Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Kniendes Gebären

 

Noch immer steht Siegfried Wagner im Schatten seines Vaters Richard. Peter Pachl hat 1988 die bisher einzige umfassende Biografie des Komponisten und Wagnersohns herausgebracht, eine von positivistischem Sammelfleiß abgesehen, allerd­ings etwas verschwurbelte Arbeit mit esoterisch-astrologischem Ansatz.  Wesentlich seriöser, wissenschaftlicher geht Daniela Klotz auf Siegfried Wagner zu, wenn auch aus ungeahnter, nicht eben naheliegender Perspektive.

„Und tatsächlich eröffnet sich bei näherer Betrachtung der „Geisteswelt Oscar Wildes“ (sie bezieht sich auf einen Aufsatz von Dorothea Renkhoff) so etwas wie ein Paralleluniversum im Werk Siegfries Wagners – das Universum als Intertextualität.“

„Intertextualität“ ist ihr Zauberwort zur Entschlüsselung der Werke des Wagnersohns. Harald Blooms psychologischer Ansatz (Harold Bloom „Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung“) ist ihre Ausgangsthese, die sich zusammenfassen lässt in den Satz: „Kein Text…existiert ohne einen Vorläufer. Vielleicht sogar ohne den einen Vorläufer.“

Die entscheidende Frage, die sich für die Autorin stellt: „Was passiert, wenn einer sich mit Kunst auseinandersetzt, indem er auf Basis dieser Auseinandersetzung seinerseits ein Werk erschafft. Entsteht so Neues auf der Basis von Altem, schafft/bedingt das Alte somit Neues oder führt die Reflexion irgendwann zum Selbstzweck, zur Kunst für die Kunst, zum Nachzählen der Schätze, statt zum Nacherzählen und damit zu neuem Schaffen? “ Im Falle Siegfried Wagners verneint das Daniela Klotz vehement.

Am Beispiel von Siegfrieds Oper „Banadietrich“ und der darin anklingenden Werke „Tristan“ und „Parsifal“ entdeckt Daniela Klotz eine „so nie vermutete Rückführung des Weltendramas … des väterlichen Schaffens… Letztendlich lässt sich das Vaterwerk im Spiegel des Sohneswerks, für das der Banadietrich nun exemplarisch steht, nicht nur über den Wieland bis zu den Feen, also nahezu den Anfang des gesamten Schaffens Richard Wagners zurückverfolgen“.

Über dessen Ironie eröffne sich im Werk Siegfried Wagners ein Paralleluniversum der Intertextualität. Opus 6, „Banadietrich“, auf den ersten Blick ein „Ring“ im Taschenformat, erweist sich für die Autorin als Zugang zu dem Vexierspiel, das das Genie Siegfried im Schatten mit den Werken seines Vaters treibt. Gleich den Prismen eines Kaleidoskops bringe der Sohn das Gesamtkunstwerk des Vaters durch leichtes Kippen und kaum merkliches Drehen „zurück auf Anfang“. Dieser Anfang ist nicht etwa eine der frühen Opern Richard Wagners, die als Nukleus einer der späteren gelten können, sondern ein Werk vor seiner Zeit: der „Faust“, der sich als wichtiges Element im Schaffen Richard Wagners erweist, vor allem aber als Dreh- und Angelpunkt im Kosmos Siegfried Wagners entpuppt. Es sei dies ein „Spiel“, dass allem Anschein nach alle Opern Siegfried Wagners durchziehe: Augenscheinlich jeweils nur auf ein Werk des Vaters bezogen, offenbaren alle Opern des jüngeren Wagner vielfältige Verweise aufeinander, auf den gesamten väterlichen Kanon und immer wieder auf den „Faust“, so Daniela Klotz.

Mit akribischen Stückanalysen (manchmal sind sie etwas sophisticated, wenn auch hochintelligent und letztlich einleuchtend), großer Textkenntnis des Vater- wie Sohneswerks, stupender Gelehrtheit und definierter Methode kommt Daniela Klotz zu dem Schluss, dass sich anhand des „Banadietrich“ belegen lässt, dass Siegfried Wagner mit den Werken seines Vaters, oder besser noch, mit den Figuren, die sein  Vater ersann, um seinem Denken Ausdruck zu verleihen, ein Vexierspiel treibt, das sich nach den Regularien der Intertextualität nachweisen lässt.“

Dieses Spiel finde aber keineswegs nur im „Banadietrich“ statt, sondern allem Anschein nach in allen Opern Siegfried Wagners. Die Autorin spricht von einem „großen Spaß; als Spiel mit dem Spiel kann es vielleicht sogar als eine Vorwegnahme der Postmoderne und deren Spielcharakter gewertet werden.“ Eben diese Kritische, innovative Auseinandersetzung mit seinem Vater und dessen Werk macht vielleicht die meist unterschätzte Größe und Freiheit Siegfried Wahnes aus.

Auch darin erweist sich Daniela Klotz als gelehrige Schülerin Harold Blooms: „Denn was uns frei macht, ist die Erkenntnis, wer wir waren, was wir wurden; wo wir waren und wohin wir geworfen wurden; wohin wir eilen, woraus wir erlöst werden; was Geburt ist und was Wiedergeburt‘ “

So ist auch der von Bloom (der den Philosophen Kierkegaard zitiert) entlehnte Titel ihres Buches zu verstehen; „Wer arbeiten will, gebiert seine eigenen Vater.“ Die Autorin präzisiert: „An sich meint das, dass, wer arbeitet, ein Vaterwerk schafft. Hier ist der Satz wörtlich zu verstehen, und damit der Sinn des Satzes, wie könnte es anders sein, in sein gerade s Gegenteil verkehrt.“

Eine imposante, psychologische Erklärung des Werks von Siegfried Wagner, wenn auch zugegeben, zuweilen vertrackt zwiebelschalenhaft um den einen zentralen Gedanken kreisend, aber doch eine lesenswerte Arbeit, die zur Promotion an der Universität Salzburg führte. Das hervorragende Literaturverzeichnis und viele weiterführenden Zitate und Angaben machen die nicht eben leichte Lektüre des Buches letztendlich zu einem Gewinn und einem Erkenntniszuwachs in Sachen des bis heute vernachlässigten Siegfried Wagner, der aus dem einen oder anderen Grund nicht nur in Bayreuth noch immer beinahe tabu ist (Daniela Klotz: Wer arbeiten will, gebiert seinen eigenen Vater: Siegfried Wagner vor dem Werk seines Vaters ; 280 Seiten, 2020 ; Königshausen & Neumann ISBN 978-3-8260-7049-5). Dieter David Scholz

Populäres

 

Ihr kalendarisches Alter von 45 Jahren Lügen straft die Stimme der Russin Ekaterina Siurina, die unter dem Titel Amour éternel eine CD mit französischen und italienischen Arien und Duetten vorgelegt hat. Das Timbre der silbrig klingenden Stimme ist mädchenhaft geblieben, das eines leichten bis lyrischen Soprans von müheloser Emission und fast ohne die Schärfe, die oft slawischen Stimmen zueigen ist. Als Charpentiers Louise weiß sie den Ton schön in einem feinen Schwebezustand zu halten, ihn delikat zu modulieren. Ihre Juliette strahlt vokale Lebensfreude aus, hat für die zu Leben und Liebe Erwachte einen schönen Glockenton und nur am Schluss schleicht sich ein wenig Spitziges ein. Es folgen zwei Szenen, die des Abschieds von Romeo, in der der Ehemann der Sängerin, der Tenor Charles Castronovo ihr Partner ist, dessen Stimme in den letzten Jahren ausgesprochen dunkel geworden ist, der deshalb zu sehr absticht von den hellen Farben des Soprans, eher ausgesprochen männlich als jugendlich wirkt. Die Gattin hingegen lässt in ihrer Stimme die Sonne strahlend aufgehen, klingt besonders zart und innig im Schluss des Duetts. Weniger als Bravourarie denn als anmutige Selbstdarstellung wird die Juwelenarie aus Gounods Faust gesungen, da funkeln nicht die Brillanten, sondern es offenbart sich eher eine verwirrte Seele. Weniger bekannt ist die Arie der Leila aus Bizets Perlenfischern, in der die Siurina sich mit einem schönen Triller aus sanfter Melancholie verabschiedet. Die letzte französische Arie ist die der Micaela aus Carmen, die in zarter Entschlossenheit vorgetragen wird.

