Mit der Stimme von Hans Hotter habe ich nicht die geringsten Schwierigkeiten. Seine Defizite empfinde ich zugleich auch als Stärken. Ich kenne keinen anderen Sänger, bei dem ich dieses Phänomen auch so beobachten konnte. Als die Stimme noch ihren wuchtigen Kern besaß, also vor etwa 1950, ging das auch auf Kosten des Ausdrucksvermögens. Je mehr er an vokaler Substanz verlor, umso stärker trat die Ausformung der Partien hervor. Seine gestalterische Ausdauer ist ohne Beispiel – die großen Monologe des Wotan im zweiten Walküre-Aufzug selbst im Solti-Ring und in den diversen Mitschnitten vornehmlich aus Bayreuth, der Salzburger Sir Morosus, der besonders wortreiche Gurnemanz und der Kardinal Borromeo: Hotter baut jedweder Langeweile durch Genauigkeit und Spannungsbögen sowie durch scharfe Charakterisierung der jeweiligen Figuren vor. Es will schon etwas heißen, wenn man enttäuscht ist, dass die bedrohliche Strafpredigt des Kardinals gegenüber Palestrina schon zu Ende ist. Die braucht immerhin an die fünfundzwanzig Minuten, es hätte ruhig noch etwas mehr sein dürfen. Dem Wanderer im Siegfried mischt Hotter in der weitschweifigen Rätselszene, die sich im Opernhaus beim Publikum zur Prüfung auswachsen kann, sogar einen Schuss Ironie bei. Sie wird zum Kabinettstück, durch ihn zu einem Höhepunkt des langen Werkes. Hotter ist durch und durch Theatermensch, Künstler, der allen seinen Partien eine genaue Dimension gegeben hat.
Die ihm gewidmete Box das Labels The Intense Media/Documents (600052) macht die unterschiedlichsten Facetten des Bassbaritons deutlich. Mit den jeweils passenden Ausschnitten sind die genannten Partien enthalten. Alle zehn CDs sind zeitlich weit gefasst, die Aufnahmen reichen von 1942 (Almaviva und Jochanaan) bis 1960 (Hans Sachs mit Wahnmonolog). Eine Schwäche habe ich auch für Hotters alten Schigolch in Bergs Lulu, weil er seine eigenen Malaisen auf die Figur überträgt, aus der Not die Tugend macht. Unglaublich, wie er das hinbekommt. Das kann nur ein Sänger mit diesen untrüglichem Instinkt für dramatische Momente. Schigolch ist in dieser Sammlung aber nicht vertreten. Dafür reichlichst Wagner, über die aufgeführten Rollen hinaus gehend, zudem noch viel mehr Strauss sowie Händel, Beethoven, Rossini, Verdi, Marschner. Hotter, obwohl gern auf Wagner festgelegt, ist sehr vielseitig gewesen.
Dem Liedgesang galt im Verlauf der langen Karriere ständige Aufmerksamkeit. Auf diesem Gebiet wird die CD-Auswahl Hotter nicht ganz gerecht. Schubert, der eine zentrale Rolle spielte, ist lediglich mit drei Liedern aus der Raucheisen-Edition präsent, die nicht zu den stärksten Kompositionen gehören. Tief angerührt bin ich immer noch von seiner Winterreise aus dem EMI-Studio mit Gerald Moore am Klavier. Es ist eine sehr individuelle Aufnahme, gesangstechnisch gesehen gibt es viele, die um Längen besser sind. Hotter aber ist einmalig. Da ist dieses dritte Lied „Gefror’ne Tränen“. Er lässt die eigene Stimme zu Eis werden. Hat man das je so gehört? Hier kommt seine Art des Singens auf eine sehr schlichte Weise zur Wirkung.
Bei Hans Hotter – jetzt sage ich das mal sehr salopp – pfeife ich darauf, ob dieser oder jener Ton exakt ist oder nicht, ob er kurzatmig ist oder mitunter singt, als habe er eine heiße Kartoffel im Mund. Was nützt mir Notentreue, wenn mich die Interpretation nicht erreicht? Er verkörpert genau das, was vielen Sängern der Gegenwart fehlt: Individualität. Er konnte auch gut über Gesang reden, wie diversen Interviews zu entnehmen ist, die gelegentlich im Fernsehen wiederholt werden. Ob er ein guter Lehrer war, kann ich nicht beurteilen. Ich habe da leichte Zweifel. An eine persönlichen Begegnung am Rande der Bayreuther Festspiele, da war er schon höchst betagt, erinnere ich mich so gern wie genau. Seine Erscheinung war noch immer raumgreifend. Seine Stimme gewaltig wie aus Lautsprechern.
Es gibt noch mehr Neuerscheinungen mit den inzwischen zu einiger Berühmtheit gelangten 10-CD-Collectionen für ansprechende Preise: George London (600068), Lauritz Melchior (600017), Léopold Simoneau (600044). Alle diese Sänger verbindet mit Hans Hotter die Unverwechselbarkeit im Timbre, Ausdruckskraft und Wiedererkennungswert. Bei London wie bei Melchior dominiert Wagner, bei Simoneau Mozart – live und Studio. Bei letzterem findet sich auch ein mit Haydn, Händel, Rameau, Duparc und Fauré besonders anspruchsvoller Liederabend mit Erik Werba am Flügel von 1959 aus Salzburg. Auf dem Cover steht also völlig zu Recht: with unpublished recordings. Auf die übrigen trifft das nicht zu. Die Titel sind unter Sammlern wohl bekannt. Neuigkeitswert entsteht erst durch die Zusammenstellung der mitunter weit verstreuen Dokumente und die Konzentration auf Wesentliches.
Rüdiger Winter