiller Theater unter Daniel Barenboim in Rimsky Korsakows Die Zarenbraut aufgetreten war. Die Georgierin sang die Partie der Ljubascha und erntete damit einen Sensationserfolg – ähnlich dem ihres Debüts als Carmen bei der Saisoneröffnung der Mailänder Scala 2009, wiederum unter Barenboim. Inzwischen gehört die Sängerin weltweit zu den Ersten ihres Faches, so dass man – nach DVD-Aufzeichnungen von Carmen und der Zarenbraut –  ihr erstes Arien-Recital bei Sony mit Spannung erwartet hat (19075808752). Natürlich ist in diesem Programm auch Ljubaschas a capella-Arie („Beeile dich, o traute Mutter“) vertreten und erweist sich in der melancholisch-sehnsüchtigen Stimmung als ein Höhepunkt der CD.

Die Auswahl beginnt mit einer weiteren signature-Partie der Sängerin – eben der Carmen und ihrer Seguidilla. Hier überrascht zunächst der sehr verhaltene, introvertierte Zugriff, aber das Raffinement des Vortrags mit fein getupften Nuancen besticht. Erst am Schluss hört man brustige, wild auffahrende Töne. Später gibt es noch die Habanera und auch da rangiert der feine Ton vor dem ordinären Auftrumpfen.

Die Dalila in Saint-Saëns’ Oper stattet die Sängerin – nach Erfahrungen mit der Partie an der Pariser Opéra – ebenfalls mit zurückgenommener Tongebung und erotisch flirrender Stimmung aus, vermeidet jeden vulgären Beigeschmack.

Die Azucena in Verdis Il trovatore sang sie 2016 am Royal Opera House Covent Garden, nachdem sie dort 2013 als Carmen debütiert hatte. Im Programm findet sich die sehr differenziert gestaltete Szene „Condotta ell’era in ceppi“, vom Orchestra Sinfonica Mazionale della Rai unter Giacomo Sagripanti spannungsreich begleitet.

Von der Eboli in Verdis Don Carlo hört man beide Soloszenen – das leichtfüßig-sinnliche Schleierlied und das dramatisch lodernde „O don fatale“. Für ersteres steht der Sängerin der flexible Fluss mit feinen Koloraturen zu Gebote, für die Arie der ausladende vokale Furor. Mit dem Rollendebüt will Rachvelishvili noch warten, die Santuzza in Mascagnis Cavalleria rusticana dagegen noch in diesem Jahr erstmals interpretieren. Das große Solo „Voi lo sapete“ lässt in seiner Interpretation von schmerzlicher bis flammender Tongebung  eine spannende Rollendeutung erwarten.

Zwei Beispiele aus dem elegischen französischen Repertoire sind Charlottes Briefarie aus Massenets Werther und Saphos „O ma lyre immortelle“ aus der gleichnamigen Oper von Gounod. Sie werden mit nobler Kultur und sensibler Empfindung vorgetragen. Schließlich soll eine veritable Rarität in diesem Programm Erwähnung finden – die zwischen Schwermut und Zartheit schwankende Szene der Königin Tamar aus Dimitri Arakishvilis Die Legende von Schota Rustaweli. Das Werk des georgischen Komponisten erinnert an die von 1184 bis 1213 über Georgien herrschende Königin, die in der Erinnerung des Volkes als starke Frau weiterlebt. Als eine solche fühlt sich auch Anita Rachvelishvili, deren weiteren künstlerischen  Weg man mit Spannung verfolgen darf. Bernd Hoppe

Niemand ist eine Insel

 

