Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Rusalka singt Lieder

In meiner Jugend hatte ich keinen Zugang zu Elfride Trötschel. Zu leise, zu viel Gestaltung, zu viel Kunst. Die expressiven Stimmen lagen mir mehr, Sänger, die zubeißen, die die Töne herausschleudern, damit um sich werfen. Alles das ist die Trötschel nicht. Sie will, dass man genau hinhört, dass man sich einlässt. Sie kann auf ihre Weise streng und fordernd sein. Und dennoch nicht humorlos, wie ihre Ausflüge ins leichte Fach belegen. Walter Felsenstein, der Gründer der Komischen Oper Berlin, spricht in seinem bewegenden Nachruf sinngemäß gar davon, dass man in ihr die kommende Operettendiva sah. Ein Kompliment der Sonderklasse, denn dieser instinktsichere Theatermann dachte in der Musik immer grenzüberschreitend. Damit erfasste er auch das besondere Talent dieser Sängerin, die ihren Einstand an seinem Haus mit der Eurydike in Offenbachs Orpheus in der Unterwelt gegeben hatte. Er muss eine genaue Vorstellung von ihren ungeahnten Möglichkeiten gehabt haben. Die Trötschel als Erfinderin der Leichtigkeit? Sie kann also immer noch überraschen – mehr als fünfzig Jahre nach ihrem frühen Tod. Wen die Götter lieben, der stirbt jung, heiß es beim griechischen Dichter Menander. Nein, dieser Spruch bietet keine Erklärung. Ihr Leben blieb unvollendet. Was hätte sie noch alles singen können? Immerhin stand die erst am Beginn einer Weltkarriere. Es hat nicht sollen sein. Wir müssen uns an das halten was ist. Und das ist immerhin sehr viel.

Elfride Trötschel/OBA

Elfride Trötschel/OBA

Ihr Erbe ist reich und es macht reich. Die Plattenaufnahmen waren immer präsent, das meiste ist inzwischen auf CD übernommen worden. Neuzugänge tauchen gelegentlich auf. In privaten Sammlungen kursieren weitere Dokumente, darunter die Berliner Meistersinger unter Karl Böhm. Diese Sängerin hatte immer ihre Gemeinde, die sich mit den Jahren auch verjüngt hat. Jetzt ist noch etwas hinzugekommen, was Elfride Trötschel von einer bisher fast unbemerkt geblieben Seite zeigt – nämlich als Liedsängerin. Mit Vol. 6 der Semperoper Edition aus Dresden widmet sich das Label Profil Edition Günter Hänssler ausschließlich diesem Thema (PH 13050 – 2 CD). Sage und schreibe 38 Titel sind zusammengekommen, Schumanns „Mondnacht“ gar zweifach. Der Spiritus Rektor dieses einzigartigen Unternehmens ist Steffen Lieberwirth. Wie bereits bei ähnlichen historischen Ausgaben im Rahmen der Edition – viele davon mit der Trötschel – hat der MDR-Chefproduzent wieder einen Kreis kompetenter Mitstreiter um sich geschart. So wird das ehrgeizige Dresdner Projekt mit immer neuen Facetten vorangebracht. Mit im Boot sind neben dem MDR auch die Semperoper selbst sowie Deutschlandradio Kultur und das Deutsche Rundfunkarchiv. Es ist ermutigend, dass sich Archive öffnen, wo tatsächliche Schätze zu heben sind. Die müssen ans Licht.

Trötschel letzter Liederabend Dresden

1956 beim letzten Liederabend in Dresden

Die enorme Vielseitigkeit der Trötschel auf der Opernbühne und auf dem Konzertpodium findet sich auch bei der Auswahl der Lieder. Reger, Strauss, Mahler, Hindemith, Schubert, Schumann, Brahms, Wolf.  Das sind die Namen der Komponisten dieser Edition, in Wirklichkeit dürften es mehr gewesen sein. Unterschiedlicher kann sich die Quellenlage nicht darstellen, was für den Spürsinn der Macher spricht. Es wurden Rundfunkaufnahmen des RIAS von 1949 mit der berühmten, Authentizität stiftenden Erkennungsmelodie aufgetan. Eine der beiden „Mondnacht“-Einspielungen entstand gar schon 1944 mir Michael Raucheisen am Klavier. Sie fehlt in seiner berühmten Liedersammlung, die in Schallplattenkassetten vorliegt und technisch teilweise sehr unzureichend auf CD übertragen wurde. Privatmitschnitte von Hermann Lauer bilden eine große eigene Abteilung. Strauss-Lieder mit Hubert Giesen entstanden bei einer Probe in der Privatwohnung. Offenbar hat sie der Sohn der Sängerin Andreas Trötschel großzügig zur Verfügung gestellt. Nicht nur das, er steuert im Booklet auch persönliche Erinnerungen an seine Mutter bei. Krönender Abschluss und platzgreifend auf der zweiten CD ist der Mitschnitt des letzten Liederabends 1956 im Dresdner Kurhaus Bühlau, bei dem sich das Publikum neben weiteren Liedern auch Arien erklatscht. Insgesamt sind es acht Zugaben, die Elfride Trötschel selbst ansagt. So wird auch ihre Sprechstimme überliefert, die mit der Gesangstimme völlig übereinstimmt. Unter den Zugaben ist das „Lied an den Mond“ aus Rusalka, mit dem man die Trötschel am häufigsten  verbindet. Kaum sind die ersten Töne angespielt, braust im Saal Wiedererkennungsbeifall auf. Das ist es, was die Leute hören wollen. Hans Löwlein am Klavier muss noch einmal von vorn anfangen. Auch ich habe sie als Rusalka zum ersten Mal bewusst wahrgenommen auf einer alten LP, die bei Eterna in der DDR erschienen war.

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Rolle ihres Lebens: Elfride Trötschel 1948 als Rusalka in Dresden

In dieser Arie, die zumindest in Teilen auch ein Kunstlied sein könnte, tut sich eine direkte Verbindung zu ihrem Interpretationsstil der klassischen Lieder auf. Immer bildet die Melodie, die sie bis ins letzte Detail aufspürt, das Fundament für den Ausdruck. Nie ist es umgekehrt. Der Musik gehört das Primat, der musikalischen Linie ist alles untergeordnet. Das geht natürlich nur, wenn einer Sängerin dafür die entsprechenden Mittel zur Verfügung stehen. Bei der Trötschel macht sich Technik nie selbstständig. Ihre Stimme ist wunderbar gebildet. Sie hat gute Lehrer gehabt, darunter den Bariton Paul Schöffler und die Altistin Helene Jung. Es scheint, als mache ihr Singen nicht die geringste Mühe. Der Ton ist leicht, natürlich, die Noten vollkommen verblendet. Da passt nichts dazwischen, nicht einmal die Luft zum Atmen. Sie gebietet über ein Farbenspektrum wie die französischen Impressionisten in der Malerei. Farben, die sich nicht beschreiben lassen, die man in ihrem Falle nur hören kann. Damit gewinnt sie vor allem Strauss („Ophelia-Lieder“) und Mahler („Des Knaben Wunderhorn“) ins Flirrende gehende Wirkungen ab. „Keine Sopranistin gestaltet den Wunderhorn-Text so innig, schlicht und mädchenhaft wie die Trötschel“, sagte der Dirigent Otto Klemperer, der mit ihr 1954 die 4. Sinfonie von Mahler aufgenommen hat.

Steffen Lieberwirth

Spiritus Rektor der Edition: MDR-Chefproduzent Steffen Lieberwirth

Auffallend stark hat sich die Trötschel der neuen Musik zugewandt, ein Markenzeichen, das sie mit den wenigsten prominenten Kolleginnen ihrer Zeit teilt. Sie hat – belegt durch Plattenaufnahmen – Honneger, Orff, Henze gesungen, in der Edition finden sich Ausschnitte aus den „Marien-Liedern“ von Hindemith. Schade, dass es nicht den kompletten Zyklus gibt. Sie wendet sich Hindemith mit der gleichen Hingabe, Schönheit und Wahrhaftigkeit zu wie Schubert oder Mahler. Sie interpretiert neue Musik aus der Tradition heraus und nicht als Bruch mit der Tradition. Die Neutöner werden dadurch vielleicht nicht revolutionärer – dafür aber gnädiger. Leider sagt das in Wort und Bild sehr aussagekräftige Booklet nichts über die kurzen Gesprächseinwürfe im Anschluss an die Hindemith-Lieder. Verglichen mit den Ansagen im Liederabend dürfte die Sängerin dabei selbst zu Wort kommen mit einem Aufruf der Bewunderung und des Staunens über ihre soeben voll brachte Leistung. Das rührt sehr an. Und auch der anwesende Herr – ist es der Pianist und Dirigent Richard Kraus? – bemüht das Wort „wunderbar“ nicht nur einmal. Dem ist absolut nichts hinzuzufügen.

Wer das Haar in der Suppe sucht, wird keines finden. Nun gut, es ließe sich diskutieren, welche Lieder ihr besser gelingen als andere. So fand ich zunächst den Einstieg in das Programm mit Regers „Flieder“ etwas zu mächtig, musste diesen Eindruck aber verwerfen, noch bevor sie zum verhauchten Schluss des Liedes gekommen ist. Bei Reger sind derlei dramatische Kontraste nicht selten. Nicht nur das Timbre, sondern die künstlerische Gesamterscheinung von Elfride Trötschel mögen im Einzelnen etwas altmodisch wirken. Aber nur, weil diese genaue Art des Singens aus der Mode gekommen ist. Der Edition ist eine weite Verbreitung zu wünschen. Ich bin sehr dankbar dafür, weil ich eine neue bedeutende Liedsängerin entdeckt habe, die es locker aufnehmen kann mit dem ganz Großen dieses Fachs. Auch wenn sie schon so lange nicht mehr unter uns ist.

Andreas Troetschel

Andreas Trötschel, der Sohn der Sängerin im Hörfunkstudio

Ein Leben für die Oper. Andreas Trötschel erinnert sich an seine Mutter: Elfride Trötschel – in Dresden geboren, in Dresden berühmt geworden, um Dresden getrauert und in Dresden die letzte Ruhestätte gefunden. Und mitten in diesem Leben ist Krieg, versinkt die Oper in Schutt und Asche und es sind nur die wenigen Nachkriegsjahre, die ihr zur Entfaltung ihrer künstlerischen Meisterschaft bleiben sollten. Der künstlerische Werdegang von Elfride Trötschel ist ohne ihre Heimat- und Geburtsstadt Dresden nicht zu denken. Karl Böhm entdeckt ihre Begabung und holt sie aus dem Opernchor. Beim ersten Vorsingen nimmt sie all ihren Mut zusammen und schleudert in vollem Fortissimo dem Maestro die Arie der Pamina „Ach, ich fühl´s, es ist verschwunden“ entgegen. Böhm ist nicht entsetzt, sondern – Gott sei Dank – amüsiert und verlangt eine Wiederholung, diesmal aber ganz im Piano. Im zweiten Anlauf gibt sie dieser Arie nun die notwendige dramatische Intensität, und das ist der Beginn ihrer solistischen Laufbahn als lyrischer Sopran. Im Anschluss an das Vorsingen läuft sie wie auf Wolken durch den Zwinger und schickt ein Dankesgebet zum Himmel.