Sehr getragen nimmt Ekaterina Siurina Puccinis „Mi chiamono Mimi“, ist von sehr zarter dolcezza und hat nicht ganz die Wärme und Fülle italienischer Kolleginnen. Im folgenden Duett fällt wieder der Kontrast der sehr hellen weiblichen zur sehr dunklen männlichen Stimme auf, die Galanterie des Ehemanns zeigt sich im Nachuntensingen am Schluss des ersten Akts, so dass die schöne Höhe der Gattin voll zur Geltung kommt, die im dritten Akt Mimi einen Hauch von Wehmut verleiht. Feine Bögen werden im „Sogno di Doretta“ entworfen, die Liù der Siurina lässt einen keuschen Klang vernehmen, aber auch ein Fehlen von innerer Spannung und an Rundung des Tons. „Das kann jede singen“, meinte einst ein bekannter Dirigent anlässlich eines Vorsingens, als die Kandidatin ihm den letzten Akt von Otello anbot. Natürlich gelingt er auch Ekaterina Siurina, auf den Rest muss die Musikwelt noch warten.

Insgesamt ist die CD, die man mit Skepsis (Warum schon wieder diese Arien und Duette und schon wieder ein russischer Sopran?) aufgenommen hat, eine erfreuliche, nicht zuletzt, aber durchaus nicht nur deswegen, weil ein gut aufgelegtes Kaunas City Symphony Orchestra unter Constantine Orbelian die kundige Begleitung ist (CD Delos DE 3583). Ingrid Wanja  

Auch mal „übernommen“

 

É strano- da liest man mit wachsendem Vergnügen ein nach langer Irrfahrt von Bologna nach Berlin gelangtes Buch, erfreut sich an aussagekräftigen Fotos, sucht bei You Tube nach Bestätigung dafür, dass Carlo Bergonzi, wie der Autor Vittorio Testa bekundet,  tatsächlich der unangefochtene, absolute Tenore di Verdi war und wird doch zunehmend verstörter, weil sich ein Dé-jà- vu- Erlebnis anzubahnen scheint. Das alles hat man doch schon einmal und dazu noch in denselben Wortlaut nicht gelesen, sondern gehört, und zwar in dem Film von Mauro Biondini, in dem der große Tenor kurz vor seinem Tod genau das erzählt, was der Verfasser des Buches zu berichten weiß, dazu in einer Art und Weise als wäre er selbst der Gesprächspartner Bergonzis gewesen. Das Buch kann aber erst nach seinem Tod entstanden sein, denn es berichtet auch vom Ableben des Sängers und enthält viele Zeugnisse der Dankbarkeit von Kollegen und Schülern des Verstorbenen, es wurde 2019, also fünf Jahre nach dem Tod Bergonzis gedruckt, und es ist anzunehmen, dass sich der Verfasser über weite Strecken hinweg des Films von Biondini bedient hat, dort aber, wo er darüber hinausgeht, oft ungenau oder unangenehm pauschalisierend wird. Das Falschschreiben ausländischer Namen gehört eigentlich zum allerdings nicht guten Ton italienischer Autoren, so dass ein „Bismark“ nicht verwundert, auch nicht ein „Lutero“, aber das pauschale Urteil über die Protestanten, die angeblich zu einer „inflessibile intolleranza“ erzogen werden, stammt zum Glück nicht von Bergonzi, sondern vom Autor des Buches über ihn. Da muss erst ein katholischer Österreicher kommen, sich von Schuberts Ave Maria erweichen lassen und Gutes tun.

Das Buch hat also viele Schwächen, wozu wohl auch die aufdringliche Familiarität gehört, mit der Testa den Sänger behandelt, der zunächst als „il nostro Carletto“, später als „il nostro eroe“ durch den Band marschiert, während dem Personal des Buches, soweit aus der Poebene stammend, ein extrem verfremdender Dialekt zugeordnet wird. . Aber man erfährt natürlich auch viel Interessantes über den Sänger, über die früh mit dem 5. Schuljahr endende Kindheit, die Arbeit in der Molkerei und als Kohlenschlepper, den Militärdienst, die Kriegsgefangenschaft in Neubrandenburg, den frühen Wunsch danach, ein Tenor zu werden. Wer die Gegend zwischen Piacenza und Parma kennt, der weiß, dass die Winter neblig trüb, die Sommer drückend heiß sind, der Verfasser verklärt die Landschaft und auch den Charakter ihrer Bewohner, falls es einen speziell solchen gibt, nimmt einen durchgehenden Jubelton an, der dem Portraitierten wahrscheinlich unangenehm gewesen wäre.

Immerhin erfährt man eine Menge Interessantes, das Fehlurteil Ettore Campogaliianis, des berühmten Stimmbildners, der einen Bariton in Bergonzi sieht, das Debüt als Figaro in dörflichen Pappkulissen, das heimliche Umstudieren auf Tenor, die einzelnen Karriereschritte und Einblicke in das unmittelbare Nachkriegsleben, so mit dem Motto des Mailänder Bürgermeisters: „Prima la Scala, poi il pane“, was in krassem Gegensatz zu einem Brecht-Zitat steht. Dem Leser begegnen die Großen der lirica italiana wie Votto, Serafin, Gavazzeni, die Vorbilder Gigli, Pertile, Schipa, und der Leser bewundert den Mut des Noch-Bariton Bergonzi, der dem Tenorkollegen vormacht, wie man ein Hohes C stützt, nachdem er in aller Heimlichkeit Tag für Tag einen Viertelton auf dem Weg zum Tenor gewonnen hat, um dann weit entfernt vom heimischen Vidalenzo nahe Busseto in Bari als Tenor mit Andrea Chenier zu debütieren und triumphieren. Mit seinem berühmt gewordenen Morendo am Schluss von Celeste Aida weiß er einen Agenten zur Betreuung seine Tenorlaufbahn zu gewinnen, und gemeinsam mit der Mitschülerin Renata Tebaldi darf er bereits den 50. Jahrestag von Verdis Tod bei der RAI als Tenor mitfeiern.

Erstaunlich ist das Verhältnis zu den Tenorkollegen, wenn Mario del Monaco ihm zwei seiner Vorstellungen an der MET abtritt, Franco Corelli mit seiner Hilfe etwas von seinem Lampenfieber verliert, Pavarotti und Martinucci seinen Rat einholen. Liebenswert erscheint der Tenor dem Leser auch durch die Riten vor jedem Auftritt, die Anhänglichkeit an den Heiligen Antonius von Padua, die Großzügigkeit, was Trinkgelder aller Arten angeht, den Seitenhieb auf Andrea Bocelli und man denkt an die eigenen positiven Erfahrungen zurück, den Tenor, der vor seinem Theater in Busseto auf- und abspazierte, sofort zu einem spontanen Interview bereit war und mit 72 Jahren nicht ohne Stolz meinte:“Komm morgen wieder, da singe ich den Rodolfo“, weil der aus Bergonzis Accademia hervorgegangene junge Tenor sich überlastet fühlte.

Die Dirigenten liebten diesen Sänger, Bruno Walter bewunderte sein „Hostias“, Karajan ebenfalls, brach aber, wie bei ihm üblich, als der Tenor sich nicht reif genug für den vorgeschlagenen Pagliaccio fühlte, den Dirigenten mit einem „maleducato“ bedachte, die künstlerische Beziehung ab. Immerhin schickte er Jahre später dem Tenor ein „il più bravo tenore del mondo“ ins Hotel.

Vieles hört sich wie aus einer längst vergangenen Zeit stammend an, so die Beschreibung des einst als besonders kritisch angesehenen Publikums von Parma, das längst die schlimmsten stimmlichen Schwächen schluckt, bei Bergonzi fehlurteilte und sein morendo als Radames monierte und in zwei einander wütend bekämpfende Lager zerfiel, während die beiden Tenöre Bergonzi und Corelli selbst beste Freunde waren. Kaum zu glauben ist die vom Autor erzählte Geschichte von der Krokodilledertasche, die Bergonzis Gattin Adele von der Theaterleitung angeboten wurde, wenn sie den Tenor dazu bewegen könnte, doch weiterhin in Parma zu singen. Als Füllmaterial werden dann noch die Auseinandersetzungen anderer Sänger wie Renato Bruson mit dem Publikum von Parma herangezogen.

Das Buch ist nicht sehr sorgfältig betreut worden, denn dann befände sich nicht zweimal der gleiche Textabschnitt in ihm, begrüßenswert ist hingegen, dass auch viele andere „Autoren“ zu Wort kommen, so im Vorwort von Alberto Mattioli, im Nachwort von Enrico Stinchelli und vor allem in den vielen Lobpreisungen seiner Kollegen oder Schüler, so Raina Kabaivanska, Leo Nucci (beide auch im Film), Michele Pertusi, Alberto Gazale, Fabio Armiliato und auch Carlo Fontana.

