Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Rollende Augen, finstere Blicke

Die bereits seit Jahren, erst als VHS-Video, später als DVD kursierende Macbeth-Aufführung von 1972 aus Glyndebourne ist kürzlich bei Arthaus (102316) neu wieder herausgekommen. Auf den ersten Blick verwundert das, hat eine über vierzig Jahre alte Opern-Inszenierung heute doch schon fast steinzeitlichen Charakter. Alles, wirklich alles hat sich inzwischen in der Opernszene verändert. Eine so schlichte Optik, wie sie die minimalistische Inszenierung von Michael Hadjimischev zeigt, wäre heute undenkbar. Und dann tragen die Protagonisten auch noch  „historische“ Kostüme – das geht ja überhaupt nicht mehr, wird allenthalben argumentiert!

Mag sein, dass der unselige Zeitgeist heute sein  Recht einfordert, und eine neue (Opern-) Theater-Ästhetik sich durchgesetzt hat. Was sich aber nicht verändert hat, sind die Anforderungen an die Sänger dieser eher sperrigen Verdi-Oper. Für Macbeth und seine Lady bedarf es großer Sängerpersönlichkeiten, und mit solchen kann die Produktion durchaus aufwarten. Kostas Paskalis bringt für sein Macbeth-Debüt genau die richtige, etwas spröde Bass-Bariton-Stimme mit. Die eher bösartigen Zeitgenossen waren von je die Stärke dieses leider längst verstorbenen Sängers. Sicher, hier wird mit den Augen gerollt und finster geblickt, was das Zeug hält, aber was sonst erwartet man von einem Macbeth? Paskalis überzeugt sängerisch, und das sollte eigentlich auch heute noch das Kriterium sein. Glanzpunkt der Aufführung ist freilich die ebenfalls debütierende Josephine Barstow als Lady. Zumeist in leuchtendem Rot gewandet, wird sie vom Augenblick ihres ersten Auftritts an das Zentrum der Aufführung. So will man das gesungen hören – und sehen. James Morris, eher selten im italienischen Fach anzutreffen, liefert einen  balsamisch singenden Banquo ab, Keith Erwen ist ein rollendeckend lyrischer Macduff.

Chor und Orchester der Glyndebourner Festspiele bewegen sich auf bekannt hohem Niveau, nur mit dem Dirigat des hoch verehrten John Pritchard will man nicht so ganz froh werden. Da wird vielfach ein bisschen schwerfällig musiziert. Die Stärken Pritchards scheinen doch eher bei Mozart zu liegen. Insgesamt aber eine sinnvolle Wiederveröffentlichung, sei es auch nur für ein Museum der Oper.

Peter Sommeregger

 

Der unbekannte Richard Strauss

Das Richard-Strauss-Jahr 2014 wirft seine Schatten voraus: Erfreulicherweise werden anlässlich des 150. Geburtstags des Komponisten auch Lücken im bisher eingespielten Repertoire geschlossen. Als Komponist von Chorwerken ist Strauss einer breiten Öffentlichkeit nicht unbedingt bekannt. Umso überraschender und erfreulicher ist das Erscheinen der vorliegenden CD bei Coviello Classics (COV 41213). Insgesamt acht a-capella-Chöre sind zu hören, und von Nummer zu Nummer steigert sich der Hörgenuss. Der große Instrumentalist Strauss erweist sich hier auch als ein Meister kompliziertester Chorsätze, zaubert ein vollen, warmen Glanz aus den Kehlen der Damen und Herren des Rundfunkchores Berlin. Michael Gläser ist der Dirigent der Aufnahmen, die einzelnen Werke sind in unterschiedlichen Phasen von Strauss’ Schaffen entstanden, beginnend in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, bis in die späten 1930er-Jahre.

Strauss - ChorwerkeDie meisten Texte stammen von Friedrich Rückert, einer von Schiller. Das vielleicht interessanteste Stück der CD ist An den Baum Daphne – eine Art Epilog zu der Oper Daphne. Strauss verwendet hier textliches und musikalisches Material aus der Oper, der Chor entstand allerdings erst Jahre später und ist nicht für eine gleichzeitige Aufführung gedacht. Das ungewöhnlich umfangreiche und höchst kompetent von Boris Kehrmann zusammengestellte Booklet gibt dem Hörer eine Fülle an wertvollen Informationen, die zum besseren Verständnis der Werke nicht unerheblich beitragen. Alle Liebhaber der Strauss’schen Opern sei diese CD wärmstens empfohlen, denn es sind bisher weitgehend unbekannte Facetten des  Komponisten zu entdecken. Für mich persönlich die wichtigste und interessanteste Strauss-CD seit langem!

Als Strauss 1913/14 das Ballett Josephslegende nach einem Sujet von Hofmannsthal für die Pariser Oper komponierte, war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Mit Salome, Elektra und Rosenkavalier hatte er Welterfolge erringen können, die bis heute andauern. Das Ballett wurde im Mai 1914 an der Grand Opéra in Paris uraufgeführt, nicht unumstritten, aber doch ein Erfolg. Niemand konnte ahnen, dass durch den wenige Wochen später beginnenden Ersten Weltkrieg das alte Europa völlig aus den Fugen geraten würde. Für Strauss bedeutete es erst einmal, dass sein jüngstes Werk international kaum nachgespielt wurde. Bis heute ist Josephslegende eines der am wenigsten bekannten Strauss-Werke. Neeme Järvi unternimmt nun mit seinem Royal Scottish National Orchestra den Versuch einer Ehrenrettung, zumindest auf Tonträgern (Chandos CHSA 5120). Das blendend disponierte Orchester und sein charismatischer Dirigent bieten alle erdenklichen Kräfte auf, um dem Werk zu einer optimalen Wiedergabe zu verhelfen, aber gerade die hohe Qualität der Einspielung macht vielleicht endgültig klar, dass man es mit einem völlig uninspirierten Stück zu tun hat.

josephslegende (Heger)Das Sujet böte genügend Gelegenheiten, der Salome ähnlich erotisches Irrlichtern und Schwüle zu entwickeln, aber trotz aller flirrenden Streicherfiguren und der insgesamt raffinierten Instrumentierung breitet sich Langeweile aus. Strauss gelingt es nicht, während des knapp einstündigen Werkes auch nur einen markanten musikalischen Einfall zu präsentieren. Bedauerlich, und erstaunlich für einen Komponisten, dem die Einfälle vorher und nachher nur so zuflogen. Zwei Füller machen die CD interessant: die (instrumentale) Liebesszene aus Feuersnot und als Rarität das op.1 des zwölfjährigen Strauss, seinen dem bierbrauenden Onkel gewidmeten Festmarsch. Zumindest als Schließung einer Repertoire-Lücke ist die CD durchaus empfehlenswert.

Peter Sommeregger

Die Josephslegende ist schließlich auch noch in einer Einspielung von 1952 bei Acanta (233593) herausgekommen. Robert Heger dirigiert das Orchester der Bayerischen Staatsoper München. Aber auch aus der historische Distanz kann sich das Ballett nicht zu einem Meisterwerk emporschwingen. Während Järvi mit orchestraler Pracht um die Eigenständigkeit des Werkes bemüht ist, klingt es bei Heger ein bisschen wie ein aus mehreren Opern zusammengestricktes Potpourri. Und Die Frau ohne Schatten, die erst fünf Jahre später das Licht der Welt erblicken wird, kündigt sich bereits hörbar hier und da an.

 R.W.

Aus Frau Fluth wird Mrs. Ford

Der anhaltende Trend zum absoluten Primat der so genannten Regie auch im Musiktheater hat über die Jahre auch nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des Repertoires genommen. Es gibt tatsächlich Opern, deren Handlung in einer ganz bestimmten Zeit abläuft, die nur in einem ganz bestimmten Ambiente Sinn machen und verständlich sind. Naturgemäß werden sie von den heute dominierenden Regisseuren nicht geliebt, deren Verständnis von Regie sich in einem mehr oder minder bizarren Bühnenbild, und Protagonisten in wahlweise Feinripp-Unterwäsche oder ähnlich unpassender Kleidung erschöpft. Eine Spezies der Oper ist so akut vom Aussterben bedroht: die deutsche Spieloper. Kein Opernhaus, groß oder klein, konnte in der Vergangenheit ohne Zar und Zimmermann, Martha oder eben die Lustigen Weiber von Windsor auskommen. Vorbei!

In Zeiten, in denen der Regisseur das Werk seiner Wahl bestimmt, haben sie keine Chance. Einmal mehr sind es die Tonträger, die jene Werke noch am Leben erhalten und sie für die jüngere Generation bewahren. Aber auch hier scheint Eile geboten, die jüngsten Aufnahmen der erwähnten Werke sind schon Jahrzehnte alte historische Aufnahmen. Brilliant Classics (94702) hat nun die ursprünglich für die Deutsche Grammophon 1976 in Berlin entstandene Aufnahme wieder aufgelegt. Das ist im Prinzip erfreulich, aber auch  dem freundlich geneigten Ohr kann nicht entgehen, dass die Einspielung trotz der hochkarätigen Besetzung Schwächen hat. Diese liegen beispielsweise in der etwas unglücklichen Auswahl der Stimmen. Sowohl Kurt Moll und Bernd Weikl als auch Edith Mathis und Helen Donath klingen vom Timbre her zu ähnlich, um jederzeit unterscheidbar zu sein. Auch die Idee, an Stelle langwieriger Dialoge einen Erzähler einzuführen, verstärkt den insgesamt etwas sterilen Eindruck der Aufnahme. Der Dirigent Bernhard Klee, vielleicht nicht zuletzt seiner Ehe mit der damals hoch gerühmten Edith Mathis wegen zu einem lukrativen Plattenvertrag gekommen, meistert seine Aufgabe tadellos, aber auch nicht mehr.