Auf den Tag genau zu seinem hundertsten Todestag gedachten Christian Thielemann und die Münchner Philharmoniker, in deren Programmen seine Sinfonien stets einen wichtigen Raum einnahmen, am 18. Mai 2011 im Münchner Gasteig Gustav Mahlers mit dem Adagio aus der unvollendeten Zehnten und einer Auswahl seiner Wunderhorn-Lieder, die jetzt auch in der Reihe der Aufnahmen aus den Archiven der Münchner Philharmoniker vorliegen (MPHIL0007). Michael Volle singt die hier ausgewählten acht Lieder, darunter Rheinlegendchen, Das irdische Leben und das später im vierten Satz der zweiten Sinfonie wiederkehrende Urlicht, mit der reichen Ausdruckskraft seines markanten Baritons, ohne den 1806 von Brentano und Arnim veröffentlichten Liedern im Volkston eine falsche volkstümliche Behutsamkeit zu unterlegen, doch mit sanft fließender Natürlichkeit in Wer hat dies Liedlein erdacht und Wo die schönen Trompeten blasen, kluger Holzschnitzkunst in Verlorne Müh, deklamatorischer Wucht im Ausruf „Die Gedanken sind frei“! im Lied des Verfolgten im Turm und szenisch entworfener Prägnanz, dabei immer unterstützt von Thielemanns orchestraler Erzählkunst, in den dialogischen Abschnitten in Der Schildwache Nachtlied. Immer auf Ausdruck und Inhalt weniger auf edlen Schönklang bedacht, erklingt Volles gewichtiger Bariton im Urlicht.

Gleich zweimal gehört habe ich die Aufnahme von Thomas Ebenstein, der sich für sein Solo-Debüt Lieder von Schönberg, Zemlinsky, Strauss und Korngold aussuchte (Capriccio C3007), die ausgezeichnet zu seiner Stimme passen, einem Charaktertenor, den man nicht unbedingt als schön bezeichnen möchte. Das macht nichts. Ebenstein singt Schönbergs Brettl-Lieder und die beiden im gleichen Jahr (1901) entstandenen Brettl-Lieder von Alexander von Zemlinsky (leider beinhaltet das dürftige Faltblatt keine Texte. Die Texte stammen von Arno Holz bzw. Rudolf Alexander Schröder) mit tenoraler Singakrobatik, Witz und Charme. Natürlich verfügt er – in seinen Partien an der Wiener Staatsoper quasi der Nachfolger eines Heinz Zednik – nicht über die Klangfülle einer Jessye Norman, deren Aufnahme der Brettl-Lieder Schönbergs Zyklus auf den internationalen Liedpodien Beachtung verschaffte. Aber Ebenstein ist ein Singschauspieler, der mit Leichtigkeit und Distinktion agiert und diesen im Umkreis des Berliner Überbrettl-Kabaretts entstanden Gedichten und Liedern ihre chansonhafte Hurtigkeit und Raffinesse lässt, und Frechheit, wenn in Zemlinskys In der Sonnengasse die Resi ihr Schnürleib krachen lässt oder der fette Herr Bombardil alle Warnungen des Arztes in den Wind schlägt und so viel frisst, bis er platzt. Die 12 Lieder von Richard Strauss’ Krämerspiegel mit den sprachspielerischen, fast kindisch rachsüchtigen Texten von Alfred Kerr über „Bote & Bock“ aus dem Jahr 1918 könnten auch ohne Gesang bestehen, derart reich ist ihr Klavierpart, mit dem der exzellente Charles Spencer seine Kunst der Liedbegleitung, man höre nur das Nachspiel zu O Schöpferschwarm, o Händlerkreis, unterstreicht.  Ebenstein gestaltet diese Lieder bissig, satirisch, unverzerrt, durchaus animierend; und in den vier Shakespeare-Liedern op. 29 aus dem Jahr 1937 wird sein Tenor sogar der schillernden Klanglichkeit Korngolds gerecht.

Hatte man sich Ähnliches an exquisiter Salonkunst von den Poldowski Art Songs erhofft, wird man herb enttäuscht. Poldowski war das Pseudonym von Henryk Wieniawskis Tochter Régine (1879-1932), die u.a. bei d’ Indy studierte und ab 1911 Lieder veröffentlichte, vor allem auf Texte von Paul Verlaine. Mancher kennt Philippe Jarousskys exquisite Interpretation von L’ heure exquise. Mit luschiger Stimme und Interpretation bereitet Angelique Zuluaga (Delos DE 3538) wenig Vergnügen.