Sie spürte: Ihre Stimme war ein Geschenk Gottes, das es zu ehren und vor allem zu hüten und weiterzuentwickeln galt. Auf die kleinen Rollen folgen bald größere Aufgaben. Unter Böhms Nachfolger Karl Elmendorff singt sie mit außergewöhnlichem Erfolg das Ännchen im Freischütz – und erwirbt sich so beim Dresdner Opernpublikum den Namen „Die kleine Trötschel“. Sie heiratet den Opernmäzen und Fabrikbesitzer Friedrich Hildsberg, der sie bei einem seiner hobbymäßigen Dirigate der Staatskapelle kennengelernt hatte. So hätte es gut weitergehen können, wenn nicht Krieg gewesen und Dresden samt Semperoper zerstört worden wäre. Dieses Inferno hat auch Auswirkungen auf die Seelen der Musiker – bei meiner Mutter führt das zu einer Veränderung ihres stimmlichen Timbres: Das Jungmädchenhafte ist einer bewegenden lyrischen Intensität gewichen – wie es deutlich in schwereren dramatischen Partien wie der Rusalka zu hören ist. Wenn man die Zeit nach der Zerstörung Dresdens im Hinblick auf das Musikleben in der Stadt Dresden würdigen will, so ist das eine kurze Zeitspanne der künstlerischen Freiheit, nicht mehr durch die Hitlerdiktatur missbraucht und noch nicht durch die „Diktatur der Arbeiterklasse“ eingeschränkt.

Trötschel in ihrer Wohnung

Am Flügel in ihrer Berliner Wohnung

Tonhalle, das Große Haus und das Kurhaus Bühlau sind die unvergesslichen Spielstätten in denen unter dem Triumvirat Josef Keilberth (als Dirigent), Heinz Arnold (als Regisseur) und Karl von Appen (als Bühnenbildner) beeindruckende Opernaufführungen stattfinden. Ihre besondere Neigung zu slawischen Opern und die Gestaltung der „Großen Liebenden“ wie der Jenufa, der Katja Kabanowa von Janácek oder der Tatjana in Tschaikowskys Eugen Onegin verschaffen ihr ein besonderes Image. Zu dem Dirigenten Josef Keilberth entwickelt sich eine besondere künstlerische Verbundenheit, die in der gerade eben veröffentlichten Biographie von Thomas Keilberth in zahlreichen Ausrufungszeichen hinter ihrem Namen ihren Ausdruck findet. Aber nicht nur Keilberth ist dieser Stimme, dieser Persönlichkeit in Verehrung zugetan, sondern auch ein Regisseur der neuen Generation: Walter Felsenstein, der sie an die von ihm gegründete Komische Oper nach Berlin lockt – an jenes Haus, das der DDR künstlerische Emanzipation erringen sollte. Ihre frappante schauspielerische Ausdruckskraft hat sie diesem großen Regisseur zu verdanken. Die Berliner Zeitung berichtet: „Seit Jahren ist Elfride Trötschel Liebling der Dresdener und da die Fachpresse ihre Stimme als eine der schönsten rühmt, ist es verständlich, dass die Künstlerin von der dortigen Staatsoper bestens behütet wird – aber wozu heißt ein tüchtiger Intendant Felsenstein, wenn er nicht imstande wäre, auch eine felsenfeste Bindung ein wenig zu lockern? Für die Rolle der Eurydike in Offenbachs Orpheus in der Unterwelt gelang es ihm, die Trötschel nach Berlin zu holen.“

Chinesische Flöte

Zeitgenössisches: Ein weiteren Titel mit Elfride Trötschel im Katalog von Hänssler

Da ab den frühen 50er Jahren in der DDR zunehmend die Politik den Spielplan bestimmt und der Name großer Musiker und Dirigenten auf „schwarze Listen“ gesetzt werden, wechselt Elfride Trötschel 1953 endgültig an die Städtische Oper nach West-Berlin, nachdem sie schon zuvor im Westen aufgetreten war und auch erfolgreiche Schallplattenaufnahmen eingespielt hatte. In den ihr noch verbleibenden Lebensjahren findet ihr Ruf als Lyrische Sopranistin in ganz Europa Anerkennung: Edinborough, Glyndebourne-Festival, Hamburg, München, Bordeaux, Wien, Rom und Salzburg locken mit interessanten Aufgaben und nichts scheint ihr zu viel zu werden. In einem Brief berichtet sie, dass sie an der Wiener Staatsoper drei große Partien in nur vier Tagen gesungen habe: die Michaela in Bizets Carmen, die Pamina in Mozarts Zauberflöte und das Evchen in Wagner Die Meistersinger von Nürnberg! Und immer, wenn es der Terminkalender zulässt, kommen Konzerte dazu: „Das Unaufhörliche“ von Paul Hindemith, „Von Deutscher Seele“ von Hans Pfitzner, König David von Arthur Honegger, „Der Wein“ von Alban Berg, „Die Chinesische Flöte“ von Ernst Toch, „Carmina burana“ und „Trionfo di Aphrodite“ sowie „Catulli carmina“ von Carl Orff – unter dem Komponisten selbst oder unter Ference Fricsay, dessen Sohn Andrasch sich heute als Regisseur einen Namen gemacht hat.

Trötschel Butterfly

Butterfly 1947 auf der Behelfsbühne in Dresden

Die jugendliche Elastizität ihres lyrischen Stimmmaterials hat sie sich durch eine stetige und intensive Beschäftigung mit dem klassischen und modernen Liedgut zu erhalten gewusst und die mühelose tonale Ansprache auch bei zartestem Pianissmo vermag die emotionale Botschaft dieser musikalischen Kleinodien vollendet zu offenbaren. Diese Lieder sind es auch, die ich als Kind bei uns zu Hause so oft gehört habe, dass ich sie zur Überraschung meiner Mutter auf einmal mitgesungen habe. Von diesen intimen Hauskonzerten liegen auch Aufnahmen vor, die ein Freund unserer Familie mit einem damals hochmodernen Heimtonbandgerät gemacht hat. Neben der klassischen Oper erschloss sich meine Mutter in den 50er Jahren auch viele Werke zeitgenössischer Opernkomponisten. Ihr Rollenspektrum wurde dabei unter anderem durch folgende Partien bereichert: Die Sophie im Rosenkavalier und Zdenka in Arabella von Richard Strauss, Margiana im Barbier von Bagdad von Peter Cornelius, Harriet in der Die Flut von Boris Blacher, Ninabella in Werner Egk´s Zaubergeige, Manon Lescaut im Boulevard solitude von Hans Werner Henze, Frau Bürstner und Fräulein Leni sowie Gerichtsdienerfrau in Der Prozess von Gottfried von Einem nach Franz Kafka, die Solveigh in Peer Gynt von Werner Egk. Besonders erwähnenswert ist Die Heilige von der Bleekerstreet von Gian Carlo Menotti, in der ein armes Mädchen in fieberhaften Trancezuständen die Stigmata empfängt, jene Wunden, die auch Jesus am Kreuz empfangen hat. Die Arbeit an dieser Rolle erfüllte sie mit mehr als nur Interesse. Sie beschäftigte sich intensiv mit der Mystik der Stigmata und suchte Therese von Konnersreuth auf, die stigmatisierte Landfrau. Und mit dieser Kenntnis und innerstem Ergriffensein gestaltete sie diese Rolle. Das Publikum wurde in diese mystische Verklärung mit einbezogen, war tief betroffen, und das hat dieser heute längst wieder vom Spielplan verschwundenen Oper eine ungeheure Wirkung verschafft. Das Werk verschwand mit ihrem Tod. Es konnte so nicht wieder besetzt werden.

Was ist geblieben von dieser Dresdner Kammersängerin, was ist ihr künstlerisches Vermächtnis? * Sie hat mit dem wunderbaren Ensemble der Dresdener Staatsoper in schwerster Zeit den Menschen Tröstungen und Linderung durch ihren Gesang geschenkt. * Sie hat die Dresdener Opernkultur wesentlich durch ihre sanft- lyrische Stimmrichtung mitgestaltet. * Sie hat den Slawischen und zeitgenössischen Operngestalten Wärme und Wahrhaftigkeit verliehen. * Sie hat sich immer zu ihrer Heimat Dresden bekannt und auch dort ihre letzte Ruhestätte gefunden. * Eine Straße in Dresden ist nach Elfride Trötschel benannt.

Im Mai 1958 steht sie zum letzten Mal auf dem Podium: Unter Joseph Keilberth singt sie in Wien das Sopransolo von den „himmlischen Freuden“ in Gustav Mahlers Vierter Sinfonie. Einen Monat später ist sie tot – plötzlich herausgerissen aus einer Karriere, die ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hatte. Der Regisseur Walter Felsenstein schrieb in seinem Nachruf: Die von Elfride Trötschel gesungenen Partien ergeben den besten Beweis für die ganz ungewöhnliche Vielfalt dieser großen Begabung, die über ihren Fleiß, über ihr großes technisches Können hinaus Beziehungen zu Bezirken hatte, die nur ganz großen Künstlern zugänglich sind. (Der Beitrag von Andreas Trötschel und die Fotos stammen aus dem Booklet und wurden uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.)

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Elfride Trötschel mit ihrem Sohn Andreas im Alter von vierzehn Monaten – ein Foto von 1946

Dumpfer Brahms unter der Kirchenkuppel

Brahms’ Deutsches Requiem zählt weltweit zu den beliebtesten und erfolgreichsten Werken seiner Gattung. Jeder Chor, der auf sich  hält, versucht sich an der Interpretation dieses hoch emotionalen Stückes. So verwundert es nicht, dass der weltberühmte Dresdner Kreuzchor dieses Requiem traditionell jedes Jahr zum Ende des Kirchenjahres einmal aufführt. Manchmal wählt man für die Aufführung auch den 13. Februar, den Jahrestag der Zerstörung Dresdens 1945. So ist dieses Werk für die Kreuzianer vertrautes Terrain, jede Generation der Choristen wächst automatisch in diese Tradition hinein. Berlin Classics veröffentlicht nun den Mitschnitt einer Aufführung vom November 2013 in der Kreuzkirche (0300569 BC). Der Kreuzchor wird verstärkt durch das Ensemble Vocal Concert Dresden,. Die Solisten Sibylla Rubens und Daniel Ochda, die Dresdner Philharmonie unter Roderich Kreile, dem Kreuzkantor, sind die Ausführenden.

Als Zuhörer einer Aufführung in der Kreuzkirche mag man die besondere Atmosphäre dieses historischen Ortes schätzen, als Aufnahmeort für ein polyphones Chorwerk erscheint sie mir aber eher ungeeignet. Der äußerst differenziert singende Chor kann nicht verhindern, dass in der Wiedergabe ein schwammiges, dumpfes Klangbild vorherrscht. Selbst die Stimmen der Solisten klingen etwas verschattet. Sibylla Rubens trägt ihr Solo mit äußerster Innigkeit vor, ein wenig störend das zwar kontrollierte, aber für meinen Geschmack etwas zu starke Vibrato. Ähnliches gilt für den Bariton Daniel Ochda, dem es ein wenig an der großen Linie und Emphase für diese gewaltige Musik fehlt. Insgesamt aber hinterlässt die Einspielung unter Kreile den Eindruck hoher Kompetenz und engagierten Musizierens.

Peter Sommeregger

Anneliese Rothenberger lächelt fort

Die neue Namensgebung ist etwas verwirrend. Erst Electrola Connection, jetzt Cologne Collection. Nach der Übernahme der EMI durch Warner Classics nimmt sich der neue Hausherr Zeit, für die Vermarktung der alten Produkte des Tochterunternehmens Electrola das passende neue Spartenetikett zu finden. Nun also Cologne Collection! Damit ist zumindest ein lokaler Bezug aufgetan, weil das 1925 in Berlin gegründete legendäre Label Electrola seinen Firmensitz 1952 nach Köln verlegte. Fortan wurden am Maarweg 149 Aufnahmen geplant und konzipiert. Ein neues Aufnahmestudio mit allen technischen Erfordernissen der Zeit stand von 1956 an zur Verfügung – vornehmlich für die Schlagerbranche. Die großen Titel wurden in der Regel dort produziert, wo die Klangkörper beheimatet sind.