Kurt Moll ist erwartungsgemäß imposant im Einsatz seiner damals schier unerschöpflichen stimmlichen Mittel. Kaum zu glauben, dass man diesen Sänger auch noch heute vereinzelt auf der Bühne erleben kann. Hanna Schwarz, Edith Mathis und Helen Donath lassen vokal kaum Wünsche offen, wenn man von der bereits erwähnten Ähnlichkeit der Stimmen letzterer einmal absieht. Ein wenig gewöhnungsbedürftig ist der Fenton Peter Schreiers, der seines näselnden Tons wegen nicht so recht begeistern kann. Seltsamerweise wirkt er überhaupt nicht jugendlich, eher wie ein ältlicher Bewerber um Ännchens Hand. Einen richtigen Bock haben die Redakteure des knappen Booklets geschossen: Die Besetzungsliste gibt die Namen der handelnden Figuren auf Englisch, aus Frau Fluth wird so Mrs. Ford, usw. Das verwirrt unnötig und ist vor allem nicht korrekt. Das so etwas erst Rezensenten auffällt, muss bedenklich stimmen.

Peter Sommeregger

 

81Pahq4gSFL._SL1500_Die obige Wiederauflage der Lustigen Weiber ist eine gute Gelegenheit, auf eine weitere aus dem Opern-Programm der Brilliant Classics aufmerksam zu machen – die musikalisch bedeutende Euryanthe von Weber unter Marek Janowsky, einst Flagschiff der EMI und nun hier. Wenn man sagt „musikalisch bedeutend“ dann gilt das für die instrumentale und chorische Seite, denn Janowski zaubert hier einen – von ihm gerne geleugneten – deutschen Klang fast Furtwänglerscher Farbe, dunkel und geheimnisvoll, Cello-/Bratschen-betont im repertoire-bewussten Klangkörper der Staatskapelle Dresden, die auch die Kooperation der EMI mit der DDR-Firma Eterna belegt, bei deren beider Firmen diese Aufnahme zeitgleich erschien, ein Ost-West-Projekt des sich erwärmenden Kalten Krieges (1974). Janowski schafft Klangwunder und bietet einen farbenreichen Weber mit herrlichen Aufschwüngen und durchaus abgründigen Momenten.

Leider wird nicht wirklich überzeugend gesungen, denn mit der damaligen Starsängerin Jessye Norman hat man als Titelträgerin eine monströse Verkörperung vor sich, sprachlich überkorrekt und leblos und stimmlich doch unlebendig-allürig, unangenehm hollywoodian rollensprengend. Und auch Nicolai Gedda ist kein strahlender romantischer Held (mehr?), zumal damals seine Stimme schon sehr ausgezehrt und irgendwie falsch besetzt klingt. Das fiese Paar sind die Gewinner, denn Rita Hunter schafft sich gellend durch die gemeine Eglantine, mit der möchte man sich nicht anlegen, und ihre Koloraturen fliegen wie Messer durch die Luft. Tom Kraus macht sonor seinem Zorn Luft und beeindruckt wieder einmal durch die Kunst seines schön gefärbten Bassbaritons. Siegfried Vogel gibt gewohnt Hochqualitatives als König, die kleinen Rollen sind mit Renate Kramer und Harald Neukirch ebenso fabelhaft besetzt wie sonst in anderen Partien bekannt. Der absolute Top-Chor des Rundfunks Leipzig steht unter Leitung von Hans Neumann – nie hat es einen besseren deutschsprachigen Chor gegeben, wage ich zu sagen – man versteht absolut jedes Wort wie auch in den herrlichen Aufnahmen des Elias und Paulus bei Philips, das war wirklich unglaubliche Chorkultur. Insofern sind die Nebenschauplätze dieser Aufnahme die eigentlich, das hohe Paar enttäuscht(e). Und leider blockiert diese Einspielung den Katalog für eine dringend notwendige neue (3 CD Brilliant Classics 94682).

Geerd Heinsen

 

Ein halber Meter Karajan

Der junge Karajan! Kaum ist das geschrieben, will es schon wieder in Frage gestellt werden. Für mich ist er niemals jung im herkömmlichen Sinne gewesen, übrigens auch äußerlich nicht. Es gibt dieses so wunderbare wie problematische Foto, das ihn 1941 mit der Sopranistin Germaine Lubin vor dem Bühneneingang der Pariser Oper zeigt. Große Teile Frankreichs, einschließlich Hauptstadt, waren seit einem Jahr von der deutschen Wehrmacht besetzt. Herbert von Karajan, gerade mal 33 Jahre alt, wirkt merkwürdig ältlich und verklemmt in Gesellschaft der um zwanzig Jahre älteren Sängerin, die für ihre Nähe zum nationalsozialistischen Feind bis an ihr Lebensende würde büßen müssen. Er war um diese Zeit bereits ein Star. 1938 gelang ihm nämlich aus dem Stand der Sprung nach oben mit einem auswendig dirigierten Tristan an der Berliner Staatsoper. Das „Wunder Karajan“, von dem damals ein Kritiker schrieb, war geboren.

Ich möchte vom frühen und vom späten Karajan reden. Dazwischen sehe ich die eigentliche  Meisterschaft mit den beiden ersten Gesamtaufnahmen der Beethoven-Sinfonien, einmal mit dem Philharmonia Orchestra (1951-1955) und dann bereits in breitem Stereo mit seinen Berliner Philharmonikern (1961-1962), deren Leitung er 1956 übernommen hatte.Der erste Zyklus findet sich in einer groß dimensionierten Edition, die das Label The Intense Media / Documents den Jahren 1938 bis 1960 dem Schaffen Herbert von Karajans gewidmet hat (600001). 117 CDs, in der großen Schachtel kleine Schachteln, gegliedert nach Komponisten. So ist die Übersicht gewahrt. Aufs Wesentlichste sind die Informationen beschränkt. Solisten, Orchester, Aufnahmejahr, live oder Studio. Knapp ein halber Meter wird dafür im Regal fällig. Zur Einführung gibt es einen guten, faktenreichen Text von Günter Raake, in Deutsch und in Englisch, versehen mit zwei Fotos – wahlweise gedruckt und auf CD-ROM. Das ist alles – und es ist genug. Wir wollen ja hören und nicht so viel lesen. Es ist schon genug geschrieben worden über Karajan. Wer besonders genau hinhört beim frühen Karajan, ist nicht selten regelrecht hingerissen. Mir geht es so. Der spätere wird – bei allem Respekt vor der Lebensleistung – gefälliger und kann auch schon mal als akustische Kulisse bei häuslichen Verrichtungen herhalten.

An den Aufnahmen der Sinfonien von Jean Sibelius wird das besonders stark deutlich. Karajan hat bekanntlich keinen kompletten Zyklus vorgelegt. Die 3. Sinfonie, die er nach eigenem Bekunden nicht verstanden haben soll, fehlt immer. Die Erste gibt es nur einmal, die Auswahl an sinfonischen Dichtungen ist begrenzt. Das vergessene Frühwerk Waldnymphe wäre in seiner Rauschhaftigkeit bei ihm bestens aufgehoben gewesen. Er kannte es nicht, es wurde erst on diesem Jahrtausend aus der Versenkung geholt. In der Edition finden sich die Sinfonien mit Ausnahme der ersten und dritten. Die populärste Zweite höre ich besonders gern, weil Karajan den Beginn und das Stück selbst dunkler nimmt als andere Dirigenten. Grüblerisch und nervös klingt es oft und depressiv, Brüche und Tempowechsel werden hier wie in den übrigen Sinfonien stärker betont, Steigerungen können bis an die Schmerzgrenze gehen. Eine aufregende und aufwühlende Musik, die sich der Moderne verweigert, mit ihrer Kraft und Ausdrucksstärke noch einmal die Tradition beschwört und doch auch ein großes Fenster in die Zukunft aufstößt. Sibelius fühlte sich von Karajan besonders gut verstanden. Er lebte noch, als die Einspielungen entstanden, das Lob des Meisters lässt sich gut nachvollziehen, denn der Dirigent trotzt damit auch dem vernichtenden Richtspruch von Theodor W. Adorno, dem mächtigen Philosophen und Sprecher des Fortschritts in der Kunst, der Sibelius in Bausch und Bogen als Folklore und Salonmusik verriss. Karajan tritt in diesen Aufnahmen den Gegenbeweis an, wofür ich ihm dankbar bin. Später nimmt er manches zurück, Sibelius wir gefälliger, doch nie so, dass Adorno am Ende doch noch Recht bekäme.

Die Edition vermittelt Entdeckerfreude und Strenge mit solchen Namen wie Bartók, Strawinsky, Hindemith, Debussy, Ravel. Andererseits ist die bis ins hohe Alter erhaltene Neigung zu leichtgewichtigen Stücken, die sich auch gut verkaufen, bereits vorhanden. Platten mit allseits beliebten Stücken machten den Namen Karajan auch einem Publikum bekannt, das die Geduld für eine Bruckner-Sinfonie nicht aufbringen kann. Walzer aus der Strauß-Dynastie, Waldteufel, Tanz der Stunden, die Ouvertüre zu Leichte Kavallerie von Suppé, die Intermezzi aus Cavalleria Rusticana, Pagliacci, Manon Lescaut und Notre Dame. Ungebrochen ist die Wirkung solcher Aufnahmen, ob nun noch in Mono oder schon in Stereo, auch deshalb, weil hier die gleiche Ernsthaftigkeit waltet, als handele es sich um den Hausgott Beethoven. Mich hat immer beeindruckt, dass Karajan da nicht unterschied. Der begnadete Operettendirigent kommt mit der Aufnahme seiner ersten Fledermaus mit Elisabeth Schwarzkopf, Rita Streich, Nicolai Gedda, Helmut Krebs und Erich Kunz zum Zuge, die 1955 für die EMI in London eingespielt wurde.

