Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Heute passend wie nie

 

Bereits vor einigen Jahren hat der französische Countertenor Philippe Jaroussky barocke Sakralwerke eingespielt – 2005 Motetten für die Jungfrau zwischen Rom und Venedig unter dem Titel „Stabat mater“, 2014 Kompositionen von Vivaldi für Altus mit dem Motto „Pietà“. Jetzt erschien bei Erato sein neues, im Juni des Vorjahres in Frankreich aufgenommenes Album La vanità del Mondo, in welchem er sich Arien aus Oratorien widmet, die von Ende des 17. Jahrhunderts bis ca. 1750 entstanden (0190295179298). Eine Novität ist, dass er sich bei dieser CD auch als Dirigent betätigt und das junge Ensemble Artaserse inspirierend leitet.

Unter den 18 Titeln der Anthologie finden sich nicht weniger als sieben Weltersteinspielungen. Eine solche macht den Auftakt – die Arie des Isacco, „Perché più franco“, aus Pietro Torris Abramo, uraufgeführt 1731 in München. In ihrem lieblichen Melos ist sie für Jarousskys sanfte, keusche Stimme von weicher Textur ein ideales Stück. Vom selben Komponisten stammt auch das Oratorium, welches der CD den Namen gab: La vanità del Mondo. Daraus erklingt die heitere Arie des Piacere „Esiliatevi pene funeste“. Deren muntere Koloraturen absolviert der Sänger im Klang nicht immer ausgewogen. Ähnlich unbekannt wie dieser Tonsetzer, der von 1665 bis 1737 lebte, sind Fortunato Chelleri (1690 bis 1757) und Nicola Fago (1677 bis 1745). Aus dem Schaffen des Ersteren hat der Sänger die Arie des Dio, „Caderà, perirà“, aus Dio sul Sinai ausgewählt. Es ist eine aria di sdegno, also erfüllt von Zorn, wofür dem Interpreten zu wenig Ausdrucksmittel zu Gebote stehen. Aber immerhin bewältigt er die Koloraturläufe souverän. Von Fago ist das Lamento des Messo, „Forz’è pur nel proprio sangue“, aus Il faraone sommerso zu hören. Mit stockenden Akkorden eingeleitet, die bald an lastender Schwere zunehmen, kann der Sänger hier mit lang gehaltenen Noten aufwarten. Antonio Maria Bononcini steht hinsichtlich des Bekanntheitsgrades im Schatten seines Bruders Giovanni Battista, umso verdienstvoller, dass Jaroussky aus dessen La decollazione di San Giovanni Battista eine Arie des Titelhelden, „Bacio l’ombre e le catene“, vorstellt. In ihrem strengen, düsteren Charakter ist sie eine typische ombra-Arie, was sich bereits in der fahlen Einleitung andeutet. Dem Sänger aber fehlen geeignete Farben und die Tiefe klingt matt.

Die weiteren Komponisten sind ungleich populärer – allein voran George Frideric Handel, der mit seinem Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno von 1707 vertreten ist. Die Arie daraus, Piaceres „Lascia la spina“, ist vor allem durch Almirenas „Lascia ch’io pianga“, aus seiner Oper Rinaldo, welche auf dem selben musikalischen Motiv fußt und 1711 heraus kam, ein Schlager geworden. Hier hört man vom Counter schmeichelnde Töne und eine delikate Variation im Da capo.

Alessandro Scarlattis La Giuditta taucht gelegentlich in Konzertsälen und sogar Opernhäusern auf. Jaroussky schlüpft in die Rolle der Amme und gestaltet deren Arie „Dormi, o fulmine di guerra“. Für dieses Schlaflied findet er besonders zärtliche Töne. Auch Benedetto Marcello vertonte dieses Sujet in seinem Oratorium La Giuditta, aus dem der Sänger eine Arie des Achior, „Tuona il Ciel“, auswählte. Sie gehört zur Gattung der arie di furore. Schon in den wenigen Takten der Einleitung ist dieser Typus umrissen, und die Stimme ertönt in fast hysterischer Erregung Mit Johann Adolph Hasse findet sich auch ein deutscher Komponist in der Sammlung. Aus dessen La conversione di Sant’Agostino erklingt des Titelhelden „Il rimorso opprime il seno“. In ihrem aufgewühlten Duktus ist die Arie in glänzendes Beispiel für die Ausdruckskraft des Komponisten und auch ein Höhepunkt der Anthologie.

Nicht weniger als dreimal taucht der Name Antonio Caldara auf. Alle Werke sind Raritäten und dürften nur ausgewiesenen Kennern der Barockszene bekannt sein. Aus Assalonne ist Ioabbes ungestümes „Contro l’empio s’impugni la spada“ zu hören – wiederum eine aria di sdegno, was das Orchester in der Einleitung mit erregten Streicherfiguren hören lässt. Jaroussky greift hier im Ausdruck zu für ihn ungewöhnlich expressiven Mitteln. Aus Santa Ferma ertönt die Arie des Angelo „Amar senza penar“, welche dem Interpreten virtuose Läufe abverlangt. Mit der Arie der Maria di Giacobbe, „È morto il mio Gesù“, aus Morte e sepoltura di Christo beschließt Jaroussky das Programm mit einer ergreifenden Klage. Bernd Hoppe

Eher sinfonisch

 

Das Ereignis der jeweiligen Saison waren die konzertant aufgeführten Wagner-Opern in der Philharmonie unter Marek Janowski, als er noch Chefdirigent des Berliner Rundfunk-Sinfonieorchesters war, sämtlich auf CD festgehalten vom Label Pentatone, das sich nun auch des Dirigenten Ausflug in den Verismo mit Puccinis Tabarro und Mascagnis Cavalleria Rusticana, im März 2019 mit der Dresdner Philharmonie aufgeführt, angenommen hat. Gleichermaßen von Regiekapriolen ermüdet bis angewidert, konnten sich Dirigent und Publikum am musikalischen Hochgenuss mit zum großen Teil auch hochkarätiger Sängerbesetzung erfreuen bzw. sich ungestört der Erzeugung desselben widmen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Nicht die Sänger, sondern das Orchester sind das Phänomenale an der Aufnahme der Puccini-Oper. Die weit in die Gefilde des musikalischen Impressionismus reichende Partitur wird  von der Dresdner Philharmonie wunderbar bis in die kleinsten Details ausgekostet, vermittelt gleichermaßen das aus der Ferne vernehmbare Großstadtleben wie die mühsam unterdrückten und schließlich ausbrechenden Gefühle der Protagonisten in einmal zarten Aquarellfarben und dann wieder in angemessen grellem Aufbrausen. Nie zuvor dürfte man die Partitur derartig schillernd und die Handlung kraftvoll ausmalend erfahren haben. Die Dresdner können höchste Erwartungen an kommende musikalische Ereignisse hegen.

Leider ist die Sängerbesetzung nicht auf dem gleich hohen Niveau wie die orchestrale. Man kann keinem der drei Protagonisten vorwerfen, sich nicht hinreichend für seine Partie einzusetzen, im Gegenteil, alle drei tun, zumindest was die Lautstärke betrifft, durchgehend zu viel, stehen unter Dauerstrom und lassen es an Nuancen mangeln.

Vokale Gewalt liegt von Anfang an bei dem Michele von Lester Lynch in der Luft, der im fast pausenlosen Dauerforte grob herrisch und fast bis zum Schluss ohne Differenzierung, zwar mit sicherer Höhe, aber auch mit schlimmen Vokalverfärbungen ( so bei „la pace è nella morte“) die akustische Oberhoheit über seinen Kahn und seine Gattin verteidigt. Mehr Kraftvolles als Verführerisches, von Italianità ganz zu schweigen, vernimmt man auch von dem Luigi von Brian Jagde, der seinem Arbeitgeber an vokal Auftrumpfendem in nichts nachstehen möchte. Melody Moore äußerst in sehnsüchtigen Crescendi Lebensgier und Liebesverlangen, klingt durchweg vollmundig, lässt die Höhen schön aufblühen, kann aber in der Extremhöhe auch schrill klingen. Alle drei sind auch die Protagonisten in Cavalleria, wovon es ebenfalls eine CD gibt.

Die kleineren Partien sind angemessen besetzt, die Frugola von Roxana Constantinescu kann sich besonders profilieren. Aber wäre nicht die Leistung des Orchesters unter Janowski so frappierend, könnte man diese CD „überflüssig“ nennen (Pentatone PTC 5186 773). Ingrid Wanja

Elizabeth Kingdon-Grünwald

 

Kurz vor ihrem 93. Geburtstag ist am 22. Januar 2021 die Opernsängerin und Nürnberger Kulturikone Elizabeth Kingdon-Grünwald verstorben. 1928 in Schenectady im US-amerikanischen Bundesstaat New York geboren, kam sie durch ein Fulbright-Stipendium 1956 nach Deutschland und studierte an der Staatlichen Hochschule für Musik Frankfurt Gesang. Nach einem ersten Engagement am Theater Bielefeld wechselte sie 1963 an die Städtischen Bühnen Nürnberg und sang dort als gefeierte Opernheroine alle wichtigen Partien im jugendlich-dramatischen Fach. Ab 1976 startete sie bei der kurz zuvor gegründeten Pocket Opera Company (POC) eine zweite Karriere und tourte mit der POC durch Franken, Deutschland und die Welt. Unvergessen bleibt ihre Personality-Show „Eliza’s Pocket Paradise“, in der sie sich selbst als fränkisch-amerikanische Nachtigall symbolisch den Kulturpreis der Stadt Nürnberg verlieh, nur um ihn 1984 tatsächlich aus den Händen des damaligen Kulturreferenten Hermann Glaser zu empfangen. Das Geheimnis der umwerfenden Operninterpretationen von „Eliza“ – wie sie von ihren Fans liebevoll genannt wurde – bestand darin, dass sie die Partien trotz ihrer Aura als persiflierende Diva stets auch mit großer innerer Ernsthaftigkeit und hohem gesangstechnischen Niveau auf die Bühne brachte. Dafür wurde sie vom Publikum frenetisch gefeiert und verhalf dem von der Pocket Opera Company etablierten neuartigen Opernstil durch Auftritte bei vielen alternativen Theaterfestivals von Edinburgh über Barcelona bis Wien zum internationalen Durchbruch. Im Jahre 2003 erhielt sie für ihr kulturelles Engagement und Lebenswerk das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Zuletzt war Elizabeth Kingdon-Grünwald 2014 im Alter von 86 Jahren noch einmal als Aida auf dem Nürnberger Wöhrder See in „My Fair Verdi“ (daraus das Foto oben/ Andrea Legler/ Pocket Opera)und im Kurzfilm „POC 40“ zu erleben. Ihr Leben war die Oper. (Quelle Pocket Opera Company)

Michel Trempont

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Einige der bedeutendsten Sänger des französischen Repertoires stammen aus Belgien. Rita Gorr und José van Dam sind da besonders zu nennen, aber auch der Bariton Michel Trempont, der am 30. Januar im Alter von 92 Jahren verstorben ist. Ausgebildet wurde er in Brüssel bei dem russischen Tenor Joseph Rogatchevsky und debütierte 1952 in Liège als Valentin in „Faust“. 1955 wurde er ans Théâtre de La Monnaie in Brüssel engagiert, wo sein Lehrer Operndirektor war. Hier sang er im Laufe seiner Karriere 140 Rollen. Seit 1962 trat er regelmäßig an den Pariser Opernhäusern auf und begann eine internationale Gastspielkarriere, die ihn nach London, Barcelona, Lissabon, Neapel, Venedig, Mailand sowie in die Vereinigten Staaten, nach Kanada, Mexico, Brasilien und Japan führte.