Ob nun unter diesem oder jenem Markenzeichen, die Aufnahmen bleiben immer die gleichen. Wiedererkennungswert ist auch dadurch garantiert, dass die ursprünglichen LP-Cover im Geschmack der Zeit in leichter Schräglage auf den neuen Ausgaben erscheinen. Da lächelt sie uns wieder entgegen, die Anneliese Rothenberger. Sie gab der Electrola über Jahre ein Gesicht und wurde sogar für die Einspielung der Schauspielmusik Rosamunde von Franz Schubert mit Chor und Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks unter Robert Heger bemüht, obwohl es für sie nur die kurze Romanze „Der Vollmond strahlt“ zu singen gibt (5054196055424). Diese klingt anrührend und stellt die Verknüpfung her zu sieben Liedern des Komponisten, die den Bonus bilden, damit die CD voll wird. „Die Forelle“, „Gretchen am Spinnrad“, „Nähe des Geliebten“, „Der Hirt auf dem Felsen“ etc. Neuigkeiten sind nicht darunter, alle Titel wurden bereits in anderen Kompilationen verbreitet. Der Wert dieser CD besteht vor allem darin, dass die Musik zu dem unspielbaren Stück der Euryanthe-Librettistin Helmina von Chézy erstmals komplett auf Platte kam und sich als eigenständiges Werk behaupten konnte. Rosamunde ist also mehr als die oft gespielte Ouvertüre, die nicht einmal das Original darstellt, sondern dem Singspiel Die Zauberharfe entlehnt ist. Bei der Uraufführung 1823 in Wien war die Ouvertüre der Oper Alfonso und Estrella, die noch in der Schublade lag, vorangestellt. In seiner kompletten Einspielung der Schubert-Ouvertüren hat das Label Naxos dankenswerter Weise diese Tatsache auch editorisch deutlich gemacht.

MessiasAnfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wetteiferten Dirigenten und Labels um Einspielungen der Bearbeitung des Messias von Händel durch Mozart. EMI wollte da nicht fehlen und steuerte eine besonders schlanke Fassung mit der Rheinischen Kantorei / Das kleine Konzert, geleitet von Hermann Max bei, die nun aus dem Archiv geholt wurde (5054196055523). Solisten sind Monika Frimmer, Mechthild Georg, Christoph Prégardien und Stephan Schreckenberger. Die Aufnahme klingt merkwürdig uneinheitlich, mal federnd, in Teilen wie hingehaucht und schließlich auch wieder robust auftrumpfend. So entsteht der Eindruck, als würde der originale Händel nach den Regeln der historischen Aufführungspraxis gespielt und nicht als Bearbeitung von Mozart, der das Werk dem Geschmack seiner Zeit anpassen wollte. Mit Helmuth Rilling (Hänssler Classic), Charles Mackerras (Archiv Produktion), Michel Corboz (Erato) und dieser Wiederveröffentlichung sind nunmehr mindestens vier verschiedene Produktionen der Mozart-Fassung auf dem Markt.

VerkündigungAls Mitschnitt einer Aufführung in der Kölner Philharmonie vom 4. März 1992 wurde Verkündigung, ein Mysterium von Walter Braunfels in vier Aufzügen und einem Vorspiel in den Katalog aufgenommen (5054196055325). Es entstand zwischen 1934 und 1937, nachdem Braunfeld als Halbjude von den Nationalsozialisten seines Amtes als Direktor der Musikhochschule in Köln beraubt worden war. Die Textvorlage ist das stark gekürzte Schauspiel „L’Annonce faite à Marie“ von Paul Claudel – eine symbolträchtige Geschichte um Aussatz, Ausgestoßen sein, Einsamkeit, Schuld und Sühne. Der Tod gilt als Erlösung. Eine Geschichte also, mit der Braunfels, der geächtet in Deutschlang blieb, seiner inneren Emigration Ausdruck verlieh. Musikalisch ist das Werk konservativ gehalten, erinnert an Palestrina. Braunfels, bekennt sich wie zum Trotz als deutscher Spätromantiker zur Tradition. Dennis Russell Davis arbeitet das mit Chor und Sinfonieorchester Köln sehr eindrucksvoll heraus. Violaine, die weibliche Hauptrolle, wird von der Sopranistin Andrea Trauboth, die nicht eben gesegnet ist mit offiziellen Aufnahmen, anrührend gestaltet. John Bröcheler ist in der Geschichte ihr Verlobter, Claudia Rüggeberg die Mutter, Siegmund Nimsgern der Vater Andreas Gradherz.

BoccaccioIn Franz von Suppés Operette Boccaccio bekommt Anneliese Rothenberger einen weiteren Auftritt, diesmal als hübsche Fiametta, die sich als hoch geborene Tochter eines Herzogs herausstellt, in ihrer Liebe aber an Boccaccio, der zunächst als armer Student durch die ereignisreiche Handlung saust, festhält. Boccaccio, der Verfasser frivoler Geschichten wird zu guter Letzt gar an die Universität von Florenz berufen. Ende gut, alles gut. Handlung und Musik haben Schmiss und hohen Unterhaltungswert. Willy Boskovsky, der umtriebige Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, der seine Berühmtheit durch die von ihm dirigierten  Neujahrskonzerte errang, macht am Pult des Symphonie-Orchesters des Bayerischen Rundfunks – hier Bayerisches Symphonie-Orchester genannt – viel her. Seine Aufnahmen sind stets handfest und robust, verbreiten gute Laune. Er hat leichtes Spiel, weil die Produktion bis in der kleinen Rollen hochkarätig besetzt ist, was so nicht häufig vorkommt. Die Rothenberger singt betörend schön, bleibt aber das junge Mädchen schuldig. Hier zählt nur noch der Name, nicht die Glaubwürdigkeit. Das gilt so auch für Hermann Prey in der Rolle des Boccaccio, der viel zu jovial ist und sich ganz auf seine Professionalität verlässt. Wer ist noch unterwegs? Edda Moser als Beatrice, Adolf Dallapozza als Lotteringhi, Kari Lövas als Isabella, Gisela Litz als Peronella. Mit Kurt Böhme (Scalza) und Walter Berry (Leonetto) sind zwei weitere Schwergewichte aufgeboten. Friedrich Lenz kann mit seinem berühmten Couplet „Um des Fürsten Zorn zu meiden“ punkten (5054196055226).

FriederikeEs braucht viel Enthusiasmus für Franz Lehár und das Genre Operette als solches, um bei Friederike durchzuhalten. Hintergrund ist die Affäre des jungen Goethe mit der siebzehn Jahre alten Pfarrerstochter Friederike Brion aus dem Elsass. Goethe hat in diversen Äußerungen den Speck für die seichte Handlung selbst ausgelegt. Mit Biographik hat das aber nichts zu tun. Goethe wird zur Unterhaltungsfigur für das klassische Operettenpublikum, das den Faust häufig im Schrank, aber selten gelesen hatte, zurecht geschnitzt. So etwas hat Tradition und gibt es bis heute im Fernsehen und im Kino. Anschließend wiegt sich das Publikum in der irrigen Annahme, „seinen Goethe“ zu kennen. Aus Goethe kann getrost auch Schiller werden, Mozart oder Thomas Mann, dessen späte Jahre, verfilmt mit Armin Mueller-Stahl, in Wahrheit kaum etwas anderes sind als Friederike. Eine Melange aus Fakten zur Projektion. Weg zum Original, hin zum Abbild. Musikalisch ist auch diese Operette, die der Komponist als Singspiel verstanden wissen wollte, wie immer gut gearbeitet. Und es gibt mit „O Mädchen, mein Mädchen“ zumindest einen der berühmten Tenor-Hits. Schließlich spielte bei der Uraufführung 1928 Richard Tauber den jungen Goethe. Adolf Dallapozza kann zwar nicht mit dessen berühmten Schmelz aufwarten, sein schön geführter Tenor ist dafür glaubhafter, so man sich denn auf die Geschichte einlässt. Helen Donath macht als Friedericke auf kleines Mädchen. Je stärker sie diese Vorstellung forciert, umso reifer klingt sie. Ihre vierzig Jahre zur Zeit der Aufnahme sind nicht zu überhören, spätestens in den Dialogen nicht. Damit ist nichts gegen diese bedeutende Künstlerin gesagt, die hier nur fehlbesetzt ist. Wir hören Marschallin, nicht die Pfarrerstochter. Dennoch hat diese Aufnahme mit dem von Heinz Wallberg geleiteten Münchner Rundfunkorchester dokumentarischen Wert (5054196055127). Sie galt 1981 als komplette Ersteinspielung und brachte den beiden Solisten großes Lob ein. Der hält eben nicht immer vor.

Rüdiger Winter

Aus der Zeit gefallen

In der kaum mehr zu überblickenden Reihe der 10-CD-Boxen, die inzwischen fast schon Kult-Status genießen, sind nun auch ein Arturo-Toscanini– und ein Glenn-Gould-Album erschienen. Der konsumentenfreundliche Preis dieser Boxen ist natürlich wesentlicher Teil ihres Erfolgs. In manchen Fällen würde man  lieber etwas mehr bezahlen, dafür aber technisch besser aufbereitete Einspielungen hören. Im Fall der Toscanini-Box (Documents 231057) bewegt sich das Klangbild mancher Aufnahmen hart am Rande der Kakophonie. Beethovens 8. Symphonie beispielsweise klingt wie das Kratzen einer zerdrückten Konservenbüchse auf Steinboden. Erstaunlicherweise klingen manche der noch älteren Aufnahmen klarer, präsenter und besser. Der absolute Knüller der Box ist Gershwins Rhapsody in Blue, mit Benny Goodman am Saxophon und Earl Wild am Klavier. Im Zeitalter des Spezialistentums ist man über die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der von Toscanini interpretierten Werke erstaunt. Sein NBC-Orchester folgt ihm auch willig durch nahezu die gesamte Musikgeschichte. Beginnend mit der süßlichen Respighi-Bearbeitung der Bachschen Passacaglia und Fuge, über Mozart, Beethoven, Schumann, Brahms, Richard Strauss – hier versteht einer sein Handwerk! Dass manche seiner Interpretationen ein bisschen aus der Zeit gefallen sind, wen wundert’s? Die ältesten hier vorhandenen Aufnahmen sind über siebzig Jahre alt, also auch von ihrer Interpretation her historisch.

GouldDie in gleicher Aufmachung erschienene Glenn-Gould-Box (Documents 232851) macht vom Klangbild her mehr Freude. Die Auswahl der Aufnahmen, wenn auch vom Kriterium der Rechtefreiheit diktiert, ist klug getroffen. Vier CDs sind ausschließlich Bach gewidmet, wobei die legendäre Aufnahme der Goldberg-Variationen natürlich nicht fehlen darf. Ganze fünf CDs gehören Beethoven, besonders interessant hier der Vergleich zwischen jeweils zwei Einspielungen der ersten drei Klavierkonzerte. Die letzte CD ist komplett der Zweiten Wiener Schule gewidmet, die Bergsche Klaviersonate und verschiedene Stücke für Klavier von Schönberg und Webern runden das Porträt dieses früh vollendeten Ausnahmepianisten ab. Beschämend, dass die Box außer Geburts- und Sterbejahr keinerlei biographische Daten über Gould enthält. Auch ein Foto des Künstlers sucht man vergebens. Der günstige Preis der Boxen kommt natürlich auch durch die konsequente Vermeidung geschützten Materials zustande.

Peter Sommeregger

 

 

Ein Grieche aus Perm krempelt Mozart um

Wahre Wunderdinge waren im Vorfeld dieser Veröffentlichung bei Sony (LC 06868.88883709262) zu vernehmen. Ein junger griechischer Dirigent, Chef des Opernhauses von Perm, im tiefsten Russland nahe dem Ural gelegen, wolle alle da-Ponte-Opern Mozarts mit seinem Ensemble Musicaeterna einspielen. Die erste Aufnahme, Le Nozze di Figaro, liegt nun vor, und tatsächlich, von einigen Wundern ist zu berichten. Vom ersten Takt an versteht es Teodor Currentzis (1972 in Athen geboren), mit fast allem zu brechen, was sich an interpretatorischer Routine bei dieser meistgespielten aller Opern eingeschlichen und verfestigt hat. Es gelingt ihm sogar, den Hörer mit den – zumeist als notwendigem Übel erduldeten – Rezitativen zu versöhnen: er ersetzt das zumeist doch eher anämisch klingende Cembalo durch ein Hammerklavier (ausgezeichnet: Maxim Emelyanychev). Und plötzlich ist da ein runder, wärmerer Klang, der dem Ohr schmeichelt. In der Wahl seiner Tempi ist er ebenso unkonventionell: die Aufnahme enthält die schnellsten, aber auch langsamsten Passagen, die ich jemals bei einem Figaro gehört habe.