Wie nicht anders zu erwarten, ist die Edition eine Begegnung mit guten alten Bekannten. Es kann gar nicht anders sein, die Suche nach unbekannten Aufnahmen dürfte sich erschöpft haben. Neuigkeitswerte vermitteln jetzt derlei Editionen, weil sie – wie in unserem Falle – Schaffensperioden im Zusammenhang darstellen. Der günstige Preis erlaubt es, alte Schallplatten oder einzelne Titel durch die kompakte Ausgabe zu ersetzen oder einfach parallel in der Sammlung zu platzieren.  Die größten Brocken sind die Gesamteinspielungen oder Mitschnitt von Opern: Meistersinger, Siegfried und Tristan aus Bayreuth, Walküre aus der Scala, Hänsel und Gretel mit Schwarzkopf und Elisabeth Grümmer aus den legendären Abbey Road Studios. Dort wurden auch Rosenkavalier und Ariadne auf Naxos aufgenommen. Verdi ist mit Trovatore (Maria Callas/Giuseppe di Stefano), Aida (Carla Martinis/Lorenz Fehenberger), Don Carlo (Eugenio Fernandi/Sena Jurinac), Falstaff (Tito Gobbi/Elisabeth Schwarzkopf und Requiem (Antonietta Stella/Oralia Dominguez/Nicolai Gedda/Giuseppe Modesti) besonders stark vertreten. Die EMI-Butterfly und die Berliner Live-Lucia dokumentieren abermals die beglückende Zusammenarbeit mit der Callas. Mozart hat gemeinsam mit Joseph Haydn, der sich mit seiner 104. Sinfonie gegen die Übermacht verliert, eine eigene dicke Box, in der mit Figaro von 1950 und Così von 1954 – beide mit der Schwarzkopf als Gräfin bzw. Fiordiligi – zwei der gelungensten Karajan-Einspielungen ihren Platz haben. Hinzu kommt reichlich Sinfonisches.

Selbstverständlich sind auch andere Sinfoniker – Tschaikowski, Brahms (alle vier Sinfonien), Schubert, Schumann, Dvorák, Bruckner – durchweg mit Meisterwerken vertreten. Mit der h-Moll-Messe, wieder mit der Schwarzkopf, Marga Höffgen, dem jungen Gedda und Heinz Rehfuss, und Orfeo ed Euridice mit Giulietta Simionato und Jurinac aus Wien sind auch Bach und Glück präsent. Der frühe Karajan, das sind auch die ganz frühen Aufnahmen, die folgerichtig am Beginn der Edition stehen, die früheste ist eine Zauberflöten-Ouvertüre mit der Berliner Staatskapelle von 1938. Aus dem besetzten Amsterdam hat sich die Ouvertüre zum Freischütz mit dem Concertgebouw Orchestra von 1943 erhalten. Damals saß Anne Frank noch in ihrem Versteck in einem Hinterhaus in der Prinsengracht. Auch daran muss ich denken, wenn ich diese CD höre.

Rüdiger Winter

Darf es noch ein Monolog mehr sein?

Mit der Stimme von Hans Hotter habe ich nicht die geringsten Schwierigkeiten. Seine Defizite empfinde ich zugleich auch als Stärken. Ich kenne keinen anderen Sänger, bei dem ich dieses Phänomen auch so beobachten konnte. Als die Stimme noch ihren wuchtigen Kern besaß, also vor etwa 1950, ging das auch auf Kosten des Ausdrucksvermögens. Je mehr er an vokaler Substanz verlor, umso stärker trat die Ausformung der Partien hervor. Seine gestalterische Ausdauer ist ohne Beispiel – die großen Monologe des Wotan im zweiten Walküre-Aufzug selbst im Solti-Ring und in den diversen Mitschnitten vornehmlich aus Bayreuth, der Salzburger Sir Morosus, der besonders wortreiche Gurnemanz und der Kardinal Borromeo: Hotter baut jedweder Langeweile durch Genauigkeit und Spannungsbögen sowie durch scharfe Charakterisierung der jeweiligen Figuren vor. Es will schon etwas heißen, wenn man enttäuscht ist, dass die bedrohliche Strafpredigt des Kardinals gegenüber Palestrina schon zu Ende ist. Die braucht immerhin an die fünfundzwanzig Minuten, es hätte ruhig noch etwas mehr sein dürfen. Dem Wanderer im Siegfried mischt Hotter in der weitschweifigen Rätselszene, die sich im Opernhaus beim Publikum zur Prüfung auswachsen kann, sogar einen Schuss Ironie bei. Sie wird zum Kabinettstück, durch ihn zu einem Höhepunkt des langen Werkes. Hotter ist durch und durch Theatermensch, Künstler, der allen seinen Partien eine genaue Dimension gegeben hat.

Die ihm gewidmete Box das Labels The Intense Media/Documents (600052) macht die unterschiedlichsten Facetten des Bassbaritons deutlich. Mit den jeweils passenden Ausschnitten sind die genannten Partien enthalten. Alle zehn CDs sind zeitlich weit gefasst, die Aufnahmen reichen von 1942 (Almaviva und Jochanaan) bis 1960 (Hans Sachs mit Wahnmonolog). Eine Schwäche habe ich auch für Hotters alten Schigolch in Bergs Lulu, weil er seine eigenen Malaisen auf die Figur überträgt, aus der Not die Tugend macht. Unglaublich, wie er das hinbekommt. Das kann nur ein Sänger mit  diesen untrüglichem Instinkt für dramatische Momente. Schigolch ist in dieser Sammlung aber nicht vertreten. Dafür reichlichst Wagner, über die aufgeführten Rollen hinaus gehend, zudem noch viel mehr Strauss sowie Händel, Beethoven, Rossini, Verdi, Marschner. Hotter, obwohl gern auf Wagner festgelegt, ist sehr vielseitig gewesen.

Dem Liedgesang galt im Verlauf der langen Karriere ständige Aufmerksamkeit. Auf diesem Gebiet wird die CD-Auswahl Hotter nicht ganz gerecht. Schubert, der eine zentrale Rolle spielte, ist lediglich mit drei Liedern aus der Raucheisen-Edition präsent, die nicht zu den stärksten Kompositionen gehören. Tief angerührt bin ich immer noch von seiner Winterreise aus dem EMI-Studio mit Gerald Moore am Klavier. Es ist eine sehr individuelle Aufnahme, gesangstechnisch gesehen gibt es viele, die um Längen besser sind. Hotter aber ist einmalig. Da ist dieses dritte Lied „Gefror’ne Tränen“. Er lässt die eigene Stimme zu Eis werden. Hat man das je so gehört? Hier kommt seine Art des Singens auf eine sehr schlichte Weise zur Wirkung.

Bei Hans Hotter – jetzt sage ich das mal sehr salopp – pfeife ich darauf, ob dieser oder jener Ton exakt ist oder nicht, ob er kurzatmig ist oder mitunter singt, als habe er eine heiße Kartoffel im Mund. Was nützt mir Notentreue, wenn mich die Interpretation nicht erreicht? Er verkörpert genau das, was vielen Sängern der Gegenwart fehlt: Individualität. Er konnte auch gut über Gesang reden, wie diversen Interviews zu entnehmen ist, die gelegentlich im Fernsehen wiederholt werden. Ob er ein guter Lehrer war, kann ich nicht beurteilen. Ich habe da leichte Zweifel. An eine persönlichen Begegnung am Rande der Bayreuther Festspiele, da war er schon höchst betagt, erinnere ich mich so gern wie genau. Seine Erscheinung war noch immer raumgreifend. Seine Stimme gewaltig wie aus Lautsprechern.

Es gibt noch mehr Neuerscheinungen mit den inzwischen zu einiger Berühmtheit gelangten 10-CD-Collectionen für ansprechende Preise: George London (600068), Lauritz Melchior (600017), Léopold Simoneau (600044). Alle diese Sänger verbindet mit Hans Hotter die Unverwechselbarkeit im Timbre, Ausdruckskraft und Wiedererkennungswert. Bei London wie bei Melchior dominiert Wagner, bei Simoneau Mozart – live und Studio. Bei letzterem findet sich auch ein mit Haydn, Händel, Rameau, Duparc und Fauré besonders anspruchsvoller Liederabend mit Erik Werba am Flügel von 1959 aus Salzburg. Auf dem Cover steht also völlig zu Recht: with unpublished recordings. Auf die übrigen trifft das nicht zu. Die Titel sind unter Sammlern wohl bekannt. Neuigkeitswert entsteht erst durch die Zusammenstellung der mitunter weit verstreuen Dokumente und die Konzentration auf Wesentliches.

Rüdiger Winter

Documents

Vom Volksgesang zu Wagner

Großgewachsen ist sie, blond und schön – beim ersten Treffen auf der Geburtstagsfeier von Freunden in Berlin fallen einem sofort diese Merkmale von Edith Haller auf, auch ihre interessante, erotisch-dunkle Sprechstimme, das ansteckende Lachen, die bewegliche Mimik und natürlich die Hände in der Luft. Aber angesichts von Statur und blonden Haaren denke nicht nur ich an Wagners Heldinnen – Senta, Elsa, Elisabeth und natürlich die Isolde. Die hat sie gerade zum zweiten Mal in Lübeck gesungen hat, als wir sie – Geerd Heinsen und Rüdiger Winter von Operalounge – beim Gespräch in Berlin wiedersehen. Da ist sie immer noch so beeindruckend in ihrer Natürlichkeit, nun aber sehr konzentriert in den Antworten, auf den Punkt, wortreich aber nie wortverliebt. Eben eine direkte, intelligente und beeindruckende Gesprächspartnerin, die sich zu ihren Rollen und ihrem Gesang einen Kopf macht und erfrischende eigene Ansichten hat.