Zu seinen weltweit gefragten Glanzrollen zählten die Figaros von Rossini und Mozart, Sancho Pansa in Massenets „Don Quichotte“ und Gianni Schicchi. In San Francisco sang er neben seinem französischen und italienischen Repertoire auch Beckmesser (Spielzeit 1986/87). In reiferen Jahren übernahm er mehr und mehr Partien des Charakter- und Bassbuffo-Fachs, in denen er wegen seines komödiantischen Talents große Erfolge hatte: Als Rossinis Dr. Bartolo und Donizettis Mamma Agata, vor allem aber als Sulpice in „La fille du régiment“, mit dem er 1995 ein spätes Debut an der Metropolitan Opera gab. In dieser Rolle stand er sechs Jahre später auch neben dem jungen Juan Diego Flórez in Gran Canaria auf der Bühne. Noch 2005 trat er in Orange in „La Bohème“ neben Roberto Alagna und Angela Gheorghiu auf. Wie sein im vergangenen Jahr verstorbener französischer Kollege Gabriel Bacquier war er bis ins Greisenalter aktiv: Nach der Bühnenkarriere als Pädagoge in Brüssel und Mons und als Juror bei Gesangswettbewerben. Erst 2015, mit immerhin 87 Jahren, setzte er sich endgültig zur Ruhe.

Seine Diskographie ist ansehnlich und vor allem mit den Operetten Jacques Offenbachs verbunden, darunter einige Referenzaufnahmen: „La belle Hélène“ mit Jane Rhodes unter Alain Lombard (Calchas), „Orphée aux enfers“ und „La vie Parisienne“ unter Michel Plasson (als Jupiter respektive Bobinet), „Mesdames de la Halle“ unter Manuel Rosenthal (Madou) und „Les Brigands“ unter John Eliot Gardiner (Pietro). Unter Gardiners Leitung sang er auch Maître André in Messagers „Fortunio“. Auch in Gesamteinspielungen von Grétrys „Richard Cœur de Lion“ und Aubers „Fra Diavolo“ (mit Nicolai Gedda) hat er mitgewirkt. „Opera Nostalgia““ hat aus Anlaß seines Todes auf youtube den Mitschnitt eines Konzerts in Mons veröffentlicht, in dem der 71jährige in prachtvoller stimmlicher Verfassung die Figaro-Arien Mozarts und Rossinis singt, aber auch für so gegensätzliche Figuren wie Almaviva und Don Magnifico noch die nötige stimmliche Flexibilität zeigt. Einige wenige Video-Ausschnitte finden sich im Netz, die seine schauspielerische Präsenz dokumentieren und seine Beliebtheit beim Publikum erklärbar machen (Foto oben: Michel Trempont als Bantison in „Monsieur Beaucaire“, Monnaie, Bruxelles, 1956 Fonds musical Perna, Bruxelles musimern.com) Ekkehard Pluta

Gesungenes für Horn

 

Der Sprache der Musik, den Geschichten, die sie erzählt – und das Ganze ohne Worte – widmet sich Felix Klieser auf seinem neuen Album Beyond Words (Berlin Classics 0301460BC). Seinen Fokus richtet er auf die Vorstellungen, die beim Hören vor dem inneren Auge auftauchen, auf die Emotionen, die die Musik auslöst. Für Beyond Words hat der Hornist verschiedene Arien von Bach, Vivaldi, Händel und Gluck ausgewählt und die teils ganz unterschiedlichen, in sich geschlossenen musikalischen Welten auf individuelle Weise erzählt.

Das Repertoire ist wahrscheinlich für viele Zuhörende mit Erinnerungen verbunden, sind doch für Viele Händels „Hallelujah“ und „Ombra mai fu“ oder Bachs „Bereite dich, Zion“ und „Wohl mir, dass ich Jesum“ habe wohlbekannte Werke. Hier jedoch hört man sie einmal ganz anders: In der Auswahl der barocken Arien und Choräle der großen Meister Johann Sebastian Bach, Antonio Vivaldi und Georg Friedrich Händel nimmt das Horn die Rolle der menschlichen Stimme ein, zeichnet die melodischen Bögen nach und imitiert den Klang der Stimme. Begleitet wird er vom 2010 gegründeten Ensemble CHAARTS Chamber Artists aus Zürich, die im Zusammenklang mit Kliesers weichem Timbre den barocken Werken auf modernen Instrumenten neues Leben einhauchen
Wichtig ist für dieses Album jedoch nicht die Virtuosität, sondern der klangliche Ausdruck, sagt Felix Klieser: .“Es muss gut umzusetzen sein. Die Gesanglichkeit und Ausdrucksmöglichkeit des Klangs sollen im Zentrum und im Fokus stehen.“ Den Härenden wird eine Geschichte erzählt, die frei für jede Interpretation ist und zulässt, in eine rein musikalische Welt einzutauchen. .,Sie sollen nicht wissen müssen, was inhaltlich passiert, sondern sich von der Musik leiten lassen.“
Inhaltlich könnten die Geschichten, die die Arien erzählen, unterschiedlicher nicht sein. „Sie handeln von Lob und Preis, von grausamem Schicksal und verlorener Freiheit. Probleme, die bereits zu den Entstehungszeiten der Werke existierten und heute immer noch aktuell sind… Wenn wir Musik spielen, die sehr alt ist, kommunizieren wir mit Ausdrucksmitteln, die die Menschen hatten, bevor es Smartphones gab, Flugzeuge, Autos – und trotzdem ging es in der Musik um dieselben Dinge. Das scheint etwas zu sein, was uns auch heute bewegt, und das finde ich faszinierend.“
Das Universelle, Verbindende und über Jahrhunderte hinweg Aktuelle, das der Musik zugeschrieben werden kann, liegt nicht in der Sprache der Worte. „Es liegt in der Sprache ihres Klangs und den davon hervorgerufenen Assoziationen, Gefühlen und Geschichten, die erzählt werden. .,Man braucht keine jahrelange Alfsbildung, um mit Musik etwas anfangen zu können. Nicht das, was man rüberbringen will als Interpret ist wichtig, sondern, dass etwas ankommt“, sagt Klieser, der diese besondere Sprache wie kein anderer beherrscht. Mit Beyond Words erschafft er einen Raum über die Sprache hinaus – er spricht mit der Musik und der Melodie allein. Ab dem 19. 02. 21 auf Berlin Classics. Quelle Berlin Classics

„Olé-Olá-Olé“

 

Dass Lehár ein „moderner“ Operettenkomponist ist, fällt vielen schwer zu glauben. Schließlich ist es so schön „opernhaft“ wenn der Richard, Fritz, Placido oder Rudolf „Dein ist mein ganzes Herz“ schmettern. Da passt es nicht recht ins Bild, dass Lehár auch Foxtrotts, Rumbas und Tangos komponierte, die entsprechend vorgetragen und getanzt werden wollen. Schon 1905 findet sich im 3. Akt der Lustigen Witwe ein Cake-Walk, als neuester Trend aus den USA. Hört man die Aufnahme von John Eliot Gardiner – der sich als Experte für „historisch informierte Aufführungspraxis“ sieht – würde man in der entsprechenden Tanzszene Nr. 13 glauben, es handle sich um einen Infanteriemarsch, nicht um den letzten Schrei in Sachen Up-to-date-Sein.

Bevor Lehár mit dem Paganini für seinen neuen Seelenverwandten Richard Tauber die erfolgreiche Spätphase seiner Karriere einläutete, charakterisiert durch tränenreiche Entsagungsstücke mit großem Opernpathos (und großen Opernstars wie Vera Schwarz, Gitta Álpár oder Jarmila Novotna an Taubers Seite), komponierte er 1924 noch ein letztes Mal eine rundum dem Zeitgeist und Humor verpflichtete Tanzpartitur, die sich auf Augenhöhe mit den Jazz- und Revueexperimenten seiner Konkurrenten bewegte: Cloclo heißt das Werk, das im Wiener Bürgertheater uraufgeführt wurde mit der Soubrette Louise Kartousch in der Titelpartie. Sie war auch bekannt wegen vieler hüllenloser Fotos oder wegen draufgängerischer Hosenrollen (etwa in Ein Herbstmanöver).

Cloclo ist eine freche Sittenkomödie um eine Pariser Nachtclubtänzerin, die eine Affäre mit dem verheirateten Bürgermeister der fiktiven Kleinstadt Perignan hat, sein Name ist Monsieur Cornichon. Eigentlich liebt sie aber den mittellosen Adligen Maxime de la Vallé. Da der kein Geld hat, pumpt sie in einem Brief Cornichon um 3000 Francs an, für eine Geldstrafe, weil sie einen Polizisten geohrfeigt hat. Sollte sie nicht zahlen, muss sie ins Gefängnis. Den Brief an Cornichon adressiert sie an „Mein liebes Papachen!“ Er gerät in die Hände von Cornichons sittenstrenger Ehefrau Melousine. Die bricht umgehend nach Paris auf, um das uneheliche Kind ihres Mannes in den Schoss der Familie heimzuführen und ihm eine anständige Erziehung angedeihen zu lassen. Schließlich war bzw. ist ihre Ehe mit Cornichon kinderlos, obwohl sie sich so sehr Nachwuchs gewünscht hatte.

Natürlich fliegt das Spiel mit den falschen Identitäten irgendwann auf, und zwar mitten beim 50. Geburtstagsfest von Bürgermeister Cornichon, bei dem der Staatsminister und sämtliche Honoratioren von Perignan anwesend sind. Die enttarnte Cloclo wird von der Polizei verhaftet. Zuvor sind die Szenen urkomisch, in denen Cornichon seiner Geliebten von der eigenen Ehefrau als „Geburtstagsüberraschung“ vorgestellt wird. Oder wenn Melousine die kleine Cloclo über die Gefahren der Männerwelt aufklären möchte und aus ihrem reichen Erfahrungsschatz berichtet. Oder wenn der eifersüchtige Maxime auftaucht mit gezückter Pistole und sich erst beruhigt, als er erfährt, dass Cornichon kein Widersacher, sondern sein künftiger Schwiegervater ist.

Die Rolle der Melousine spielte bei der Uraufführung die grandiose Gisela Werbezirk, eine Art österreichische Adele Sandrock, die dem Stück ihren Stempel aufdrückte. Der Groteskkomiker Ernst Tautenhayn war ihr Mann, und die kesse Kartousch eine aufmüpfige Cloclo. Sie durfte u.a. den Shimmy „Olé-Olá-Olé“ singen, einer von vielen „neuartigen“ Tänzen im Stück, neben dem Blues „Pflücke die Rose dir“ mit Celesta und Banjo und dem Foxtrott „Ich habe La Garçonne gelesen“ (der große Schlager bei der Uraufführung, von Werbezirk mit erschüttertem Tonfall vorgetragen).

2019 brachte das Lehár Festival in Ischl Cloclo als semikonzertante Aufführung heraus und zeichnete diese live auf, ebenso die öffentliche Generalprobe. Das ist das große Plus dieser cpo-Aufnahme (2CD cpo 9254290), denn man hört in den umfangreichen Dialogszenen immer wieder die Lacher des Publikums, die darauf hindeuten, dass die Witze im Libretto von Bela Jenbach nach wie vor hervorragend funktionieren. Hier in der Fassung von Jenny W. Gregor zu hören.

Besetzt ist das Stück in Ischl mit Sieglinde Feldhofer als Titelheldin. In ihrer Biografie kann man im Booklet lesen, sie würde auch Eliza Doolittle (in My Fair Lady) und Maria (in West Side Story sowie The Sound of Music) singen, ebenso die Gigi (in Gigi). Das deutet auf Erfahrung mit Broadway-Musicals hin und darauf, dass sie eigentlich den zwischen Sprechen und Singen changierenden ungekünstelten Ton gut treffen müsste, der hier von Lehár verlangt wird. Die Betonung liegt auf „müsste“, denn Feldhofer bleibt gepflegter Opernsopran, durch und durch. Sie klingt gut, teils sogar überaus edel, aber es fehlt jeder Funken Aufmüpfigkeit und jedes souveräne Spiel mit Text, also genau das, wofür Louise Kartousch berüchtigt war.

Susanne Hirschler als Melousine wiederum ist zwar Schauspielerin und Komödiantin, aber traut sich (akustisch) nicht, drastisch dreinzuhauen. Sie versucht viel zu „distinguiert“ zu singen, was durchweg unschön klingt und in den Musiknummern an jedem komischen Effekt vorbeischrammt. Das ist schade, weil die Rolle und alles was mit ihr zusammenhängt dankbares Material liefert. Über Gisela Werbezirk kann man in einer Uraufführungskritik von Friedrich Torberg lesen: „Sie besaß eine Bühnenpräsenz von schlechthin monströser Wirkung und etablierte sie schon durch ihr bloßes Erscheinen, durch die groteske Überwältigungskraft ihres Äußeren.“ Das sollte sich auch auf Tonträger vermitteln, wenn man dieses Stück heute aufführt. Grotesk bzw. monströs ist Hirschler absolut nicht. Sie hat in Ischl stattdessen die Rössl-Wirtin gegeben, die ein völlig anderes Fach darstellt.