Da möchte man gleich bei Musik ohne Worte bleiben, vor allem da Sheku Kanneh-Mason auf Inspiration (Decca) nicht nur Saint-Saens’ zerbrechliche Tierpreziose Der Schwan aus dem 1921 postum veröffentlichten Karneval der Tiere, sondern auch so Rares wie Jacqueline’ s Tears, also die seit Jacqueline du Pré berühmten Larmes de Jacqueline op. 76 Nr. 2 von Offenbach,  tränenschwer und mit sattem Ton spielt; begleitet von dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Mirga Granzinyte-Tyla. In seiner britischen Heimat ist der 18jährige Sheku, der 2016 als erster schwarzer Musiker den BBC Young Musician of the Year Award gewann, eine kleine Berühmtheit; insgesamt ist mir die Aufnahme u.a. mit Schostakowitschs Cellokonzert Nr. 1, dem Nocturne aus seiner Suite Die Stechfliege, Casals Sardana und Gesang der Vögel sowie Stücken von Leonard Cohen und Bob Marley aber zu monochrom.

Das Oeuvre Debussy, von dem Poldowskis Lieder beeinfluss sind, wird bei Hyperion mit der vierten Ausgabe Songs by Debussy fortgesetzt und beendet (CDA68075). Lucy Crowe mit silberreinen, feinem kleinen Ton und Christopher Maltman, dessen charakterfester Bariton seit seinem Solo-Auftakt in der Debussy-Reihe 2003 wesentlich gespreizter und angestrengter klingt, singen, begleitet von dem umsichtigen Malcolm Martineau, Lieder, die Debussys gesamtes Schaffen umspannen, also von der Tragédie von 1881 bis zu seinem letzten Lied Noêl des enfants qui n’ont plus de maisons. Das Hauptaugenmerk liegen auf den von Crowe mit Schwung, Gefühl und Eleganz, aber auch der vielfach geforderten Koloraturtüchtigkeit gesungenen Liedern, darunter das bezaubernde Beau soir, das im Duett mit Jennifer France gesungene Chanson espagnol oder der Orientalismus in Rondel chinois.

Sonnets widmen sich der Tenor Daniel Norman und sein Pianist Christopher Gould (stone records 5060192780734). Darunter befinden sich Benjamin Brittens sieben Michelangelo Sonnets op. 22 und seine Holy Sonnets auf Texte des sich auf Petrarca beziehenden John Donne, welche Franz Liszts drei Sonetti di Petraca sowie zwei Shakespeare-Vertonungen umklammern – das 18. Sonett Shall I compare thee to a summer’s day? von John Dankworth und das 147. Sonett My love is as a fever von Duke Ellington. Das interessante Programm, in das er im englischsprachigen Beiheft mit einem klugen Aufsatz einführt, bewältigt Norman mit hell blankem und gelegentlich grellem Tenor und der stilistischen Versiertheit eines aus der englischen Chortradition erwachsenen Sängers.  Rolf Fath

Und noch mehr von Popora

 

Die neue CD von Max Emanuel Cencic bei Decca (483 3235) mit Opernarien von Nicola Porpora erlaubt einen interessanten Vergleich mit einer Platte von Franco Fagioli, der bei seiner früheren Stammfirma naïve bereits 2013 ein solches Programm unter dem Titel Il maestro aufgenommen hatte. Allerdings überschneidet sich bei den zwei Countertenören nur ein  einziger Titel – Valentinianos Arie  „Se tu la reggi al volo“ aus Ezio, mit der beide Interpreten ihr Programm eröffnen. Fagioli singt sie mit einer Stimme von vibrierender Erregung, auftrumpfend und in souveräner Bewältigung der langen Koloraturpassagen. Cencic dagegen bringt sie mit weniger Vehemenz, nicht so aufregend, mit warmem, gerundetem Ton. In der Virtuosität steht er Fagioli in nichts nach. Auch seine Interpretation wird vom begleitenden Orchester, der Armonia Atenea unter George Petrou, pompös mit festlichem Bläserglanz eingeleitet. Das Ensemble besticht bis zum Ende mit ungemein farbigem Spiel und raffinierten Klangeffekten.

