Henri Rabauds „Mârouf“

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Endlich kommt sie doch, die Karawane, auf die Mârouf nie zu hoffen wagte. Sie war nur ein Trick, um in Khaitan und beim dortigen Sultan als reicher Kaufmann Eindruck zu schinden. In Kairo gab es für den armen Flickschuster kein Halten mehr, nachdem ihn die zänkische Gattin Fattoumah beim Kadi wegen angeblicher Brutalität verleumdete und man ihm die Bastonade gegeben hatte. Und das alles nur, weil er ihr statt eines Kuchens mit Honig einen mit Zucker brachte. Mârouf schließt sich Schiffsleuten an, schippert den Nil hinunter, führt sich dank der Überredungskunst seines Jugendfreundes Alt glänzend beim Sultan ein und heiratet dessen Tochter Saamcheddine. Man stattet ihn reich aus, leert für den reichen Schwiegersohn die Schatzkammern. Nur die Kamele und mit ihnen die Reichtümer treffen nie ein. Mârouf gesteht Saamcheddine seinen Schwindel, sie findet das nicht weiter schlimm, da sich beide aufrichtig lieben, und flieht mit ihm vor dem leicht beunruhigten Vater und seinem geifernden Vizir. Wir wären nicht in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht, wenn es für das kleine Problem nicht eine Lösung gäbe. Ein Zaubergeist erscheint, erfüllt Mârouf ein Wunsch. In allerletzter Minute, als die Mamelucken bereits die Säbel wetzen, um ihn und Ali zu köpfen, erscheint die Karawane. Die Zweifler sinken in den Staub, alle preisen Allah.

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Rabauds „Mârouf“ an der Opéra-Comique/ Szene/ Foto Photo wie auch oben : Vincent Pontet

Zwei Monate vor Ausbruch des Ernsten Weltkriegs war Henri Rabauds Mârouf, Savetier de Caire die späte Blüte eines Orientalismus, der in Frankreich von Rameaus Indes galantes bis zu Lakmé und Les pêcheurs des perles Tradition hatte und sich um Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt der Kolonisation in den algerisch, maurischen, arabischen Raum verlagerte, etwa mit Félicien Davids Sinfonie Le désert,. Reyers Poem Le Sélam, Lalos Ballett Namouna und vielen anderen erlebten oder erdachten musikalischen Reisebeschreibungen. Als die Zeiten der Märchen vorbei schienen, bildet Mârouf als durchkomponierte komische Oper eine Ausnahme, so federleicht und witzig der Text von Lucien Népoty, so großartige die Musik, die man, wie jetzt an der Opéra-Comique, unter Marc Minkowski gehört haben muss, um sie in ihrer Schönheit und Sinnlichkeit zu schätzen. Die vorhandenen CDs wirken vergleichsweise farblos und blutarm. Der malerische Orientalismus hielt sich noch in der Zwischenkriegszeit tapfer auf den Bühnen. An der Opéra wurde Mârouf 1928 gegeben, wo Georges Thill die von Jean Périer, der auch der erste Pélleas war, kreierte Titelpartie übernahm, woraus wir ersehen, dass sie sowohl mit einem Tenor wie einem hohen Bariton, Bariton-Martin, besetzt werden kann.  Bereits 1917 war die Oper in New York unter Pierre Monteux mit Giuseppe de Luca und Frances Alda erklungen, 1929 dirigierte sie Franz Schalk in Wien. Später wurde sie in die Provinz abgedrängt, wo Mârouf 1975 in Nantes (wovon es eine CD gibt), 1981 in Straßburg und 2000 in Marseille gespielt wurde.