Vokal schlägt sich Bariton Gerd Vogel als Severin Cornichon da besser, weil charaktervoller, aber auch er bleibt durchweg einem Opernton verhaftet, statt „Lustspieloperette“ zu liefern. Vermutlich ein Missverständnis, für das der Chefdirigent des Lehár Festivals höchstselbst verantwortlich ist: Marius Burkert lässt viele Besonderheiten in der Instrumentation aufblitzen, hat aber offensichtlich keine Ahnung, wie Tanzmusik der 1920er-Jahre gespielt werden muss. Jedenfalls nicht wie eine Lortzing-Spieloper.

Wie gesagt, in den Dialogszenen kommt dank der Live-Reaktionen des Publikums zumindest eine Ahnung vom Wirkungspotenzial des Stücks auf. Und in den Nebenrollen kann man einige positive Überraschungen erleben: Matthias Störmer ist ein hinreißend komischer Polizeioffizier, der durch die Cloclo-Ohrfeige zu nationaler Berühmtheit in Frankreich gelangt. Er hat so gut wie nichts zu singen, aber er spielt. Und wie! Daneben der junge Ricardo Frenzel Baudisch als Klavierlehrer Chablis, der Cloclo ausbilden soll auf Wunsch von Melouise, aber beim Skalenspielen ganz andere Gedanken hegt. Die Tonleiter-Szene in C-Dur ist ein Highlight der Aufnahme.

Sehr hilfreich zum Verständnis der Zusammenhänge ist Frank Voß als Erzähler. Er klingt auf der Aufnahme recht weit weg platziert, aber man versteht ihn trotzdem gut. Und er trifft den süffisant-ironischen Ton, den ich mir bei den drei Hauptdarstellern gewünscht hätte.

So findet – wie so oft bei cpo-Operettenausgaben – das Stück nur eingeschränkt statt, wird weit unter Wert verkauft, weil man meint, ihm musikalisch „gerecht“ zu werden, statt es lustvoll auszumusizieren. Da kann man halt nichts machen: so ist cpo, und dafür steht auch der Lehár Festival unter Intendant Thomas Enzinger.

 

Zeitgleich mit dem cpo-Doppelalbum hat die US-amerikanische Operetta Foundation eine DVD-Aufzeichnung von Cloclo von der Ohio Light Opera herausgebracht, in englischer Sprache. Die Inszenierung von Steven A. Daigle sieht provinziell aus, erlaubt aber die Handlung komplett zu sehen, nicht nur zu hören. Caitlin Ruddy in der Titelrolle ist auch kein Ausbund an Kessheit à la Katousch. Der Rest: brav und extrem „camp“, was manchmal unfreiwillig komisch ist, aber vermutlich nicht im Sinne von Jenbach und Lehár. Steven Byess dirigiert, die Bravour der Lehár‘schen Instrumentation hört man jedoch in Ischl besser. (Die DVD kann man über die Webseite der Operetta Foundation bestellen.)

Auf alle Fälle lohnt das Stück die Bekanntschaft, nicht nur weil es Lehárs Abschied von einem „zeitgenössischen“ Operettenton markiert, den in den Zwanzigerjahren andere effektvoller trafen als er. (Parallel zu Cloclo ging 1924 am Theater an der Wien Kálmáns synkopierte Gräfin Mariza in Premiere und löste Lehárs Vormachtsstellung an dem Haus der Witwe-Uraufführung ab.) Das Stück über Verwechslungen, emanzipierte Frauengestalten, überkommene Moralvorstellungen und Eheprobleme-die-sich-lösen-lassen hat uns nach wie vor viel zu sagen – und die Lacher in Ischl belegen, dass ein heutiges Publikum darauf immer noch reagiert. Kevin Clarke ǀ Operetta Research Center Amsterdam; mit weiteren und schönen historischen Fotos.

Marcella Reale

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Meine alte Freundin Marcella Reale (1929-2021) ist tot. Was war sie doch für eine liebenswürdige, freundliche und vor allem lustige Frau (und herausragende Sängerin). Und was für eine unkonventionelle. Ich erinnere mich noch genau an das Raunen im alten Politeama in Palermo (das mit dem tropfenden undichten Glasdach für die Reihen 14 – 16 Mitte), als Marcella im fleischfarbenen Trikot die Titelpartie in Leoncavallos Oper La Maschera nuda gab, hoch erotisch, aber doch anständig. Der Saal war rappelvoll, die Palermitaner zu Hauf erschienen, vom Titel angelockt, der sich denn doch als lässlich erwies (wie die Oper selbst auch). Marcella war Amerikanerin, trotz ihres italienischen Namens. Und wir ratschten über Kunst und Singen, über ihren Lieblingspartner Domingo und über ihre Familien in Italien und back home. Sie war eine sehr attraktive Person, mit schönen rot-schwarzen Haaren und einem sehr beweglichen Gesicht, Hände in der Luft, eben doch eine Italiana.

Unser Freund Brian Castle-Onion, Australiens Mann für die Oper und Herausgeber zahlreicher historischer Aufnahmen australischer Gesangsgrößen, erinnert seinerseits an Marcella Reale, die er ebenfalls gut kannte. Seine nachfolgende Hommage deckt sich absolut mit meinen Erinnerungen an diese interessante Sängerin. R.i.p. Marcella. G. H.

Die amerikanische Sopranistin Marcella Reale sang 1968 und 1969 zwei Spielzeiten an der Opera Australia in den Rollen Senta, Donna Anna, Minnie und Elisabeth. In den Nachrichten anlässlich ihres Ablebens (17. Jänner 2021) erinnert man in Australien an „ihre überlebensgroße Persönlichkeit, ihre intensiven Leistungen und ihre Großzügigkeit gegenüber Kollegen und Mitarbeitern“. Natürlich sprechen ihre internationale Karriere und ihre vielfältigen Rollen für sich. Sie wurde für ihr Engagement und ihren Erfolg im Repertoire des Maestro mit dem Puccini d’Oro ausgezeichnet. In Treviso erhielt sie gemeinsam mit Gianni Raimondi den Mario del Monaco-Preis als beste Verismo-Interpretin.

Sie war in der Tat eine großartige Interpretin des Verismo und sang die standardmäßigen weiblichen Hauptrollen des italienischen, französischen und deutschen Repertoires. (Ihre Lieblingsrolle war Katerina Ismailowa in Schostakowitschs Oper.)

Geboren wurde sie am 17. Juli 1929 als Tochter italienischer Eltern in Brooklyn, New York. Während ihrer frühen Karriere verkörperte sie bereits im Alter von 14 Jahren die Mimi in San Francisco, gefolgt von der Cio-Cio-San im nächsten Jahr – ja … im tatsächlichen Alter von Puccinis Heldinnen! Diese wurden von ihren wichtigsten Stimmen- und Interpretationslehrern – Armand Tokatyan und Lotte Lehmann – beaufsichtigt. Sie erhielt ein Fulbright-Stipendium, mit dem sie ihr Studium an der Hochschule für Musik in München fortsetzen konnte.

Marcellas Hauptkarriere begann 1957/58 am Staatstheater Heidelberg. Danach trat sie am Aalto-Musiktheater in Essen (1958/59) und am Theater von Krefeld auf. 1961 sang sie zum ersten Mal in Italien am Verdi-Theater in Triest. Danach trat sie an anderen Theatern Italiens (Teatro Regio di Parma, Teatro di San Carlo in Neapel) sowie an der New Yorker Oper auf. Sie sang auch in San Francisco, Seattle, Tel Aviv und Athen.

Zu ihren Bühnenkollegen gehörten Plácido Domingo, José Carreras, Mario del Monaco, Franco Corelli, Alfredo Kraus, Richard Tucker, Tito Gobbi, Birgit Nilsson und Jon Vickers (der Alfredo zu ihrer Violetta!). 1991 wurde sie nach Japan eingeladen, um Meisterkurse zu geben. 1993 kam sie zurück, um die japanische Erstaufführung von Scarlattis Il Mitridate Eupatore zu inszenieren. Sie blieb bis 2017 in Tokio, als sie in die USA zurückkehrte.

Marcella war eine wunderbar großzügige Seele mit einer elektrisierenden Persönlichkeit auf und neben der Bühne. Sie hatte eine starke Präsenz und unterstützte junge Künstler unglaublich – allerdings mit eindeutigen Meinungen, die durch ihre persönlichen Aufführungserfahrungen gestützt wurden. Sie war eine enzyklopädische Quelle, die ich bei vielen Gelegenheiten mitgeschnitten habe. Man musste nur eine Rolle erwähnen und es sprudelte eine Menge heraus an wertvoller Information über den Charakter, die Herangehensweise an das Singen der Rolle und was dem Publikum zu vermitteln ist, wenn man nicht singt!

Sie hatte ein enormes Repertoire an Anekdoten … So lernte sie in den frühen 1960er Jahren Mascagnis Isabeau in gerade vier Tagen als Einspringerin für die erkrankte Marcella Pobbe in Neapel. Als die Pobbe hörte, dass die Reale bereit sei, sie in der Produktion zu ersetzen, gewann sie „überraschend“ ihre Gesundheit wieder. Als Dankeschön gab das Management Marcella zwanzig Aufführungen von Cio-Cio-San (eine Rolle, die sie über dreihundert Mal dokumentiert sang). Zu dieser Zeit durfte Bargeld Neapel nicht verlassen, weshalb Marcella das Honorar der zwanzig Aufführungen für den Kauf eines prächtigen Cognac-Diamantring verwendete (umgeben von Smaragden und weißen Diamanten). Das war reine Diva-Mentalität.

In Buenos Aires ersetzte sie Marie Collier als Tosca. Während sie 1975 die Titelrolle in Adriana Lecouvreur in Europa sang, wurde sie am selben Abend ans Royal Opera House in Covent Garden berufen, um eine erkrankte Sopranistin zu ersetzen. Marcella stieg ins Flugzeug und trug eine Stunde vor der Landung ihr Cio-Cio-San-Make-up auf und setzte ihre Perücke auf. Auf der Straße erhielt sie eine Polizeieskorte zum Opernhaus – das den Vorhang fast eine Stunde für ihre Ankunft geschlossen hatte. Als der Vorhang aufging, hatte sie weder den Dirigenten noch einen der Sänger vorab angetroffen. Ihr Pinkerton war José Carreras.

Ihr schönes, zierliches Gesicht ist deutlich als Mimi zu erkennen in der Musetta-Sequenz im M.G.M.-Film über das Leben der australischen Sopranistin Marjorie Lawrence Interrupted Melody aus dem Jahre 1955. Ihre einzige Liù in Turandot war mit Birgit Nilsson und Franco Corelli. In dieser Nacht hatte Marcella rasendes Lampenfieber und ließ den Dolch zweimal in ihrer Selbstmord-Szene fallen. Sie hatte weder Nilsson noch Corelli zuvor gesehen, und als sich der Vorhang öffnete, schüttelte Franco Corelli ihre winzige Hand und stellte sich vor – vor den Augen des Publikums.