Den Anhang bilden ein Alfabeto Bergonziano, das Repertorio discografico, DVD, Repertorio da Baritono e da Tenore (130 Seiten, Diabasis 2019, ISBN 978 88 8103 937 1). Ingrid Wanja     

Einer für alles

 

Auch vor der Oper nicht Halt macht die Globalisierung, und manch anonyme, nicht durch ein unverwechselbares Timbre wiedererkennbare Stimme ist ihr Preis. Das eher umgekehrte Phänomen zeigt sich bei der Recital-CD des ukrainischen Tenors Dmytro Popov, der in den Hymns of Love in vier Sprachen und aus vier Kulturkreisen eine kraftvolle, sehr persönlich gefärbte Stimme hören lässt, die besonders im italienischen Repertoire leicht verstört. Nun ist das Timbre einer Stimme Geschmackssache, und man sollte wohl nicht unbedingt Carlo Bergonzi mit Stille Nacht kurz zuvor gehört haben, aber in jedem Fall dürfte Recondita armonia befremdlich klingen, weil mit auch im Vergleich mit den Orchesterfarben recht dumpf erscheinender Mittellage und sehr metallischer Höhe gesungen wird, wobei schon nicht mehr ins Gewicht fällt, dass der Schluss, anders als von Puccini komponiert, im Forte dargeboten wird. Ähnliches gilt für die zweite Arie des Puccini-Des-Grieux, der sich zwischen trübsinnig  und kraftprotzend klingend bewegt, während in Cielo e mar die Stimme zu gewichtig erscheint, wenig poetisch, geradezu herrisch im „vieni o donna“, allerdings am Schluss mit ätherischen, wenn auch nicht perfekt angebundenen „sogni d’amor“. Eine sensationell sichere Höhe kann in der „gelida manina“ gefallen, womit das italienische Repertoire erledigt wäre.

Die Blumenarie aus Carmen besticht durch den selten so empfindsam gehörten Vortrag, geradezu sensationell wird der Schluss, und zwar so, wie es Bizet komponiert hat und wie es kaum je gesungen wird, dargeboten. Auch Gounods Romeo kann mit einem schönen Spitzenton mit Decrescendo punkten, klingt allerdings wenig jünglingshaft, weil sehr verhangen, auch Faust wagt einen schönen Falsettino-Schluss.

Tschaikowski ist zweifach vertreten, so mit der ersten Arie des Lenski, wo nur der Hörer etwas auszusetzen hätte, der einen Mozartsänger in der Partie  gewöhnt ist. Im fein charakterisierenden Gesang wird die Figur des Wladimir aus Borodins Fürst Igor für den Hörer erfahrbar, Dvoṙáks Prinz aus Rusalka tritt mit geradezu heldischem Aplomb auf.

Den Abschluss bilden ein Ausflug in die Operette und einer ins ukrainische Volkslied. Tenorale Prachtentfaltung kennzeichnet „Dein ist mein ganzes Herz“, ganz unverstellt und selbstverständlich klingt das Lied von den schwarzen Augenbrauen und den Augen wie Haselnüsse. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Mikhail Simonyan begleitet kompetent (Orchid Classics ORC 100148). Ingrid Wanja

Grosser mit schwieriger Vergangenheit

 

Einen hochinteressanten Zwitter zwischen höchsten wissenschaftlichen Kriterien verpflichteter Dissertation und Emotionen wie Intellekt beschäftigender Künstlerbiografie hat Julia Zalkow mit der des Schweizer Pianisten Edwin Fischer (1886-1960) Pianist, Dirigent, Musikpädagoge- Eine Biographie, in gewichtigen mehr als 450 Seiten im Böhlau Verlag vorgelegt. Allein drei Jahre des Reisens auf der Suche nach Quellenmaterial hat die Verfasserin verbracht, um  einen fast Vergessenen wieder in das Bewusstsein zumindest der musikalisch Interessierten zurückzurufen. Sie selbst wurde durch das Hören von besonders Bachinterpretationen des Pianisten auf ihn aufmerksam, stellte sich vier Ziele mit ihrem Werk, nämlich zu erkunden, wodurch der Pianist erfolgreich wurde, was seine Künstlerpersönlichkeit ausmachte, warum er relativ schnell vergessen wurde und warum man sich an ihn erinnern sollte.

Ihre Herangehensweise an diese komplexe Aufgabe ist eine sehr vielseitige, bezieht Fotos und Beschreibungen nicht nur des Pianisten, sondern auch des Privatmenschen ein, setzt sich mit falschen Behauptungen auseinander, mit Hobbies, mit dem oft behaupteten übergroßen Einfluss der Mutter auf den früh zur Halbwaise Gewordenen, auf die Wandlungen seines Spiels, und auch eine Beschäftigung mit dem ihm verliehenen Attribut „Tastenlöwe“ wird in Angriff genommen.

Der eigentlichen Biographie geht eine Betrachtung dessen voraus, was die Autorin als „Biographienwerkstatt“ bezeichnet, der Quellenlage, den unterschiedlichen Herangehensweisen wie zum Beispiel der quantitativen Umfrageforschung oder der soziologischen Biographieforschung. Bewusst grenzt sich Zalkow ab von den gängigen Biographien, die vieles erfinden, sie bekennt sich hingegen zur Lücke, vielfach entstanden durch Kriegseinwirkungen, denn Fischer lebte bis zum Sommer 1943 vorwiegend in Berlin. Dem nicht das wissenschaftliche Werk, sondern die auch unterhaltsame Biographie Suchenden kommt es sicherlich entgegen, dass das Buch chronologisch gegliedert ist.  Hin und wieder schiebt sich die Autorin in den Erzählfluss hinein, um über besondere Probleme bei der Forschung, Ihre Vorgehensweise, Erfolge oder Misserfolge zu berichten.

Ehe der Leser in die Biographie einsteigen darf, wird er noch über Forschungsstand und Quellen, über bisher bereits Erforschtes und über das Material und die noch vorhandenen Zeitzeugen informiert.

Edwin Fischers Leben spielte sich in Basel, Berlin, Luzern ab, und selbst wer sich für den Pianisten nicht sonderlich interessiert (doch die Anteilnahme wächst mit der Lektüre), der erfährt sehr viel über die Zeit, in die er hineingeboren wurde, über die Schweiz im ausgehenden 19. Jahrhundert, ihre Ideale von Wohlanständigkeit und Arbeit, die Bedeutung der Hausmusik, auch über das bereits beim Schüler Fischer vorhandene Lampenfieber, das auch den reifen und alternden Pianisten noch plagen sollte.

Aus eine Fülle von Mosaiksteinchen setzt die Verfasserin ein so farbiges wie fundiertes Bild des mit siebzehn Jahren nach Berlin ziehenden Studenten, der bereits nach dem ersten Studienjahr auch als Lehrer tätig wird, zusammen, charakterisiert die vielen unterschiedlichen Musikschulen, die es damals in Berlin gab, und vermittelt dem Leser auch Eindrücke von den Menschen, die wichtig für den jungen Fischer waren, so von dem Sänger Ludwig Wüllner, dem er Klavierbegleiter war.

Interessant ist, was über Wiener und Berliner Salons, oft von jüdischen Familien, und das musikalische Leben dort berichtet wird, eine große Rolle spielt die Selbstreflexion des Künstlers, der sich als Vertreter  des traditionellen Interpretationsmodus sieht und gesehen wird, der sich um die Wiederherstellung von Urtexten bemüht, aber gegen Dogmatismus ist.

In der Weimarer Republik zeigt sich Fischer durchaus aufgeschlossen für moderne Musik, durchlebt zwei Episoden als Dirigent in Lübeck und München und kreiert den „Klavierdirigenten“. Interessant sind der Italien-Reisebericht einer Freundin, die Informationen über das von Fischer gegründete Musikinstitut für Ausländer in Potsdam und seine Schwierigkeiten als Professor an der UdK in Berlin.

