Aus Defiziten wird Ausdruck

Die Aufmachung ist verstörend. Es hat den Anschein, als würde Julius Patzak als Gottvater aus seinem Himmel auf die Erde herabblicken. Erst wenn das Booklet entfaltet wird und die Rückseite betrachtend hinzu kommt, tritt in einem Ausschnitt das Gemälde „Der Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich hervor, in das das Konterfei des Sängers hineinmontiert wurde. Es drängt sich einem nicht auf, von diesem berühmten Bild auf Franz Schuberts Die schöne Müllerin und Winterreise zu schließen. Offenbar soll für die Einsamkeit in beiden Liederzyklen ein bildhafter Ausdruck gefunden werden. Etwas anderes fällt mir nicht ein. Doch diese Lieder sind für mich das glatte Gegenteil der romantischen Monumentalität des Gemäldes. Sie sind intim und in sich gekehrt.

Das ist auch der Ansatz von Patzak, seine schmale Stimme lässt gar keine andere Wahl. Seine Müllerin war über Jahre die Reverenz. Ich hatte die Platte schon als junger Mensch in meiner bescheidenen Sammlung, weil alle sie hatten, fand zunächst aber gar keinen Zugang. Ich hielt die Interpretation für eigenbrötlerisch und altmodisch. Und zu sperrig. Meine Offenbarung in frühen Jahren war der junge Fritz Wunderlich. Er schien mit seiner Stimme die ganze Welt umarmen zu wollen. Seine gute Laune gewann selbst diesen traurigen Liedern eine ganz neue Seite ab. In der Jugend, wo Fröhlichkeit und Traurigkeit oft eng beieinander sind, kommt das gut an. Patzak ist intellektueller und damit anstrengender, er fordert beim Zuhörer mehr Geduld und Ausdauer ein. Nicht, dass er die Lieder seziert. Mitunter ist er aber nahe dran. Er lotet jeden Buchstaben aus, singt betont auf die Vokale hin, um dadurch die Konsonanten zum Klingen zu bringen. Es schwingt, wenn er ein N singt oder ein M oder ein G. Das muss nicht jedermanns Sache sein, große Kunst im Vortrag ist es allemal. Auch nach so langer Zeit, denn die berühmte Aufnahme mit Michael Raucheisen am Klavier entstand immerhin 1943 beim Reichsrundfunk in Berlin.

Im Laufe der Jahre waren davon etliche LP-Ausgaben im Umlauf, auch das DDR-Label Eterna hatte diese Müllerin im Katalog. Leider ist die Überspielung auf CD im Rahmen der großen Raucheisen-Edition bei Membran total verunglückt. Patzak ist dort nicht wiederzuerkennen, er klingt dumpf, viel zu dunkel und schleppend. Deshalb ist die Neuauflage bei Preiser Records willkommen, weil sie so wunderbar transparent ist (PR93487). Preiser hat sich für eine Kopplung mit der Winterreise entschieden, die 1964, also gut zwanzig Jahre später, in Wien entstand. Um diese Zeit hatte Patzak seine aktive Karriere bereits beendet. Der Verschleiß im Vergleich mit der früheren Produktion ist nicht zu überhören, wenngleich das Timbre so unverwechselbar ist wie eh.

Mich beeindruckt die Ehrlichkeit des Sängers. Er versucht gar nicht erst zu tricksen, er bekennt sich zu seinen Defiziten und setzt sie offensiv als Ausdrucksmittel ein. Geblieben ist die Hinwendung zum Detail, der genaue, sinnstiftende Umgang mit der Sprache. Wenn man – um nur ein Beispiel zu nennen – nicht wüsste, was ein Totenacker ist, Patzak kann das aus der Mode gekommene Wort allein durch Ausdruck erklären. Begleitet wird er von Jörg Demus, der den Jahren nach der Sohn hätte sein könnte. Sein Spiel ist sensibel, immer an den beschränkten Möglichkeiten des vortragenden Sängers orientiert.  Für mich ist die Zusammenstellung dieses CD-Doppelalbums allein wegen des Zeitraums, den die Aufnahmen beider Zyklen umfassen, gut gewählt.

Rüdiger Winter