Ich verehrte Marcella, und dies beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie mochte es nicht, über die Vergangenheit zu sprechen, obwohl ich vermute, dass sie es tatsächlich liebte. Sie war immer jung … mit der Persönlichkeit eines verspielten Mädchens. Sie hasste es auch, wenn ich anrief, um ihr alles Gute zum Geburtstag zu wünschen – aber ich bestand darauf. Sie hinterließ diejenigen, die sie kannten und verehrten, mit lebenslangen Erinnerungen. Sie beleuchtete unser Leben wie ein Leuchtturm. Wir werden sie unglaublich vermissen. Brian Castles-Onion/ Übersetzung Daniel Hauser

Eva Coutaz

 

Das Label  harmonia mundi franbce schreibt zum Tode der Firmenchefin Eva Coutaz:  Laurent Didailler, Christian Girardin und Jean-Marc Berns, die Musiker und das gesamte Team von harmonia mundi haben die traurige Pflicht, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Eva Coutaz am Dienstag, den 26. Januar 2021 im Alter von 77 Jahren nach kurzer Krankheit verstorben ist. Seit 2016 lebte sie zurückgezogen in Arles, nachdem sie mehr als 800 Aufnahmen für harmonia mundi produziert hatte.  Ihr hoher Anspruch, ihre Entschlossenheit, ihre Loyalität gegenüber den Musikern und die Kohärenz, mit der sie ihren Katalog aufgebaut hatte, wurden von der Presse einhellig anerkannt und regelmäßig gefeiert: harmonia mundi wurde mehrfach zum „Label des Jahres“ gewählt (Gramophone, BBC Music Magazine, Diapason, Classica, Radio Classique, ICMA, Midem). Ihre Loyalität zu den Musikern war ebenso außergewöhnlich wie ihre herzliche Anteilnahme bei jedem wichtigen Schritt ihres künstlerischen und persönlichen Weges. Sie betrachtete ihr Label als eine Familie, die durch dieselben künstlerischen Anschauungen und den Wunsch vereint war, das zu feiern, was sie über alles liebte: die Musik. Ihr Tod hinterlässt eine große Lücke. Das gesamte harmonia mundi-Team ist in Gedanken bei ihren Lieben und ihrer Familie.

 

Eva Coutaz (1943-2021) leitete fast 30 Jahre lang die Produktion des Labels harmonia mundi. Die 1943 in Wuppertal geborene deutsche Staatsbürgerin begann ihre berufliche Laufbahn mit einer Buchhandelslehre in ihrer Heimat. Nach ihrem Fachdiplom zog es sie nach Frankreich, um die Region der Provence kennenzulernen. Nach einigen Monaten als Au-pair-Mädchen fand sie eine Stelle als Buchhändlerin und arbeitete einige Jahre in einer großen Universitätsbuchhandlung in Südfrankreich. 1972 kam sie als Pressereferentin zu harmonia mundi und war für die Organisation von Konzerten zuständig. Es war ihre Liebe zur Musik, die es ihr ermöglichte, ihren Beruf höchst erfolgreich auszuüben. Sie hat mehr als 800 Aufnahmen mit weltbekannten Musikern wie Alfred Deller, Chiara Banchini, William Christie, Kenneth Gilbert, Philippe Herreweghe, René Jacobs, Soeur Marie Keyrouz, Marcel Pérès, Alain Planès, Josep Pons, Christophe Rousset, Andreas Scholl, Andreas Staier, Paul Van Nevel, Dominique Visse, Matthias Goerne, Jean-Guihen Queyras oder Paul Lewis produziert. Es fiel ihr von Anfang an leicht, sich den Geist des Unternehmens zu eigen zu machen, der Qualität immer über Profitstreben stellte. Nach dem Tod des Label-Gründers Bernard Coutaz im Februar 2010 wurde sie Präsidentin und CEO von harmonia mundi bis zur Übernahme durch [PIAS] im Jahr 2015. Nachdem sie das neue Team zunächst an Ort und Stelle begleitet hatte, zog sie sich 2016 nach und nach zurück und überließ Christian Girardin den Platz als Produktionsleiter. Das Label ist nun Teil der [PIAS]-Gruppe, deren CEO, Kenny Gates, und der General Manager des Labels, Laurent Didailler, das Abenteuer mit der gleichen Sorgfalt und Entschlossenheit fortsetzen. (Quelle hmf)

Neue und alte Barock-Perlen der Königin

 

Resteverwertung & 2 Neuzugänge: Mit Queen of Baroque ist eine „neue“ CD von Cecilia Bartoli bei DECCA betitelt, deren 17 Nummern eine aufschlussreiche Rückschau (bei 2 Neuaufnahmen)  über das Wirken der Sängerin geben (485 1275). Werke von Händel und Steffani überwiegen, aber es finden sich auch Arien von Vinci, Vivaldi, Broschi, Graun und Porpora, welche die exzeptionelle Virtuosität der Interpretin belegen. Fast alle Stücke sind barocke Perlen und Veröffentlichungen mit der Bartoli aus den Jahren 1993 bis 2017 entnommen. Ihr Ruhm als Barocksängerin begann mit der Präsentation des Vivaldi-Albums 1999 bei ihrer Stammfirma DECCA. Es war das erste von mehreren in Folge erscheinenden Recitals mit konkreten Konzepten. Sie waren entweder einem einzelnen Komponisten gewidmet oder verfolgten eine Programmidee. In der Vivaldi-Anthologie findet sich aus Griselda eine Arie des Ottone, aber nicht diese wurde in das neue Album übernommen, sondern eine der Costanza, „Agitata da due venti“. Sie ist ein Höhepunkt in Vivaldis Schaffen und wurde schnell zu einem cavallo di battaglia der Bartoli bei ihren öffentlichen Auftritten. Sie erklingt hier in einem Live-Mitschnitt von 1998 aus dem Teatro Olimpico in Vicenza. Begleitet von den Sonatori de la Gioiosa Marca, singt die Bartoli mit einer derart umwerfenden Bravour, einer so brillanten Leichtigkeit, das es dem Hörer schier den Atem verschlägt.

Von ähnlich virtuosem Anspruch ist die Arie des Arbace, „Son qual nave ch’agitata“ aus Riccardo Broschis Artaserse mit ihren aufgewühlten Streicherfiguren in der Einleitung sowie den rasenden Koloraturläufen und Ausflügen in die Extremhöhe. Sie wurde dem Album Sacrificium von 2009 entnommen, welches die Sängerin den legendären Kastraten und deren Lehrer Nicola Porpora gewidmet hatte. Daraus stammen auch die Arie des Farnaspe „Ov’è il mio bene“ aus Carl Heinrich Grauns Adriano in Siria mit ihrer ergreifenden emotionalen Intensität und die Arie des Arminio, „Parto, ti lascio“ aus Porporas Germanico in Germania. Letztere ist mit den schier endlosen Phrasen und irrwitzigen Intervallsprüngen ein Musterbeispiel für die horrend schwierigen Kompositionen der Zeit – nicht verwunderlich, dass sie von dem legendären Kastraten Caffarelli kreiert wurde. Mit ihren tollkühnen Koloraturpassagen ist auch das Solo des Angelo, „Disserratevi, o porte d’averno“, aus Händels  Oratorio per la Ressurrezione di Nostro Signor Gesù Cristo ein Prüfstein für die Beherrschung des virtuosen Zierwerks und Bartoli erweist sich hier erneut als Meisterin ihres Fachs. Es wurde dem Album Opera proibita von 2005 entnommen, in welchem die Sängerin sich jenen Werken widmete, die in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts in Rom entstanden, weil die Oper verboten war. Daraus stammen auch die Arien der Santa Eugenia „Vanne penita  a piangere“ aus Caldaras Il trionfo dell’Innnocenza und die des Ismaele, „Caldo sangue“, aus Alessandro Scarlattis Il Sedecia, re di Gerusalemme. Prominent begleitet wird sie bi diesen Titeln von den Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski.

In der Neuveröffentlichung finden sich noch weitere sakrale Kompositionen, so das „Stabat Mater dolorosa“ aus Pergolesis populärem Werk. Es ist eine sehr frühe Aufnahme der Bartoli von 1991 mit der Sinfonietta de Montréal unter Charles Dutoit mit June Anderson als Partnerin. Die Ausschnitte aus Agiostino Steffanis Stabat Mater mit Franco Fagioli, Daniel Behle und Julian Prégardian mit den Barocchisti unter Diego Fasolis stammen dagegen von 2013. Mit diesem Ensemble nahm die Sängerin 2011/12 das Album Mission auf, in welchem sie verborgene und wieder entdeckte Schätze des Komponisten Agostino Steffani vorstellte. Aus der Anthologie wurden die Duette Anfione/Niobe „Mio ardore“  aus Niobe, regina di Tebe sowie Enea/Lavinia „Combatton quest’alma“ aus I trionfi del fato ausgewählt. In beiden ist Philippe Jaroussky Bartolis Partner. Ihr sinnlicher Mezzo mischt sich perfekt mit der keuschen Stimme des Counters. Im zweiten Duett scheinen sich die Sänger übermütig jauchzend fast gegenseitig zu übertreffen.

Populäre Titel von Händel runden das Programm ab. Die Arie der Almirena „Lascia ch’io pianga“ aus Rinaldo zählt zu Bartolis Favoriten. Die hier zu hörende Einspielung aus der Gesamtaufnahme unter Christopher Hogwood von 1999 betört mit der zärtlichen Stimmgebung und dem innigen Ausdruck. Die Arie des Titelhelden „Ombra mai fu“ aus Serse stammt aus der  Sacrificium-CD und berührt durch die so schlichte wie emotionsstarke Gestaltung. Almirenas „Bel piacere“ aus Rinaldo setzt den heiteren Schlusspunkt.

Nur zwei Nummern sind Neuaufnahmen (und gleichzeitig Weltpremieren). Sie stehen am Beginn der Platte und sorgen für einen spannenden Auftakt. Die Arie der Enea, „E l’honor stella tiranna“,  aus Steffanis I trionfi del fato ist von deutlich erregtem Charakter, was dem dramatischen Ausdruckvermögen der Sängerin ideal entspricht. Aus Leonardo Vincis Alessandro nell’Indie erklingt die Arie der Erissena, „Chi vive amante“, welche der Interpretin Gelegenheit bietet, eine reiche Farbskala einzusetzen, in der auch greinende und jammernde Töne Platz haben.

Für alle Barockliebhaber und jene, die nicht unbedingt jede Bartoli-CD in ihrer Sammlung haben, bietet Queen of Baroque einen passenden Einstieg oder willkommene Bereicherung. Bernd Hoppe

Liszt, Mussolini und danach

 

Einfach nur „Pezzo fantastico“ heißt das zweite der Sei pezzi op. 44 von Giuseppe Martucci (6. Januar 1856 in Capua – 1. Juni 1909 Neapel). Und es ist tatsächlich fantastisch, was Martucci dem Spieler an pianistischer Equilibristik abverlangt, während er den Hörer mit den folgenden Sätzen u.a. „Colore orientale“ und „Barcarola“, sinnlich umschmeichelt. Die abschließende Tarantella mag als Verbeugung vor Neapel gelten, wo er am Conservatorio San Pietro a Majella studierte, an dem er ab 1880 als Klavierlehrer und, nur unterbrochen von seiner Tätigkeit als Leiter des Konservatoriums in Bologna, schließlich als Direktor wirkte. In Bologna, wo Respighi zu seinen Schülern gehörte, hatte Martucci 1888 die italienische UA des Tristan dirigiert. Martucci war alles andere als ein komponierender Funktionsträger; im Gegenteil – er war ein im Ausland erfolgreich konzertierender und von Liszt und Rubinstein bewunderter Pianist mit einer großen Neigung zu deutscher Musik, Beethoven, Schumann und Brahms, und die zeitgenössische französische und britische Musik. Jahrhunderts.

Klaviermusik des 20 Jahrhunderts bei Brillliant: Giuseuppe Martucci

Neben zwei großen Klavierkonzerten und zwei Sinfonien, die Toscanini in New York neben weiteren Orchesterwerken Martuccis auf die Programme seiner Konzerte mit den NBC Symphony Orchestra setzte, stellen die Klavierwerke, die nahezu seine gesamte Lebenszeit umspannen, den Hauptteil seines Schaffens dar. Die Werke op. 44, 50, 51 und 70 stammen aus den 1880er Jahre, sind wunderbar Bravourstücke für den Konzertsaal und Salon. Auch wenn Martuccis Werke, nicht zuletzt anlässlich seines hundertsten Todestages 2009, auf CD weitgehend greifbar sind, bildet diese Klavierauswahl, die zudem von Alberto Miodini mit gebotener Bravour gespielt wird, einen überraschenden Einstieg in die 20 CD-Box von Brillant Classics mit italienischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts, 20th-Century Italian Piano Music (20 CDs Brilliant 9470), wobei allein schon der Hinweis auf italienische Klaviermusik Musikfreunde nervös machen dürfte.

Wer kam nach Frescobaldi, Scarlatti und Clementi? Laut Riccardo Muti stellte Martucci in dem von der Oper beherrschten Musikleben seiner Zeit eine Ausnahme dar, „Später setzten Casella und Dallapiccola diesen Trend fort und verbanden die jahrhundertealte Dominanz des Melodrams mit der, wie man sie verstand, „dusty instrumental tradition“. Diese Männer waren Helden, weil es Mut bedurfte, auf einem Gebiet erfolgreich zu werden, das zu dieser Zeit nicht sehr populär war“.