Currentzis folgt da seiner ganz eigenen Dramaturgie, und das Ergebnis gibt ihm Recht. Mit seinem Musicaeterna-Ensemble stehen ihm aber auch ausgezeichnete Instrumentalisten zur Verfügung. Wie das schmeichelt, wie das schnurrt! Die nächste Überraschung: Er kehrt zu einer fast vergessenen, lange als verpönt geltenden Praxis der Appoggiaturen und reicher Verzierungen bei den Arien zurück. Jede einzelne „Nummer“ klingt anders als gewohnt, frischer, spannender. Das so genannte Briefduett beispielsweise ist kaum wieder zu erkennen, und das im positiven Sinn. Es sind diese erfrischenden, innovativen Ansätze, die diese Aufnahme spannend und sympathisch machen. Aber, auch das ferne Perm ist keine Insel der Seligen, Mozart will und muss gesungen werden! Currentzis verordnet seinen Sängern einen auffallend vibrato-armen Gesangsstil. Das hat leider zur Folge, dass vieles recht steif und kurz klingt, wo es doch die Freiräume der Auszierungen zu nutzen gälte.

Um das Kind beim Namen zu nennen: Das Sängerensemble ist insgesamt schwach, eine so ausgetüftelte, präzise Interpretation verlangt auch nach adäquaten Stimmen. Am ehesten vermag mich noch die Contessa der zwischenzeitlich als schriller Kasper der Barockszene verschrieenen Simone Kermes zu überzeugen, die hier auf alle Mätzchen verzichtet und so etwas wie einen Charakter zu formen versteht. Im Weg steht ihr dabei eine gewisse Steifheit der Stimme, die aber vielleicht vom Dirigenten so gewollt war. Die Schwachstelle der Aufnahme ist eindeutig der Figaro des Christian Van Horn. Da ist einfach zu wenig Substanz, zu wenig Gestaltungswille, immerhin handelt es sich um die Titelfigur. Der Graf des Andrej Bondarenko gefällt da schon etwas besser, aber auch er ist für diesen Macho von Almaviva ein wenig zu brav und unerotisch. Wenig profilieren können sich auch Mary-Ellen Nesi als Cherubin, der es an Wärme im Ausdruck, und Fanie Antonelou als Susanna, der es an Farbe und Volumen fehlt. Die vielleicht zentrale Stelle, der magische Moment von Susannas „Giunse alfin il momento“ verschenken Sopran wie Dirigent gleichermaßen. Schade! Die Comprimari sind durchaus anständig besetzt, klingen den Hauptpersonen aber fatalerweise zum Verwechseln ähnlich.

Ein Wort zum Booklet: Die etwas vollmundig als De-Luxe-Edition bezeichnete Aufnahme kommt zwar tatsächlich in Form eines dicken Buches daher, enthält aber außer einem interessanten Interview mit dem Dirigenten und dem viersprachigen Libretto nichts. Keine Fotos der Sänger, keine Biographien, kein Foto des schönen klassizistischen Theaters von Perm, in dem die Einspielung entstand. Das ist für eine Vollpreis-Aufnahme bei einem großen Label schon etwas kümmerlich. Diese Einschränkungen schmälern natürlich den Gesamteindruck, machen aber doch sehr neugierig auf die bereits eingespielte Così fan tutte und den geplanten Don Giovanni. Vom Dirigat her eine deutliche Bereicherung der Figaro-Diskographie!

Peter Sommeregger

 

 

 

Aus Defiziten wird Ausdruck

Die Aufmachung ist verstörend. Es hat den Anschein, als würde Julius Patzak als Gottvater aus seinem Himmel auf die Erde herabblicken. Erst wenn das Booklet entfaltet wird und die Rückseite betrachtend hinzu kommt, tritt in einem Ausschnitt das Gemälde „Der Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich hervor, in das das Konterfei des Sängers hineinmontiert wurde. Es drängt sich einem nicht auf, von diesem berühmten Bild auf Franz Schuberts Die schöne Müllerin und Winterreise zu schließen. Offenbar soll für die Einsamkeit in beiden Liederzyklen ein bildhafter Ausdruck gefunden werden. Etwas anderes fällt mir nicht ein. Doch diese Lieder sind für mich das glatte Gegenteil der romantischen Monumentalität des Gemäldes. Sie sind intim und in sich gekehrt.

Das ist auch der Ansatz von Patzak, seine schmale Stimme lässt gar keine andere Wahl. Seine Müllerin war über Jahre die Reverenz. Ich hatte die Platte schon als junger Mensch in meiner bescheidenen Sammlung, weil alle sie hatten, fand zunächst aber gar keinen Zugang. Ich hielt die Interpretation für eigenbrötlerisch und altmodisch. Und zu sperrig. Meine Offenbarung in frühen Jahren war der junge Fritz Wunderlich. Er schien mit seiner Stimme die ganze Welt umarmen zu wollen. Seine gute Laune gewann selbst diesen traurigen Liedern eine ganz neue Seite ab. In der Jugend, wo Fröhlichkeit und Traurigkeit oft eng beieinander sind, kommt das gut an. Patzak ist intellektueller und damit anstrengender, er fordert beim Zuhörer mehr Geduld und Ausdauer ein. Nicht, dass er die Lieder seziert. Mitunter ist er aber nahe dran. Er lotet jeden Buchstaben aus, singt betont auf die Vokale hin, um dadurch die Konsonanten zum Klingen zu bringen. Es schwingt, wenn er ein N singt oder ein M oder ein G. Das muss nicht jedermanns Sache sein, große Kunst im Vortrag ist es allemal. Auch nach so langer Zeit, denn die berühmte Aufnahme mit Michael Raucheisen am Klavier entstand immerhin 1943 beim Reichsrundfunk in Berlin.

Im Laufe der Jahre waren davon etliche LP-Ausgaben im Umlauf, auch das DDR-Label Eterna hatte diese Müllerin im Katalog. Leider ist die Überspielung auf CD im Rahmen der großen Raucheisen-Edition bei Membran total verunglückt. Patzak ist dort nicht wiederzuerkennen, er klingt dumpf, viel zu dunkel und schleppend. Deshalb ist die Neuauflage bei Preiser Records willkommen, weil sie so wunderbar transparent ist (PR93487). Preiser hat sich für eine Kopplung mit der Winterreise entschieden, die 1964, also gut zwanzig Jahre später, in Wien entstand. Um diese Zeit hatte Patzak seine aktive Karriere bereits beendet. Der Verschleiß im Vergleich mit der früheren Produktion ist nicht zu überhören, wenngleich das Timbre so unverwechselbar ist wie eh.

Mich beeindruckt die Ehrlichkeit des Sängers. Er versucht gar nicht erst zu tricksen, er bekennt sich zu seinen Defiziten und setzt sie offensiv als Ausdrucksmittel ein. Geblieben ist die Hinwendung zum Detail, der genaue, sinnstiftende Umgang mit der Sprache. Wenn man – um nur ein Beispiel zu nennen – nicht wüsste, was ein Totenacker ist, Patzak kann das aus der Mode gekommene Wort allein durch Ausdruck erklären. Begleitet wird er von Jörg Demus, der den Jahren nach der Sohn hätte sein könnte. Sein Spiel ist sensibel, immer an den beschränkten Möglichkeiten des vortragenden Sängers orientiert.  Für mich ist die Zusammenstellung dieses CD-Doppelalbums allein wegen des Zeitraums, den die Aufnahmen beider Zyklen umfassen, gut gewählt.

Rüdiger Winter

Es geht sehr stürmisch zu

Rokoko heißt das aktuelle Album von Max Emanuel Cencic, das er ganz der Musik von Johann Adolf Hasse widmet und dabei von der Armonia Atenea unter George Petrou begleitet wird. Nicht weniger als sieben Weltersteinspielungen finden sich unter den elf Opernarien des Programms – allein das spricht für diese Neuveröffentlichung. Und es ist die Stimme des Countertenors, die man hier in einem deutlich veränderten Klang hört – dunkel und männlich-sonor in der Mittellage, weich und schmeichelnd wie bisher noch auf keinem Recital. Nur die Höhe hat den bekannt hysterisch-exaltierten Ton beibehalten, was besonders den zwielichtigen Helden gut ansteht. Es sind die vielen Farben und Ausdrucksfacetten des Sängers, die seine Interpretationen so spannend und besonders machen.

Die Auswahl beginnt mit der Arie des Misaele, „Notte amica“, aus Il cantico de’ tre fanciulli, vom Orchester mit zauberischen Klängen eingeleitet und vom Sänger mit schmeichelndem Ton angestimmt. Sogleich fallen das gerundete Zentrum der Stimme und deren gewachsene Substanz in der Tiefe auf. In den schnellen Koloraturpassagen des B-Teils bekommt die Stimme einen spröden Beiklang. Mit einer furiosen Bläsereinleitung beginnt „Cadrò ma qual si mira“ aus der gleichnamigen Oper – eine veritable aria di bravura mit schnellen Läufen und staccati, welche den tobenden Sturm widerspiegelt. Ein schmerzlich-getragenes Stück ist die Arie des Titelhelden „La sorte mia tiranna“ aus Siroe re di Persia, das Cencic mit berührendem Klageton vorträgt. Im kontrastierenden Mittelteil hört man aufgewühlte Koloraturen, die den Ausnahmezustand der Figur plastisch schildern. Aus Hasses Titus-Oper (Tito Vespasiano) stammt die Arie des Sesto, „Opprimete i contumaci“, in welcher der dramatische Konflikt wiederum mit den Mitteln der Bravour eindrucksvoll dargestellt wird. Das trifft auch auf die Arie der Aminta, „Siam navi all’onde algenti“, aus L’Olimpiade zu, die das im Barock beliebte Bild eines Schiffes auf stürmischem Meer verwendet. Der Sänger imponiert hier mit besonders dramatischem Furor. Eine lyrisch-wiegendes Stück ist die Arie des Plistene, „Ma rendi pur contento“, aus Ipermestra, vom Interpreten mit lieblich-kosendem Ton geboten. Zwei Arien des Orazio stammen aus Il trionfo di Clelia, erstere („De’ fulgori di Giove“) mit heroischem Pathos und stupender Virtuosität, die zweite („Dei di Roma“) von versöhnlichem Duktus und sehr klangvoll-sanft gesungen. Von erregtem Ausdruck erfüllt ist Euristenes „Se un tenero affetto“ aus La spartana generosa, das durch den Affekt betonten Vortrag imponiert. Eine weitere weibliche Rolle in diesem Repertoire, wie sie die Kastraten häufig gesungen haben, ist die Tigrane aus der gleichnamigen Oper. Deren Arie „Solca il mar“ benutzt wiederum die Metapher eines Schiffes in gefährlichen Meereswellen, die durch aufgewühlte Koloraturen geschildert werden. Den Schlusspunkt setzt Cencic mit einer weiteren Sesto-Arie („Vo disperato a morte“), in der er sowohl seine hohe Gesangskunst als auch die starke gestalterische Expressivität beeindruckend demonstrieren kann. In der dramatischen Raserei und den gleich existentiellen Schreien herausgeschleuderten Koloraturen und Spitzentönen dürfte diese Nummer zweifellos der Höhepunkt der Platte sein.