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Rabaud, ein Großneffe der Meyerbeer-Halévy-Auber-Sängerin Dorus-Gras, war Schüler Massenets, errang 1894 mit einer Daphne den Rom-Preis, wirkte ab 1904 als Dirigent an der Opéra-Comique, später auch an der Opéra und hatte 1918/19 nach Karl Muck und vor Pierre Monteux die Chefposition beim Boston Symphony Orchestra inne. 1920 schließlich wurde er als Nachfolger Faurés Direktor des Pariser Conservatoire. Als einer der ersten schrieb er 1924 und 1927 Musik für zwei Filme. Das hört man bereits seinem Mârouf an, wird mancher sagen. Tatsächlich wirken die manchmal in reine Vokalisen sich auflösenden Gesangsmelismen, die illustrative, stimmungsvolle arabischen Buntheit, die niemals vordergründig ist, wie ein Soundtrack zum Kalif von Bagdad. Pentatonik und ein rhythmisiertes Sprechsingen à la Pélleas sind weitere Kenzneichen der Partitur,  durchzogen vom französischen Wagnerisme, der aufgrund der Hurtigkeit, des bizarren Humors und der grotesken Wendungen des Fünfakters nie öde wird.

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Langweilig wird es in der Inszenierung des Opéra-Comique-Chefs Jérôme Deschamps ohnehin nicht. Wie Onkel Jacques Tati weiß er, wie man aus schlichten Situationen komödiantische Funken schlägt, dabei in der Regel geschmackssicher und subtil bleibt. Was anderes als ein Bilderbuch lässt sich bei dem Werk aufschlagen. Leicht scheint es sich Olivia Fercioni mit ihren Spielhäuschen und Pappwürfeln zu machen. Das das reicht aber völlig aus, um mit wenigen Strichen das Armenviertel in Kairo, den Sultanspalast oder die Wüste zu skizzieren, denn Vanessa Sannino greift bei den Kostümen in die Vollen, setzt auf die aufgetürmten Turbane immer noch ein charakterisierendes Accessoire drauf, beispielsweise einen Fuchs bei intriganten Vizir, bläst die Mamelucken zu Popanzen auf und gibt dem Sultan und seiner Tochter eine Kopfbedeckung und ein Kleid so riesengroß und seidig aufgeplustert, als wollen sie gleich wie ein Ballon abheben. Türkisfarbene Odalisken, Eunuchen, Marktbetreiber, Muezzin, possierliche Esel, spuckende Kamele, ein Hamam und die Sphinx – alle sind da. Eine liebevolle Parodie.

Rabauds „Mârouf“ an der Opéra-Comique/ Szene/ Foto Photo wie auch oben : Vincent Pontet

Und das in einer Farbenpracht, die an Leon Baksts Kostüme für die Ballets Russes denken lässt, die im Jahr vor Mârouf in Paris mit Scheherazade für Furore gesorgt hatten und 1914 die Josephslegende und einer Ballett-Version des Goldenen Hahns. brachten – die andere Sensation des Jahres war der erste Pariser Parsifal. Mârouf an der Opéra-Comique, in einer Produktion von 2013, die mittlerweile auch in Bordeaux zu sehen war, wo Minkowski amtiert, ist ein federleichtes Schauvergnügen. Jean-Sébastian Bou ist der Mârouf unserer Tage, ein charmanter Verführer und Tagträumer, dem seine Lüge kurzzeitig zur Verzweiflung bringt, ein bezwingender Schauspieler, der auch in einer modernen Filmromanze reüssieren könnte, und ein Sänger, der Maroufs schmeichelnde Liedchen mit feinnerviger Intensität  singt Mârouf hat, wie auch alle anderen Personen, keine Arie im traditionellen Sinn, sondern eine Folge subtiler Chansons und schmeichelnder Kurzarien, die einen lockeren Interpreten brauchen. Vannina Santoni sang die Saamcheddine mit hinreichendem, leicht verschleiertem Sopran, Jean Teitgen war ein Sultan von gewaltiger Komik, Aurélia Legay eine nur keifende Fattoumah und Franck Leguérinel ein stimmloser Vizir. Die Mischung aus Impressionismus, Wagnerisme und Oeintalismus brachte Marc Minkowski mit Chor und Orchester aus Bordeaux zu derart überzeugender Wirkung als habe auch ihn der Zaubergeist aus der Wüste berührt. Rolf Fath

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Dazu auch der Hinweis auf einige Aufnahmen: mit Henri Legay beim ORTF 1964; mit Henri Clement und Lina Dachary unter Gustave Cleoz ORTF 1961; mit Géori Boué und RToger Bourdin bei Malibran ORTF 1951; mit Michel Lecoq unter Jesus Etcheverry bei Vega/Accord ca. 1965 / G. H.

 

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.