 

Klaviermusik: Roffredo Caetani/Fondazione Camillo Caetrani

Die 20 CDs sind 15 Komponisten gewidmet – Cilea, Respighi und Pizzetti werden jeweils zwei, Casella gar drei CDs zugestanden – worunter sich Unbekannte wie Roffredo Caetani, Guido Alberto Fano und Niccolò Castiglioni mischen, dazu Mario Castelnuovo-Tedesco, Nino Rota; die meisten wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren, prägten aber das Musikleben Italiens im Zeitalter des Faschismus, sei es in Konfrontation oder in Verherrlichung. Dallapiccola (1904-75), Nino Rota (1911-79), Niccolò Castiglione (1932-96) und als einzig noch lebender Komponist der 1955 geborene Ludovico Enaudi gehören zu den Youngstern. Die Aufnahmen entstanden zwischen 2008 und 2016, mit Ausnahme der 1968 in der Villa Litta in Mailand aufgenommenen Malipiero-Auswahl.

 

Klaviermusik: Francesco Cilea/ Wikipedia

Zehn Jahre jünger als Martucci, bei dem er in Neapel studierte, hat der Adriana Lecouvreur-Komponist Francesco Cilea (1866 – 1950),der später ebenfalls das Konservatorium in Neapel und ab 1913 das von Palermo leitet, viel für das Klavier geschrieben. Er selbst soll kein herausragender Pianist gewesen sein, wofür seine Begleitung bei Carusos Aufnahme von „No, più nobile“ kurz nach der Uraufführung herangezogen wird. Entsprechend schlicht wirken die unzähligen kleinen Stücke, Mazurken, Walzer, wie denn überhaupt die Komponisten vor Sonaten etwa in der Tradition der Wiener Klassik zurückschrecken und das kleine Albumblatt, Foglio d’album oder Feuille d’album, bevorzugen. Die reizvollen Caféhaus-Petitessen werden von Pier Paolo Vincenzi gespielt, der sich bei den Stücken für vier Hände als Verstärkung Marco Gaggini holte.

 

Nicht jede CD muss eingehend behandelt werden. Der ebenfalls 1866 geborene Ferruccio Busoni wird einfach übersprungen, da sich Busonianer vermutlich bei anderen Aufnahmen umfassend informieren. Ausgesprochen reizvoll, charmant, wiederum sind die Stücke des 1868 in Turin geborenen, einer jüdischen Familie entstammenden Leone Sinigaglia (1868 – 1940), der 1944 nach der Festnahme durch die Nazis einem Herzanfall erlag. Er studierte ab 1894 in Wien und Prag, kannte Brahms und Goldmark, wurde durch Dvorák auf Volksmusik aufmerksam gemacht und arrangierte rund 500 piemontesische Volkslieder. Von dieser Beschäftigung zeugt die Danza piemontese, die Alessandra Génot und Massimiliano Génot in der Fassung für Geige und Klavier spielen, während die ebenfalls in den ersten Jahren nach 1900 entstandene Ouvertüre „Le Baruffe Chiozzotte“ einen post-rossinianischen Reiz besitzt, die Albumblätter op. 7 haben einen nostalgisch verfeinerten Reiz.

 

Klaviermusik: Leone Sinigallia/ Wikipedia

Interessant die Biografie des aus einem der ältesten italienischen Adelsgeschlechter stammenden Principe di Bassiano und Duca di Sermoneta Roffredo Caetani (1871 – 1961). Liszt war sein Taufpate, seine Nichte war mit Igor Markevitch verheiratet, er studierte u.a. in Berlin und Wien, reiste 1902 nach Bayreuth und lebte nach 1911 mit seiner Gattin zwei Jahrzehnte in Paris – es lohnt sich, im Beiheft die Liste der Gäste zu lesen, die sich im Salon einfanden – bevor sie sich 1932 im Palast der Caetani in Rom niederließen. Der Großteil von Caetanis schwelgerischen Werken entstand in dem Jahrzehnt vor und nach der Jahrhundertwende (eine Ausnahme stellt die in Weimar 1926 uraufgeführte Oper Hypathia da, von der es eine alte Radioaufnahme gibt/ G. H), darunter die großdimensionierte, dreiviertelstündige Sonate op. 3 (1893), die von Beethoven, Brahms, Weber beeinflusst scheint und die Alessandra Ammara mit Haltung und Gefühl für die Harmonik spielt. Kaum vorstellbar, dass bei den Längen nicht der eine oder andere in den Salons in seinem Fauteuil entschlummerte.

 

Klaviermusik: Guido Alberto Fano/ archviofano

Ebenfalls eine große Sonate steht im Zentrum der Guido Alberto Fano (1875 – 1961) gewidmeten CD. Der jüdische Komponist studierte u.a. bei Martucci in Bologna und wurde später Direktor des Konservatoriums in Neapel. Ab 1922 wirkte er am Konservatorium in Mailand, wo er 1938 aufgrund der Rassengesetze der Faschisten seine Stelle verlor, die er als alter Mann nach dem Krieg wiedereinnehmen konnte. Die von Pietro De Maria gespielte E-Dur-Sonate ist ein bewundernswert vielgestaltiges Stück, in dem Fanos Bewunderung für Strauss und Busoni, denen er in Deutschland begegnet war, zum Ausdruck kommt. Nachdem es dann mit Fanos ebenfalls aus den späten 90er Jahren des 19. Jahrhunderts stammenden Quattro Fantasie etwas zu betulich und länglich wird, folgen als Herzstück der Ausgabe Werke von Respighi, Pizzetti, Malipiero und Casella. Die Vertreter der generazione dell’ottanta, also der in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts geborenen, die als Dirigenten oder Pianisten eine internationale Karriere vorweisen konnten, im Zentrum des italienischen Musiklebens standen und – vor allem die letzten drei – als Begründer der modernen italienischen Musik gelten, zeichnen gebrochene Biografien aus. Sie verhielten sich gegenüber Mussolinis faschistischer Diktatur vorsichtig lavierend und ließen sich vereinnahmen, wie Respighi, stützten die faschistische Kulturideologie, wie Malipiero und Pizzetti, der gleich 1925 das „Manifesto degli intellettuali fascisti“ unterzeichnete, oder erlagen zumindest zeitweise deren Faszination, wie der mit einer Jüdin verheiratete Casella, der 1937 ein Mysterium zur Verherrlichung des Äthiopien-Feldzugs komponierte, aber weiterhin die internationale Moderne (u.a. Strawinsky, Schönberg, Bartók) propagierte, etwa durch die Gründung des Internationalen Festivals für zeitgenössische Musik in Venedig.

 

Ottorino Respighis (1879 – 1936) frühe f-moll-Sonate (CD 8) ist ein impressionistisch duftiges Stück, das noch nicht das klangsinnliche Gespür verrät, das sich Respighi u.a. nach 1900 durch sein Studium bei Rimski-Korsakow erwarb. Michele D’Ambrosio, der auch die drei Casella-CDs übernahm und dem damit der Großteil dieser Klavieraufnahmen zufiel, lässt in den Sei pezzi PO44, deren letztes die Serenata aus dem 1905 uraufgeführten Re Enzo aufgreift, neben spätromantischer Virtuosität Respighis wachsende Individualität erkennen, die sich am deutlichsten in Respighis freier Klaviertranskription der Antiche danze ed arie erweist.

 

Klaviermusik: Ildebrando Pizetti/ Wikipedia

Die beiden umfangreichsten Klavierstücke Ildebrando Pizzettis (1880 – 1968) , die Sonata von 1942 und die Variationen über ein Thema aus seiner Oper Frau Gherardo (CD 11), sind frei von politischem Dünkel, vor allem erste ist ein ausdrucksstarkes, sicherlich düsteres Stück, dessen starke Gefühle Giancarlo Simonacci zum Ausdruck bringt. Die zahlreichen kleinen Stücke (CD 10), etwa Da un autunno già lontano, Le Danze, Poemetto romantico, bleiben in ihrem Nachklang auf die Jahrhundertwende etwas farblos.

 

Einen großen Überblick über das Klavierwerk von Gian Francesco Malipiero (1862 – 1973) gibt Gino Gorini (CD 12). Selbst die frühen Stücke verraten wenig von Malipieros Begeisterung für Ravel, de Falla, Strauss, Schönberg und Strawinsky, insbesondere dessen Sacre du printemps, allenfalls eine Nähe zu Debussy ist zu spüren, reflektieren auf melancholische Weise aber die Schrecken und Auswirkungen des Ersten Weltkriegs: La morte die morti, Barlumi und Risonanze. Unverkennbar der gewichtige, eigenständige, manchmal etwas akademische Ton von Malipieros Musik in Hortus conclusus von 1946 und Cinque studi per domani von 1959.

 

Faszinierend ist die Welt des Alfredo Casella (1883 – 1947). Eines Kosmopoliten, der ab 1896 das Konservatorium in Paris besuchte, wo er nahezu zwanzig Jahre lebte, eine internationale Karriere als Dirigent und Pianist hatte und befreundet mit Ravel, Enescu, Debussy und de Falla war, Kontakt zu Strauss, Mahler, Busoni und den russischen Modernen hatte und tragisch endete, da ihm das Nachkriegsitalien seine Nähe zum faschistischen Regime nicht verzieh. Als ausgezeichneter Pianist schuf er ein großes Oeuvre. Seine stilistische Wandlungsfähigkeit zeigen die drolligen Miniaturen À la maniére de, in denen er 1913 u.a. Wagner, Fauré, Brahms, Debussy, Strauss und Franck portraitierte (CD 13). Auch in den Nove pezzi op. 24 von 1914 (CD 14) widmete Casella im Bemühen um eine nicht nur italienische, sondern europäische Kunst einzelnen Abschnitte seinen Kollegen, darunter Strawinsky, Pizzetti, Ravel, Bartok und Albeniz. Die intensive 22minütige Studie A notte alta op. 30 von 1917 entspricht in ihrer tiefschwarzen Trauer den zuvor erwähnten Werken Malipieros aus der Zeit des Esten Weltkriegs. Beispiele für die spätere, neoklassizistisch spielerische Richtung Casellas sind die Canzoni popolari italiane op. 47 oder die Pezzi infantili (CD 15).

 

Klaviermusik: Alfredo Casella/ Wikipedia

Letztere sind Mario Castelnuovo-Tedesco gewidmet. Die Auswahl der Klavierstücke Castelnuovo-Tedescos (1895 – 1968/ CD 16), die Claudio Curti Gialdino 2013 in Neapel aufnahm, beschränkt sich auf seine Frühzeit, bevor der aus einer wohlhabenden jüdischen Bankiersfamilie in Florenz stammende Komponist aus dem Musikleben gedrängte wurde und durch Toscaninis Hilfe 1939 nach Amerika gelangte, wo er rund 15 Jahre in den Hollywood Studios arbeitete: Populär waren einst die 15minütigen Vignetten Alt-Wien und die von Gieseking geschätzte neapolitanische Rhapsodie Piedigrotta; acht Tänze aus Re David  vermitteln einen guten Eindruck von der Oper, in der sich Castelnuovo-Tedesco erstmals mit seinem jüdischen Erbe beschäftigte.

Die CD des „leading exponent in Italy of twelve-tone music“, als welcher Luigi Dallapiccola bezeichnet wurde (CD 17), beinhaltet die Sonatina canonica (1943), sein erstes erhaltenes Klavierstück, dessen spritzig experimentellen Charakter Maria Clementi zu fein hämmerndem Ausdruck bringt. Enthalten sind auch die Tre episodi aus dem 1948 uraufgeführten Ballett Marsia sowie aus den 1950er Jahren das gewichtige, elfteilige Notenbüchlein für seine Tochter Annalibera Quaderno musicale di Annalibera und die relativ häufig aufgeführte Tartiniana seconda nach Giuseppe Tartini (mit dem Geiger Luca Fanfoni).