Zwischen die Sammlung der Vokalnummern eingeschoben ist das Mandolinkonzert in G-Dur op. 3, Nr. 11 mit den üblichen drei Sätzen und der Reihenfolge schnell/langsam/schnell. Hier können das Ensemble und der Solist Theodoros Kitsos mit delikatem Musizieren gefallen. Nach der erfolgreichen Einspielung von Händels Alessandro mit Cencic in der Titelrolle hat sich das Orchester unter seinem Dirigenten einmal mehr als stilistisch perfekter und differenziert begleitender Klangkörper bewährt. Das Cover der Decca-CD (478 6418) präsentiert den Sänger im Habitus eines Rock-Stars mit geöffnetem Hemd, reichlich Kettenschmuck und einer modischen Haartolle. Der Klassikfreund sollte sich von diesem seltsamen Outfit nicht irritieren lassen, denn die Platte ist wirklich ein Treffer.

Mineccia (Alto arias)Und offenbar liegt eine solche Gestaltung im derzeitigen Trend, denn auch die neue CD des Italieners Filippo Mineccia bei Pan Classics (PC 10297 im Vertrieb von note 1 music) mit dem Titel Alto Arias würde man eher ins Pop-Regal einordnen. Sie zeigt den Sänger Zähne fletschend mit kurz rasiertem Schädel und offenem schwarzem Military-Jackett wie einen Skinhead, was einen seriösen Musikliebhaber eigentlich abstoßen dürfte. Und die Stimme gleicht diesen optischen Vorbehalt nicht aus, sie klingt oft unangenehm krähend und schneidend in der Höhe. Einzig das Programm, 14 Arien aus Opern und Oratorien sowie einer Serenata von Leonardo Vinci, die der Komponist ausnahmslos für die Altstimme schrieb, ist bei dieser Ausgabe von Interesse. Und auch das begleitende Ensemble, Stile Galante unter Stefano Aresi, erweist sich als versierter und inspirierender Partner für den Solisten. Der italienische Komponist und einer der größten Konkurrenten von Nicola Porpora ist seit der sensationellen Veröffentlichung seines Artaserse bei Virgin mit nicht weniger als fünf Altisten/Sopranisten, an die hinsichtlich der gesanglichen Virtuosität horrende Anforderungen gestellt werden, wieder aktuell im Gespräch. Auch bei dieser Auswahl, die mit der Arie „Bella pace“ aus der Oper Gismondo re di Polonia beginnt, ist solch exorbitante Gesangskunst unabdingbar, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.

Bei Mineccia ist zuweilen die Mühe allzu hörbar; lange Tongirlanden bringen ihn in Atemnot, auch stören der larmoyante Klang und knapp ertrotzte hohe Noten. Die getragene Arie der Maria Magdalena „Sotto il peso“  aus dem Oratorio di Maria dolorata gelingt dem Sänger dagegen eindrucksvoll, weil er die Stimme hier ganz zurücknimmt und schweben lässt. Aus einem weiteren geistlichen Werk, dem Oratorio per la Vergine del Rosario, stammen „Ai lampi del tuo lume“ , wo Mineccia sich mit der strengstimmigen Sopranistin Francesca Cassinari zum Duett vereint, sowie das asketische, nur von wenigen Streichern begleitete „Chi mi priega“, das der Solist mit tröstlichem Ton anstimmt. Zumeist in bequemer Mittellage bewegt sich die Arie „Nella foresta“ aus der Oper Medo, was dem Sänger entgegenkommt.

Nur in den wenigen Höhenausflügen stößt er akut an Grenzen. Aus demselben Werk erklingen noch „Vengo a voi“  (mit weinerlichem Klang und Problemen bei der Ausformung der Tongebilde) und „Taci, o di morte“, das vom Orchester sehr atmosphärisch mit getragenen Akkorden eingeleitet wird, das der Solist mit einem schwebenden „Taci“ eröffnet und auch danach Passagen von sanftem Wohllaut hören lässt. In einer Arie aus Ernelinda, „Se soffia irato il vento“ , gefällt der Altus mit flexibler Tongebung, wie auch in „Alma grande“  und „Ti calpesto“ aus Astianatte. Im koketten  „Non meno risplende“ aus La contesa de’ Numi verstört erneut ein verzerrter Klang in der Stimme. „Aprirti il seno“ ist ein schmerzlich-stockender Auszug aus Eraclea, aus der noch die Arie „In questa mia tempesta“ zu hören ist, die das Programm beendet – ein stürmisches Stück, wiederum mit der Metapher eines Seesturmes, das der Sänger vehement angeht und damit einen günstigen Schlusspunkt zu setzen scheint, wären da nicht die messerscharfen Spitzentöne. Vinci beeinflusste mit seinem Schaffen manch jüngeren Komponisten, so auch Hasse, womit sich ein direkter Zusammenhang zwischen den beiden CD-Veröffentlichungen herstellt.

Bernd Hoppe

Nicolae Herlea ist tot

Der rumänische Bariton Nicolae Herlea ist tot. Er starb am 24. Februar 2014 im Alter von 86 Jahren. Deutscher Herkunft, wurde er 1927 in Bukarest geboren, wo er auch seine erste musikalische Ausbildung erhielt. Dort debütierte er 1950 als Silvio. Später setzte er seine Studien in Rom fort. Damit legte er den Grundstein für seine besonderen Leistungen auf dem Gebiet der italienischen Oper. Herlea war in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehr gefragt und unternahm Gastspiele in die internationalen Musikzentren wie die Mailänder Scala und die Salzburger Festspiele. An der Metropolitan Opera in New York wirkte er über drei Spielzeiten. Seine Antrittsrolle 1964 war der Posa in Verdis Don Carlo. Davon hat sich auch ein Mitschnitt erhalten, der vor einiger Zeit offiziell bei Sony herausgebracht wurde. Als seine Glanzrolle galt der Figaro in Rossinis Il barbiere di Siviglia. Berühmtheit erlangt Herlea auch durch seine Mitwirkung bei zahlreichen Plattenproduktionen, darunter Pagliacci, La forza del destino, La Traviata, Tosca und Lucia di Lammermoor. Seine relativ dunkel getönter Bariton war auch höhensicher und zeichnete sich durch große Geschmeidigkeit aus. Nach dem Abschluss seine Karriere gab er noch Meisterkurse in seiner Heimatstadt Bukarest.

R.W.

Die Ludwig räumt als Ortrud ab

Es rumpelt, als würde Lohengrin mit der Straßenbahn am Ufer der Schelde anlanden wollen. Was machen die nur hinter der Bühne? Karl Böhm am Pult der Wiener Staatsoper brauchte gewiss gute Nerven, um mit der Zartheit des Vorspiels gegenhalten zu können. Er konnte. Böhm war Theater erfahren. Irgendwann hört auch das Rumpeln auf, offenbar in dem Moment, in dem sich der Vorhang hob. 16. Mai 1965. Erster Teil der Doppelpremiere des neuen Lohengrin von Richard Wagner in der Regie seines Urenkels Wieland. Dieser bediente sich großzügig bei seiner eigenen Bayreuther Inszenierung, der berühmten Orgie in Blau und Silber, die es auch offiziell auf Platte geschafft hat. Fotos im Booklet belegen das, wenn auch nur in Schwarzweiß. Die Inszenierung kam wohl nicht nur positiv an. Im Bocklet wird sich um eine eindeutige Aussage mit dem Hinweis darauf gedrückt, dass es sich um eine CD und kein Video handele. Nun gut. In jedem Fall ist auch diesem akustischen Abbild mehr abzugewinnen als nur eine grandiose musikalische Leistung.

Abgesehen von vom Rumpeln am Beginn hört jeder, der einigermaßen vertraut ist mit dem Werk, auch vieles vom dem heraus, was sich auf der Bühne abgespielt haben muss. Es ist eine Spannung zwischen den Akteuren – Sänger, Chor, Musiker und Dirigent -, die nur dann entsteht, wenn alles stimmt. Das Ohr sieht also mit. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sich ein Stück gebührend mitteilt, ist die Verständlichkeit und die Fähigkeit der Mitwirkenden, auch mit dem Text richtig umzugehen. Jedes Wort ist zu verstehen, auch der Chor ist um größtmögliche Deutlichkeit bemüht. Es hätte sich gehört, den Namen des Chorleiters zu nennen. War es der berühmte Wilhelm Pitz, der in Bayreuth wirkte und in den sechziger Jahren gelegentlich auch in Wien tätig war? Einhellig gut kamen seinerzeit die Solisten weg, Böhm selbst schwärte in einem Interview von der „bestmöglichen“ Besetzung der „ganzen Welt“. Dieses Selbstbewusstsein hat sich nach meinem Eindruck nicht in vollem Umfang herüber gerettet in unsere Zeit. Der Mitschnitt ist bei Orfeo in der Reihe Wiener Staatsoper live erschienen, in Mono, akustisch insgesamt sehr präsent (C 862 133 D).

Jess Thomas wirkt auf mich immer etwas steif und holzschnittartig, kann aber durch Jugendlichkeit und  seinen unverkennbaren hellen und leichten Tenor punkten. Er muss auf der Bühne großen Eindruck gemacht haben, der sich so auf den Hörer nicht überträgt. Hoch gelobt von der zeitgenössischen Kritik auch die Elsa von Claire Watson, die aus der Distanz von fünfzig Jahren nicht mehr ganz so makellos-rein klingt, sich dafür aber selbst in den großen Ensembles Gehör verschafft. In ihrem Falle ist das eine Leistung. Mich erinnert sie immer an die späte Elisabeth Grümmer. Erst im Brautgemach finden beide ihre Form, Thomas steigert sich sogar noch in der Gralserzählung.

Die Weltspitze, von der Böhm sprach, wird in dieser Aufführung von Christa Ludwig und Walter Berry als Ortrud und Telramund verkörpert – damals noch verheiratet und gern im Doppelpack auftretend. Daran hat auch das halbe Jahrhundert, das darüber verstrichen ist, nichts ändern können. Um ein Bild aus dem Sport zu gebrauchen: Es ist, als hätten beide einen Rekord aufgestellt, der seither nie gebrochen wurde. Berrys Telramund – kernig, stolz, leicht trotzig und töricht, unglücklich und gefährlich erst durch seine verletzte Eitelkeit geworden – ist ein packendes Porträt. Wie er im zweiten Aufzug erneut den Verführungen seiner Gemahlen unterliegt, habe ich selten so überzeugend gehört. Für sich allein genommen, wäre diese Leistung aber doch nur die Hälfte wert. Erst die Ludwig macht die Schleusen. Sie ist hoch erotisch in ihrer Boshaftigkeit, die letztlich persönliches Unglück ist und Ausdruck ihrer eigenen Verletzungen. Der Anruf der alten Götter gelingt ihr auch deshalb so grandios, weil sie ihn als Aufschrei einer gedemütigten Frau gestaltet. Das Publikum ist so hingerissen gewesen, dass es die Aufführung mit spontanem Beifall unterbricht. Beim Erscheinen Gottfrieds kurz vor Schluss – auch das habe ich so noch nie gehört – schreit sie voller Verzweiflung laut auf. Ortrud ist am Ende und wird durch diesen Kunstgriff der Regie zur heimlichen Hauptfigur. Mal gerade mit dreißig Jahren war Martti Talvela als König der Benjamin des Ensembles. Was für eine Stimme – gewaltig im Umfang, dabei wohlklingend, fast zärtlich. Ein sehr menschlicher König. Eberhard Waechter, nobel wie stets, gibt dem Heerrufer Format.

Böhm betont nicht so sehr das Übersinnliche als vielmehr die Dramatik, das Drama. Er scheut nicht davor zurück, die großen Chorszenen und die Zwischenspiele mit Wucht und mächtigem Volumen auszustatten. Sie laufen ab wie ein Film. Das hätte ich so gar nicht erwartet, war eher auf einen leichten, lyrischen Klang eingestellt. Seine eigentliche Leistung aber ist die Geschlossenheit der Aufführung. Die Premiere II zwei Tage später wurde wiederum von Böhm geleitet. Diesmal sangen James King (Lohengrin), Hildegard Hillebrecht (Elsa), Astrid Varnay (Ortrud), Gustav Neidlinger  (Telramund) Walter Kreppel (König) und Robert Kerns (Heerrufer).