Noch nicht zum Problem wurde Fischer seine Parteinahme für Deutschland im Ersten Weltkrieg, wohl aber sein Verbleiben in Deutschland nach der Machtergreifung der Nazis. Da gibt es auch ein Foto, das ihn vor einer riesigen Hakenkreuzfahne zeigt und ein Dankschreiben an Adolf Hitler. Ein Entnazifizierungsverfahren musste der Schweizer nicht durchmachen, wohl aber die Feindseligkeit maßgeblicher Kreise in den USA  (ähnlich wie gegenüber Furtwängler) oder die Zurückweisung von Dirigenten, die nicht mit ihm musizieren wollten, erleiden. Immerhin sprach für ihn, dass er kein Amt ausübte, sich an keiner Hetze beteiligte, keine Konzerte in besetzten Ländern gab und befreundeten Juden half. Einen aufschlussreichen Blick auf das von Ideologie durchtränkte Kulturleben gewährt ein Artikel über das angeblich „artfremde“ Musizieren eines jüdischen Pianisten im Vergleich mit dem des „artgerechten“ Wirkens von Edwin Fischer. Dieser fühlte sich dem Land, in dem er Karriere gemacht hatte, dessen Komponisten er verehrte, verpflichtet, was auch erklärt, dass er für Winterhilfswerk und KdF musizierte. Das alles wird von der Verfasserin so einfühlsam wie unter Verzicht auf ein demonstratives Überlegenheitsgefühl der Nachgeborenen ausgeführt.

Walter Legge gewann neben vielen anderen auch Fischer für Aufnahmen, der aber die „Patzer für die Ewigkeit“ fürchtete, lieber ein Trio mit Kulenkampff und Mainardi, später mit Schneiderhan bildete und bereits 1946 nach Salzburg zurückkehrte. Es folgen noch Berichte von Meisterkursen in Luzern, und unter dem Stichwort „calando“ wird von der nachlassenden Gesundheit und damit verbundenen schwindenden Qualität der künstlerischen Arbeit berichtet. 1957 findet das letzte Konzert in Zürich statt, 1958 noch ein Sommerkurs, 1960 stirbt Edwin Fischer.

Als „wissenschaftliche Künstlerbiographie“ klassifiziert Julia Zalkow ihr Buch, das sich zum Ziel gesetzt hat, auf einen „vergessenen Künstler“ aufmerksam zu machen. Immerhin war er der Rezensentin bekannt, auch sein Image als Tastentiger und „romantischer“ Bachinterpret. Doch sich alles, was auf You Tube verfügbar ist anzuhören, dazu gab das Buch den Anstoß und dazu, über die Möglichkeit, als Künstler „unpolitisch“ zu bleiben, nachzugrübeln.

Der umfangreiche Anhang besteht aus Abkürzungen, Tabellen, Abbildungen, Quellen und Literatur, Personen (460 Seiten, 2020 Böhlau Verlag; ISBN 978 3 205 21123 5). Ingrid Wanja

Alte Musik im Hall

 

Mit L’Incoronazione di Poppea, der letzten Oper von Claudio Monteverdi, begann nach der Uraufführung 1642 in Venedig so etwas wie ein Repertoire im Opernbetrieb. Denn in Venedig wurde sie danach mehrere Jahre gespielt, und mit ihr wurde 1651 die Reihe öffentlich aufgeführter Opern in Neapel eröffnet. Anschließend allerdings geriet die Oper in Vergessenheit, bis sie  wiederentdeckt wurde, als man 1888 die venezianische Druckausgabe und 1930 die neapolitanische Fassung in Bibliotheken auffand. Man vermutet, dass die Urfassung 1748 bei einem Brand des Uraufführungstheaters vernichtet wurde.

Vom letztlich sehr ernsten Spiel um Liebe und Macht ist bei BONGIOVANNI eine neuere Aufnahme erschienen. Sie entstand Anfang 2020 in der florentinischen Basilika St. Felicita, an deren hallige Akustik man sich erst gewöhnen muss. Beim Ensemble San Felice, das souverän von seinem Gründer Federico Bardazzi, einem bewährten Spezialisten für Alte Musik, geleitet wird, fällt sehr schnell auf, wie variantenreich bei stets transparentem Musizieren die unterschiedlichen Instrumente eingesetzt werden, von den Flöten bis zu den profunden Continuo-Bässen.

Das große Sänger-Ensemble besteht aus durchweg jungen Künstlern und hat internationalen Zuschnitt. Durchgehend wird schlankstimmig und meist sauber intonierend gesungen, was der verzierten Tonsprache Monteverdis und der besonderen Kirchenakustik sehr entgegen kommt.  In der Titelrolle gefällt Oksana Maltseva mit gestochen klaren Koloraturen, aber auch mit angenehm weichen Lyrismen. Nerone ist der Sopranistin Shin Yoowon anvertraut, deren volltimbrierte Stimme zur Rolle des mächtigen Kaisers gut passt. Floriano D’Auria trumpft zumindest musikalisch mit ausgesprochen klangvollem Alt als sein Gegenspieler Ottone auf. Als die im Machtspiel unterlegene Ottavia hört man die Sopranistin Choi Senyeon, die mit schön ausgesungenen Melodiebögen auf dem Weg in die Verbannung ihren traurigen Abschied von Rom anrührend gestaltet. Blass und nicht so recht überzeugend wirkt mit angestrengten, teilweise unsauberen  Höhen der Bassist Jing Shuheng als Philosoph Seneca. Aus der Vielzahl der kleineren Rollen seien noch die mit glasklarer Stimmführung singende Sopranistin Mira Dozio (Drusilla, Valletto, Venere) und  die Altistin Elisabetta Vuocolo als ausdrucksvolle Amme Arnalta hervorgehoben.

In wenigen Chorstellen, vor dem befohlenen Suizid des Seneca und im klangprächtigen Finale, kommen die Juvenes Cantores della Cathedrale di Sarzana (Einstudierung: Alessandra Montali) zum Einsatz (BONGIOVANNI GB 2581/82-2, 2 CD). Gerhard Eckels

Un vrais Héros francais

 

Eine der wirklichen Superstimmen im großen französischen Repertoire, Le Grand Repertoire, war Gustave Botiaux, in operalounge.de bereits mit einem schönen Farbfoto von einer Orphée-LP im Artikel über Reyers Sigurd vorgestellt und sogar im Original zu Pferd abgebildet. Irre!.

botiaux sigurdAuf alten Editionen wie der inzwischen vergriffenen von opera-club.net  meines verstorbenen Freundes Walter Knoeff (rip) fand sich zudem eine ganz spektakuläre Sammlung des Sängers  (geb. am 14. Juli 1926), die volle zwei CDs zusammenfasste und die ihn in Bestform im angestammten Fach des heroischen französischen Tenors zeigt, bestens aufbereitet und schlicht Staunen lehrend, denn hier brüllt keiner wie Py, Chauvet oder Poncet: Hier singt eine große und leuchtende Tenorstimme lyrisch, dabei kraftvoll und durchschlagend, ohne  auf Stimmschönheit zu verzichten. Dazu kommt die hochintelligente, rollengestaltende  Phrasierung (was man weder Chauvet noch Poncet nachsagen kann). Und natürlich die Diktion! Zum Mitschreiben, zum Mitsingen, jedes Wort verständlich. Ich würde mich in Sachen Stimmumfang und Stimmführung  sogar zu einem Vergleich mit Siegfried Jerusalem versteigen, der natürlich später und deutsch sang, aber der ähnlich seine schöne Stimme nicht forcierte und eben das Lyrische darin bewahrte. Ähnlich geht es mir bei Botiaux, dessen Sigurd eingangs auf der ersten CD mich betört und verzückt. Amazon, Spotify, youtube und andere Platformen machen zudem viele seiner Aufnahmen zugänglich.

Gustave Botiaux und seine Frau, die Sopranistin Sylvie/artslyriquefr.fr

Gustave Botiaux und seine Frau, die Sopranistin Jacqueline Sylvie/ artslyriquefr.fr

Gustave Botiaux machte beim Nationalen Gesangswettbewerb in Cannes 1945 den ersten Preis und wurde sofort als erster Tenor an das Théâtre de la Monnaie in Brüssel engagiert. Die Pariser Oper folgte bald darauf 1956 (als Messenger in Samson et Dalila, vorher die Comique mit Turiddu), an der er für viele Jahre im ersten Fach sang (erst kleine Partien wie den Tierverkäufer (Rosenkavalier) im 1. Akt, dann auch den Italienischen Sänger 1957, später Faust, Cavaradossi, Le Duc/Rigoletto 1960, Radamès). Wie opera-club.net schreibt, besaß Botiaux einen Stimmton seltener Klangschönheit, dazu war er ein schöner Mann auf der Bühne (wie die Fotos bestätigen) und beeindruckte mit seiner athletischen  Figur und einem gewissen raumverdrängenden Charisma, das ihn schnell in die übrigen Theater Frankreichs brachte.