 

Viel Freude verbreitet Michelangelo Carbonara mit Musik Nino Rotas (1911 – 1979/CD 18). Ausgebildet u.a. von Pizzetti und Casella, später in Philadelphia von Fritz Reiner, und Jahrzehnte lange Leiter des Konservatoriums in Bari darf man Rota nicht auf seine Filmmusik reduzieren; sein Florentinerhut ist eine wunderbare spätgeborene italienische Buffa. In der Suite (1976) aus dem Casanova-Film, dem nostalgischen Walzer oder den 15 Préludes (1964) erlebt man Rotas Musik als pompöse Opernparaphrase und abwechslungsreich tollendes, schelmisches, witziges Spiel. Einer anderen Zeit gehört der Mailänder Niccolò Castiglione (1932-96) an, der ein fleißiger Besucher der Darmstädter Sommerkurse war, bei denen er ab 1958 – wie Nono – als Dozent wirkte. Ab 1966 war Professor an mehreren amerikanischen Unis, ab 1970 unterrichtete er an Konservatorien in Oberitalien und lebte in Brixen. Von einem Sommer in den Dolomiten erzählt denn auch sein bemerkenswerter Klavierzyklus Come io passo l’estate (1983), der aus konzise geschliffenen Miniaturen besteht, die meisten weniger als eine Minute lang, die gleich im ersten Stück „Arrivo a Tires“ walzend den Stil der Zweiten Wiener Schule mit dem Geist der deutschen Romantik verbinden. Enrico Pompili, aus Bozen stammend und deshalb vielleicht diesen Werken verbunden, spielt diese brillanten Stücke, hinzu kommen Aperçus wie Das Reh im Wald oder das fünfteilige nur eineinhalb Minuten dauernde In principio era la danza, mit kristalliner Schärfe, Bravour und verführerisch sich veränderndem Ton. Im frühen Cangianti (1959), seinem mit zehn Minuten umfangreichsten Klavierstück, reizt Castiglione alle dynamischen und rhythmischen Möglichkeiten aus (CD 19).  Ist Castiglioni eher Eingeweihten bekannt, steht Einaudi für breiten kommerziellen Erfolg.

 

Klaviermusik: Ludiovico Einaudi/ Wikipedia

Ludovico Einaudi (1955), dessen Vater Giulio 1933 den gleichnamigen, sehr renommierten Verlag gründete und dessen Großvater Luigi ab 1948 einige Jahre Präsident der Republik Italien war, studierte u.a. bei Berio sowie in Tanglewood und trat 1986 mit seinem Klavierzyklus Time out in Erscheinung, bevor er sich zehn Jahre später durch Virginia Woolfs The Waves zu den fließenden Bewegungen seines erfolgreichen Klavieralbums Le onde inspirieren ließ und im Film- und Popbereich erfolgreich wurde. Für die Musik Enaudis, der sich am liebsten als Minimalist seiht, bedarf es eines ausgewiesenen Spezialisten wie des Niederländers Jeroen van Veen, welcher der aus verschiedene Alben der Jahre 1996-2009 kompilierten Auswahl, darunter auch Le onde, eine notturne Eleganz verleiht, die zeigt, dass sich die italienische Klaviermusik des 21. Jahrhunderts gar nicht so weit von den stimmungsvoll und sanft lullenden Momentaufnahmen des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf den ersten CDs dieser Box entfernt hat. Rolf Fath

Ein Ost-Deutsches Sängerleben

 

Dem Mimen flicht die Nachwelt zwar keine Kränze, dem Sänger jedoch verhilft youtube zu einigem späten Ruhm, und so ist es fast unglaublich, dass ein Heldentenor, der zwar 25 Jahre lang an einem „Provinztheater“ wie dem Dessauer alle großen Wagnerpartien und die italienischen dazu sang, der aber auch Gastspiele an den großen Bühnen in Berlin, Leipzig, Dresden und Wien gab und berühmte Partnerinnen wie Erna Schlüter oder Frida Leider hatte, mit keiner einzigen Aufnahme vertreten ist.  Dabei ist in dem Roman seines Lebens, den er selber schrieb und der jetzt von Ernst A. Chemnitz als Die Wolfserzählung, Lebenserinnerungen des Dessauer Heldentenors Dr. Horst Wolf herausgegeben worden ist, oftmals von Tonaufnahmen die Rede, die angefertigt wurden und die vielleicht noch vorhanden sind. Es geht um Horst Wolf, im Buch penetrant als Dr. Wolf tituliert, denn er hatte als Ingenieur promoviert, der als Max 1938 in Anwesenheit Adolf Hitlers das neue Dessauer Haus einweihte, 1949 als das im Krieg zerstörte und wieder aufgebaute Theater wieder eröffnet wurde, mit dem Pedro sein 25. Bühnenjubiläumfeierte. Im Vorwort wird auch nicht verschwiegen, wie es  1940 zur NSDAP-Mitgliedschaft des Tenors kam, die diesem „unangenehm“ war, und damit wird zugleich das zweite große Thema neben der Lebens- und Karrieregeschichte Horst Wolfs offenbar: der tragisch-lächerlich anmutende Versuch, abseits von politischen Verstrickungen eine künstlerische Existenz zu verwirklichen. Wahrscheinlich hoffte der Sänger auf eine Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte in der DDR, und so ist zu verstehen, dass der Mauerbau lediglich Erwähnung findet, weil dadurch eine Reparatur seines Aufnahmegeräts unmöglich wurde, die Beendigung des Prager Frühlings bedeutet für den Verfasser lediglich, dass er seinen Urlaub im nun gesperrten Grenzgebiet nicht antreten kann, der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 schließlich ist lediglich ein Streik mit lästigen Auswirkungen.

Was nun das Dritte Reich und seine „Bewältigung“ durch den Verfasser angeht, liegt im Text ein Stolperstein von historischen Ausmaßen, wenn er beschreibt, dass sein Bruder beim Rückflug nach Danzig am 28. 8. 1939, also drei Tage vor Kriegsbeginn, von polnischem Militär beschossen worden sei, dass er diesen Sachverhalt (?) geradezu trotzig mit einem „denn mein Bruder saß in dem Flugzeug“ bestätigt. Ironie des Schicksals ist es, dass nach 1945 ausgerechnet eine Hakenkreuzfahne, die beim Bombenangriff aus ihrer Kiste auf den Dachfirst des halb zerstörten Hauses geflogen war, die Entnazifizierung, die offensichtlich in Dessau recht lasch betrieben wurde, erst einmal verhinderte.

Zwar kann das Buch zunehmend das Interesse am Schicksal des Menschen und Sängers Horst Wolf wecken, im Vordergrund dürfte jedoch das an dem Problem der Unvereinbarkeit von makelloser Reinheit und Karriere in zwei Systemen sein.

Das Buch gliedert sich in Lebensalter-Kapitel, angefangen mit Das Kind, endend mit Der Greis, welches verständlicherweise die knappsten Abschnitte sind. Durchweg überzeugt das Buch durch die Vielfalt an privaten wie Künstler-Fotos, durch die vielen Anmerkungen durch den Herausgeber und den reichhaltigen  Anhang.

In der Einleitung zeigt sich der Verfasser nicht nur durch den betulich-beschaulichen Stil als Kind seiner Zeit, sondern auch durch die Auffassung, dass ein dauernder Kampf als notwendig für die menschliche Reife angesehen wird. Das Kind (1894 bis 1904) schildert mit vielen literarischen Beispielen geschmückt die Schulzeit in Zwickau, wo er das Robert-Schumann-Gymnasium besucht. Wie in der Feuerzangenbowle geben sich die Lehrer, deren Portraits Der Jüngling entwirft, dazu ist vom Altisten im Kirchenchor und von Gesangsstunden die Rede, vom Gymnasiasten, der bereits Wagnerpartien einstudiert, aber noch interessanter sind Einblicke in die Zwänge, die damals herrschten, wenn ein Sohn aus einem Geschäftshaus nicht Offizier werden konnte, Anstandsbesuche Pflicht waren, vor dem Gesangsstudium die Promotion stehen musste. Von 1914 bis 1924 reicht das Kapitel Der junge Mann, der mit 20 als Kriegsfreiwilliger bereits 60 Mann kommandiert, der als bejahrter Verfasser noch vom „Heldentod“ spricht, der mit einer für immer lahmen linken Hand aus dem Krieg zurückkehrt und von Anfang an Kritiken sammelt, die in großer Zahl im Buch abgedruckt worden sind.

Der Mann wird als Sänger in Stralsund, Dessau, Rostock und wieder Dessau hart gefordert, singt alles und alles durcheinander von Chateauneuf bis Tannhäuser, von Wildschütz bis Götterdämmerungs-Siegfried und auch drei Premieren in einer Woche, sonntags auch schon mal zwei Vorstellungen, führt dazu noch Regie, was damals als Stellprobe bezeichnet wird, und lernt die Tücke von Vorverträgen kennen. 1927 wird er Freimaurer und versucht später, dies als Grund vorzuschieben, nicht in die Partei eintreten zu können. Die Nazipresse ist ihm feindlich gesonnen, weil sie ihn für einen Juden hält, aber besonders interessant ist für den Leser zu lesen, worauf damals in den Opernkritiken Wert gelegt wurde. So ist oft nicht der fast Dauerstreit mit Intendanten das Wichtigste für den Leser, sondern Spielplangestaltung, Kriterien der Sängerbeurteilung, Stil der Kritiken (für einen langen Zeitabschnitt fast ausschließlich aus dem Anhalter Anzeiger und wie Hofberichtserstattung klingend), die ihm zur Quelle für die Beurteilung der damaligen Zeit werden, für die Horst Wolf Zeuge ist.

Für den Mann in den besten Jahren dreht sich weiterhin alles um seine Karriere, geht es mehr um Durchhaltevermögen und Erfolg, um dauernd absagende lyrische Tenöre, über seine Ansichten über die vielen Rollen, die er singt, liest man kaum etwas, der Krieg bedeutet zunächst nur volle Bahnen und geschlossene Restaurants nach der Vorstellung. Die  Machtergreifung ist weniger wichtig als die Striche oder Nichtstriche in den Partien, die zu singen sind. Wäre das Sekundärliteratur, müsste man das Buch tadeln, als Quelle für die Darstellung eines „normalen Lebens“ auch im Krieg und in einer Diktatur ist es hochinteressant. Gastspiele in besetzten Gebieten werden nicht als heikel angesehen, auch nicht Wehrmachtstourneen, und nach zwei Angriffen auf das Opernhaus, wird gemeinsam wacker aufgeräumt.

Der gereifte Mann durchlebt die Jahre 1944 bis 1954, der 20. Juli 44 ist das Datum des 3. Luftangriffs auf Dessau, nicht des Attentats auf Hitler, die Amis sind bemerkenswert, weil sie nach Leicas forschen, die Sowjets, über die kein böses Wort verloren wird, bringen die Junkers-Leute in die Sowjetunion. Die 40 Vorhänge nach Undine, die er inszeniert hat, sind wichtiger als alle politischen Entscheidungen, die das Leben der Menschen beeinflussen aber „ich bin immer Idealist gewesen und ich wollte Freude und Erbauung schenken“ sind die Motti des Sängers, und wie gesagt, wahrscheinlich rechnete er mit einer Veröffentlichung in der DDR. Leise Kritik gibt es am Verbot des Auftretens von Kaiser Franz Joseph im Weißen  Röss’l und des Zarenlieds in Lortzings Oper. 1953 singt Horst Wolf seinen 100. Tannhäuser und seinen 100. Lohengrin und nach schwerer Krankheit wieder Tristan, Stolzing bei der Einweihung des Bitterfelder Kulturpalasts und die Titelpartie in Erkels Bánk Bán. 1956 bei den damals renommierten Wagner-Festspielen in Dessau hat er Tristan, Tannhäuser, Lohengrin, Loge, Siegmund und Götterdämmerungs-Siegfried auf dem Programm, gibt sich bei Ärgernissen mit Dirigenten gelassen, ist es aber nicht. Mit 70 Jahren singt er noch sieben Tannhäuser, Der Greis (1964-80) veranstaltet Liederabende, auch von Selbstkomponiertem, mit 75 Jahren imponiert er mit einer „tadellosen“ Winterreise, zum Jubiläum 25 Jahre wiederaufgebautes Dessauer Theater  notiert er mit Genugtuung, dass der Intendant an seinen Tisch gesetzt wurde- oder war es umgekehrt? Mit 80 Jahren nimmt er seine noch immer intakte Stimme auf einem Tonband auf. Wo mag es sein? Mit 86 Jahren stirbt er 1980 nach einem Brand in seinem Haus, in dem seine zweite Frau umgekommen war. Die Leserin ist berührt von diesem Leben in schwierigen Zeiten und in einem ständigen Kampf um Anerkennung einer immensen künstlerischen Leistung. Der Anhang besteht aus Rollenverzeichnis, Rollendebütverzeichnis, Gastspielorten, Operninszenierungen (416 Seiten, Verlag Klaus-Jürgen Kamprad 2020; ISBN 978 3 95755 657 8). Ingrid Wanja

