Ein halber Meter Karajan

Der junge Karajan! Kaum ist das geschrieben, will es schon wieder in Frage gestellt werden. Für mich ist er niemals jung im herkömmlichen Sinne gewesen, übrigens auch äußerlich nicht. Es gibt dieses so wunderbare wie problematische Foto, das ihn 1941 mit der Sopranistin Germaine Lubin vor dem Bühneneingang der Pariser Oper zeigt. Große Teile Frankreichs, einschließlich Hauptstadt, waren seit einem Jahr von der deutschen Wehrmacht besetzt. Herbert von Karajan, gerade mal 33 Jahre alt, wirkt merkwürdig ältlich und verklemmt in Gesellschaft der um zwanzig Jahre älteren Sängerin, die für ihre Nähe zum nationalsozialistischen Feind bis an ihr Lebensende würde büßen müssen. Er war um diese Zeit bereits ein Star. 1938 gelang ihm nämlich aus dem Stand der Sprung nach oben mit einem auswendig dirigierten Tristan an der Berliner Staatsoper. Das „Wunder Karajan“, von dem damals ein Kritiker schrieb, war geboren.

Ich möchte vom frühen und vom späten Karajan reden. Dazwischen sehe ich die eigentliche  Meisterschaft mit den beiden ersten Gesamtaufnahmen der Beethoven-Sinfonien, einmal mit dem Philharmonia Orchestra (1951-1955) und dann bereits in breitem Stereo mit seinen Berliner Philharmonikern (1961-1962), deren Leitung er 1956 übernommen hatte.Der erste Zyklus findet sich in einer groß dimensionierten Edition, die das Label The Intense Media / Documents den Jahren 1938 bis 1960 dem Schaffen Herbert von Karajans gewidmet hat (600001). 117 CDs, in der großen Schachtel kleine Schachteln, gegliedert nach Komponisten. So ist die Übersicht gewahrt. Aufs Wesentlichste sind die Informationen beschränkt. Solisten, Orchester, Aufnahmejahr, live oder Studio. Knapp ein halber Meter wird dafür im Regal fällig. Zur Einführung gibt es einen guten, faktenreichen Text von Günter Raake, in Deutsch und in Englisch, versehen mit zwei Fotos – wahlweise gedruckt und auf CD-ROM. Das ist alles – und es ist genug. Wir wollen ja hören und nicht so viel lesen. Es ist schon genug geschrieben worden über Karajan. Wer besonders genau hinhört beim frühen Karajan, ist nicht selten regelrecht hingerissen. Mir geht es so. Der spätere wird – bei allem Respekt vor der Lebensleistung – gefälliger und kann auch schon mal als akustische Kulisse bei häuslichen Verrichtungen herhalten.

An den Aufnahmen der Sinfonien von Jean Sibelius wird das besonders stark deutlich. Karajan hat bekanntlich keinen kompletten Zyklus vorgelegt. Die 3. Sinfonie, die er nach eigenem Bekunden nicht verstanden haben soll, fehlt immer. Die Erste gibt es nur einmal, die Auswahl an sinfonischen Dichtungen ist begrenzt. Das vergessene Frühwerk Waldnymphe wäre in seiner Rauschhaftigkeit bei ihm bestens aufgehoben gewesen. Er kannte es nicht, es wurde erst on diesem Jahrtausend aus der Versenkung geholt. In der Edition finden sich die Sinfonien mit Ausnahme der ersten und dritten. Die populärste Zweite höre ich besonders gern, weil Karajan den Beginn und das Stück selbst dunkler nimmt als andere Dirigenten. Grüblerisch und nervös klingt es oft und depressiv, Brüche und Tempowechsel werden hier wie in den übrigen Sinfonien stärker betont, Steigerungen können bis an die Schmerzgrenze gehen. Eine aufregende und aufwühlende Musik, die sich der Moderne verweigert, mit ihrer Kraft und Ausdrucksstärke noch einmal die Tradition beschwört und doch auch ein großes Fenster in die Zukunft aufstößt. Sibelius fühlte sich von Karajan besonders gut verstanden. Er lebte noch, als die Einspielungen entstanden, das Lob des Meisters lässt sich gut nachvollziehen, denn der Dirigent trotzt damit auch dem vernichtenden Richtspruch von Theodor W. Adorno, dem mächtigen Philosophen und Sprecher des Fortschritts in der Kunst, der Sibelius in Bausch und Bogen als Folklore und Salonmusik verriss. Karajan tritt in diesen Aufnahmen den Gegenbeweis an, wofür ich ihm dankbar bin. Später nimmt er manches zurück, Sibelius wir gefälliger, doch nie so, dass Adorno am Ende doch noch Recht bekäme.