Karlsruhe Sieglinde mit Klaus Florian Vogt

„Walküre“ in Karlsruhe: Sieglinde mit Klaus Florian Vogt als Siegmund./Bad. Staatstheater/Klenk

Warum singt sie eigentlich, was gibt ihr der Gesang? Ich komme aus einer großen Familie in Südtirol, wo absolut jeder etwas mit Musik zu tun hat und wo wir als Kinder schon gesungen haben, ob in der Kirche oder für uns selber oder bei Feiern. Der Vater spielt die Zither, die Mutter Gitarre, alle meine fünf Geschwister haben etwas mit Musik zu tun, spielen Instrumente oder unterrichten Musik und sind dazu noch mit Musikern verheiratet. Insofern war Singen etwas ganz Natürliches für mich. Ich bin zwar als Grundschullehrerin ausgebildet, aber das Singen ergab sich einfach. Meine Lehrer fanden das, denn ich sang immer mehr Soli bei unseren Chören. Und dann war ich verrückt genug, mich beim Salzburger Mozarteum zu bewerben. Was für ein Wahnsinn – wirklich. Ich wurde zum Vorsingen angenommen, sang nur zwei Stücke vor, hatte eigentlich von der verlangten Theorie keine Ahnung, mir nur die Grundkenntnisse vorher eingebüffelt – und wurde genommen. Es war meine spätere Lehrerin Eva Illes, die das Potential in mir erkannte und es anschließend ziemlich erbarmungslos förderte, wofür ich ihr ewig dankbar bin. Singen ist für mich ein MUSS. Ich freu mich morgens auf den Auftritt am Abend. Und als ich einmal – was mir sonst nie passiert – eine Kehlkopfentzündung hatte und für ein paar Tage pausieren musste, fühle ich mich so depressiv, weil nicht sprechen und nicht singen konnte.

Haller - Eugen Onegin 094 von Privat

Tatjana in Tschaikowskis „Eugen Onegin“ am Stadttheater St. Gallen/Theater St. Gallen/E. H.

Ohne Technik geht nichts, absolut nichts. Aber sie darf sich nicht in den Vordergrund schieben, nicht verselbständigen. Sie muss wie ein Autopilot funktionieren. Ich darf mir keine Gedanken machen über eine hohe Note, die auf mich zukommt. Wenn ich auf die Bühne gehe, bin ich einfach sicher und kann mich auf die Handlung, die Requisiten, die Regie oder den Partner konzentrieren, denn für mich ist Singen Teamwork, wir singen ja in Gruppe und nicht ich alleine vorne an der Rampe. Ich kontrolliere vor meinem Auftritt die Bühne, ob alles so ist, wie wir es geprobt haben. Man kann ja beim Singen selbst dem Requisiteur keinen Vorwurf mehr machen, wenn etwas fehlt – das ist wie alles andere, in eben diesem Moment die eigene Verantwortung. Ich bin für meinen Auftritt selber verantwortlich, für meine Leistung ebenso wie für mein Aussehen oder für meine Umgebung. Natürlich ist das bei manchen Inszenierungen schwierig, wenn ich mich sehr anpassen muss an ein Konzept, das nicht unbedingt mein eigenes ist. Aber ich versuche immer, mich in die Regie hineinzudenken, probiere sie für mich aus, ganz selten sage ich nein, wenn ich bestimmte Bewegungen nicht machen kann oder wenn sie gegen die Musik laufen. Für mich ist entscheidend, dass die Musik respektiert wird. Für alles andere finden sich Kompromisse. Ich erinnere mich an meine Elettra in Idomeneo, als ich bei meiner großen Arie eine Leiter hinaufklettern musste und dann am Ende hinten rüber fiel – angeschnallt natürlich. Wahnsinn! Möglich ist mir mein Beruf  nur in meiner Rückbesinnung auf meine Wurzeln, auf meine Herkunft – ich bin eingebunden in meine große und prachtvolle Familie, wo ich nur Tochter oder Schwester oder Tante bin und nicht Künstlerin, wo ich ganz normal behandelt und nicht als Weltwunder bestaunt werde. Mein Mann und ich, wir haben ein ganz normales Leben. Und wenn es die Zeit erlaubt, dann singe ich immer noch im Kirchenchor ein Soli. Diese natürliche Beziehung zu meiner Südtiroler Heimat ist mein Stabilitätsfaktor, meine Erdung, meine Grundierung.

Edith Lohengrin Covent Garden

Elsa in „Lohengrin“ mit Petra Lang (rechts) als Ortrud im Londoner Opernhaus Covent Garden/ROF/E.H.

Annäherung an eine Rolle? Ich suche in jeder Rolle, was sich darin von mir selbst findet. Ich bin eine emanzipierte Frau und habe vielleicht Probleme mit passiveren Partien wie Desdemona, deren Charakter auf den ersten Blick nicht wirklich etwas mit mir zu tun hat. Aber auch da hab ich lange in mich hineingedacht. Desdemona ist ein sehr behütetes, unschuldiges, fast naives junges Mädchen, das ihren Vater und Otello belauscht hat, als dieser von den Qualen in seiner Gefangenschaft erzählt. Es ist das Mitleid, das ihre Liebe weckt, und damit kann ich mich identifizieren, mit diesem starken Gefühl der Hingebung und des Erbarmens. Und so finde ich in solchen Facetten meiner Rollen, deren Text (vor allem im deutschen Repertoire) sehr altbacken erscheinen mag, die eigentlichen Triebfedern, die Gefühle, die zu den Konflikten führen und in die ich einsteigen kann. Wagner singt sich zwar wunderbar, aber vielleicht singen sich italienische Opern am Ende doch besser, weil der Text so fließt, mit der Musik läuft (wie ja auch die Musik der italienischen Opern die Stimme wie ein Teppich trägt, eben anders als im Deutschen, namentlich bei Wagner, der die Stimme wie ein Instrument innerhalb des Ganzen behandelt und man schon zu tun hat, dass man gehört wird. Und man muss eben auch diese Partien mit den eigenen Möglichkeiten singen. Ich bemühe mich sehr, das „Jugendliche“ im Dramatischen zu behalten, nicht zu drücken, frisch und kraftvoll, aber nicht laut um jeden Preis zu singen, die Partien mit meinen Mitteln anzugehen und auszuleben.

Die Meistersinger von Nürnberg_EVA Zürich 2010

An der Seite von Robert Dean Smith: Eva in den „Meistersingern von Nürnberg“ in Zürich/OZ/E. H.

Und eben Wagner nach einem so vielseitigen Beginn? 2003 erster Preis beim Wettbewerb Mario Lanza in Filignano, dann dicht auf dicht Engagements in Salzburg, Prag und Ljubljana, von 2002 bis 2005 Ensemblemitglied in St. Gallen, von 2005 bis 2009 am Staatstheater Karlsruhe, wo Edith Haller ihr Repertoire lernte, von der Senta bis zur Euryanthe. Von 2006 bis 2010 gastierte sie in Bayreuth als Freia, Helmwige, 3. Norn und Gutrune sowie 2010 als Sieglinde, die sie inzwischen weltweit singt. Von da an gings rasend schnell – Senta in Leipzig, Agathe und Gutrune in München und Hamburg, Elsa an Covent Garden, Tannhäuser-Elisabeth am Real in Madrid und Eva in Hamburg und Zürich, Fidelio in Klagenfurt, Euryanthe in Karlsruhe, Konzerte mit Christian Thielemann in München, Sieglinde erneut in Wien, im Herbst 2010 Chrysothemis in Köln, Eva konzertant unter Marek Janowski in Berlin, Sieglinde in Essen, Chrysothemis in Montpellier und so weiter bis zur Isolde in Lübeck, mit der wir angefangen hatten. Nun also Wagner!

Tannhauser III 5461

Elisabeth in „Tannhäuser“ am Teatro Real Madrid. Im Hintergrund Robert Gambill in der Titelrolle/de Real

Wagner ist eine Sache für sich. Die Stimme fließt und fühlt sich in der Musik und vor allem bei den Texten zu Hause. Irgendwie bin ich mit der Isolde angekommen, wo ich sein wollte. Früher, auf der Schule, sprachen wir über unsere Zukunftspläne. Die Jungs sagten: Ich will das und jenes machen und viel Geld verdienen. Ich wollte etwas, das mich zufriedenstellt, also Qualität statt Geld. Nicht, dass mir Geld nicht wichtig wäre, das wäre ja töricht, aber ich fühle mich in meinem Singen so unendlich wohl, bin darin eins mit mir. Ich studiere meine Partien inzwischen mit meiner wunderbaren Lehrerin Lieselotte Hammes, weiß, dass ich darin sicher bin, gehe auf die Bühne und lebe dort. Die Rolle der Isolde ist ein großer Brocken, weil sie auch so lang ist, wirklich auch eine sportlich-physische Leistung verlangt. Aber wenn alles gut geht, wenn alles in mir versammelt ist, dann ist es eine Wonne, diese Partie zu singen. Die ersten beiden Akte sind sehr anstrengend, zumal in Lübeck, wo ich keinen Moment von der Bühne komme.

Gutrune_Bayreuth

Gutrune in der „Götterdämmung“  bei den  Bayreuther Festspielen. Foto: Bayreuther Festspiele/Jörg Schulze

Dann geh ich danach in meine Garderobe und schaue mir bis zu meinem Auftritt im 3. Akt nochmals die Noten an, konzentriere mich auf das vor mir Liegende. Und dann kommt dieser herrliche Liebestod – was kann es Schöneres geben? Ich denke, ich habe in Wagner meine musikalische Heimat gefunden – irgendwie sind seine Partie wie die Zusammenfassung dessen, was ich vorher gemacht habe. Sicher, ich will nicht nur auf diese Partien festgelegt sein und freue mich auf die Fledermaus in Wien, weil die Operette, die ich ja auch reichlich gesungen habe (neben Fledermaus Czárdásfürstin und Lustige Witwe) mir das Leichte, etwas Frivole und eben Heitere ermöglicht, was ganz sicher einer starken Seite in mir entspricht. Und ich liebe Operette, die zu Unrecht einen schlechten Ruf bekommen hat. Aber Wagner und nun die Isolde sind eben die Summe meiner bisherigen Tätigkeit. Und vor allem die Isolde war die größte Herausforderung. Ich bin gerade auf dem Weg nach Moskau, wo ich sie als Gast in einem russischen Ensemble singen werde. Dann sollte diese Rolle etwas zur Ruhe kommen, sie muss sich setzen und von mir Besitz ergreifen, reifen wie ein guter Wein – und wir Südtiroler verstehen etwas von guten Weinen!