Karajan und kein Ende

 

Ob Schallplatte, CD, DVD, ob Opernregie, Opernfilm, Opernhaus, Konzertpodium oder Festival: Herbert von Karajan scheint auf allen Hochzeiten zu tanzen. Zurecht spricht Florian Kraemer im jetzt erschienenen Buch „Der Karajan-Diskurs“ vom „Coca-Cola-Faktor“ Karajans. Herbert Danuser macht deutlich, was keinem anderen Dirigenten so gelang wie Herbert von Karajan: „Klang-Bilder des Schönen“ optisch wie musikalisch (in einem romantischen Sinne) zu inszenieren. Es ging ihm, darum, das „Sichtbar Schöne“ (zu dem er sich selbst und seine Körpersprache raffiniert und unter Einsatz aller technischen Möglichkeiten in Szene setzte, mit dem „Hörbar-Schönen“ zu vereinen. Zurecht weist Herbert Danuser in dem von Julian Caskel herausgegebenen Band, der die Vort­­räge eines gleichnamigen Fachkongresses am Musikwissenschaftlichen Institut der Uni­versität Köln zu Beginn des 2010 bündelte, darauf hin: „Karajans optische Ideale waren von jener Moderne beeinflusst, die ihm Riefenstahl-Filme in der NS-Zeit vor Augen geführt hatten, indem sie die Macht der Masse im Kontrast zu heroischer Individualität inszenierten. Auch nach Kriegs­ende liebte er den Vergleich des Orchesters mit einem Vogelzug, wo Hunderte von Tieren in bester Ordnung scheinbar anstrengungslos fliegen“. Er selbst begriff sich freilich als Kompassnadel und Antriebskraft des Vogelflugs.

Die Karriere Karajans begann nicht erst 1954, als der Dirigent Wilhelm Furtwängler starb. Herbert von Karajan wurde damals auf Lebenszeit zu seinem Nachfolger als Chefdirigenten und künstlerischen Leiter der Berli­ner Philhar­moniker gewählt. Schon die Nationalsozialisten hatten Karajan zum Antipoden Wilhelm Furtwänglers aufgebaut, der als unzuverlässig galt. Im Jahre des Beginns des Zweiten Weltkriegs, 1939, wurde Karajan Staatskapellmeister der Berliner Staatsoper und übernahm die Leitung der Sinfoniekonzerte der Preußischen Staatskapelle. Das „Wunder Karajan“ (das die NSDAP-treue Presse ausposaunte) nahm seinen Lauf und setzte sich als beispiellose Karriere auch nach 1945 fort. Karajan wurde zu einem der künstlerisch herausra­gen­den, mit mehr als 300 Millionen zu Lebzeiten verkauften Ton­trägern kommerziell der erfolg­reich­ste Dirigent aller Zeiten, eine Ikone der Klassischen Mu­sik und Legende multimedial ver­mark­teter, globa­lisierter Musik. Nach dem Krieg und kurzem Dirigierverbot, startete Karajan, nicht zuletzt dank des englischen EMI-Platten­Produzenten und Gründers des Philharmonia Orchestra, Walter Legge eine zweite Karriere: Teil zwei des „Wunders Karajan“. Was folgte, war ein unaufhaltsamer Aufstieg in die musi­kalische Schaltstellen Europas. Karajan wurde Künstlerischer Direktor der Wiener Gesell­schaft der Musikfreunde, Chef der Wiener Staatsoper und Künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele, aber auch der Mailänder Scala, um nur die wichtigsten Stationen seines enormen Aktionsradius zu nennen. Er galt als „Generalmusikdirektor Europas“.

Klaus Prieberg hat in seinem 1982 erschienenen Buch „Musik im NS-Staat“ erstmals die Frage aufgeworfen, die bis heute im Raum steht: Hat sich Herbert von Karajan mit den Nazis nur arrangiert oder spielte er eine aktive Rolle im Nazisystem? Zuvor blieb nämlich seine tatsächliche politische Rolle bisher immer noch weitgehend undurchsichtig, da er nach dem Zweiten Weltkrieg alles tat, um Spuren zu verwischen und Erinnerungen ver­gessen zu machen. Der kritische Karajan-Biograph Oliver Rathkolb widersprach schon 2010 einem Inter­view Karajans, der angeblich gestand: „Die NSDAP-Mitgliedschaft sei für ihn wie die Mitgliedschaft beim Alpenverein gewesen, damit man billig in einer Hütte übernachten kann. Karajan-Biograph Klaus Riehle hat neuerdings Dokumente zutage gefördert, die zweifelsfrei enthüllten, dass Karajan ein aktiver und opportunistischer Mitläufer gewesen sei und jeden hochkarätigen Nazikontakt genutzt habe, der ihm in seinem Karriere- und Machtstreben dien­lich war. Seine Karriere verdankte Karajan unzweifelhaft dem „tausendjährigen Reich“. Die Angst vor der Aufdeckung dieser seiner Vergangenheit beherrschte Karajan denn auch bis zu seinem Tod. Daher steuerte und kontrollierte er nach 1945 alle Informationen über sich und seine Vergangenheit. Bezeichnenderweise hat er in einem späten Interview einmal bekannt: „Ich möchte omnipräsent sein, ohne dass man mich eigentlich sieht“.

Seit ihm 1963 mit Scharouns Neubau der Berliner Philharmonie, der nicht ohne Grund „Zir­kus Karajani“ genannt wurde, ein grandioses Podium seiner Selbstdarstellung geschaffen wurde, „ein West-Symbol“ für die ganze Welt“, war dieses Gebäude das Zentrum seines weltweiten Erfolgs. Karajan stand in der Mitte, umgeben von Publikum, ein Herrscher im Reich der Töne, der Komponisten und ihrer Musik.

Er war präsent, um nicht zu sagen omnipräsent und er „ist und bleibt der Goldstandard“ in kommerzieller wie ästhetischer Hinsicht nicht nur für das Gelblabel, so Julian Caskel. Karajan hatte ja nicht nur eine dominante Stellung im Musikleben, seine Präsenz in vielen Medien war überwältigend, er hinterließ eine konkurrenzlose Fülle medial gespeicherter Aufführungen. Musikjournalistisch hat Peter Ueh­ling mit seiner Karajan-Biographie (2006) nahezu alles zusammengetragen, was aus musik­journalistischer Perspektive zum Fall Karajan gesagt werden muss und kann. Aber Karajan ist auch ein Glücksfall und Paradebeispiel auch für die „Interpretationsforschung“. Auf 446 Seit­en wird daher in Musikanalysen untersucht, „ob zwischen dem kommerziellen Monopol und der künstlerischen Methode ein Zusammen­hang besteht oder nicht.“ An den Beispielen seiner Monteverdi- „Neuerfindung“, der Inter­pretationen der „Alpensinfonie“ (R. Strauss), der sechsten Sinfonie Beethovens, der Bruck­ner-, Tschaikowski- und Sibelius-Aufnahmen, aber auch Debussys und des ganzen franzö­sischen Repertoires Karajans werden Muster einer „Warenästhetik technisch reproduzierter Musik“ deutlich sichtbar, auch und gerade im Vergleich mit Dirigenten wie Barbirolli, Bernstein oder Mengelberg.

Karajan war mehr als das, was der umstrittene Komponist Hans Pfitzner (der sich geradezu widerlich den Nazis anbiederte) einmal als „Nur -Dirigent“ bezeichnete. Was der Musik­philosoph Th. W. Adorno mit Bezug auf die „musika­lische Verwendung des Radios“ einmal den „Bildcharakter“ der Musik nannte, bestätigt Karajans eigenes Bekenntnis „Der Mensch ist von Geburt aus zuerst optisch.“ Karajan war der unanfechtbare König im Reich der Optik des glanzvollen Scheins. Er war aber auch ein Klang-Magier, was nicht vergessen werden sollte, ein Tüftler und Probierer, ein musikalischer Präzisionsfanatiker und „Ausbund von Diszi­plin“, wie Altkanzler Helmut Schmidt einmal sagte. Mancher Philharmoniker wünschte sich heute, allen Querrelen zum Trotz, die zum Bruch mit dem Maestro führten, Dietrich Steinbeck beschreibt das gewissenhaft, einen neuen Herbert von Karajan. Aber der ist nicht in Sicht (Der Karajan-Diskurs: Perspektiven heutiger Rezeption. Herausgegeben von Julian Caskel ; Verlag Königshausen & Neumann ; ISBN 978-3-8260-7144-7; 2020 – 446 Seiten). Dieter David Scholz

Jardinier fidèle

 

Er verschandele jede Melodie. Das Geigenspiel habe er nach drei Jahren aufgegeben, weil es ihm nicht einmal gelang, das Instrument zu stimmen. Alles in allem, sei er der unmusikalischste Mensch, den er kenne. „Moi, l’homme le moins mélomane que je connaisse“, kokettierte Alexandre Dumas. Andererseits kenne er wenige, die so sensibel auf musikalische Schönheiten reagieren. Und obwohl Alexandre Dumas nicht viel von der Verbindung von Poesie und Musik hielt, da sich die Musik immer die Dichtung aneignen, sie kürzen, strecken und für ihre Zwecke dienstbar machen werde, schrieb er dennoch für die Musikbühne. Nicht eben viel, nichts Bedeutendes: mit Gérard de Nerval den Text zu Hippolyte Monpous 1837 uraufgeführtem Piquillo sowie zusammen mit Adolphe de Leuwen zu der opéra-comique Le roman d’ Elvire (1860) von Ambroise Thomas. Zudem erlaubte er, dass in seinen Bühnenstücken Lieder eingelegt wurde, wovon der Chants des Girondins – mit Musik von Alphonse Varney, dem Vater des berühmteren Operettenkomponisten Louis Varnay – in der Dramatisierung von Le Chevalier de Maison-Rouge am bekanntesten wurde. Vor allem gestattete er gerne, dass seine Texte Ausgangspunkt für Romanzen wurden, deren Hingabe an vergangenen Zeiten und nostalgische Momente natürlich den historischen Kulissen von Dumas‘ Abenteuerromanen entsprachen. Ein altes Schloss und idealisiertes Mittealter beschreibt die Geschichte der von ihrem Vater bewachten schönen Isabeau, La Belle Isabeau, die von Hector Berlioz vertont wurde. Berlioz steuert zu den 17 Nummern, welche die CD Alexandre Dumas et la musique (Alpha 657) präsentiert, noch La Captive, bei. Dieses Bild der fern der Heimat Gefangenen stammt allerdings von Victor Hugo. Ebenso wie Massenets Élegie auf Louis Gallet, Henri Duparcs als lebhafte Szene für die Liebenden Ahmed und Khadija impressionierte La Fuite auf Théophile Gautier und Jocelyn auf Victor Capoul und Armand Silvestre basieren, was das ganze Unterfangen einigermaßen verwirrend macht: Dumas und seine Zeit müsste es wohl richtiger heißen.