Die Edition vermittelt Entdeckerfreude und Strenge mit solchen Namen wie Bartók, Strawinsky, Hindemith, Debussy, Ravel. Andererseits ist die bis ins hohe Alter erhaltene Neigung zu leichtgewichtigen Stücken, die sich auch gut verkaufen, bereits vorhanden. Platten mit allseits beliebten Stücken machten den Namen Karajan auch einem Publikum bekannt, das die Geduld für eine Bruckner-Sinfonie nicht aufbringen kann. Walzer aus der Strauß-Dynastie, Waldteufel, Tanz der Stunden, die Ouvertüre zu Leichte Kavallerie von Suppé, die Intermezzi aus Cavalleria Rusticana, Pagliacci, Manon Lescaut und Notre Dame. Ungebrochen ist die Wirkung solcher Aufnahmen, ob nun noch in Mono oder schon in Stereo, auch deshalb, weil hier die gleiche Ernsthaftigkeit waltet, als handele es sich um den Hausgott Beethoven. Mich hat immer beeindruckt, dass Karajan da nicht unterschied. Der begnadete Operettendirigent kommt mit der Aufnahme seiner ersten Fledermaus mit Elisabeth Schwarzkopf, Rita Streich, Nicolai Gedda, Helmut Krebs und Erich Kunz zum Zuge, die 1955 für die EMI in London eingespielt wurde.

Wie nicht anders zu erwarten, ist die Edition eine Begegnung mit guten alten Bekannten. Es kann gar nicht anders sein, die Suche nach unbekannten Aufnahmen dürfte sich erschöpft haben. Neuigkeitswerte vermitteln jetzt derlei Editionen, weil sie – wie in unserem Falle – Schaffensperioden im Zusammenhang darstellen. Der günstige Preis erlaubt es, alte Schallplatten oder einzelne Titel durch die kompakte Ausgabe zu ersetzen oder einfach parallel in der Sammlung zu platzieren.  Die größten Brocken sind die Gesamteinspielungen oder Mitschnitt von Opern: Meistersinger, Siegfried und Tristan aus Bayreuth, Walküre aus der Scala, Hänsel und Gretel mit Schwarzkopf und Elisabeth Grümmer aus den legendären Abbey Road Studios. Dort wurden auch Rosenkavalier und Ariadne auf Naxos aufgenommen. Verdi ist mit Trovatore (Maria Callas/Giuseppe di Stefano), Aida (Carla Martinis/Lorenz Fehenberger), Don Carlo (Eugenio Fernandi/Sena Jurinac), Falstaff (Tito Gobbi/Elisabeth Schwarzkopf und Requiem (Antonietta Stella/Oralia Dominguez/Nicolai Gedda/Giuseppe Modesti) besonders stark vertreten. Die EMI-Butterfly und die Berliner Live-Lucia dokumentieren abermals die beglückende Zusammenarbeit mit der Callas. Mozart hat gemeinsam mit Joseph Haydn, der sich mit seiner 104. Sinfonie gegen die Übermacht verliert, eine eigene dicke Box, in der mit Figaro von 1950 und Così von 1954 – beide mit der Schwarzkopf als Gräfin bzw. Fiordiligi – zwei der gelungensten Karajan-Einspielungen ihren Platz haben. Hinzu kommt reichlich Sinfonisches.

Selbstverständlich sind auch andere Sinfoniker – Tschaikowski, Brahms (alle vier Sinfonien), Schubert, Schumann, Dvorák, Bruckner – durchweg mit Meisterwerken vertreten. Mit der h-Moll-Messe, wieder mit der Schwarzkopf, Marga Höffgen, dem jungen Gedda und Heinz Rehfuss, und Orfeo ed Euridice mit Giulietta Simionato und Jurinac aus Wien sind auch Bach und Glück präsent. Der frühe Karajan, das sind auch die ganz frühen Aufnahmen, die folgerichtig am Beginn der Edition stehen, die früheste ist eine Zauberflöten-Ouvertüre mit der Berliner Staatskapelle von 1938. Aus dem besetzten Amsterdam hat sich die Ouvertüre zum Freischütz mit dem Concertgebouw Orchestra von 1943 erhalten. Damals saß Anne Frank noch in ihrem Versteck in einem Hinterhaus in der Prinsengracht. Auch daran muss ich denken, wenn ich diese CD höre.

Rüdiger Winter