Tristan und Isolde (Unten)

Die erste Isolde in Lübeck: Mit dieser Partie hat sich Edith Haller einen Traum erfüllt/Theater Lübeck/Quast

Ein Sänger bekommt seine Stimme zurück

Mehr hätte auf diese CD nicht gepasst. Neunundsiebzig Minuten und zwei Sekunden Juan Luria – Oper, Lied, religiöse Gesänge Das ist viel. Aber nicht zu viel. Man muss sich darauf einlassen, denn die Aufnahmen sind mehr als hundert Jahre alt, also aus den Kindertagen der Tonaufzeichnung überliefert. Es ist, als tauche man tief hinab in die Vergangenheit. Eine ganz andere Welt, die längst untergegangen ist, tut sich plötzlich wieder auf, lässt Einblicke und Höreindrücke zu. Der 1862 in Warschau als Johannes Lorie geborene Sänger debütierte bereits 1884 an der Wiener Hofoper. Da war an Gustav Mahler als Direktor dieses Hauses noch nicht einmal zu denken.

1890 ging er für eine Saison an der Met nach New York. Von 1891 an lebt er in Italien, wo er unter dem Namen Giovanni Luria 1893 an der Mailänder Scala den Wotan in der italienischen Erstaufführung der Walküre in italienischer Sprache sang. Wieder in Deutschland, ließ er sich in Berlin nieder, reiste zu Gastspielen weiterhin an zahlreiche Opernhäuser und widmete sich schließlich vornehmlich der pädagogischen Tätigkeit.
Juan_Luria1Luria, hoch angesehen und als Königlich Württembergischer Hofopernsänger geehrt, musste sein Vaterland 1937 verlassen, weil er Jude war. Er floh nach Holland, wo er nach der Besetzung durch Hitlers Wehrmacht verhaftet, deportiert und am 21. Mai 1943 im Vernichtungslager Sobibor ermordet wurde. Sein Schicksal steht für die Zerstörung der besten Traditionen deutscher Kunst durch die Nationalsozialisten, die bis heute nachwirkt. Deshalb ist diese CD auch ein Stück Wiedergutmachung. Luria bekommt siebzig Jahre nach seinem schmachvollen Ende Stimme und Würde zurück. Nicht nur durch die CD, die von der Frida-Leider-Gesellschaft herausgegeben wurde, sondern auch durch einen Stolperstein vor seiner letzten Wohnstätte in der gutbürgerlichen Bleibtreustraße 44 im Berliner Ortsteil Charlottenburg. Mit diesen in das Straßenpflaster eingelassenen kleinen Gedenksteinen – ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig – wird an Menschen erinnert, die das Schicksal von Luria teilten.

Luria war vergessen, nur Sammlern von Schelllackplatten noch ein Begriff. Die sind offenbar zahlreich überliefert, das Booklet nennt gleich sechs Sammlungen, aus denen sich bedient werden konnte. Die Auswahl kennt keine Grenzen. Szenen aus Rigoletto, Trovatore und Ballo in maschera weisen Luria als exzellenten Verdi-Bariton aus. Die Stimme ist konzentriert und auf dem Punkt, klingt später etwas heller und noch ausdrucksstärker als in den ersten Einspielungen von 1905. Gesungen wird in Deutsch und auch in Italienisch, mal mit Klavier, mal mit Orchester. Die Tempi sind in ihrer Ausdehnung mitunter gewöhnungsbedürftig, was aber auch an den Aufnahmekapazitäten der Platten, die von Chris Zwarg (Truesound Transfers Berlin) hervorragend überspielt wurden, liegen mag. Zwei Szenen des Wolfram aus Tannhäuser und das berühmte „Behüt‘ euch Gott“ aus Nesslers Trompeter von Säckingen repräsentieren das deutsche Fach, Schuberts „Am Meer“, Schumanns „Die beiden Grenadiere“ und Loewes „Fridericus Rex“  – allesamt mit Orchesterbegleitung – den Liedgestalter, ein Ausschnitt aus Mendelssohns Paulus den Oratoriensänger.

CD - LuriaEtwas unverhofft platzt „La Paloma“, der berühmte spanische Hit von Sebastián Iradier in der eher seltenen Übersetzung „Mich rief es an Bord“ herein, um abermals die vielseitige Begabung von Juan Luria zu beschwören. Das ist eine schöne Bereicherung. Der Titel wurde 1908 für  das berühmte Label Odeo eingespielt. Eingedenk seines tragischen Endes berühren zwei religiöse jüdischen Gesänge besonders stark: „Adaun aulom“ und „Adonay s’choronu“. Sie wurden 1907 ebenfalls von Odeon mit Harmonium-Begleitung und dem Chor der Neuen Synagoge in Berlin-Mitte, Oranienburger Straße, aufgenommen. Deren prachtvoller Eingangsbereich hat die Zerstörung überlebt. Heute ist dort das Centrum Judaicum untergebracht.

Die CD mit der Bestellnummer 19051912 ist direkt bei der Frida-Leider-Gesellschaft, die auch den Stolperstein initiiert hat, zu beziehen. Das Foto oben zeigt den Stolperstein, in der Mitte ein Porträt von Luria, unten links das etwas eigenwillig gestaltete Cover der CD.

Rüdiger Winter

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Amelilta Galli-Curci

 

Amelita Galli-Curci – ihre Aufnahmen sind unverwüstlich, stehen im Regal jedes Sammlers, der sich für Stimmen und Oper interessiert. Ein Großteil hat es auf CD geschafft. Sie lebt in diesen Dokumenten fort als glamouröser Weltstar mit einer unverwechselbaren Ausstrahlung. Nunmehr jährt sich ihr Todestag zum 50. Mal. Die Koloratursopranistin starb am 26. November 1963 in La Jolla (Kalifornien) – Anlass, ihrer auch mit Worten zu gedenken.

Sie gehörte mit zu den berühmtesten Vertreterinnen ihres Faches in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Amelita Galli-Curci wurde am 18. November 1882 in Mailand geboren. Ihre Eltern waren der Geschäftsmann Enrico Galli und dessen Frau Enrichetta Bellisoni. Die musikalischen Wurzeln liegen bei den Großeltern väterlicher Seite. Die Großmutter Carlotta Rota-Galli war eine berühmte Opersängerin des 19. Jahrhunderts und der Großvater ein Dirigent. Ab dem 5. Lebensjahr nahm Amelita Klavierunterricht und besuchte später das International Institute (1895 – 1901) und das Lizeo Alessandro Marzoni (1901 – 1905) in Mailand. Zur gleichen Zeit nahm sie Privatstunden im Fach Klavier bei Vincenzo Appiani, der Professor am königlichen Konservatorium von Mailand war. Seit dem 16. Lebensjahr war sie schon eine gefragte Klavierbegleiterin bei Hauskonzerten. Eine Goldmedaille gewann sie 1905  bei einem Konservatoriumswettbewerb für ihr Klavierspiel. Nach dem Abschluss nahm sie zunächst eine Lehramtstätigkeit auf. Im Jahre 1905 war der Komponist Pietro Mascagni, ein Freund der Familie, zu Gast bei einem häuslichen Liederabend. Es wurde Vincenzo Bellinis I puritani interpretiert, wobei Amelita den Sopranpart übernommen hatte. Mascagni war von ihrem einzigartigem Timbre sehr angetan und empfahl ihr, auf dem Gebiet des Gesanges weiter zu machen. Er meinte ihre Stimme auch noch in 20 Jahren zu erkennen, außerdem gäbe es genügend Pianisten, aber viel zu wenig Sänger.

 Il barbiere di SivigliaGalli-Curci 2Im selben Jahr brachen die Geschäfte des Vaters zusammen. Darauf  ging dieser mit den beiden Söhnen Enrico und Giuseppe nach Argentinien. Eine Gesangsausbildung, die privat finanziert werden musste, war somit nicht möglich. Amelita kaufte sich Lehrbücher für Gesang, begleitete sich selbst am Klavier und begann auf diese Art ihre autodidaktische Ausbildung. Unterstützung fand sie bei ihrer Großmutter Rota-Galli. Sie versuchte  so oft wie möglich die Oper zu besuchen, um auch vom Gesang der Darsteller zu lernen. Später behauptete sie, die Koloraturen und Triller vom Gesang der Nachtigall gelernt zu haben. Schon am 22.Dezember 1906 gab sie ihr Operndebüt am Theater von Trani einer kleinen Stadt im Süden Italiens. Die erste Rolle war die Gilda im Rigoletto. Hier lernt sie auch den Marchese Luigi Curci kennen, den sie am 24. Februar 1908 heiratet. Als nächstes folgte ein Arrangement am Costanzi Theater in Rom, wo sie zusammen mit Giuseppe de Luca in der italienischen Premiere von Bizets Oper Don Procopio sang. Nach einer kurzen Tournee in Ägypten folgten Auftritte in Palermo (L’elisir d’amore) und Ravenna (Rigoletto, Lucia di Lammermoor, La Traviata). 1910 ging sie auf ihre erste Südamerika-Tour. In Buenos Aires am Teatro Colón gab sie ihr Debüt in Il barbiere di Siviglia (Rossini) und I Pagliacci. Ein weiteres Debüt erfolgte 1911 in Neapel am San Carlos in der Oper La Sonnambula von Bellini.

1912 fuhr Amelita Galli-Curci erneut zu einer längeren Tournee nach Südamerika. Sie sang die Gilda und Rosina sowie den Walter (La Wally) und Oscar (Un ballo in maschera) in Buenos Aires, Rosario, Sao Paulo, Montevideo und Santiago de Chile. Mit zunehmendem Erfolg gastierte sie in den nächsten Jahren an verschiedenen Bühnen Italiens und im Ausland. So 1914 in Russland und 1915 in Spanien. Im Sommer 1915 ist sie auch wieder in Buenos Aires zu hören. Zum ersten Mal in Lucia di Lammermoor (zwei Aufführungen mit Enrico Caruso). Neu dazu kamen die Rollen der Michaela

(Carm

galli-curci-Karrikaturen), der Sophie (Der Rosenkavalier), der Margarethe von Valois (Les Huguenots)und der Ophelia (Hamlet). Durch die Ereignisse des 1. Weltkrieges blieb Amelita Galli-Curci in Amerika und kam durch Empfehlung eines Freundes zu einem Vorsingen bei Cleofonte Campanini für die Chicagoer Oper nach New York. Dieser engagierte sie, und ihr Debüt erfolgte am 18. November 1916 in der Rolle der Gilda in Verdis Rigoletto. Damit war der Durchbruch zu einer großen Karriere geschafft. Dem Haus in Chicago gehörte sie bis 1924 an.