Dem Typ der Romanze mit oftmals träumerisch vergegenwärtigten Bildern und nächtlichen Stimmungen entsprechen L’ Ange und Le Sylphe, die von Alexandre Pierre Joseph Doche und César Franck vertont wurden. Erstere wird von der Mezzosopranistin Karine Deshayes gesungen –  die sich mit prägnantem Flair und einigen schrillen Kanten auch der Sturmerzählung von der schönen Isabeau annimmt – und über Dochs etwas einfältigem Klavierpart um Präzision und Gewicht bemüht ist; sie nimmt die Stimme fein zurück und verleiht ihr, beispielsweise in den weiten Bögen von Edmond Guions Amour, printemps – Printemps, amour auch sinnliche Fülle und Gewicht. Die Sopranistin Marie-Laure Garnier gibt eine anämische Sylphe ab. Allerdings wirkt sie bei César Franck schon zupackender als in Franz Liszts wie mit Kniestrümpfen gesungener Jeanne D’Arc, wo vornehmlich das Klavier, Alphonse Cemin, dramatischen Ausdruck zeigt, als habe sie im Lauf des im Mai 2020 in der Salle Colonne in Paris aufgenommenen Programms an Zuversicht gewonnen. Massenets Sonnenuntergang, Soleil couchant, gestaltet Garnier mit Kompetenz. Einen schönen Einstieg hat der aus Großbritannien stammende, aber hörbar französisch geschulte Tenor Kaëlig Boché, der mit Massenets Élegie die CD eröffnet; zunächst wirkt der Tenor verhangen, konturlos, doch die Diktion, der Tonfall, das leicht süße Timbre, die Intensität und das morbide „Pour toujours“ am Ende gefallen. Eine Stimmung, die Boché in Benjamin Godards Te souviens-tu? weich und geradezu zärtlich aufnimmt. Gefällig, nicht ganz so elegant, wie es sein könnte, auch Nita la gondolière von Gilbert Duprez. Von Dumas‘ Gedicht Le jardin finden sich zwei Vertonungen, welche die zunehmende Abkehr vom Begriff romance verdeutlichen, eine melodie pour chant et piano von Henri Reber, eine zweite, spätere, schlicht als chanson bezeichnete von Francis Thomé; Garnier und Boché tollen abwechselnd in diesem Liebesgarten.

Interessant und gut sind die Ausschnitte aus den erwähnten Opern, das reizvolle Terzett aus der Oper über den spanischen Banditen Piquillo, der Chor der Girondisten sowie die Arie des Raoul aus André Messagers erst 1896 uraufgeführte opera-comique Le chevalier d’Hermental, für die sich Messagers Librettist Paul Ferrier durch eine gleichnamige zuerst als Roman erschienene, dann auf die Bühne gelangte Vorlage von Dumas inspirieren ließ. Das Piquillo-Terzett ist eine witzige und originelle Comique-Nummer, die bei Deshayes, Garnier und Boché ein wenig konzertant steif bleibt, der hochpatriotische Girondisten-Chor (Mourir pour la Patrie …. À la France, à la liberté) ist keine Herausforderung für unser Gesangstrio, doch die Arie des Raoul erweist sich als recht hübsche und herausfordernde Szene für einen empfindsamen Tenor, der Boché schwärmerischen Impetus verleiht. Rolf Fath

Kniendes Gebären

 

Noch immer steht Siegfried Wagner im Schatten seines Vaters Richard. Peter Pachl hat 1988 die bisher einzige umfassende Biografie des Komponisten und Wagnersohns herausgebracht, eine von positivistischem Sammelfleiß abgesehen, allerd­ings etwas verschwurbelte Arbeit mit esoterisch-astrologischem Ansatz.  Wesentlich seriöser, wissenschaftlicher geht Daniela Klotz auf Siegfried Wagner zu, wenn auch aus ungeahnter, nicht eben naheliegender Perspektive.

„Und tatsächlich eröffnet sich bei näherer Betrachtung der „Geisteswelt Oscar Wildes“ (sie bezieht sich auf einen Aufsatz von Dorothea Renkhoff) so etwas wie ein Paralleluniversum im Werk Siegfries Wagners – das Universum als Intertextualität.“

„Intertextualität“ ist ihr Zauberwort zur Entschlüsselung der Werke des Wagnersohns. Harald Blooms psychologischer Ansatz (Harold Bloom „Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung“) ist ihre Ausgangsthese, die sich zusammenfassen lässt in den Satz: „Kein Text…existiert ohne einen Vorläufer. Vielleicht sogar ohne den einen Vorläufer.“

Die entscheidende Frage, die sich für die Autorin stellt: „Was passiert, wenn einer sich mit Kunst auseinandersetzt, indem er auf Basis dieser Auseinandersetzung seinerseits ein Werk erschafft. Entsteht so Neues auf der Basis von Altem, schafft/bedingt das Alte somit Neues oder führt die Reflexion irgendwann zum Selbstzweck, zur Kunst für die Kunst, zum Nachzählen der Schätze, statt zum Nacherzählen und damit zu neuem Schaffen? “ Im Falle Siegfried Wagners verneint das Daniela Klotz vehement.

Am Beispiel von Siegfrieds Oper „Banadietrich“ und der darin anklingenden Werke „Tristan“ und „Parsifal“ entdeckt Daniela Klotz eine „so nie vermutete Rückführung des Weltendramas … des väterlichen Schaffens… Letztendlich lässt sich das Vaterwerk im Spiegel des Sohneswerks, für das der Banadietrich nun exemplarisch steht, nicht nur über den Wieland bis zu den Feen, also nahezu den Anfang des gesamten Schaffens Richard Wagners zurückverfolgen“.

Über dessen Ironie eröffne sich im Werk Siegfried Wagners ein Paralleluniversum der Intertextualität. Opus 6, „Banadietrich“, auf den ersten Blick ein „Ring“ im Taschenformat, erweist sich für die Autorin als Zugang zu dem Vexierspiel, das das Genie Siegfried im Schatten mit den Werken seines Vaters treibt. Gleich den Prismen eines Kaleidoskops bringe der Sohn das Gesamtkunstwerk des Vaters durch leichtes Kippen und kaum merkliches Drehen „zurück auf Anfang“. Dieser Anfang ist nicht etwa eine der frühen Opern Richard Wagners, die als Nukleus einer der späteren gelten können, sondern ein Werk vor seiner Zeit: der „Faust“, der sich als wichtiges Element im Schaffen Richard Wagners erweist, vor allem aber als Dreh- und Angelpunkt im Kosmos Siegfried Wagners entpuppt. Es sei dies ein „Spiel“, dass allem Anschein nach alle Opern Siegfried Wagners durchziehe: Augenscheinlich jeweils nur auf ein Werk des Vaters bezogen, offenbaren alle Opern des jüngeren Wagner vielfältige Verweise aufeinander, auf den gesamten väterlichen Kanon und immer wieder auf den „Faust“, so Daniela Klotz.

Mit akribischen Stückanalysen (manchmal sind sie etwas sophisticated, wenn auch hochintelligent und letztlich einleuchtend), großer Textkenntnis des Vater- wie Sohneswerks, stupender Gelehrtheit und definierter Methode kommt Daniela Klotz zu dem Schluss, dass sich anhand des „Banadietrich“ belegen lässt, dass Siegfried Wagner mit den Werken seines Vaters, oder besser noch, mit den Figuren, die sein  Vater ersann, um seinem Denken Ausdruck zu verleihen, ein Vexierspiel treibt, das sich nach den Regularien der Intertextualität nachweisen lässt.“

Dieses Spiel finde aber keineswegs nur im „Banadietrich“ statt, sondern allem Anschein nach in allen Opern Siegfried Wagners. Die Autorin spricht von einem „großen Spaß; als Spiel mit dem Spiel kann es vielleicht sogar als eine Vorwegnahme der Postmoderne und deren Spielcharakter gewertet werden.“ Eben diese Kritische, innovative Auseinandersetzung mit seinem Vater und dessen Werk macht vielleicht die meist unterschätzte Größe und Freiheit Siegfried Wahnes aus.

Auch darin erweist sich Daniela Klotz als gelehrige Schülerin Harold Blooms: „Denn was uns frei macht, ist die Erkenntnis, wer wir waren, was wir wurden; wo wir waren und wohin wir geworfen wurden; wohin wir eilen, woraus wir erlöst werden; was Geburt ist und was Wiedergeburt‘ “

So ist auch der von Bloom (der den Philosophen Kierkegaard zitiert) entlehnte Titel ihres Buches zu verstehen; „Wer arbeiten will, gebiert seine eigenen Vater.“ Die Autorin präzisiert: „An sich meint das, dass, wer arbeitet, ein Vaterwerk schafft. Hier ist der Satz wörtlich zu verstehen, und damit der Sinn des Satzes, wie könnte es anders sein, in sein gerade s Gegenteil verkehrt.“

Eine imposante, psychologische Erklärung des Werks von Siegfried Wagner, wenn auch zugegeben, zuweilen vertrackt zwiebelschalenhaft um den einen zentralen Gedanken kreisend, aber doch eine lesenswerte Arbeit, die zur Promotion an der Universität Salzburg führte. Das hervorragende Literaturverzeichnis und viele weiterführenden Zitate und Angaben machen die nicht eben leichte Lektüre des Buches letztendlich zu einem Gewinn und einem Erkenntniszuwachs in Sachen des bis heute vernachlässigten Siegfried Wagner, der aus dem einen oder anderen Grund nicht nur in Bayreuth noch immer beinahe tabu ist (Daniela Klotz: Wer arbeiten will, gebiert seinen eigenen Vater: Siegfried Wagner vor dem Werk seines Vaters ; 280 Seiten, 2020 ; Königshausen & Neumann ISBN 978-3-8260-7049-5). Dieter David Scholz

Populäres

 

Ihr kalendarisches Alter von 45 Jahren Lügen straft die Stimme der Russin Ekaterina Siurina, die unter dem Titel Amour éternel eine CD mit französischen und italienischen Arien und Duetten vorgelegt hat. Das Timbre der silbrig klingenden Stimme ist mädchenhaft geblieben, das eines leichten bis lyrischen Soprans von müheloser Emission und fast ohne die Schärfe, die oft slawischen Stimmen zueigen ist. Als Charpentiers Louise weiß sie den Ton schön in einem feinen Schwebezustand zu halten, ihn delikat zu modulieren. Ihre Juliette strahlt vokale Lebensfreude aus, hat für die zu Leben und Liebe Erwachte einen schönen Glockenton und nur am Schluss schleicht sich ein wenig Spitziges ein. Es folgen zwei Szenen, die des Abschieds von Romeo, in der der Ehemann der Sängerin, der Tenor Charles Castronovo ihr Partner ist, dessen Stimme in den letzten Jahren ausgesprochen dunkel geworden ist, der deshalb zu sehr absticht von den hellen Farben des Soprans, eher ausgesprochen männlich als jugendlich wirkt. Die Gattin hingegen lässt in ihrer Stimme die Sonne strahlend aufgehen, klingt besonders zart und innig im Schluss des Duetts. Weniger als Bravourarie denn als anmutige Selbstdarstellung wird die Juwelenarie aus Gounods Faust gesungen, da funkeln nicht die Brillanten, sondern es offenbart sich eher eine verwirrte Seele. Weniger bekannt ist die Arie der Leila aus Bizets Perlenfischern, in der die Siurina sich mit einem schönen Triller aus sanfter Melancholie verabschiedet. Die letzte französische Arie ist die der Micaela aus Carmen, die in zarter Entschlossenheit vorgetragen wird.

Sehr getragen nimmt Ekaterina Siurina Puccinis „Mi chiamono Mimi“, ist von sehr zarter dolcezza und hat nicht ganz die Wärme und Fülle italienischer Kolleginnen. Im folgenden Duett fällt wieder der Kontrast der sehr hellen weiblichen zur sehr dunklen männlichen Stimme auf, die Galanterie des Ehemanns zeigt sich im Nachuntensingen am Schluss des ersten Akts, so dass die schöne Höhe der Gattin voll zur Geltung kommt, die im dritten Akt Mimi einen Hauch von Wehmut verleiht. Feine Bögen werden im „Sogno di Doretta“ entworfen, die Liù der Siurina lässt einen keuschen Klang vernehmen, aber auch ein Fehlen von innerer Spannung und an Rundung des Tons. „Das kann jede singen“, meinte einst ein bekannter Dirigent anlässlich eines Vorsingens, als die Kandidatin ihm den letzten Akt von Otello anbot. Natürlich gelingt er auch Ekaterina Siurina, auf den Rest muss die Musikwelt noch warten.

Insgesamt ist die CD, die man mit Skepsis (Warum schon wieder diese Arien und Duette und schon wieder ein russischer Sopran?) aufgenommen hat, eine erfreuliche, nicht zuletzt, aber durchaus nicht nur deswegen, weil ein gut aufgelegtes Kaunas City Symphony Orchestra unter Constantine Orbelian die kundige Begleitung ist (CD Delos DE 3583). Ingrid Wanja