Es geht sehr stürmisch zu

Rokoko heißt das aktuelle Album von Max Emanuel Cencic, das er ganz der Musik von Johann Adolf Hasse widmet und dabei von der Armonia Atenea unter George Petrou begleitet wird. Nicht weniger als sieben Weltersteinspielungen finden sich unter den elf Opernarien des Programms – allein das spricht für diese Neuveröffentlichung. Und es ist die Stimme des Countertenors, die man hier in einem deutlich veränderten Klang hört – dunkel und männlich-sonor in der Mittellage, weich und schmeichelnd wie bisher noch auf keinem Recital. Nur die Höhe hat den bekannt hysterisch-exaltierten Ton beibehalten, was besonders den zwielichtigen Helden gut ansteht. Es sind die vielen Farben und Ausdrucksfacetten des Sängers, die seine Interpretationen so spannend und besonders machen.

Die Auswahl beginnt mit der Arie des Misaele, „Notte amica“, aus Il cantico de’ tre fanciulli, vom Orchester mit zauberischen Klängen eingeleitet und vom Sänger mit schmeichelndem Ton angestimmt. Sogleich fallen das gerundete Zentrum der Stimme und deren gewachsene Substanz in der Tiefe auf. In den schnellen Koloraturpassagen des B-Teils bekommt die Stimme einen spröden Beiklang. Mit einer furiosen Bläsereinleitung beginnt „Cadrò ma qual si mira“ aus der gleichnamigen Oper – eine veritable aria di bravura mit schnellen Läufen und staccati, welche den tobenden Sturm widerspiegelt. Ein schmerzlich-getragenes Stück ist die Arie des Titelhelden „La sorte mia tiranna“ aus Siroe re di Persia, das Cencic mit berührendem Klageton vorträgt. Im kontrastierenden Mittelteil hört man aufgewühlte Koloraturen, die den Ausnahmezustand der Figur plastisch schildern. Aus Hasses Titus-Oper (Tito Vespasiano) stammt die Arie des Sesto, „Opprimete i contumaci“, in welcher der dramatische Konflikt wiederum mit den Mitteln der Bravour eindrucksvoll dargestellt wird. Das trifft auch auf die Arie der Aminta, „Siam navi all’onde algenti“, aus L’Olimpiade zu, die das im Barock beliebte Bild eines Schiffes auf stürmischem Meer verwendet. Der Sänger imponiert hier mit besonders dramatischem Furor. Eine lyrisch-wiegendes Stück ist die Arie des Plistene, „Ma rendi pur contento“, aus Ipermestra, vom Interpreten mit lieblich-kosendem Ton geboten. Zwei Arien des Orazio stammen aus Il trionfo di Clelia, erstere („De’ fulgori di Giove“) mit heroischem Pathos und stupender Virtuosität, die zweite („Dei di Roma“) von versöhnlichem Duktus und sehr klangvoll-sanft gesungen. Von erregtem Ausdruck erfüllt ist Euristenes „Se un tenero affetto“ aus La spartana generosa, das durch den Affekt betonten Vortrag imponiert. Eine weitere weibliche Rolle in diesem Repertoire, wie sie die Kastraten häufig gesungen haben, ist die Tigrane aus der gleichnamigen Oper. Deren Arie „Solca il mar“ benutzt wiederum die Metapher eines Schiffes in gefährlichen Meereswellen, die durch aufgewühlte Koloraturen geschildert werden. Den Schlusspunkt setzt Cencic mit einer weiteren Sesto-Arie („Vo disperato a morte“), in der er sowohl seine hohe Gesangskunst als auch die starke gestalterische Expressivität beeindruckend demonstrieren kann. In der dramatischen Raserei und den gleich existentiellen Schreien herausgeschleuderten Koloraturen und Spitzentönen dürfte diese Nummer zweifellos der Höhepunkt der Platte sein.

Zwischen die Sammlung der Vokalnummern eingeschoben ist das Mandolinkonzert in G-Dur op. 3, Nr. 11 mit den üblichen drei Sätzen und der Reihenfolge schnell/langsam/schnell. Hier können das Ensemble und der Solist Theodoros Kitsos mit delikatem Musizieren gefallen. Nach der erfolgreichen Einspielung von Händels Alessandro mit Cencic in der Titelrolle hat sich das Orchester unter seinem Dirigenten einmal mehr als stilistisch perfekter und differenziert begleitender Klangkörper bewährt. Das Cover der Decca-CD (478 6418) präsentiert den Sänger im Habitus eines Rock-Stars mit geöffnetem Hemd, reichlich Kettenschmuck und einer modischen Haartolle. Der Klassikfreund sollte sich von diesem seltsamen Outfit nicht irritieren lassen, denn die Platte ist wirklich ein Treffer.