Rüdiger Winter

Der reiche und der dürre Klang

Was für eine prunkende Stimme. Reich an Klang und Farben, mit individuellem Timbre. Live habe ich Irina Arkhipova (1925-2010) nur einmal unter Riccardo Muti mit Prokofjews Alexander Newski-Kantate gehört: ein wirklich eindrucksvolles Erlebnis. Auch die Melodiya-Aufnahmen (Mel CD 10 2123) von Liedern und Romanzen Tschaikowskys aus dem Jahr 1978 sowie von Rachmaninoff und Mussorgsky von 1970 vermitteln den Eindruck einer ungemein präsenten, vollen und massiven Stimme, die dennoch feiner Nuancen fähig ist. In Tschaikowskys Chansons fançaises op. 65 ist sie elegant und raffiniert, auch erstaunlich beweglich, erreicht im breitflächig tragfähigen Piano und in der messa di voce, so in „Qu‘ importe que l‘ hiver“, eine beschwörende Intensität und scheut sich auch vor großen Klangentladungen nicht. Dabei wirkt die Arkhipova immer kultiviert und diszipliniert im Vortrag, ihr Ton ist edel und ebenmäßig in die Gesangslinie eingebunden, wodurch auch die weniger bekannten Rachmaninoff-Romanzen eine bezwingende Intensität ausstrahlen, vielleicht auch durch die durchaus szenisch opernhafte Momente, was auch dem souveränen Spiel von John Wustman zu verdanken ist. Die opernhaften Akzente verstärken sich naturgemäß in Mussorgskys Lieder und Tänze des Todes, wo die Stimme auch ein wenig streng wird.

Das absolute Gegenteil dieser reichen und vollblütigen Stimme ist Peter Pears (1910-1986), der in diesen erstmals veröffentlichten BBC-Aufnahmen (Testament SBT 1493) nicht mit Stücken seines Lebenspartners Benjamin Britten zu hören ist, sondern mit dem Lied-Zyklus To Poetry auf Gedichte u. a. von Goethe und Shakespeare des ungarischen Komponisten Mátyás Seiber (1905-1960) und dem Zyklus Voices of the Prophets mit Texten u. a. von Milton und Blake von Alan Bush (1900-1995). Was „a distinctive timbre, not to all tastes“ bedeutet, wird hier auf quälende Weise spürbar. So sehr man Pears beispielsweise in der von Britten begleiteten Winterreise bewundern mag – hier fühlte mich ein wenig genervt. Herrlich dagegen das erste Stück auf dieser Veröffentlichung, Brittens Klavierkonzert op. 13. Britten, selbst ein ganz ausgezeichneter Pianist, komponierte nicht viel für Soloklavier. Sein 1938 erstmals aufgeführtes, 1945 von ihm überarbeitetes Konzert ist ein mitreißendes, temperamentvolles viersätziges Stück, das es verdienen würde, häufiger aufgeführt zu werden.

In dem BBC-Konzert wird es von dem 31-jährigen australischen Pianisten Noel Mewton-Wood auf derart enflammierende Weise gespielt, dass man es gleich nochmals hören will. Zum Zeitpunkt, als das Programm gesendet wurde (9.1.1954), war Mewton-Wood, der nach dem Tod seines Freundes Selbstmord beging, bereits tot. Die Veröffentlichung ist eine schöne Hommage an diesen viel versprechenden Pianisten.      R. F.

Die Kundry aus Kroatien

Die wohl bisher bedeutendste Opernsängerin Kroatiens, Milka Trnina, außerhalb ihrer Heimat der besseren Aussprache wegen Ternina genannt, hätte 2013 ihren 150. Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlass hat ein Autorenkollektiv ein wunderbares work of love in Form eines großformatigen  Buches produziert, das in einer sehr limitierten Auflage von 1000 Exemplaren erschienen ist. Mit äußerster Akribie wird der künstlerische Weg der jungen Kroatin dokumentiert, der schnelle Aufstieg zum Weltruhm mit zeitgenössischen Zeitungsberichten, Programmzetteln und vor allem wunderbaren Fotos belegt. Aber, ach! Sämtliche Texte, auch die Bildunterschriften finden sich ausschließlich in kroatischer Sprache. Für ein kroatisches Idol sicher legitim, aber diese liebevoll und aufwändig zusammengestellte Dokumentation würde sicher auch viele, dieser Sprache nicht mächtige Opernliebhaber interessieren. Zwar findet sich am Ende des auch optisch sehr schön gestalteten Buches eine kurze englische Zusammenfassung des jeweiligen Kapitels. Dabei fällt auf, dass die von verschiedenen Autoren verfassten Abschnitte in manchen Details widersprüchliche Angaben enthalten, was den Leser zusätzlich verwirrt.

Ein großes Plus ist ein Rollenverzeichnis der Sängerin und, vielleicht noch wichtiger, ein komplettes Auftrittsverzeichnis. Dies ist gottlob auch ohne kroatische Sprachkenntnisse benutzbar. Schwieriger wird es schon mit der Beschreibung der Objekte, die sich im Museum von Terninas Geburtsort Pozega befinden. Hier wurde insgesamt leider die Chance vertan, Milka Ternina auch international wieder ins Gedächtnis zu rufen. Was bleibt, ist aber ein mit spürbarer Liebe gestaltetes Buch, wenn auch nur für einen begrenzten Leserkreis. Foto oben Elisabeth in Tannhäuser, unten von links Leonore in Fidelio, Tosca, Kundry in Parsifal. Alle Fotos stammen aus dem Buch.

Milka Trnina (in kroatischer Sprache; Hersg. Zdenka Weber mit Beiträgen von Marija Barbieri, Christa Höller, Lidija Ivančević Španiček, Ivan Mirnik, Antun Petrušić, Ivana Posavec Krivec, Nada Premerl, Zdenka Weber), Verlag Gemeinde Kriz/Zagreb 2013, Zahvaljujemo na suradnji Muzeju grada Zagreba, ISBN 978-953-96371-4-7

Peter Sommeregger

 

Unser Freund Ivan Mirnik, Champion für diese wunderbare Edition (s. auch den Artikel zum 150. Geburtstag der Ternina und die Ankündigung dieser Veröffentlichung), schreibt dazu: Die Ternina-Monografie können bei diesen Damen bestellt werden, und nach der bezahlten Rechnung schickt man sie. info@opcina-kriz.hr sowie  maja.dundovic.plesa@opcina-kriz.hr

Ternina unten

Irmgard Arnold

 

Die Opernsängerin Irmgard Arnold starb am 31. Januar 2014 im 95. Lebensjahr. Sie gehörte über viele Jahre zum Ensemble Walter Felsensteins an der Komischen Oper Berlin, deren Ehrenmitglied sie war. Ihren Ruhm begründete sie als Schlaues Füchslein in der gleichnamigen Oper von Jeos Janácek. Davon hat sich ein Film erhalten, der  beim Label Arthaus zu haben ist. Bei Gastspielen errang sie in dieser Rolle auch international Erfolg. Felsenstein wurde bereits 1950 auf die Arnold aufmerksam, als er eine junge Sängerin für die Frau in Darius Milhauds Einakter Der arme Matrose (Le pauvre Matelot) suchte. Er wurde in Halle fündig,  wo die Sängerin seit 1947 engagiert war.  Zuvor hatte sie als Soubrette an den Bayerischen Landesbühnen München und am Stadttheater Augsburg gewirkt. Debütiert hatte sie als Christel von der Post in Zellers Vogelhändler. Wie bezaubernd sie dieses Fach beherrscht hat, lässt sich in Lortzings Wildschütz nachhören. In dieser Produktion des DDR-Rundfunks von 1951 singt  Irmgard Arnold das Kammermädchen Nanette neben Anny Schlemm als Baronin Freimann. Lieder hat es diese Aufnahme nicht auf CD geschafft. Ihre meisten Tondokumente liegen bis jetzt im Deutschen Rundfunkarchiv, darunter die Georgette im Mantel (Il Tabarro) von Puccini. Anrührend ist ihre Liu in einem Querschnitt durch Puccinis Turandot, der leider seit Jahren vergriffen ist.

Platte ArnoldEine andere wichtige Facette ihres Wirkens waren Lieder von Hanns Eisler, die sie auch live bei Auftritten im Ausland vorgetragen hat. Der Komponist selbst schätze ihre Intelligenz, ihre Anmut, aber auch ihre Härte und ihren Ernst. „Dazu kamen echter Fleiß und der Wille, es immer besser zu machen, der gute Ehrgeiz, der vorwärts treibt“, so Eisler über die Arnold. Während das Füchslein als Film überdauert hat, ist ihre Violetta in Verdis La Traviata –  das berühmte Gegenstück ihrer langen Karriere – als Ganzes nur in der Erinnerung von Zeitzeugen und in Beschreibungen bewahrt. Es dürfte keinen Mitschnitt geben. Dabei soll sie weniger durch ihre stimmlichen Mittel, die auch begrenzt gewesen sind, als vielmehr durch ihre Ausstrahlung  zu einer Wahrhaftigkeit gelangt sein, die das Publikum tief bewegte und erschütterte.

Sehr gern erinnere ich mich an einen Besuch in ihrem Haus am Rande Berlins, der gut sieben Jahre zurückliegt. Ich konnte es mir nicht verkneifen, sie als „die Traviata Felsensteins“ zu begrüßen, was sie wohl sehr gern hörte, denn sie antwortete mit einem spontanen Ausflug in die Höhenlage dieser Partie, die ihr noch immer erstaunlich geläufig gewesen ist. Sie war überaus herzlich, unprätentiös und neugierig. Es gab selbst gebackenen Apfelkuchen und guten Kaffee. Mit sehr wachem Interesse nahm sie noch immer am Berliner Kulturleben teil, das nun nicht mehr in Ost und West geteilt war. Als wir dann gemeinsam in einer Vorstellung des Schlauen Füchslein in der Deutschen Oper Berlin saßen, das Katharina Thalbach bunt, üppig und mit einem gehörigen Schuss Naivität auf die Bühne gestellt hatte, wurde sie sehr still. Es hatte ihr wohl nicht gefallen. Dabei war sie es, die diese Oper in Deutschland einst populär gemacht hatte. (Das private Foto oben zeigt Irmgard Arnold mit dem Autor des Beitrages, das kleine Foto ist das Cover der CD mit Eisler-Liedern bei Berlin Classics).

Rüdiger Winter

„Rheingold“ im Doppelpack

Fast zeitgleich wurden die beiden vorliegenden Aufnahmen von Richard Wagners Das Rheingold eingespielt, die St. Petersburger Produktion (Mariinsky MAR 0526) entstand im Studio, die Berliner ist der Mitschnitt einer Live-Aufführung in der Philharmonie (Pentatone PTC 5186 406). In beiden Fällen handelt es sich um Teile eines kompletten Ringes. Sowohl Marek Janowski als auch Valery Gergiev, dessen Aufnahme noch nicht komplett vorliegt, stehen ausgezeichnete Orchester zur Verfügung, die sich auf durchaus ebenbürtigem Niveau bewegen. Janowski verfügt allerdings über die ungleich längere und intensivere Erfahrung mit Wagner. Seine in den Achtzigern entstandene Studio-Aufnahme mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden, damals noch eine Deutsch/Deutsche Koproduktion, hat bis jetzt trotz einiger Schwächen in der Besetzung Referenzcharakter.