Im selben Jahr machte sie mit der Plattenfirma Victor die ersten Probeaufnahmen. Mit „La Partida“ von Alvarez wurde am 30. September 1916 der erste auf Schellackplatte erschienene Titel  auf genommen. Ab 1917 war Amelita Galli-Curci eine viel beschäftigte Frau auf der Bühne sowie im Plattenstudio. Ihr Ehemann Luigi Curci reichte im Jahr 1918 die Scheidung ein. Die Ehe wurde 1920 geschieden. Den Namen Galli-Curci hat sie beibehalten. Am 15. Januar 1921 heiratet Amelita Galli-Curci den Pianisten Homer A. Samuels, der ihr ständiger Klavierbegleiter wird. Mit ihm nahm sie später mehrere Titel auf.

Galli-CurciAm 14. November 1921 gibt sie zur Saisoneröffnung ihr Debüt an der Metropolitan Opera in New York. Sie singt die Rolle der Gilda im Rigoletto. Ihre Partner waren Beniamino Gigli und  Giuseppe De Luca. Das Orchester wurde dirigiert von Roberto Moranzoni. Weitere Partien waren unter anderem Lucia di Lammermoor, Mimì (La Bohème), Dinorah, Julia (Roméo et Juliette) und die Königin von Shemakka (Coq D’Or). Außer den Verpflichtungen an den Opernhäusern ging sie weiterhin auf Tourneen. So konnte man sie unter anderem in Kanada, Australien, im Orient, Großbritannien, Südafrika und im Fernen Osten hören.

In späteren Jahren ließ die Klarheit ihrer Stimme nach, und das perfekte Setzen der hohen Töne gelang nicht mehr. Die Beeinträchtigung wurde verursacht durch die Erkrankung der Stimmbänder, die auch durch mehrere Operationen nicht behoben werden konnte. Mit einem Auftritt als Mimì in Puccinis La Bohème 1936 in Chicago nahm sie ihren Abschied von der Bühne. Ihren letzten Liederabend gab Amelita Galli-Curci 1937. Danach zog sie sich mit ihrem Ehemann ins Privatleben zurück und gab Gesangunterricht. Nach dem Tod von Homer Samuels im Jahre 1956 ließ sie sich ein Haus nach ihren Wünschen in La Jolla erbauen, wo sie die letzten Lebensjahre verbrachte. Amelita Galli-Curci gehört unumstritten zu den größten Koloratricen des 20. Jahrhunderts. Als eine der letzten Vertreterinnen des Bellcanto bestach ihre Stimme durch Leichtigkeit, Klarheit und Präzision. Heute können wir uns noch an den rund 140 Aufnahmen erfreuen, die über die Jahrzehnte fast alle auf Schellack- und Vinylplatten sowie CD erschienen sind. Amelita Galli-Curci machte die Einspielungen von 1916 bis 1930, wobei die schönsten aus den Jahren 1916 bis 1921 sind. Frank Mengewein

Sieglinde nicht mehr taufrisch

Der NBC Broadcast vom 20. März 1940 aus dem Bostoner Opernhaus, welcher diese Aufführung der Walküre in Boston gastierenden New Yorker Met landesweit übertrug, ist zu unser aller Glück erhalten geblieben und längst Legende. Die Besetzung versammelt die internationale Elite des Wagnergesangs jener Zeit, der noch junge Dirigent Erich Leinsdorf hat ein Ensemble zur Verfügung, wie es selbst die Met nicht alle Tage aufbieten konnte. Bei Documents (LC 12281) wurde diese denkwürdige Sternstunde nun abermals veröffentlicht. Ergänzt wird sie durch den gleichfalls legendären, von Bruno Walter 1935 im goldenen Saal des Wiener Musikvereins aufgenommenen 1. Akt, der mit der Bostoner Besetzung identisch ist: Lotte Lehmann (Sieglinde – auf dem oberen Foto hoch geehrt auf einer Briefmarke), Lauritz Melchior (Siegmund), Emanuel List (Hunding).

Lehmann (Walküre)Der sich aufdrängende Vergleich ist nicht sehr ergiebig, nur bei Lotte Lehmann fehlt 1940 etwas von der Frische und Sinnlichkeit, die ihr 1935 noch zu Gebote standen. Durchaus möglich, dass es sich aber auch nur um eine Frage der Tagesform handelt. Friedrich Schorrs Wotan, jahrzehntelang der Interpret dieser Rolle schlechthin, zeigt 1940 doch schon deutliche Ermüdungserscheinungen, manche Phrasen geraten auffällig kurz. Marjorie Lawrence ist eine jugendlich leuchtende Brünnhilde, brillant und berührend gleichermaßen. Nur ein Jahr später erkrankte sie an Polio und musste ihre Karriere für Jahre unterbrechen. Kerstin Thorborg ist eine sonore, würdevolle Fricka, die in dieser Rolle Maßstäbe setzt. Die acht Walküren sind ebenfalls hochkarätig besetzt, Doris Doe und Irene Jessner beispielsweise haben an der Met selbst Hauptrollen gesungen.

Leider ist bei der erneuten Veröffentlichung nicht in eine Restaurierung der Aufnahme investiert worden. So ist der Klang über weite Strecken  mulschig und verzerrt, eine Beurteilung der Leistung des Orchesters ist so eigentlich nicht möglich. Was die Aufnahme so wertvoll und bedeutend macht, ist das sängerische Niveau, von dem man in heutigen Wagner-Aufführungen nur träumen kann. Wir erleben hier eine Welt, die unwiederbringlich versunken ist. Was für eine Symbolik: An der Stelle des längst abgerissenen Bostoner Opernhauses befindet sich heute ein Parkplatz.

Peter Sommeregger

Mal Deutsch, mal Italienisch

Die vorliegende CD, die den 2. Fidelio-Akt in einer wahrhaft historischen Version enthält, widersetzt sich anfangs dem CD-Player und ist nur auf dem PC abspielbar. So weit, so schlecht, aber auch mit der Aufnahme als solcher will man nicht recht froh werden. Über die Bedeutung von Peter Anders als Sänger muss hier nicht weiter referiert werden, man freut sich durchaus über jedes Live-Dokument dieser zu früh verstummten Stimme. Aber musste es noch mal Fidelio sein, in einer technisch so schlechten Qualität? Peter Anders’ Florestan-Debüt von 1948 ist auf dem gleichen Label dokumentiert, vom Gespann Fricsay/Anders ist sogar ein kompletter Mitschnitt aus Genf aus dem gleichen Jahr – 1951- verfügbar, ebenfalls bei Gebhardt.

Man kann den  vorliegenden Mitschnitt aus dem Teatro San Carlo in Neapel aber auch als Dokument unfreiwilliger Komik betrachten: Anders, der seinen Part auf Deutsch singt, spricht die Dialoge mit seinen Partnern in Italienisch. Überraschend wechselt die Leonore der Aufführung, Dorothy Dow, beim Duett der Eheleute in Anders’ Idiom und singt tadelloses Deutsch, das sie im Finale wieder gegen den italienischen Text tauscht. Jenseits des sprachlichen Verwirrspiels lässt sie aber wunderbar leuchtende Spitzentöne hören. Im gleichen Jahr hat die Sängerin mit der Ersteinspielung von Schönbergs Erwartung übrigens Furore gemacht. Der Rest der Besetzung entzieht sich einer seriösen Beurteilung, zu schlecht ist die Tonqualität. Eine Empfehlung eigentlich nur für Hardcore-Fans von Peter Anders (JGCD 0063).

Peter Sommeregger

Kleines Duett entschädigt für Striche

Dieser Don Carlos führt an den Beginn der Karriere von Ludmila Dvorakova in der DDR zurück. Die Elisabeth war nach dem Octavian die zweite Premiere der aus der Gegend um Prag stammenden  Sängerin an der Berliner Staatsoper im Jahr 1960. Die Stimme ließ aufhorchen, dunkel und üppig, noch ungelenk in der Aussprache. Isolde, Brünnhilde, Ortrud und Kundry kündigten sich bereits an. Gesungen wurde Verdi noch ganz selbstverständlich auf Deutsch. Als unfassbar mutet heute die damals übliche Fassung an, die bequem auf zwei CDs passt. Fontainebleau? Keine Spur. An die Holzfällerszene, die die inzwischen rekonstruierte französische Originalfassung für die Pariser Oper einleitet, war nicht einmal zu denken.

Die Oper beginnt im Kloster San Juste mit dem Auftritt von Carlos (Martin Ritzmann). Das sogenannte Maurische Lied der Eboli (Hedwig Müller-Bütow) im Garten vor dem Kloster bleibt auf die erste Strophe beschränkt und verliert dadurch seinen frechen Spott. Allenthalben fehlt es an musikalischer Eleganz, die einzelnen Auftritte weiterer maßgeblicher Figuren, darunter Posa (Rudolf Jedlicka) und später der König (Theo Adam) höchstselbst, geraten gestelzt, was wohl auch auf die reschen Ankündigungen ihres Erscheinens durch Tebaldo (Sylvia Pawlik) zurückzuführen sein dürfte. Franz Konwitschy, der Generalmusikdirektor, kann keinen rechten Zusammenhalt herstellen. Verdi lag ihm wohl nicht so. Das große Handlungsballett ist in Gänze gestrichen, der Kleidertausch von Königin und Eboli, der die anschließende Verwirrung stiftende nächtliche Begegnung zwischen der Prinzessin und Carlos erklärt, findet nicht statt. Dafür gibt es das kleine Duett vor der großen Arie der Eboli, in dem diese der Königin ihren Verrat eingesteht. Das entschädigt für manchen scharfen Schnitt.