Selbst wenn die Auswahl sonst voneinander abweicht, ermöglicht sie doch eine aufschlussreiche Gegenüberstellung der beiden Sänger mit ihren Stimmen, dem Ausdrucksradius und Interpretationsstil. Hier soll der Fokus natürlich auf der Neuveröffentlichung von Max Emanuel Cencic liegen, der seine Platte anlässlich des 250. Todestages von Porpora vorlegt und 14 Arien offeriert, davon sieben Weltpremieren. Dazu zählt eine weitere Arie aus Ezio – diesmal die des Titelhelden „Lieto sarò“, die in freudigem Jubel das Leben und die Liebe besingt und dem Sänger jauchzende Emphase ermöglicht.

Aus dem Jahre 1726 stammt die in Venedig uraufgeführte Meride e Selinunte, aus der Ericleas „ Torbido intorno“ ertönt, in der sich Stimme und Streicher kunstvoll verflechten.

In den 1730er Jahren komponierte Porpora in London drei Opern im  direkten Wettbewerb mit Händel: Arianna in Nasso 1733, aus der als letzter Titel der Anthologie Teseos „Nume che reggi“ erklingt. Ein Jahr später kam Enea nel Lazio zur Uraufführung, aus dem des Titelhelden „Chi vuol salva la patria“ zu hören ist – ein patriotischer Aufruf für Vaterland und Ehre mit effektvollem Zierwerk. Und 1735 kam Ifigenia  in Aulide heraus, aus der die Arie des Agamemnone „Tu, spietato“ ertönt, welche einen existentiellen Ausnahmezustand der Figur mit rasenden Koloraturgirlanden schildert. Cencic zeigt sich hier erneut als virtuoser Meister seines Fachs. Die folgende Arie des Filandro aus der gleichnamigen Oper, „Ove l’erbetta“, ist ein wunderbar getragenes Stück, das ein Naturbild malt und Cencic Gelegenheit bietet, seine lyrische Stimmkultur zu demonstrieren. Der nächste Titel, Poros „Destrier, che all’armi usato“, sorgt mit seinem energisch-kämpferischen Duktus wieder für einen spannungsreichen Kontrast.

Alle drei Arien des Lottario aus dem in Rom 1738 uraufgeführten Carlo il Calvo sind Ersteinspielungen und von höchst unterschiedlicher Stimmung. „Se rea ti vuole“ ist geprägt von einem rasanten Koloraturfeuerwerk in  exponierter Tessitura. „Quando s’oscura il cielo“  gibt sich sanft und getragen, bringt die klangvoll-sonore Mittellage des Counters zu schöner Wirkung.  „So che tiranno“  in eiligem Tempo bedeutet erneut eine große Herausforderung an die Bravour des Interpreten, die Cencic glänzend besteht.

Aus Il trionfo di Camilla, 1740 im Teatro San Carlo Neapel uraufgeführt, bietet Cencic zwei Arien des Turno von ganz unterschiedlicher Couleur – „Va per le vene“ in scheinbar endlos langen Phrasen von düster-beklommener Stimmung und „Torcere il corso“ als bewegtes Sinnbild eines Flusses, dessen Verlauf man ändern kann, nicht aber die Gefühle eines Herzens. Auch Filandros „D’esser già parmi“ schildert als Metapher einen Apfelbaum im Sturm in Form von  aufgewühlten Koloraturketten.