Was Janowski bewogen hat, trotz des heute eklatanten Mangels an geeigneten Wagnersängern noch einmal den gesamten Ring mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin auf Tonträger zu bannen, bleibt sein Geheimnis. Er besitzt ohne Zweifel eine gute Hand für Wagner, die Struktur der Musik und die Erzielung großer Wirkung durch gut vorbereitete Höhepunkte. Aber  Wagner muss auch gesungen werden, und das besser nicht von Sängern mit ungeeigneten Stimmen. Mag der Wotan von Tomasz Konieczny stimmlich noch auf der Habenseite stehen, verdirbt er viel mit seiner mehr als gewöhnungsbedürftigen Diktion. Christian Elsner ist bei aller Wortdeutlichkeit ein doch deutlich zu kleinstimmiger Loge. Am ehesten überzeugen noch die beiden Riesen, Günther Groissböck (Fasolt) und Timo Riihonen (Fafner). Blass und untergewichtig bleiben Antonio Yang (Donner), Kor-Jan Dusseljee (Froh), Andreas Conrad (Mime). Der Alberich von Jochen Schmeckenbecher beginnt ausgezeichnet, fällt gegen Ende aber deutlich ab. Nicht viel besser ist es um die Sängerinnen bestellt. Iris Vermillon (Fricka), Ricarda Merbeth (Freia), Maria Radner (Erda) und die Rheintöchter Julia Borchert, Katharina Kammerloher und Kismara Pessatti singen alle rollendeckend und insgesamt recht ordentlich, einen starken positiven Eindruck kann aber keine hinterlassen. Insgesamt eine Aufnahme, der die prägenden Rollenporträts vollkommen fehlen, und die im Gesamteindruck eher blass bleibt.

Rheingold (Gergiev)Noch erheblicher macht sich die Abwesenheit geeigneter Sänger in der Einspielung Gergievs bemerkbar. Zwar holt er sich mit René Pape einen idiomatisch sauber singenden Wotan ins Studio, der aber als Figur insgesamt sehr blass und glanzlos bleibt. Der zweite deutsche Import, Stephan Rügamer als Loge ist sogar eine eklatante Fehlbesetzung. Auch hier sind es wieder die Riesen, die am ehesten punkten können. Evgeny Nikitin (Fasolt) und Mikhail Petrenko (Fafner) sind ausgesprochen authentische Raubeine. Der Rest der Besetzung ist ihren Rollen weder idiomatisch noch stimmlich gewachsen. Der Alberich Nikolai Putilins gerät geradezu zu einer Parodie seiner Rolle, an Unverständlichkeit wetteifert er mit den Rheintöchtern Dombrovskaya, Vasileva, und Sergeeva. Die sonst so zuverlässige Ekaterina Gubanova als Fricka singt eben so unschön und tremololastig wie Viktoria Yastrobova (Freia) und Zlata Bulycheva (Erda). Die Freigabe dieser Aufnahme kann auch nur durch des Deutschen nicht Mächtige erfolgt sein. Da können auch Gergievs zugegeben sehr gutes Dirigat und das konzentriert spielende Mariinski Orchester nichts mehr retten, das ist Wagner zum Abgewöhnen!

Peter Sommeregger

Die Vögel zwitschern in Stereo

In der Krabbelkiste auf einem Flohmarkt fiel mir vor Jahren eine Electrola-Single in die Hände, die meine Aufmerksamkeit weniger durch das Werk als vielmehr durch das Cover auf sich zog. Es zeigt einen verehrten Sänger in gewagter Gewandung, nämlich in kurzer Lederhose, dazu noch in Hockstellung, in der niemand gut aussieht: Josef Traxel als Vogelhändler Adam! Diese Platte hatte Seltenheitswert. Inzwischen weiß ich sehr gut, dass sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich – also der Musik wegen – von einiger Bedeutung ist. Das unverhoffte Wiedersehen und Wiederhören mit der fast sechzig Jahre alten Aufnahme beschert eine Operettensammlung mit sechs CDs, die bei Warner Classics erschienen ist (50999 4 31280 2 0). Der ursprüngliche Produzent, zwischenzeitlich mit der EMI fusioniert, ist nun unterm Dach von Warner gelandet, die alten ruhmreichen Namen der alten Labels sind verflogen, die der Mitwirkenden nicht. Traxel bleibt Traxel, egal unter welchem Firmenzeichen. Auch Anneliese Rothenberger bleibt, wer sie ist, und Rudolf Schock und Hermann Prey, Erika Köth, Fritz Wunderlich, Nicolai Gedda, Marcel Cordes oder Benno Kusche. Sie alle wirken in diesen Querschnitten mit, sie alle bleiben auch in der Erinnerung unabhängig. Sie sind alle auf ihre unverwechselbare Weise zu Eigenmarken geworden.

„Glücklich ist, wer vergisst . . .“ Das berühmte Zitat auf der Fledermaus von Johann Strauss will zwar nicht zu dem eben Gesagten passen. Es ist auch gegenläufig zu den wunderbaren Erinnerungen, die angesichts dieser alten Querschnitte wach werden. Das Zitat in dieser Verwendung als Motto der Box ist zwar gut gemeint, in Wahrheit aber ein Irrtum, weil es Operette zu dem macht, was sie nie sein wollte und auch nie war, nämlich Traumland, Ort des Vergessens. Operette ist frech, unanständig, an Tabus kratzend – und zumindest aus heutiger Sicht politisch oft gar nicht korrekt.

Josef Traxel als Vogelhändler Adam auf einem Cover in der Box

Josef Traxel als Vogelhändler Adam auf einem Cover in der Box

Elf Operetten  sind in die Edition eingegangen. Szenenfolgen wie der Single-Vogelhändler brauchen weniger Platz als jene, denen einst eine ganze LP gewidmet war. Hinzu kommen zwei Boni, die die Rothenberger und Marco Bakker mit Strauß-Melodien bestreiten. Ja, der Bakker, den gibt es ja auch. Ein niederländischer Sänger und Radiomoderator, der nicht nur mit Kunst Schlagzeilen machte. Er ist der lebendige Beweis dafür, dass Schmalz sehr haltbar ist. Nichts desto trotz, in seiner Zeit war Bakker mit seinem gefälligen Bariton sehr beliebt. Gefälligkeit ist das Stichwort. Es scheint die Vorgabe für alle hier versammelten Produktionen zu sein: Fledermaus, Nacht in Venedig, Bettelstudent, Gasparone, Schwarzwaldmädel, Vetter aus Dingsda, Boccaccio, Wiener Blut und den schon erwähnten Vogelhändler. Den gibt es gleich zweimal. Neben Traxel auch noch mit Heinz Hoppe in der Titelrolle. Bei ihm zwitschern die Vögel schon in Stereo. Nicht nur deshalb schneidet Hoppe bestens ab. Er bringt mit Diktion, Leichtigkeit und Charme die allerbesten Voraussetzungen als Operettensänger mit, die Traxel, bei dem man immer den Evangelisten hört, so nicht hat. Zum Glück ist Hoppe auch noch in einer etwas unorthodoxen Melodienfolge aus Boccaccio zu hören sowie als Benozzo in Gasparone.

Nach meinem Eindruck bei der durchaus lustvollen Beschäftigung mit der Box überzeugen die Sänger aus der zweiten Reihe oft mehr als die mit den berühmten Namen. Sonja Knittel zum Beispiel ist eine hinreißende Kurfürstin, Christine Görner eine entzückende Christel von der Post, Sari Barabás eine flotte Rosalinde. Sie scheinen zufrieden mit dem, was sie sind, legen sich mächtig ins Zeug und ziehen sich nicht auf die Rolle der Primadonna zurück. Deshalb überzeugen sie auch so stark. Sie sind authentischer. Nein, nein, dieses Lob soll nicht auf Kosten der Primadonnen gehen, wirklich nicht. Es nimmt ihnen nichts weg. Die Rothenberger erzeugt die der Knittel eigene Natürlichkeit durch höchste Professionalität, was auch Eindruck hinterlässt. Die Köth ist betörend als Julia, Laura und Saffi. Ihr leicht tremolierender Sopran, der aus tausend Stimmen herauszuhören ist, mischt den Stücken, in denen sie mitwirkt, einen gehörigen Schuss Erotik bei, wie es denn bitte schön auch sein soll in der Operette. Das ist ihr großer Vorzug gegenüber der Rothenberger, die viel anständiger und reservierter herüber kommt. Insgesamt eine schöne Ausgrabung, die ihr Publikum finden wird.

Rüdiger Winter

Doch nun von Wagner . . .

 

Neulich ist mir beim Aufräumen ein Interview mit Klaus Zehelein untergekommen, das er 2012 der Osnabrücker Zeitung gab. Ich hatte es wohlweislich aufgehoben, weil ich mich darüber geärgert hatte. Der Präsident des Deutschen Bühnenvereins beklagt das Überangebot an Inszenierungen von Werken Richard Wagners. Als Intendant der Stuttgarter Staatsoper habe er im Mozartjahr 2006 – damals wurde dessen 250. Geburtstag begangen – bewusst keine Mozart-Premiere in den Spielplan genommen. „Das sind doch alles enzyklopädische Ereignisse ohne jede künstlerische Relevanz“, so Zehelein und schob gleich die Frage nach: „Warum also auch im Wagner-Jahr mal überhaupt keinen Wagner aufführen?“ Eine Provokation – oder doch ein sehr weiser Gedanke?

Das Wagnerjahr 2013 ist vorbei, die Polemik Zeheleins verflogen. Es gab und gibt Wagner ohne Ende. Mit zehn verschiedenen Werken innerhalb eines Monats dürfte Hamburg Anlauf aufs Guinnessbuch der Rekorde genommen haben. Das schaffte nicht einmal Bayreuth in guten Zeiten. Die sind lange vorbei. Vielmehr rutschten die Festspiele im Jubiläumsjahr auf einen neuen Tiefpunkt. Das Festspielhaus mit Bauplanen verhüllt, Haus Wahnfried – Pflichtprogramm jedes Bayreuth-Besuchers – wegen Umbau geschlossen. Zur Eröffnung gab es den aufgewärmten Holländer vom Vorjahr. Der war zudem noch immer vom peinlichen Rummel um die ursprüngliche Besetzung der Titelpartie umweht. Der Russe Evgeny Nikitin hatte 2012 abgesagt, weil eine Körpertätowierung als Nazisymbol hätten gedeutet werden können. Kaum war Gras über diese Geschichte gewachsen, fand sich der Aktionskünstler Jonathan Meese, der 2016 einen neuen Parsifal auf die Festspielbühne bringen soll, vor Gericht wieder. Ausgerechnet im Wagnerjahr wurde ihm vorgeworfen, sich öffentlich des Hitlergrußes bedient zu haben. Es folgte der Freispruch, weil es sich bei der verdächtigen Geste nach Auffassung des Gerichts um eine Kunstaktion gehandelt habe. Das ist so gut wie richtig in einem Rechtsstaat, in Bayreuth dürfte man sich aber noch lange daran erinnern.

So frei war das Bayreuther Festspielhaus im Wagnerjahr nur auf Bildern zu sehen. Foto  Winter

Mit seinem schrillen Ring fuhr Frank Castorf nicht einmal mehr einen Skandal ein wie weiland der Franzose Chéreau im Festspieljubiläums-Sommer 1976 mit seinem genialen Entwurf, der bis jetzt nichts von seiner Wirkung eingebüßt hat. Der eigentliche Skandal spielte in Düsseldorf. Dort wurde der mit deftigen Gewalt- und Holocausts-Szenarien gespickte Tannhäuser vier Tage nach der Premiere wieder abgesetzt. Proteststürme ließen offenbar keine andere Wahl. Zurück nach Bayreuth, wo jeglicher neuen Akzent, wie beispielsweise die überfällige Aufnahme des Rienzi in den Festspielkanon, ausblieb. Zumindest abgespeckt wurde der gemeinsam mit den anderen Frühwerken – Feen und Liebesverbot – in der Oberfrankenhalle gegeben. Eine vollständige Aufführung wie sie der Brite Edward Downes 1976 bei der BBC zu Wege brachte (der Mitschnitt bei Ponto ist leider vergriffen), kam auch 2013 nirgendwo zustande – ein deutsches Armutszeugnis ersten Ranges.