Trotz alledem: Der Mitschnitt offenbart ein starkes Bemühen, der Größe des Musikdramas Geltung zu verschaffen. Er ist mehr als fünfzig Jahre alt, also durch und durch historisch. Nicht zuletzt bildet er eine schöne Ergänzung der Diskographien der genannten Sänger. Die Müller-Bütow, damals ein Star Unter den Linden in Berlin, bekommt eine weitere Gesamtaufnahme. Gerhard Frei als gefährlich auftrumpfender Großinquisitor und Jutta Vulpius mit ihrer anrührenden Engelsstimme sollen unbedingt noch genannt werden. Es gibt auf dem Musikmarkt nur wenige Liveaufnahmen aus der DDR. Mit diesem Carlos ist eine hinzugekommen – erschienen bei Walhall (WLCD 0371) in sehr gutem Klang.

Rüdiger Winter

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Otello-Häppchen aus sechs Jahrzehnten

Auf den ersten Blick ist es ja keine schlechte Idee, einen großen Querschnitt des Otello von Giuseppe Verdi mit verschiedenen Interpreten aus sechs Jahrzehnten zusammenzustellen. Caruso und Zenatello bis Vickers, Martinelli bis Vinay und del Monaco. Ähnlich große Namen bei den Jagos, den Desdemonas und den Dirigenten. Schnell wird aber klar, dass der sich anbietende Vergleich zwischen den Sängern so nicht funktionieren kann.

Jeder singt jeweils nur eine Szene, die Aufnahmen sind unter gänzlich unterschiedlichen Bedingungen entstanden. Caruso hat im Übrigen Otello nie auf der Bühne gesungen. Live und Studio, Schellack und Vinyl, das sind dann doch recht verschiedene Welten und Klangbilder. Die Gesamtaufnahmen mit Vinay, del Monaco und Vickers gehören eigentlich zum Bestand jedes ernsthaften Sammlers, man hätte sich mehr Aufnahmen jenseits des Mainstreams gewünscht, insgesamt also eine verzichtbare Produktion (METCD 8019).

Peter Sommeregger

Der König der Liedbegleiter

Schuberts „Winterreise“ und „Schwanengesang“ mit Aksel Schiøtz? Wahnsinn! Die Freude währt nicht lange, denn spätestens beim Öffnen der Box wird klar: Mit Schiøtz gibt es doch „nur“ die „Müllerin“, die „Winterreise“ wird von Dietrich Fischer-Dieskau gesungen, „Schwanengesang“ von Hans Hotter. Auf der Rückseite der Box hatte sich ein Druckfehler eingeschlichen. In allen drei Fällen sitzt Gerald Moore am Klavier. Ihm allein, dem König der Klavierbegleiter, ist diese Edition von Membran (LC 12281) gewidmet. Das ist eine überfällige Würdigung. Der Engländer Moore (1899-1987) hat seine Berühmtheit ausschließlich auf diesem Platz gemacht. Sein Wirken ist für immer mit den Karrieren von Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Janet Baker, Victoria de los Angeles, Dietrich Fischer-Dieskau, Hans Hotter und eben Schiøtz verbunden. Das war die große Zeit der Langspielplatte. Er waltete aber bereits am Flügel, als Kirsten Flagstad, Maggie Teyte, Kathleen Ferrier und Julius Patzak noch ins Studio gingen. Sein Name prangte schon in den dreißiger Jahren auf den Liederausgaben der von Walter Legge initiierten Hugo-Wolf-Society – als Pianist von Alexander Kipnis, Herbert Janssen und Karl Erb. Wie selbstverständlich ist Moore an einer der berühmtesten Liedproduktionen der Schallplattengeschichte begleitend beteiligt – nämlich Wolfs „Feuerreiter“ mit Helge Roswaenge von 1937.

Moore war der Pianist dreier Sängergenerationen. Allein darin erlangte er Einmaligkeit. Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ schrieb anlässlich seines Todes sehr treffend: “Er adelte den Job des Klavierbegleiters, unter Verzicht auf eine Solistenkarriere, zu einer eigenständigen Kunst und erspielte dem Mann am Klavier ein bis dahin unbekanntes Maß an künstlerischer Mitbestimmung: Von ihm begleitet zu werden bedeutete den interpretatorischen Ritterschlag.“ Die Edition fängt große Momente im Schaffen von Moore ein. Dazu gehören Brahms-Lieder mit der Ludwig, üppig, dunkel und geheimnisvoll ausgebreitet. Schöner geht es nicht. Oder der Mozart mit Irmgard Seefried von 1950, als deren Stimme noch völlig intakt gewesen ist. Sind diese Lieder je leichter, schlichter und inniger gesungen worden?

Sollte ich mich für eine Aufnahme entscheiden müssen, meine Wahl fiele auf den „Liederkreis“ op. 39 mit Fischer-Dieskau, der 1954 eingespielt wurde. Es ist, als würden sich der junge Sänger und sein erfahrener Pianist auf die Suche nach dem tieferen Sinn dieser Gedichte von Eichendorff begeben, denen Schumann musikalischen Ausdruck verlieh. Was sie finden ist deutsche Romantik in ihrer schönsten Ausprägung. Mit Enrique Granados, Jusús Guridi  und Amadeo Vives gelangen durch die Angeles spanische Komponisten aufs Konzertprogramm. Moore legt seinen Part so souverän hin, als hätte er nie etwas anderes gespielt. Es gibt keine sensationellen Ausgraben in dieser Sammlungen, alle Titel sind auch in anderen Kompilationen verbreitet worden. Das Besondere ist, dass diesmal der Mann im Hintergrund nach vorn rückt.

Rüdiger Winter

Magische Töne – live und im Studio

Dem legendären Kastraten Farinelli widmet Philippe Jaroussky seine neue CD bei Erato (413022), auf der er Arien von Nicola Porpora singt, die der Komponist dem berühmten Gesangsstar, seinem Schüler, auf die Stimmbänder geschrieben hat. Unter den elf Titeln finden sich nicht weniger als sieben Weltersteinspielungen, darunter Alcestes „Mira in cielo“ aus Arianna e Teseo, welches das Programm eröffnet. Ein bewegtes, aufgewühltes Stück, für das Jarousskys zarte, keusche Stimme nicht ideal ist. Viel besser klingt sie im nächsten Beitrag, „Si pietoso il tuo labbro“ aus Semiramide  riconosciuta, das in seinem zärtlich wiegenden Rhythmus, den schmeichelnden, sanften Linien wie für den Interpreten komponiert scheint. Im folgenden „Come nave in ria tempesta“ aus Semiramide regina dell’Assiria kann der Sänger mit federnd getippten Koloraturen seine hohe Virtuosität zur Schau stellen.

Jaroussky Farinalli-CDJaroussky hat lange gezögert, die Musik Porporas in sein Repertoire aufzunehmen, aber schließlich in dessen Kompositionen viele berührende Arien entdeckt, die seiner Stimme perfekt entsprechen. Diese sind es dann auch, die den stärksten Eindruck hinterlassen. Zweifellos ist Acis „Alto Giove“ aus Polifemo der Höhepunkt dieser Sammlung – in seiner Wirkung wahrhaft mirakulös durch die körperlos schwebende Stimme, den entrückten Ausdruck, die scheinbar unendlichen Atemreserven. Das Venice Baroqe Orchestra unter Andrea Marcon, das den Sänger insgesamt sehr einfühlsam begleitet, erschafft gerade in dieser Nummer  wunderbare orchestrale Stimmungen. Aus dieser Oper erklingt noch eine weitere Arie des Aci („Nel già bramoso petto“), deren heroische Koloraturläufe der Interpret stupend meistert.

Darüber hinaus ist es Jaroussky gelungen, Cecilia Bartoli (bei den Aufnahmen auf dem großen Foto oben) für die Mitwirkung an seiner CD zu gewinnen, was sich in zwei Duetten niederschlägt. Das erste stammt ebenfalls aus Polifemo („Placidetti zefiretti“) und lässt die Stimmen in harmonischem Zusammenklang ertönen. Das zweite („La gioia ch’ io sento“) ist der Oper Mitridate entnommen und reizvoll in ihrem tänzerisch-heiteren Duktus – hier scheinen die Stimmen geradezu zu verschmelzen. Sehr schön zwei Arien des Achille aus Ifigenia in Aulide – das träumerisch-entrückte „Le limpid’onde“ in wiegendem siciliano-Rhythmus und „Nel già bramoso petto“, gleichfalls von getragenem, sehnsuchtsvollem Charakter bei höchstem virtuosem Anspruch. Zwei Arien des Orfeo aus der gleichnamigen, 1736 in London uraufgeführten Oper runden das Programm ab, die erstere („Dall’amor più sventurato“) beschwingt und kokett, aber auch mit rasanten Koloraturgirlanden, die zweite („Sente dal mio martir“) schmerzlich und klagend mit visionärer, berückender Tongebung.

Seine Deutschland-Tournee startete Phlippe Jaroussky im großen Saal der Berliner Philharmonie

Live – in der Berliner Philharmonie am 8. Oktober, wo Philippe Jaroussky seine Deutschland-Tournee startete – war der Eindruck in Teilen ein anderer. Wieder einmal bewahrheitete sich, dass deren großer Saal für diese Art von Konzerten nicht geeignet ist. So klang die Stimme im ersten Beitrag. „Mira in cielo“ aus Arianna e Teseo in der unteren Lage matt und in den Koloraturen dünn, nur die aufsteigenden Skalen ließen den keuschen, zärtlichen Ton des Counters vernehmen. Träumerisch-entrückte piani, feine Triller und lange Bögen gefielen in der Arie des Mirteo aus Semiramide riconosciuta, sehnsuchtsvolle, beinahe körperlose Klagelaute waren in der Arie des Achille aus Ifigenia in Aulide zu vernehmen. Ein beliebtes Sinnbild im Barock für aufgewühlte Seelenzustände war das der stürmischen See ausgesetzte Boot – so auch in Semiramide, regina dell’Assiria, wo der Sänger mit den getupften staccati besonderen Effekt machte.