In jener Periode erlebte die Opéra-Comique einige ihrer besten Jahre der Nachkriegszeit, auch mit einem expansiveren Repertoire wie Cavalleria und Pagliacci, und in der ersteren Oper beeindruckte 1956 der hochpräsentable Botiuax außerordentlich, während Tony Poncet den Canio gab – quelles riches!

Zwei seiner wichtigsten Rollen verdankte er der Provinz – Vasco de Gama und der Sigurd, in denen er unerreicht war und die er dort, wie in Marseille und Vichy, mit Ausdauer sang. Und es ist ein Jammer, dass Chauvet die Radioaufnahme der Reyerschen Oper (unter Rosenthal beim RTF/Chant du Monde und bis heute die einzige Gesamtaufnahme) bekam. Aber mit Botiaux gibt es einen großen Querschnitt bei Orphée/Musidisque neben seiner Partnerin Lyne Cumia unter Etcheverry.

Andrea Guiot und Gustave Botiaux in einem PR-Foto für den "Faust"-Querschnitt bei Vega/OBA

Andrea Guiot und Gustave Botiaux in einem PR-Foto für den „Faust“-Querschnitt bei Vega/OBA

Natürlich wurde in jenen Jahren fast ausschließlich in der nationalen Sprache gesungen, und der Dick Johnson in La fille de far West Puccinis wurde ebenfalls zu einer seiner Schlüsselrollen, ebenso Radamès oder Cavaradossi. Krankheit hinderte Botiaux von 1964 bis 1968 an Opernauftritten. Mit einem Wiederauftritt kehrte er im Triumph als Jean in der Hérodiade/Massenet  in Aix-en-Provence und anschließend beim Rundfunk zurück. Ebenfalls als Canio machte er von sich reden, und sogar ein Alfred in der französischen Fledermaus ist für die späte Phase nachzuweisen, während er vor allem in der Provinz den Duca/Rigoletto, Don José oder Cavaradossi mit Glanz sang.

1973 verließ er das Theater und setzte sich zur Ruhe. Sein Ausscheiden verstärkte den akuten Mangel an großen Tenorstimmen im französischen Repertoire, das nun eigentlich nur noch von Gilbert Py und Guy Chauvet beherrscht wurde und das sich von dieser Lücke nicht wieder erholt hat. Bestimmte Werke sind mit französischen Sängern nicht mehr aufzuführen, einzig Roberto Alagna kann mit seinem Cid, Werther, Roméo (und hoffentlich Vasco de Gama im Herbst in Berlin)  etc. als Nachfolger gelten, und er ist eher ein lyrischer Sänger mit viel weniger Metall in der dunkleren Stimme.

$(KGrHqN,!p0E8WdFid7sBPM3j-rWg!~~60_35Botiaux und seine Aufnahmen sind heute weitgehend vergessen. Man rekuriert immer gleich auf Georges Thill und vergisst die Zwischenzeitsänger wie Liccioni. Und deswegen war die Sammlung bei opera-club.net umso begrüßenswerter. Bei Orphée (später Vega) hat er einen großen Querschnitt aus der Tosca und aus dem Sigurd mit Lyne Cumia/Etcheverry aufgenommen,  dazu noch  drei 25 cm LPs mit Arien und Szenen ebenfalls hier. Die finden sich auf dieser Kompilation gemischt  mit einigen Live-Radioübernahmen. So  Szenen aus der Damnation de Faust (mit Jacqueline Lucazeau und Paul Cabanel, Vichy 1956), natürlich das unerreichte „Asile héréditaire“ aus dem Tell in Vichy 1960, Fausts Arien (Rundfunk), Roméo et Juliette (mit Huguette Rivièrè/Jacqeline Silvy und Xavier Dépraz, RTF 1960), Tosca (mit Suzanne Sarrocca, eine ganz wunderbare Stimme und betörend schöne Frau, Vega 1961), La Bohème, Aida, La Favorite, L´Africaine (Vega, Amati 1961); Samson et Dalila (mit Simone Couderc/Bigot RTF 1960) und schließlich Auszüge aus Louise (mit Jacqueline Brumaire unter Marcel Cariven live 1960) – ein reiches Füllhorn an Wundern aus der Schatzkiste herrlichen französischen Gesangs, wie es ihn eben nicht mehr gibt.

botiaux 3Für heutige Ohren eher bizarr ist eine Sammlung von Chansons patriotiques aus dem Ersten Weltkrieg, den unsere Nachbarn noch immer La Grande Guerre nennen und mit würdevollen Veteranen-Umzügen auf den Champs Elysées begehen. 1968 aufgenommen und mit Chor unter Eugen Bigot marschhaft zum Mitmarschieren auffordernd – es geht gegen die Deutschen, 1968 (!), und was da textlich abgeht, ist nicht eben fein. Offenbar gab es selbst so spät noch ein Publikum dafür… Dies auf dem Blog artlyriquefr.fr mit schönen Fotos, dort auch noch mehr von dem Tenor, so weitere Ausschnitte aus der Damnation, der Reine de Saba Gounods, aus dem Trouvère (französisch in der Pacini-Fassung) und mehr in sehr gutem 128 kbs-Sound. Eine besondere Kostbarkeit ist ebendort die Arie des Jean „Ne pouvant réprimer“ aus Massenets Hérodiade von 1960/Amati. Und überhaupt findet sich bei artlyriquefr.fr und im Netz viel aus Frankreich von Botiaux, was zeigt, dass er dort  doch nicht ganz vergessen ist.   G. H.

 

botiaux arienNachstehend noch einmal eine Zusammenfassung, wie sie sich auf dem bereits genannten Blog von artlyriquefr.fr findet: Gustave Botiaux, ténor français, (92.Puteaux, 14 juillet 1926), Epouse la cantatrice Jaqueline Silvy. Elève du Conservatoire de Paris, où il obtient un premier prix de chant, il fut lauréat du concours des ténors de Cannes en 1954. Le concours du Bel canto de Bruxelles en 1955 lui valut un engagement au Théâtre de la Monnaie. Engagé l’année suivante à la RTLN, il débuta à l’Opéra-Comique, puis chanta au Palais Garnier. Mais c’est en province et à l’étranger qu’il consacra la part essentielle de son activité, dans un large répertoire (HérodiadeSamson et Dalila, Lohengrin. Sigurd, l’Africaine, Werther).  Suite à la dissolution de la troupe de l’Opéra, il quitte la scène en 1973 et se retire avec sa femme en Ardèche.

botiaux arien 2Au début des années 60, il a enregistré pour la marque Orphée (Pacific) : récital n°1, dir. Giancarlo Amati (Roméo et JulietteHérodiadele Trouvèrela ToscaSigurdRigoletto) ; récital n°2, dir. Giancarlo Amati (la Favoritel’Africainela Bohèmela JuiveAïda) ; récital n°3, dir. Jésus Etcheverry (TurandotManon LescautAndré Chénierla Reine de SabaGuillaume Tellla Favorite) ; des versions anthologiques de Carmen(Don José), dir. Erasmo Ghiglia ; Faust (Faust), dir. Jésus Etcheverry ; Sigurd (Sigurd), dir. Jésus Etcheverry ; la Tosca (Mario) [version française de Paul Ferrier], dir. Giancarlo Amati ; le Pays du sourire (Sou-Chong) [version française d’André Mauprey et Jean Marietti], dir. Giancarlo Amati (1963) ; pour la marque Vogue : Chansons patriotiques, arrangements et direction d’orchestre : Michel Villard (1968). artlyriquefr.fr

Biserka Cvejic

 

Mit Bedauern hörten wir vom Tode der serbischen Mezzosopranistin Biserka Cvejić (* 5. November 1923 in Krilo-Jesenice bei Dugi Rat, damals Königreich Jugoslawien; † 7. Januar 2021 in Belgrad, Serbien) . Im Folgenden „borgen“ wir unbs eine Würdigung von dem deutschen Wikipedia aus:
Biserka Cvejić, als Biserka Katušin in dem dalmatinischen Küstenort Krilo-Jesenice, 15 km südöstlich von Split geboren, kam im Alter von einem Jahr mit ihren Eltern nach Lüttich. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sie 1946 in ihre jugoslawische Heimat zurück, wo sie zunächst als Dolmetscherin arbeitete. Ihre Stimme wurde von dem spanischen Tenor José Riavez (1890–1958) entdeckt, der auch ihr Lehrer war.