Nach seiner überzeugenden Interpretation des Titelhelden in der Einspielung von Porporas Germanico in Germania (ebenfalls bei Decca) hat Max Emanuel Cencic mit diesem Recital dem großen Gesangslehrer und Komponisten eine gelungene Reverenz erwiesen, die für die Verbreitung von Porporas Werk von eminenter Bedeutung sein dürfte. Bernd Hoppe

 

Durch Englands Sümpfe und andernorts

 

Mit schöner Regelmäßigkeit taucht die Waise und spätere Dorfschullehrerin Jane Eyre in einer neuen Verfilmung von Charlotte Brontës Erziehungs- und Gouvernantenroman von 1847 im Kino oder britischen Fernsehen auf. Auf der Opernbühne indessen nicht. Unserem Wunsch nach einem kuscheligen Liebesglück auf Thornfield Manor, wo Jane mit dem Besitzer Edward Fairfax Rochester vor dem Kaminfeuer sitzt, kam der 1927 in Kapstadt geborene John Joubert nach. In Vorbereitung seines 90. Geburtstages, zu dem die CD pünktlich auf dem Markt sein sollte, kam es im Oktober 2016 in Birmingham zu einer konzertanten Aufführung seiner Literaturoper, die sich nun bequem neben die entsprechenden DVDs stellen lässt (2 CD SOMMCD 263-2). Für die Aufführung wurden die drei Akte zu zwei Akten mit jeweils drei Szenen und 17 Personen eingedampft, wobei einige der Sänger mehrere Partien übernehmen. Joubert und sein Librettist Kenneth Birkin haben die Stationen von Janes Leidensweg durch die Sümpfe Yorkshires bis zu den Gärten von Thornfield zwischen 1987 und 1997 in eine bekömmlich konventionelle Oper gepasst (2000 folgte Michael Berkeley mit seiner Jane Eyre), die, sofern der Hörer mit dem Roman vertraut ist, die Brüche in der Handlung nicht zu sehr aufreißen. Auf jeden Fall versucht Joubert, das Geschehen mit einer theaterstarken, prallen Musik, eindrucksvollen Begegnungen und ausgreifenden Momenten der Reflektion an sich zu reißen, etwa in Rochesters Monolog „Now the shadows close about me“, wo David Stout mit der Verzweiflung des Holländers und einem entsprechend dunkelerzenen Bariton vor sich hinbrütet. In vielen Momenten kann sich Jane, der April Fredrick ihren Sopran leiht, der auf der Aufnahme etwas hart und ein wenig durchdringend klingt, aber die melodischen Erfindungen Jouberts gut aufnimmt, ihrer Liebe über alle gesellschaftlichen Grenzen hinweg versichern. Die Musik schmiegt sich dem Text und den zwischen Schauerstück und psychologischem Liebesroman schwankenden Situationen geschickt an, man denkt an Janáček, natürlich an Britten, an den Joubert, der u.a. an den Universitäten von Hull und Birmingham unterrichtete, im Nachkriegsengland stieß, auch an den Debussy des Pelléas, im Fluss mancher Entwicklungen vielleicht auch an Wagner. Das ist gut gemacht, wird von Kenneth Woods und dem English Symphony Orchestra sowie den weiteren Solisten, darunter Mark Milhofer als St. John Rivers und Gwion Thomas als Brocklehurst, mit einer dem Anlass angemessenen Hingabe gespielt, dennoch kann man sich schwer vorstellen, dass dieser zentrale Roman über weibliche Selbstbehauptung in dieser Form auf der Bühne eine Chance hätte; vielleicht in der Inszenierung Zeffirellis, der 1996 den Roman mit Charlotte Gainsbourg und William Hurt verfilmt hatte.

 