Ich kann Klaus Zehelein noch immer nicht ganz folgen und halte Jubiläen wie dieses durchaus für eine willkommene Gelegenheit, einen neuen Blick auf das Gesamtwerk zu wagen, wenn das Frühwerk und die so genannten Gelegenheitsübungen nicht ausgespart bleiben. Bei Wagner sind die Opus-Zahlen überschaubar. Die meisten Häuser und Veranstalter haben sich dennoch auf die guten alten Bekannten geworfen. Mainstream soweit Augen und Ohren reichen. Mutiger war das Stadttheater Gießen, das mit der hierzulande noch immer unbekannten Urfassung des Holländer unter der Leitung des jungen Dirigenten Florian Ziemen die Spielzeit im Wagnerjahr eröffnete.

Das Holländer-Projekt von Minkowski auf CD bei Naive Classique.

Holländer-Projekt von Marc Minkowski bei Naive Classique – das CD-Ereignis im Wagnerjahr.

Noch weiter ging Marc Minkowski mit seinen Musiciens du Louvre. Er überraschte zunächst in Versailles und später in Paris, Wien und Barcelona das Publikum mit einem so strapaziösen wie spannenden Holländer-Projekt: Die Oper Le vaisseau fantome von Pierre-Louis Dietsch nach einer Handlungs-Skizze Wagners sowie dessen Holländer-Urfassung von 1841 an einem langen Abend – inzwischen auch auf CD gebannt. Halbherzig beworben, gab es in Berlin beide Titel in völlig voneinander getrennten konzertanten Aufführungen, wobei der Dietsch erheblich überzeugender gelang als auf der CD von Minkowski. Das war schon mal etwas, denn die erste Aufnahme des Ur-Holländer unter der Leitung von Bruno Weil, die es auch auf CD geschafft hat, ist zehn Jahre alt.

Christian Thielemann hatte sich beim Festkonzert in Dresden wenigsten die schwungvolle Faust-Ouvertüre und die lange Fassung der „Gralserzählung“ vorgenommen. Auch auf anderen Konzertprogrammen erschienen selten gespielte Titel. Das Siegfried-Idyll, ursprünglich für dreizehn Instrumente komponiert, habe ich in dieser intimen Triebschener Ausführung vergeblich gesucht. Bernard Haitink hatte es als Vorbote auf das Jubiläum im Oktober 2013 in der Berliner Philharmonie gegeben – zum Niederknien. Doch wenig geeignet als Begleitmusik für ein rauschendes Wagner-Fest.

Wer sich eine Aufnahme davon wünscht, muss lange suchen. Ich habe nur zwei dort gefunden, wo ich sie am wenigsten erwartet hätte, nämlich bei Sony mit Glenn Gould und bei der EMI mit Otto Klemperer. Beide Einspielungen sind vortrefflich gelungen, die überirdische Transparenz von Haitink erreichen sie nicht. The other Wagner nennt EMI eine Sammlung auf drei CDs, die die meisten Kompositionen außerhalb der Musikdramen enthält: Trauersinfonie, Liebesmahl der Apostel, den Gesang an Webers Grab, die Sinfonie in E, die Columbus-Ouvertüre, den Huldigungsmarsch, den Kaisermarsch, den Großen Festmarsch, die Ankunft bei den schwarzen Schwänen und weitere Klavierwerke, die komplett bei Brilliant Classics zu haben sind. Das Siegfried-Idyll wird hier aber auch nur groß besetzt geboten. Seinen Einstand ins große Fach gab Klaus Florian Vogt mit einer bemerkenswerten Sony-CD.

Szene aus dem Stummfilm über Wagner von 1913 mit Giuseppe Becce.

Szene aus dem Stummfilm von 1913 mit Giuseppe Becce als Richard Wagner/OBA.

Oehms engagierte sich nachhaltig in Frankfurt und brachte den Ring unter Sebastian Weigle gleich im Doppelpack, nämlich als CD und als DSVD auf den Markt. Einen neuen sehenswerten Ring lieferte auch die Met ab – in glänzender Geschenkverpackung bei der Deutschen Grammophon. Wie bei den meisten Neuerscheinungen kommen die Sänger auch hier an Grenzen – mit einer Ausnahme. Die heißt Jonas Kaufmann, der mit seinem Siegmund den Legenden der Vergangenheit das Wasser reichen kann. Warum sich Kaufmann wie zuvor schon René Kollo an den Wesendonck-Liedern bei Decca vergriff, bleibt sein Geheimnis. Nach dem Ring verlangt es auch Gergiev in Petersburg. Die einzelnen Teile werden auf seiner Hausmarke Mariinski publiziert. Mit der Götterdämmerung vollendete Janowski in Berlin den konzertanten Zyklus der Hauptwerke. Konzertant, weil er sich damit bewusst von jenem Regiestil absetzen will, der aus Wagneropern Gegenwartstücke in Gegenwartsausstattung macht. Das war gut gemeint, die bei Pentatone veröffentlichten Mitschnitte offenbaren aber auch herbe Defizite. Wagner will eben nicht nur dirigiert, er will auch gesungen sein! Vom Wiener Live-Ring unter Thielemann redet schon jetzt niemand mehr. Nein, die Labels haben sich nicht überschlagen. Etliche raumgreifende und hübsch ausstaffierte Editionen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass reichlich alter Wein in neuen Schläuchen gereicht wurde. Auf die Idee, das Gesamtwerk in all seinen Fassungen in einer Ausgabe zu versammeln, kommt natürlich niemand in Wagners Vaterland.

Das DVD-Label Morisel hat sich an Tony Palmers aufwändige Verfilmung von Wagners Leben mit Richard Burton in der Hauptrolle erinnert. Im Fernsehen gab es Wagner zur besten Sendezeit – meist auf Arte und 3Sat. Sogar der alte Stummfilm von 1913, der Episoden aus Wagners Leben erzählt, wurde ausgegraben und sorgsam restauriert. Regie führte Carl Froehlich, der unter den Nazis zum als Chef der Reichsfilmkammer aufgestiegen war. Die Begleitmusik stammt von dem in Deutschland lebenden Italiener Giuseppe Becce. Er sah Wagner verblüffend ähnlich, so dass er auch gleich noch die Hauptrolle übernahm. Die Wiederentdeckung dieses Streifens gehört für mich ohne Zweifel zu den interessantesten  Ereignissen dieses Jahres.

Alfred Pringheim. der kritische Wagnerjaner.

Alfred Pringsheim, der kritische Wagnerianer, als Gemälde auf dem Einband eines wichtigen Buches.

Regelrecht überschwemmt wurde der Buchmarkt mit neuen Titeln und Wiederauflagen. Richard Wagner und die Frauen von Hagen Kunze (Buchverlag für die Frau), Wagner mit den Augen seiner Hunde betrachtet von Kerstin Decker (Berenberg Verlag), Liebestod von Holger Noltze (Hoffmann und Campe), das dicke Wagner-Handbuch (Metzler), in dem man die werkgeschichtlichen Hintergründe des Ur-Holländer vergeblich sucht, die Wagner-Biographie von Martin Geck (Siedler Verlag), Genie und Wahn von Axel Brüggemann (Julius Beltz), Richard Wagner und seine Festspiele von Sven Friedrich (Henschel Verlag). Gleich zwei Bücher – eines von Eva Rieger (Pieper Verlag), das andere von Eva Weissweiler (Pantheon) – widmen sich der aufmüpfigen Wagnerenkelin Friedelind, die Bayreuth im Dritten Reich demonstrativ den Rücken gekehrt hatte.

Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Meine Sympathie gehört einer eher unscheinbaren Broschur, deren Inhalt die FAZ zu Recht als Sensationsfund im Wagnerjahr gepriesen hatte. Es handelt sich um die bei Königshaus & Neumann erschienenen Dokumentation Alfred Pringsheim, der kritische Wagnerianer. Pringsheim war nicht nur der Schwiegervater von Thomas Mann. Er war Universitätsprofessor, Mathematiker, Kunstsammler, musikalisch überdurchschnittlich begabt, Jude. In seinem großbürgerlichen Stadtpalais in München ging die geistige Elite seiner Zeit ein und aus. Pringsheim gehörte zu den Förderern  der ersten Bayreuther Festspiele, wohnte den Proben unter Leitung von Wagner persönlich bei, war Gast in Wahnfried. In Bayreuth hat er auch ein Tagebuch verfasst, das erst jetzt wieder entdeckt wurde. Es bringt uns Wagner näher als manche ausladende Lebensbeschreibung. Denn Pringsheim war ein glänzender Beobachter und Stilist. Parallel dazu hat Sony eine CD mit äußerst feinsinnigen Klavier-Transkriptionen von Pringsheim produziert, die in Bayreuth entstanden sind. Noch ein Buch, das ich für eine der wichtigsten Neuerscheinungen halte, darf nicht unerwähnt bleiben: Richard Wagner in der DDR – Versuch einer Bilanz von Werner P. Seiferth, erschienen im Sax Verlag.

Das neue Wagner-Denkmal in Leipzig.

Das neue Wagner-Denkmal in der Geburtsstadt Leipzig. Foto: Hartmut Winter

Erfreulich ist, dass sich die Geburtsstadt Leipzig noch stärker ihres großen Sohnes annehmen will. Es gibt Ausstellungen. Das Opernhaus, 1960 mit den Meistersingern eröffnet, hat auch Frühwerke im Programm. Wagnerpflege soll ein Schwerpunkt bleiben. Sogar ein neues Denkmal wurde auf dem Sockel von Max Klinger gesetzt, der dafür seit vielen Jahrzehnten reserviert war. Damit fand eine alte Planung ein glückliches Ende. Dieses Denkmal von Stephan Balkenhol befindet sich in unmittelbarer Nähe des einstigen Geburtshauses, das nicht mehr existiert. Im grellen Gegensatz dazu lässt die deutsche Hauptstadt Berlin, die sich selbst gern Opernhaustadt nennt, ihr großes Wagnerdenkmal im Tiergarten, dessen Einweihung 1903 sogar auf einem Monumentalgemälde von Anton von Werner festgehalten ist, demonstrativ verfallen. In seinem Jubiläumsjahr thront der Meister mit abgeschlagener Nase und halben Fingern auf dem Sockel. Als Berliner und Wagnerfreund schäme ich mich dafür.

Eine persönliche Rückschau auf das Wagnerjahr ist nicht auf Vollständigkeit der Ereignisse aus. Sind wir Wagner näher gekommen? Vielleicht. Etwas bleibt immer. Ein starker Eindruck im Theater, Ärger über hinausgeschmissenes Geld für eine dürftige Aufführung, die Freude an einer CD, ein paar neue Bücher im Regal oder eben die Wut beim Anblick eines verrotteten Denkmals. Immer wenn eine Drei am Ende einer Jahreszahl auftaucht, hat Wagner Geburtstag oder Todestag. Nach dem Jubiläum ist vor dem Jubiläum. Doch Wagner braucht derlei Werbung eigentlich nicht. Er ist gesetzt. In diesem Sinne bin ich mir mit Klaus Zehelein doch noch einig geworden.

Und war da nicht doch noch etwas 2013? Ja, Verdis 200. Geburtstag. Der ist aber nicht mein Thema. Was noch? Johann Simon Mayr, der italienische Komponist aus Deutschland – durch und durch Europäer wie Wagner und Verdi. Der hätte 2013 zu seinem 250. Geburtstag mehr Aufmerksamkeit verdient. Wie mahnt Sachs am Schluss der Meistersinger? „Verachtet mir die Meister nicht!“ Es ist mir nicht peinlich, das abgedroschene Zitat an den Schluss zu stellen. Hier ist es angebracht. Schon wegen Mayr.

Denkmale neu

Das Wagner-Denkmal im Berliner Tiergarten bei der Einweihung 1903 auf einem monumentalen Gemälde von Anton von Werner, rechts der heutige beklagenswerte Zustand. Nase und Finger sind abgeschlagen.