Bereits während ihres Studiums an der Belgrader Musikakademie (heute: Musikfakultät) sprang sie 1950 am Belgrader Opernhaus für eine erkrankte Kollegin als Maddalena in Rigoletto ein. Ihr offizielles Debüt gab sie 1954 am Opernhaus Belgrad als Charlotte in Werther. Bis 1959 blieb sie festes Ensemblemitglied der Belgrader Oper und gab als Teil des Ensembles auch ihre ersten Auslandsgastspiele, so bei den Internationalen Maifestspielen Wiesbaden (1959) und am Opernhaus von Nizza (1960).

Im Oktober 1959 gab sie als Amneris in Aida ihr Debüt an der Wiener Staatsoper.[4] Von 1960 bis 1978 war Cvejić festes Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, an der sie bis Mai 1978 in insgesamt 372 Vorstellungen in 25 verschiedenen Rollen zu hören war. Sie sang dort neben der Amneris u. a. Carmen, Eboli, Azucena, Ulrica, Brangäne, Herodias und Adelaide in Arabella.

Sie gastierte in Europa u. a. am Gran Teatre del Liceu in Barcelona (1961), an der Covent Garden Opera in London (1962), am Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel (1963 als Carmen), am Teatro San Carlo in Neapel (1963 als Brangäne, 1968–69 sowie 1971 als Amneris), am Teatro Regio di Torino (1964 als Brangäne, 1969 als Azucena), am Teatro Massimo Palermo (1964 als Amneris) und an der Bayerischen Staatsoper München (1969 als Amneris).

Sie sang außerdem beim Edinburgh Festival und in der Arena di Verona (1968–69 als Amneris, 1971 als Azucena). In der Saison 1969/70 sang sie an der Mailänder Scala die weibliche Titelrolle in Samson et Dalila. 1972 trat sie wieder am Teatro Liceu auf, diesmal als Charlotte in Werther. 1977 sang sie an der Seite von Régine Crespin in Paris in Marie-Magdeleine von Jules Massenet.

Im April 1961 debütierte sie als Amneris in Aida an der Metropolitan Opera in New York, wo sie bis Oktober 1967 in acht verschiedenen Partien, neben der Amneris außerdem als Azucena, Ulrica, Eboli, Dalila, Laura in La Gioconda, als Principessa di Bouillon in Adriana Lecouvreur und als Giulietta in Les contes d’Hoffmann zu hören war.

In Übersee sang Cvejić außerdem zwischen 1963 und 1968 mehrfach am Teatro Colon in Buenos Aires (Dalila, Marina, Octavian, Amneris). 1967 gastierte sie in Tokio als Eboli in Don Carlos.

Ab 1978 widmete sich Cvejić verstärkt dem Gesangsunterricht und der Sängerausbildung. Sie unterrichtete als Professorin für Sologesang an der Belgrader Musikakademie, später dann an der Akademie der Künste in Novi Sad.[1][3] 1979 wurde sie zur Österreichischen Kammersängerin ernannt.[10] 1990 beendete sie endgültig ihre Bühnen- und Gesangslaufbahn.[1][2] Zu ihren Schülern gehörten u. a. der Tenor Nikola Kitanovski, die Mezzosopranistinnen Milena Kitić und Monika Bohinec sowie der international gastierende Bariton Željko Lučić.

Für ihre Verdienste wurde sie mit der Serbischen Medaille für Kunst ausgezeichnet.[2] 2001 wurde sie Mitglied der französischen Ehrenlegion.[3] 2014 erhielt sie den Dositej-Obradovic-Preis für ihr Lebenswerk (Nagrada Dositej Obradović za životno delo)

Biserka Cvejić war mit dem aus Belgrad stammenden Arzt und Dozenten Dusan Cvejić verheiratet, der auch als Sänger (Tenor) wirkte und 1958 gemeinsam mit ihr beim Weltjugendkongress in Belgrad aufgetreten war. Sie starb im Alter von 97 Jahren im Januar 2021 in Belgrad.

Repertoire und Tondokumente
Biserka Cvejić ist in insgesamt 77 Mezzosopran-Rollen in über 1800 Aufführungen auf Bühnen in der ganzen Welt aufgetreten.[3] Sie sang schwerpunktmäßig die dramatischen Mezzosopran- und Alt-Partien in den Opern von Giuseppe Verdi (Amneris, Azucena, Eboli, Ulrica, Preziosilla, Maddalena). Sie trat auch in italienischen Opern des Verismo auf.

Sie interpretierte außerdem Partien des französischen (Carmen, Dalila), des russischen (Marina und Amme in Boris Godunow, Olga in Eugen Onegin, Paulina in Pique Dame) und des deutschen Repertoires (Fricka, Brangäne, Herodias, Adelaide).

Biserka Cvejić besaß „eine dunkel timbrierte, schön gebildete Altstimme“. (Kutsch/Riemens). Ihre Stimme ist auf mehreren Operngesamtaufnahmen dokumentiert, die u. a. bei Decca (Schneeflöckchen, Eugen Onegin, Pique Dame) und auf MGM-Heliodor erschienen. Bei Jugoton wurde ein Recital mit Opernarien veröffentlicht.

Unter der Regie von Arthur Maria Rabenalt sang und spielte sie die Rolle der Zigeunerin Czipra in einer 1975 erstausgestrahlten Operettenverfilmung der Strauß-Operette Der Zigeunerbaron. Diese Rolle sang sie auch in einer 1969 bei der EMI erschienenen Gesamtaufnahme der Operette an der Seite von Grace Bumbry und Nicolai Gedda. Quelle Wikipedia (Foto oben Biserka Cvejic als Amneris an der Scala/ Foto Piccaliani/ Archivio Scala)

Legendary?

 

Seinen 40. Geburtstag feierte im gerade vergangenen Jahr/ 2020 das Label Orfeo und ehrte und vermarktete noch einmal seine berühmtesten Gesangssolisten auf zehn CDs, auf dem Cover alphabetisch aufgelistet von Baltsa bis Várady und im Innern chronologisch beginnend 1981 mit eben dieser Agnes Baltsa und endend mit dem gerade im Zenit seiner Karriere stehenden Piotr Beczala, der sich 2011/12 einem reinen Verdi-Programm widmete. Manche der Mitwirkenden – so raunte man in den frühen Jahren des Labels – hatten substanzielle Anteile an der Firma, die sich für einige ihrer Stars als Vermarktungsmaschiene darstellte …

Eher ihre Vielseitigkeit und die Entwicklung ihrer Stimme zeigt Agnes Baltsa, die mit  Rossinis Rosina und deren Cavatina beginnt und nicht die liebenswürdigste, aber hochvirtuos geführte Stimme offeriert, der man ab „ma“ alles glaubt und die als Rossinis Elena aus La Donna del Lago nicht unpassend leicht hysterische Züge annimmt. Dass sich diese Angelina nicht mehr in die Asche stoßen lassen wird, glaubt man nach ihrem „Non più mesta“, und Mozarts Sesto findet zu einem schönen Wechselspiel mit den Instrumenten. Geschmeidig ist Donizettis Favorita unterwegs, der Lady Macbeth wird in „La luce langue“ schmal und scharfzüngig das Lauernd-Schillernde verliehen, das sie ausmacht. Geschmackvoll und doch ergreifend meldet sich Santuzza schließlich zu Wort. Es begleitet das Münchner Rundfunkorchester unter Heinz Wallberg.

So kontrastreich wie die Charaktere, die sie darstellen, ist die Herangehensweise an ihre Sängeraufgabe bei Carlo Bergonzi und Dietrich Fischer-Dieskau, die mit Duetten unterschiedlicher Komponisten auf CD 2 zu finden sind. Will der Italiener im ersten Duett Alvaro-Carlo die Melodie sich entfalten, die musikalische Linie  gewahrt wissen , so geht es dem Deutschen auch um Textausdeutung, um die scharfe Charakterisierung. So kam zusammen, was zusammen nicht gehörte, dazu kommt, dass 1982 beide bereits ältere Herren waren, was man dem Tenor weniger anmerkt, das „Finalmente“  im zweiten Duett der Widersacher allerdings ist eine Wucht, und hier finden beide Sänger zu einer mitreißenden Darbietung. Fischer-Dieskau war, wie eine bange Frage während einer Tournee der Deutschen Oper Berlin an den Tenorkollegen zeigte, nie so ganz sicher, ob seine Stimme und die Art seines Singens der italienischen Tradition entsprächen. So hat er den Barnaba in den langen Jahren, in denen die Gioconda an seinem Heimatort im Repertoire war,  anders als auf dieser CD wohl nie gesungen. Es folgt ein Duett aus Otello, eine Partie, an der der Tenor  schließlich scheiterte, zwar noch die Generalprobe, aber nicht die Premiere vollständig sang. Der Bariton bringt das Lauernde in „Talor vedeste in man di Desdemona“ perfekt zum Ausdruck, übertreibt aber in „in man di Cassio“. Vater und Sohn in Verdis Vespri lassen väterlich Milde, ein schönes Legato und, was den Tenor betrifft, zu „donna perduta“ ein herrliches Crescendo hören. Wer als Verantwortlicher diese Musik zur Kenntnis nimmt, müsste eigentlich das sträflich vernachlässigte Stück sofort auf den Spielplan setzen. Perlenfischer und Bohéme verlangen eigentlich nach jungen Stimmen, aber auf der des Tenors liegt durchaus noch der Schimmer der edlen Muschelprodukte. Von Anfang an hat Fischer-Dieskau den Rodrigo, erst auf Deutsch, dann in der Originalsprache gesungen und er tut es auch im Freundschaftsduett auf dieser CD mitreißend, beide Sänger wissen, worauf es ankommt. Es begleitet das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Jesus Lopez Cobos.

