Noch bevor das Orchestra Giovanile Luigi Cherubini aus Piacenza Gaetano Donizettis Introduzione zu seiner an Weihnachten 1833 an der Mailänder Scala uraufgeführten Lucrezia Borgia anstimmt, nimmt das Unheil seinen Lauf. Lucrezia, die ihr Neugeborenes stillte und mit einer Spielwerkmusik von „Com’ è bello“ in seine Wiege bettet, wird das Baby vom Vater und Papst entrissen. Die unablässig fließende Muttermilch muss abgepumpt werden. Der 32jährige Bozener Regisseur Andrea Bernard, dem 2016 in Berlin eine Jury unter Vorsitz von Graham Vick den neunten Europäischen Opernregie-Preis zuerkannte (sein Traviata-Konzept konnte er im folgenden Jahr beim Verdi Festival in Busseto umsetzen), musste sich für die Lucrezia Borgia 2019 im Rahmen des Donizetti-Festivals in Bergamo natürlich etwas einfallen lassen und schiebt zusätzlich eine weitere Todes- oder Leidensfigur durch die dunklen ferrareser Ecken. Doch ansonsten rüttelt und schüttelt Bernard nicht weiter an der Geschichte der Lucrezia Borgia, die Donizetti und sein auf Victor Hugos erst wenige Monate zuvor uraufgeführtes Drama bauender Textlieferant Felice Romani weitgehend so zeichnen, wie sie die mittlerweile widerlegten Legenden lange Zeit sehen wollten. Bernard und sein Bühnenbildner Alberto Beltramo schufen suggestive Bilder und Räume und handliche Spielsituation, die der Mitschnitt (Dynamic Bluray 57849) in vielen gut eingestellten Nahaufnahmen und interessanten Perspektiven bestens einfängt als sitze der Zuschauer abwechselnd in einer der vordersten Parkettreihen oder einer der 88 Logen in dem seit seiner Wiedereröffnung 2009 immer noch unfertig wirkenden Teatro Sociale. Die Aufführung in Bergamos Citta alta hatte bei der Premiere am 22.11.2019 einen guten Eindruck hinterlassen, der sich nun bestätigt.
Der Ausflug Gennaros und seiner Buddies zum venezianischen Karneval, der bei der Negroni-Party für alle einen tödlichen Ausgang nehmen wird, ist lebhaft illustriert, die Begegnung Gennaros mit der attraktiven Unbekannten hinreichend glaubhaft, dass er sie niemals für seine Mutter halten könnte. Edoardo Milletti ist ein auffallend guter Rustighello, und Manuel Pierattelli, Alex Martinbi, Roberto Maietta und Daniele Lettieri werfen sich als Gennaros Freunde Liverotto, Gazella, Petrucci und Vitellozzo mit exzessiver Spielfreude und Sangeslaune in die exzessiven und blasphemischen Gelage und Ausschweifungen. Carmela Remigio sieht gut aus als Lucrezia, mal als Jägerin in engen Hosen, mal als Verführerin im goldenen Gewand. Stimmlich macht sie das eigentlich auch gut. Ihr Sopran ist nicht der farbigste und interessanteste, auch nicht sehr groß, mir oftmals auch zu leicht, spitzig und gequält, doch sie kompensiert das durch energischen Ausdruck, perfekte Verzierungen und gute Koloraturen; ihre Auseinandersetzung mit dem Gatten Alfonso ist hoch leidenschaftlich und dramatisch geraten, mit dem fabelhaften baskischen Tenor Xabier Anduaga als Gennaro gibt sie ein überzeugendes Liebespaar ab. Anduaga zu hören – in Bergamo sang er bereits im Jahr zuvor in Il castello di Kenilworth – ist pures Vergnügen. Welch edles Legato und zartes Piano, welch süßes Timbre, welche Geschmeidigkeit und Stimmschönheit, Eleganz und Leichtigkeit. Dazu sängerischer Elan, gute Höhe, sinnlicher Ausdruck, sympathische Bühnenpräsenz. Perfekt. Eine gute Figur gibt auch der kernige Bassbariton Marko Mimica als Don Alfonso d’Este ab, dem die historische und in Ferrara als Wohltäterin verehrte Lucrezia eine treue Gattin war. Die Armenierin Varduhi Abrahamyan singt mit fülligem Mezzosopran, dem es trotz guter Höhe an Strahl und Brillanz fehlt, einen plumpen Maffio Orsini. Das berühmte Brindisi „ll segreto per esser felici“ klingt recht beiläufig.
Mit straffer Hand und vorwärtsdrängender Impetus dirigiert Riccardo Frizza die Edizione critica von Rosie Ward und Roger Parker, der insgesamt neun Versionen der Lucrezia identifiziert hat, und mixte die Fassung der Mailänder Uraufführung mit Passagen, die Donizetti 1840 für das Théâtre Italien in Paris herstellte und als sein letztes Wort in Sachen Lucrezia Borgia betrachtete. D.h. im Wesentlichen: Lucrezia erhält anstelle der zweiten Strophe von „Com’ è bello“ die von Giulia Grisi kreierte Cabaletta „Si voli il primo a cogliere“, Gennaro singt zu Beginn des zweiten Akts die für Mario komponierte Romanze „Anch’io provai le tenere“, welche in Paris das Duett Orsini-Gennaro ersetzte, das in Bergamo ebenfalls gespielt wird und es Bernard erlaubt, das Freundespaar in innigster Vertrautheit zu zeigen. Schließlich am Ende das Arioso Gennaros „Madre, se ognor lontano“, auf das nur eine Strophe von Lucrezias abschließender Cabaletta folgt. Rolf Fath..