Weg vom Kaminfeuer hin vor das Radio lockt uns Jake Heggie; wie Nora, die an einem „Really Bad Day“ nach Hause kommt und das Radio andreht. Fertig ist der Einakter The Radio Hour für Kammerchor, eine stumme Schauspielerin und Instrumente; Libretto von Gene Scheer. Die Bitte John Alexanders um eine Oper für seinen Chor brachte Heggie und Scheer auf die Idee, eine Frau „in her late 40s or 50s“ und deren innere Stimme („No sex. No one calls and no one cares“) sowie die Klänge aus dem Radio auf die Bühne zu bringen: „Recalling Ravels magical L’ enfant et les sortilèges, the choir could become objects in Noras apartment, too.“ In drei Momenten erleben wir Nora: unglücklich nach einem schrecklichen Tag, zögernd die Welt der Klänge tretend und schließlich lächelnd und erleichtert. Ein Minidrama in weniger als 40 Minuten, in dem Heggie, von dem wir gerade erst Great Scott  hören konnten, den Chor nach Gruppen auffaltet, zum großen Chorklang bündelt, ihn Verkehrsgeräusche nachahmen und klatschen lässt, ihn auch solistisch zu „swing tunes, radio ads, a quasi-rap song, big band, a touch of 12-tone music“ reizt. Die John Alexander Singers machten sich unter ihrem Namensgeber und Leiter im Mai 2014 einen Spaß aus dem kleinen Stück, das tatsächlich ein wenig an Ravels Kinderzimmer-Miniaturen erinnert und auf der Aufnahme  (Delos DE 3484) um einige im gleichen Jahr eingespielte, nicht ebenso bemerkenswerte Zyklen mit der Heggie-Muse Susan Graham ergänzt wurde, die Szene mit Frauenchor Patterns, in der eine junge Aristokratin den Tod ihres Verlobten beklagt, die Vertonung des Emily Dickinson-Gedichtes I Shall Not Live Invain und die Bearbeitung – einmal für die Solistin, einmal als Chorstück – der zentralen Szene der Sister Helen Prejean He Will Gather Us Around aus Dead Man Walking.

 

Mit einer gewissen Vorsicht entblisterte ich Heresy, eine électronic opera des durch elektro-akustische und Klavierwerke hervorgetretenen irischen Komponisten Royer Doyle (* 1949), Known as the Gotfather of Irish Electronic Music“, über den der Häresie beschuldigten Giordano Bruno, „I never thought I’ d compose an opera. As a sience fiction fan I loved the expression ‚Space Opera’ given to multivolume series of sience fiction novels“. Durch die Begegnung mit Eric Fraad von Heresy Records entstand die Idee, eine Oper über einen Häretiker zu schrieben, um mit den Namen des Labels zu spielen, „I suggested a space opera (whatever that mighyt be) and he suggested that we should look for a Heretic in history that we could build an opera around, in line with the name of his label“. Aus dem Leben des italienischen Priesters, Philosophen, Dichters und Astronomen, der durch sein Postulat des unendlichen Weltraums gegen die offizielle Kirchenlehre verstieß, der Ketzerei beschuldigt und erst durch Papst Johannes Paul II. rehabilitiert wurde, klaubten Doyle und die Librettistin Jocelyn Clarke zentrale Szenen am Hof Heinrich III., von den Gerichtsverhandlungen in Venedig und Rom, in der Zelle vor seiner Hinrichtung sowie von seinem Nachleben im Einfluss auf das Schreiben von James Joyce, die er durch seine elektronische, minimalistische Musik zu suggestiven, fast sphärenklaren, selbst auf der CD theatralisch packenden Blöcken verdicht. Unterstrichen wird der Eindruck einer fast gläsernen Durchsichtigkeit, die an Glass’ Echnaton erinnert, durch die Verwendung hoher Stimmen, des Knabensoprans (Alex Smith) zu Beginn sowie für den jungen Giordano Bruno, mehrer Frauenstimmen für die Priester und Höflinge, männlicher Sopranisten für Kardinäle, eines Countertenors in mehreren Partien, der vorzügliche Iestyn Morris, zugleich der einzige mir bekannte Namen unter den Solisten. Dazu Daire Halin als Elisabeth I. und Göttin der Weisheit, die zusammen mit Caitriona O’Leary als Sonnengöttin eine wirkungsvolle Szene gestaltet, mit starrer Intensität singt der Tenor Morgan Crowley den Giordano Bruno sowie u.a. Heinrich III. und James Joyce. Die aus einer 2013 in Dublin aufgeführten ersten Fassung und der Uraufführung drei Jahre später zusammengesetzte Aufnahme (2 CD Heresy 021), ohne dass ich das genau entwirren lässt, zeigt immerhin, dass Heresy vermutlich auch auf der Bühne Effekt machen könnte.  Rolf Fath