 Franco Bonisolli, von vielen Opernbesucherinnen heiß verehrt, spielte 1983 italienische Canzoni ein und prunkte oder protzte, je nachdem wie man zu seiner Art des Singens steht, mit endlosen Fermaten und Superhöhen und am besten beides in einem Atemzug. Da er ansonsten nicht allzu häufig dokumentiert wurde, ist es durchaus begrüßenswert, dass diese Aufnahme in die Geburtstags-CD-Sammlung mit aufgenommen wurde. Es begleiteten das Orchestra dell’Unione Musiciste di Roma und  I Mandolini Napoletani di Gina del Vescovo unter Elvio Monti.

1983 widmete sich Grace Bumbry ihrer Karriere als Sopran, und ihr „Pace, pace“ ist eher eine Kampfansage als von Resignation geprägt, ihre Mezzovergangenheit kommt ihr zugute, schöne Piani erfreuen den Hörer, insgesamt wird sehr agogikreich gesungen. Raffiniert spielt die Sängerin mit den Stimmfarben als „umile ancella“ in Adriana di Lecouvreur, viel Geläufigkeit hat sie für die Cabaletta der ersten Arie der Trovatore-Leonora. Eine weite Spannbreite, was die Dramatik betrifft, beweist sie als La Wally, zarte, von Wehmut überschattete Gespinste kennzeichnen des Cid Geliebte. Mit unangestrengten Intervallsprüngen überzeugt la Gioconda, Louise  mit raffinierten Crescendi,und mit Sapho und Alceste werden auch weniger bekannte Damen vorgestellt. Stefan Soltész begleitet mit dem Radio-Sinfonieorcheter Stuttgart.

Als vielseitigste von allen zeigt sich Brigitte Fassbaender, die ebenfalls 1983 vor die Mikrofone gebeten wurde. Für Händel weiß der Mezzo die Stimme instrumental zu führen, Gluck verleiht sie als Orfeo viel Wärme und Gefühl in der Stimme und einen einfach herrlichen Schwellton der Verzweiflung. Für Bellinis Romeo ist der androgyne Klang in der Stimme, die Intervallsprünge sind perfekt, mit Jeanne d’Arcs „Da, cas nastal“ macht sie sich die Tatsache zunutze, dass die meistens von Sopranen gesungene Partie (Julia Varady ist mit ihr in der Box vertreten)  auch für einen Mezzo geeignet ist, und hier vemag die Sängerin die aufgewühlten Gefühle zu verdeutlichen, ohne je die musikalische Linie zu verletzen. Weniger robuste Sinnlichkeit als chansonhafte quirrlige Herausforderung zeichnet Fassbaenders Carmen aus, die gut angebundene Tiefe kommt der sanft betörenden Dalila zugute, wunderbare Melancholie begleitet Charlotte durch ihre Arie im dritten Akt. Wie man eine Szene intelligent aufbaut und Wagner textverständlich singt, zeigt die abschließende Waltrautenszene. Hans Graf leitet das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart.

Das ertragreiche Jahr 1983 führte auch Edita Gruberová ins Aufnahmestudio von Orfeo. Mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Lamberto Gardelli singt sie natürlich eine ihrer Paraderollen, die Zerbinetta, und lässt außer dem Wunsch nach der natürlich fast unmöglichen Textverständlichkeit keinen solchen offen, ist von unnachahmlicher Koloraturgewandtheit und ebensolcher Leichtigkeit der Emission der Stimme. Schön geflutet wird die Stimme bei der Arie der Amina, perfekt ist der canto elegiaco. Wie auf die Slowakin zugeschnitten ist die Bravourarie der Philine aus Thomas‘ früher viel gespielter Mignon.

Ein reines Tschaikowski-Programm nahm Julia Varady auf, neben Tatjana und Lisa kommen auch unbekanntere Damen wie Die Zauberin zu Wort. Die Primadonna von Berlin und München bewies auch 2000, dass sie mit ihrer Stimme einen Charakter vor den Ohren des Hörers erstehen lassen konnte, Mit vielen Schattierungen macht sie die wechselnde Seelenlage Tatjanas in der Briefszene hörbar, und man muss nicht einmal die Sprache verstehen, wenn man den Text nicht ohnehin auswendig kann. Eine frische Njanja ist Daphne Evangelatos. Die Jungfrau der Varady klingt mädchenhafter als die der Bumbry, für die Maria aus Mazeppa hat sie viel Innigkeit in deren Wiegenlied und bezaubert durch ein wunderschönes Decrescendo. Wie Lisa endet auch die Zauberin als Wasserleiche, davor verleiht ihr die Varady seelenvolle Töne, und Lisa harmoniert in ihrer zweiten Arie sehr schön mit den Orchesterfarben. Dem Münchner Rundfunktorchester sind unter Roman Kofman auch rasante Nummern aus Mazeppa vergönnt.

2007 konnte Krassimira Stoyanova ihre Vielseitigkeit beweisen, vor allem aber, dass sie die ideale Verdi-Stimme ihr Eigen nennt. Luisa Miller kann die Unbeschwertheit im ersten Akt eindrucksvoll vermitteln, der unbekanntere Verdi kommt auch mit La Battaglia di Legnano zu Wort.   Die Boccanegra-Amelia überzeugt in ihrer ersten Arie durch schillernde Stimmfarben, eine angenehm weich klingende Tiefe, und sie wetteifert an Farbigkeit mit dem Vorspiel. Zwei Arien aus den einmal höchst populären Opern von Antonio Carlos Gomes zeigen die Weitgespanntheit ihrer Interessen, für beide, sei es aus Fosca oder aus Il Guarany, gehorcht die nie angestrengt klingende Stimme jeder Regung ihrer Heldinnen. Koloraturen von leichter Emission krönen Delias  „C’era una volta un principe“, Antonia aus Hoffmann findet viele Nuancen, um die Figur unverwechselbar zu machen.  Geschmeidig und von weicher Fülle klingt Annas Arie aus Puccinis Erstlingsoper, die dolcezza von Mimi lässt sich erahnen. Friedrich Haider dirigiert das Münchner Rundfunkorchester.

Schon 2005 hatte Adrianne Pieczonka mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer eine CD mit Werken von  Richard Wagner und Richard Strauss aufgenommen und beginnt mit einer völlig unangestrengt klingenden Hallenarie von schönem Jubelton. Wunderbar innig, mit rundem Piano und aufblühender Stimme erklingt das Gebet der Elisabeth, aus einem feinen Parlando sich zu strahlendem Klang steigernd kann man Sieglindes „Der Männer Sippe“ hören. Elsa schließlich singt eine Traumerzählung von keuschem Klang, sehr lyrisch und klug aufgebaut. Auch in der mezza  voce im zweiten Akt kann di Stimme leuchten und strahlt Zuversicht aus. Den Schluss des Wagner-Blocks bilden die Wesendonk-Lieder. Die Strauss-Ariadne gibt sich nicht als Hochdramatische, die Capriccio-Gräfin bleibt nicht hinter den Farben aus dem Orchestergraben  zurück, ist von silbrigem Glanz, Arabella macht die CD komplett.

