Ein Grieche aus Perm krempelt Mozart um

Wahre Wunderdinge waren im Vorfeld dieser Veröffentlichung bei Sony (LC 06868.88883709262) zu vernehmen. Ein junger griechischer Dirigent, Chef des Opernhauses von Perm, im tiefsten Russland nahe dem Ural gelegen, wolle alle da-Ponte-Opern Mozarts mit seinem Ensemble Musicaeterna einspielen. Die erste Aufnahme, Le Nozze di Figaro, liegt nun vor, und tatsächlich, von einigen Wundern ist zu berichten. Vom ersten Takt an versteht es Teodor Currentzis (1972 in Athen geboren), mit fast allem zu brechen, was sich an interpretatorischer Routine bei dieser meistgespielten aller Opern eingeschlichen und verfestigt hat. Es gelingt ihm sogar, den Hörer mit den – zumeist als notwendigem Übel erduldeten – Rezitativen zu versöhnen: er ersetzt das zumeist doch eher anämisch klingende Cembalo durch ein Hammerklavier (ausgezeichnet: Maxim Emelyanychev). Und plötzlich ist da ein runder, wärmerer Klang, der dem Ohr schmeichelt. In der Wahl seiner Tempi ist er ebenso unkonventionell: die Aufnahme enthält die schnellsten, aber auch langsamsten Passagen, die ich jemals bei einem Figaro gehört habe.

Currentzis folgt da seiner ganz eigenen Dramaturgie, und das Ergebnis gibt ihm Recht. Mit seinem Musicaeterna-Ensemble stehen ihm aber auch ausgezeichnete Instrumentalisten zur Verfügung. Wie das schmeichelt, wie das schnurrt! Die nächste Überraschung: Er kehrt zu einer fast vergessenen, lange als verpönt geltenden Praxis der Appoggiaturen und reicher Verzierungen bei den Arien zurück. Jede einzelne „Nummer“ klingt anders als gewohnt, frischer, spannender. Das so genannte Briefduett beispielsweise ist kaum wieder zu erkennen, und das im positiven Sinn. Es sind diese erfrischenden, innovativen Ansätze, die diese Aufnahme spannend und sympathisch machen. Aber, auch das ferne Perm ist keine Insel der Seligen, Mozart will und muss gesungen werden! Currentzis verordnet seinen Sängern einen auffallend vibrato-armen Gesangsstil. Das hat leider zur Folge, dass vieles recht steif und kurz klingt, wo es doch die Freiräume der Auszierungen zu nutzen gälte.

Um das Kind beim Namen zu nennen: Das Sängerensemble ist insgesamt schwach, eine so ausgetüftelte, präzise Interpretation verlangt auch nach adäquaten Stimmen. Am ehesten vermag mich noch die Contessa der zwischenzeitlich als schriller Kasper der Barockszene verschrieenen Simone Kermes zu überzeugen, die hier auf alle Mätzchen verzichtet und so etwas wie einen Charakter zu formen versteht. Im Weg steht ihr dabei eine gewisse Steifheit der Stimme, die aber vielleicht vom Dirigenten so gewollt war. Die Schwachstelle der Aufnahme ist eindeutig der Figaro des Christian Van Horn. Da ist einfach zu wenig Substanz, zu wenig Gestaltungswille, immerhin handelt es sich um die Titelfigur. Der Graf des Andrej Bondarenko gefällt da schon etwas besser, aber auch er ist für diesen Macho von Almaviva ein wenig zu brav und unerotisch. Wenig profilieren können sich auch Mary-Ellen Nesi als Cherubin, der es an Wärme im Ausdruck, und Fanie Antonelou als Susanna, der es an Farbe und Volumen fehlt. Die vielleicht zentrale Stelle, der magische Moment von Susannas „Giunse alfin il momento“ verschenken Sopran wie Dirigent gleichermaßen. Schade! Die Comprimari sind durchaus anständig besetzt, klingen den Hauptpersonen aber fatalerweise zum Verwechseln ähnlich.

Ein Wort zum Booklet: Die etwas vollmundig als De-Luxe-Edition bezeichnete Aufnahme kommt zwar tatsächlich in Form eines dicken Buches daher, enthält aber außer einem interessanten Interview mit dem Dirigenten und dem viersprachigen Libretto nichts. Keine Fotos der Sänger, keine Biographien, kein Foto des schönen klassizistischen Theaters von Perm, in dem die Einspielung entstand. Das ist für eine Vollpreis-Aufnahme bei einem großen Label schon etwas kümmerlich. Diese Einschränkungen schmälern natürlich den Gesamteindruck, machen aber doch sehr neugierig auf die bereits eingespielte Così fan tutte und den geplanten Don Giovanni. Vom Dirigat her eine deutliche Bereicherung der Figaro-Diskographie!

Peter Sommeregger