Mineccia (Alto arias)Und offenbar liegt eine solche Gestaltung im derzeitigen Trend, denn auch die neue CD des Italieners Filippo Mineccia bei Pan Classics (PC 10297 im Vertrieb von note 1 music) mit dem Titel Alto Arias würde man eher ins Pop-Regal einordnen. Sie zeigt den Sänger Zähne fletschend mit kurz rasiertem Schädel und offenem schwarzem Military-Jackett wie einen Skinhead, was einen seriösen Musikliebhaber eigentlich abstoßen dürfte. Und die Stimme gleicht diesen optischen Vorbehalt nicht aus, sie klingt oft unangenehm krähend und schneidend in der Höhe. Einzig das Programm, 14 Arien aus Opern und Oratorien sowie einer Serenata von Leonardo Vinci, die der Komponist ausnahmslos für die Altstimme schrieb, ist bei dieser Ausgabe von Interesse. Und auch das begleitende Ensemble, Stile Galante unter Stefano Aresi, erweist sich als versierter und inspirierender Partner für den Solisten. Der italienische Komponist und einer der größten Konkurrenten von Nicola Porpora ist seit der sensationellen Veröffentlichung seines Artaserse bei Virgin mit nicht weniger als fünf Altisten/Sopranisten, an die hinsichtlich der gesanglichen Virtuosität horrende Anforderungen gestellt werden, wieder aktuell im Gespräch. Auch bei dieser Auswahl, die mit der Arie „Bella pace“ aus der Oper Gismondo re di Polonia beginnt, ist solch exorbitante Gesangskunst unabdingbar, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.

Bei Mineccia ist zuweilen die Mühe allzu hörbar; lange Tongirlanden bringen ihn in Atemnot, auch stören der larmoyante Klang und knapp ertrotzte hohe Noten. Die getragene Arie der Maria Magdalena „Sotto il peso“  aus dem Oratorio di Maria dolorata gelingt dem Sänger dagegen eindrucksvoll, weil er die Stimme hier ganz zurücknimmt und schweben lässt. Aus einem weiteren geistlichen Werk, dem Oratorio per la Vergine del Rosario, stammen „Ai lampi del tuo lume“ , wo Mineccia sich mit der strengstimmigen Sopranistin Francesca Cassinari zum Duett vereint, sowie das asketische, nur von wenigen Streichern begleitete „Chi mi priega“, das der Solist mit tröstlichem Ton anstimmt. Zumeist in bequemer Mittellage bewegt sich die Arie „Nella foresta“ aus der Oper Medo, was dem Sänger entgegenkommt.

Nur in den wenigen Höhenausflügen stößt er akut an Grenzen. Aus demselben Werk erklingen noch „Vengo a voi“  (mit weinerlichem Klang und Problemen bei der Ausformung der Tongebilde) und „Taci, o di morte“, das vom Orchester sehr atmosphärisch mit getragenen Akkorden eingeleitet wird, das der Solist mit einem schwebenden „Taci“ eröffnet und auch danach Passagen von sanftem Wohllaut hören lässt. In einer Arie aus Ernelinda, „Se soffia irato il vento“ , gefällt der Altus mit flexibler Tongebung, wie auch in „Alma grande“  und „Ti calpesto“ aus Astianatte. Im koketten  „Non meno risplende“ aus La contesa de’ Numi verstört erneut ein verzerrter Klang in der Stimme. „Aprirti il seno“ ist ein schmerzlich-stockender Auszug aus Eraclea, aus der noch die Arie „In questa mia tempesta“ zu hören ist, die das Programm beendet – ein stürmisches Stück, wiederum mit der Metapher eines Seesturmes, das der Sänger vehement angeht und damit einen günstigen Schlusspunkt zu setzen scheint, wären da nicht die messerscharfen Spitzentöne. Vinci beeinflusste mit seinem Schaffen manch jüngeren Komponisten, so auch Hasse, womit sich ein direkter Zusammenhang zwischen den beiden CD-Veröffentlichungen herstellt.

Bernd Hoppe