Jaroussky hört und sieht sich selbst

Zweimal Philippe Jaroussky – auf der Leinwand auf dem Podium in der Berliner Maison de France.

Als erster vokaler Beitrag des zweiten Teiles war die Arie des Orfeo „Dall’ amor più sventurato“ sehr gelungen in ihren wechselnden Stimmungen und der abgestuften Dynamik; Achilles zärtlicher Gesang „Le limpid’onde“  aus Ifigenia in Aulide geriet bis an den Rand des Flüsterns. Jarousskys Glanzstück war natürlich auch hier Acis „Alto Giove“ mit seinem mirakulösen Beginn, den stupenden messa di voce-Effekten und dem reizvoll variierten Da capo. Eine ähnlich magische Wirkung konnte der Solist auch mit seiner ersten Zugabe erzielen – der Arie „Sposa non mi conosci“ aus Giacomellis Merope als expressives Lamento mit flehentlichen Klagelauten. Dagegen fiel die zweite – „In braccio a mille furie“ aus Porporas Semiramide riconosciuta – deutlich ab. Diese Arie sollte er im Konzert überhaupt nicht singen, da ihm für dieses furiose Stück live die heroische Attacke und das stimmliche Gewicht fehlen. Das Venice Baroque Orchestra unter Andrea Marcon bereicherte das Programm mit wirkungsvollen Instrumentalbeiträgen, der stürmischen Sinfonia zu Porporas Germanico in Germania (mit einigen Misstönen der Hörner), der mit keckem Schwung servierten Sinfonia zu Leos L’Olimpiade und dem affektbetonten Concerto grosso Nr. 12 d-Moll „La Follia“ von Geminiani in mitreißender Steigerung.

Jaroussky mit Schauspieler Wittmann

Noch Fragen? Der Sänger mit dem Schauspieler Thomas Wittmann. Fotos: Winter

Im Vorfeld seines Auftritts in der Philharmonie war der Countertenor auf Einladung des Geschäftes L&P-Classic zu Gast in der Berliner Maison de France, wo der Schauspieler Thomas Wittmann den Sänger zu seinem Farinelli/Porpora-Projekt befragte. Überaus sympathisch und klug, äußerte sich dieser nicht nur zu der Beziehung zwischen dem Kastraten und seinem Lehrer, sondern auch zu allgemeinen Problemen der Gesangstechnik, seiner eigenen Zusammenarbeit mit Cecilia Bartoli, die er sehr bewundert, und der achtmonatigen Auszeit im letzten Jahr. Filmausschnitte von den CD-Aufnahmen und einem Konzert in Frankreich rundeten den gut besuchten  Abend ab, der in eine ausgedehnte Signierstunde mündete, bei der sich Jaroussky jedem einzelnen Musikfreund ganz persönlich und individuell widmete.

Bernd Hoppe

Wo liegt denn hier Frida Leider?

 

Sei gegrüßt, geweihte Stille! Die ersten Zeilen des Liedes „Auf einem Kirchhof“, das der achtzehnjährige Schubert auf ein Gedicht von Schlechta komponiert hat, könnten über jedem Friedhoftor stehen. Auch wenn an lauten Straßen gelegen, die Stille schafft der Ort selbst. Sie kommt aus ihm. Viele Menschen gehen gern auf Friedhöfe, wo sich der Tod von seiner besten Seite zeigt. Gräber sind ein sehr authentischer Ort, um derer zu gedenken, die dort ihre letzte Ruhe fanden. Das gilt auch für Sänger und Musiker. Ihre Tondokumente simulieren zwar Unsterblichkeit. Die ist und bleibt virtuell und endetet an den Gräbern. Dort lässt sich aber Zwiesprache halten und Nähe finden. Das ganze Jahr hindurch, wenngleich das Totengedenken traditionell auf den Spätherbst fällt. In loser Folge wollen wir uns mit Ihnen auf Spurensuche begeben. Unser Autor Peter Sommeregger beginnt mit dem Waldfriedhof Heerstraße in Berlin-Charlottenburg.

Hempel, FriedaJPG

Kennern gilt er als einer der schönsten, gleichzeitig auch als einer von der kulturellen Prominenz bevorzugten Friedhöfe Berlins. Zu Recht. Das vom Eingangsbereich stark abfallende Gelände ist terrassenförmig angelegt, die Talsohle bildet der Sausuhlensee, der Name ein Hinweis auf die eher unliebsamen Besucher des Friedhofs. In den 1920er Jahren als Begräbnisstätte hauptsächlich für die Bürger von Neu-Westend begründet, erfreut sich der Friedhof inzwischen stadt- und landesweit größter Beliebtheit. Berühmtheiten wie die Schauspieler Paul Wegener, Tilla Durieux, Leonhard Steckel, Klaus-Jürgen Wussow und Horst Buchholz, oder das Multitalent Loriot haben hier in den letzten Jahren ihre Ruhestätte gefunden.

Klose, MargareteWir wollen uns heute aber auf die Gräber bedeutender Sänger beschränken. Beginnen wir mit dem wuchtigen Granit-Findling, der das Grab der gefeierten, stimmlich eher filigranen Koloratrice Frieda Hempel markiert. Nach fulminantem Karrierestart entschwand sie einst schnell an die New Yorker Met, beendete früh ihre Karriere, und konzentrierte sich anschließend auf die Mehrung ihres beträchtlichen Vermögens. Auf Schallplatten ist uns ihre agile, zu unglaublichen Höhenflügen fähige Stimme erhalten geblieben (Grabstelle I-Erb-12). Unweit davon das schlichte Urnengrab der bedeutenden Mezzosopranistin Margarete Klose und ihres Ehemannes und Lehrers Walter Bültemann.  Die lebenslange Geheimhaltung  ihres  korrekten Geburtsdatums setzt sie konsequent auf ihrem Grabstein fort – sie unterschlägt es (Grabstelle I Ur-8).

Suthaus, LudwigNoch unauffälliger und schwer auffindbar ist die Grabstelle des Heldentenors Ludwig Suthaus, Furtwänglers Tristan in der gefeierten Nachkriegsinszenierung im Berliner Admiralspalast. Durch die spätere Plattenaufnahme des Werks unter Furtwängler hat er ein Stück Unsterblichkeit erlangt (Grabstelle II Ur-3124). Ein stilisiertes steinernes kleines Teehaus schmückt das Grab der japanischen Sängerin Michiko Tanaka, die vor ihrer Heirat mit dem Schauspieler Victor de Kowa als Opernsängerin, später Filmschauspielerin erfolgreich war (Grabstelle 16 G-29).

Leider, FridaGeradezu ein Wallfahrtsort für Wagnerianer ist das Grab von Frida Leider, der vielleicht bedeutendsten Wagnersängerin des 20. Jahrhunderts. Ihre Schallplatten sind bis heute wahre Ikonen des Wagnergesangs, und höchster Gesangskultur ganz allgemein. Sie ruht neben ihrem jüdischen Ehemann Rudolf Deman, einst Konzertmeister der Staatskapelle Berlin, von den Nazis verfolgt, von seiner Frau löwenhaft verteidigt, und nach seinem Schweizer Exil glücklich heimgekehrt. Auch er hat zahlreiche Tondokumente seiner Kunst hinterlassen (Grabstelle 19N-26/27). Der hünenhafte Bass-Bariton Michael Bohnen, Liebling nicht nur der Frauen, zeitweiliger Ehemann der Tänzerin La Jana, Opern- und Filmstar in der alten wie der neuen Welt, muss sich mit einem winzigen Urnengrab bescheiden, selbst dieses stand vor Jahren schon kurz vor der Einebnung, eine beherzte Enkelin hat dies verhindert. Bohnen, der als Raubein galt, hatte sich in seinem Leben nicht nur Freunde gemacht (Grabstelle 18 B-9).

Bohnen, MichaelTatsächlich verschwunden und selbst in den Aufzeichnungen der Friedhofsverwaltung nicht mehr auffindbar ist das Grab Leo Schützendorfs, auch er Bass-Bariton und der bedeutendste Künstler von mehreren singenden Brüdern. Gleichsam zum Trost für das verlorene Grab hat man einen Weg auf dem Friedhof nach ihm benannt. Ebenfalls nicht mehr existent ist die Grabstelle des einst gefeierten Baritons Desider Zador. Der gebürtige Ungar wirkte an fast allen wichtigen europäischen Opernhäusern, zuletzt an der heutigen Deutschen Oper in Charlottenburg. Noch vorhanden ist das Grab des Tenors Harry Steier, lange Jahre Ensemblemitglied des Charlottenburger Opernhauses, mit häufigen Auftritten in Bayreuth in kleinen Rollen, der unzählige Volksliedplatten hinterlassen hat, aber auch eine höchst dubiose Aufnahme: „Adolf Hitlers Lieblingsblume“, die offenbar selbst den Nazis zu kitschig war, und alsbald wieder aus dem Katalog gestrichen wurde (Grabstelle 12B-19/20).

Fischer-Dieskau, DietrichProminentester „Neuzugang“ ist der große Dietrich Fischer-Dieskau, Kammersänger, Ehrenbürger Berlins, und auch sonst mit allen nur erdenklichen Ehrungen überschüttet. Das am häufigsten nachgefragte und von Legenden umwobene Grab existiert nicht mehr: die aufstrebende Hochdramatische Gertrud Bindernagel, nach einer Siegfried-Aufführung an der Berliner Bismarckstraße von ihrem alkoholisierten Noch-Ehemann Wilhelm Hintze angeschossen, erlag Tage später einer Embolie. Das Leben ist zumeist erheblich trivialer als die letzten von ihr gesungenen Worte: „Leuchtende Liebe, lachender Tod“. Tausende sollen ihrer Beerdigung als Zaungäste beigewohnt haben, heute ist ihr Name nur noch Kennern ein Begriff. Bei der Versammlung so vieler unvergesslicher Stimmen verwundert es nicht, dass Gerüchte von in hellen Vollmondnächten stattfindenden Tristan-Aufführungen wissen wollen, wie die Welt sie noch nicht gehört hat….

Fotos: Sommeregger/Winter