Eine reine Verdi-CD spielte Piotr Beczala 2011 und 2012 ein, als einzige der auch in französischer Fassung vorliegenden Opern den Henri mit seiner großen Arie „O jour de peine“, und es ist eine gute Wahl, weil man hier nicht die Glut italienischer Stimmen vermisst. Streckenweise klingt di Stimme wunderbar elegisch, manchmal hört sich der Gesang zu sehr nach Kraftakt an. Trovatore, Don Carlo, Lombardi werden in der  italienischen Fassung geboten, wobei der Oronte zu der damals noch recht lyrischen Stimme am besten passt. Aus dem Trovatore gibt es den zweiten Teil des zweiten Akts, was den Hörer in den Genuss einer der schönsten Mezzostimmen der damaligen Zeit bringt: Ewa Podles. Später tritt mit dem Rodrigo von Mariusz Kwiecien noch ein weiterer polnischer Sänger von Weltruf auf. Manricos „A si“ wird sehr schön phrasiert, in Radames‘ Auftrittslied werden di Intervallsprünge perfekt gemeistert, es gibt am Schluss eine tolle Fermate, aber von Morendo keine Spur. Duca, Alfredo, Macduff und Riccardo passen zur damaligen Stimme am besten, werden stil- und geschmackvoll gesungen, die Cabaletta des Alfredo nach oben, und auch das Ingemisco erfährt eine adäquate Interpretation. In seiner jüngst erschienenen Biographie meinte der Tenor, den Carlos wolle er nicht singen, er finde ihn unsympathisch, nicht zuletzt, weil ein Verlierer seiend. Beschenkt er ihn deswegen am Schluss des Freundschaftsduetts mit einem zusätzlichen hohen Ton? Das Polish Radio Symphony Orchestra unter Lukasz Borowicz begleitet (Legendary Voices, 10 CD, Orfeo 10CD 20021). Ingrid Wanja

 

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Ein ganz normaler Dirigent

 

Die Erinnerung Ralf Weikerts an sein erstes Zusammentreffen mit einem Agenten ist bezeich­nend für den Dirigenten Ralf Weikert, der sich anhören mußte: „Für Sie kann ich leider nichts machen, Sie sind ja normal.“ Das war im Jahre 1963, als Wie­kerts musikalische Lauf­bahn begann. Heut wird er als einer der vielsei­tigsten, zuverlässig­sten und undivenhaftesten Dirigenten gewürdigt, sowohl in der Oper als auch im Konzertleben.

Seien wir ehrlich: Dirigenten sind oftmals Diktatoren und Rattenfänger, Aristokraten und Polter­geister, Show Maker und Priester, Einzelgänger und Populisten, Kommandeure und Träumer, Zuchtmeister und Chaoten, Pedanten und Anarchisten, Geschäfts­leute und Idealisten, global Players und nicht selten Diven, Primadonnen, Esoteriker und Coverboys der Musikszene.

Ralf Weikert/ Weikert/Discogs

Gemeinsam ist den meisten Dirigenten ein berufsspezifischer Verhaltenskodex, der umso ausgeprägter ist, je teurer der Dirigent im Musikbusiness gehandelt wird. Im Club der Besten, zumindest aber der Teuersten zu rangieren, verlangt die Einhaltung von Spielregeln. Dafür kann man es sich dann leisten, nicht immer „top“ sein zu müssen. Im Club stützt einer den anderen. Alles greift ineinander. Man schiebt sich die Bälle zu. Wer einmal im Club ist, hat es geschafft. Und alle Mitglieder des Clubs sind selbstver­ständlich „Freunde“. Man tut zumindest so. Es dient dem „Big Business“. Eine Hand wäscht die andere. Der Rubel rollt, „Freude, schöner Götterfunken“. Wenn nur das Marketing und die PR-Arbeit stimmen. Der Marktwert gehorcht den Gesetzen der Börse. Zeitgeist redet mit. Massenwirksamkeit ist das Zauberwort. Popularität kann mithilfe der Medien aufgebaut werden. Wer schließlich herumgereicht wird an den ersten Konzertpodien und Opernhäusern der alten wie der neuen Welt, wer im Jet-Set rotiert, das entscheiden Manager und Agenten, Marke­tingchefs und Konzerne. Das Publikum zollt Beifall. Es geht im Karussell des internationalen Musikgeschäfts längst nicht mehr primär um die Musik und die künstlerische Quali­fikation dessen, der sie dirigiert.

Eine Aura von Glanz und Glamour umgibt viele Dirigenten. Vielleicht kein anderer Berufsstand ist derart schillernd und facettenreich. Die Dirigenten mit ihrem ausgeprägten Hang zur Eitelkeit, und zur Selbstdarstellung, aber auch ihrem offen zur Schau gestellten Willen zur Macht sind nicht nur Vermittler zwischen Partitur und Orchester, sondern sie sind die eigentlichen Helden unseres Musik­lebens. Sie sind Wanderer zwischen den Welten, globale Musik­heroen, Götter in schwarz, mit Macht und Nimbus, sind vielbewunderte, bestaunte, kritisierte und hofierte Stars, sind hochbezahlte Aushängeschilder, stilisierte Werbeträger und oft genug nichts als hochglanzpolierte Etiketten einer überwiegend kommerziell orientierten Musikszene, um nicht zu sagen Musikin­dustrie, in der Selbststilisierung und Selbstinszenierung zum Geschäft gehören. Dem korrespondieren die Ihnen oft zugeschriebenen Eigenschaften, wie Unnah­barkeit, Egozentrik, Kapriziertheit, Arroganz und betonte Bohème-haftigkeit.

Hang zum Luxus, Launenhaftigkeit, zur Schau gestellte Autorität und unge­hemmte Künstlerallüren verhindern oft die Wahrnehmung tieferer Wahrheiten hinter verständlicher Abschirmungstaktik. Unter der Oberfläche purer Notwendigkeit der Abgrenzung gegenüber zudringlichen Trabanten und Adoranten verbergen sich nicht selten zarte und sensible Seelen, die hinter schützenden, scheinbar undurchdringlichen Mauern das Gärtlein ihrer utopischen Empfindungen und Erkenntnisse hegen und das Elfenbein ihres Künstlertums vor Ver­witterung durch den Dunst gemeiner Realität und schnöder Alltagsbanalität bewahren. So will es der Mythos vom Maestro und so ist es.

Ganz anders Ralf Weikert: Er ist einer der wenigen Vertreter dieses Berufs­stands, der sich dem Musikbusiness weitgehend verweigert, weil es ihm auf die Musik ankommt, deshalb treffen auf ihn die genannten Etikettierungen nicht, oder sagen wir vorsichtshalber kaum zu. Etwas Eitelkeit sei ihm als Dirigenten zugestanden, denn ganz ohne Eitelkeit geht es nicht in diesem Beruf. Aber es gibt Eitelkeit in der Sache, die Musik oder aber die eigene Person betreffend, nur auf die Karriere bedacht. Zur letzteren zählt Weikert nicht.

Sagen wir es deutlich: Nicht immer sind die sogenannten „berühmten“ Diri­genten die besten. Chefpositionen, Schallplattenverträge und glänzende Auftritts­möglichkeiten besagen gar nichts. Im Rampenlicht zu stehen oder auf Schallplattenhüllen zu glänzen, sagt im Zweifelsfall mehr über kaufmännische als über künst­lerische Qualitäten aus. Bei nicht wenigen der international renommierten Maestri beruht das Geheimnis ihres Erfolges auf ausgeprägtem, wo nicht schamlosem Geschäftssinn und knallhartem, populistischem Kalkül. Bei manchen der von Agenturen oder Plattenfirmen aufgebauten Karrieren sind interpretatorische Phantasie, musikalische Intelligenz, gestalterischer Einfalls­reichtum, Repertoire-Kenntnisse sowie künstlerische Animiertheit seltene Tugenden.

Ralf Weikert ist ein Gegenbeispiel: Er hat sein Metier von der Pike auf gelernt, wie man in seiner sym­pathisch beschei­denen Autobiographie erfährt. Geboren wurde er am 10. November 1940 in St. Florian, in der dortigen „Führer­siedlung.“ Als Kind sah er noch den „Toni“, wie Anton Bruckner volkstümlich genannt wurde, unterm damals noch gläsernen Deckel des Sarkophags in der Krypta unter der Orgel des Chorherrenstifts, wie er schreibt. Bruckners Werk sollte einmal zu einem Schwerpunkt seines dirigentischen Repertoires werden. Zu seinem musikalischen Schüsselerlebnis wurde eine Aufführung von Bruck­ners „Te Deum“ mit den Wiener Philharmonikern unter Eugen Jochum. Eigentlich sollte Ralf Weikert einen „Brotberuf“ erlernen, schrieb sich daher für Elektrotechnik an der Höheren Technische Lehranstalt in Linz ein, doch daneben war „das Linzer Bruckner-Konservatorium der Mittelpunkt“ seines damaligen Lebens. Am Linzer Landestheater durfte er Bühnenmusiken dirigieren, in einem Filmclub Filmmusik komponieren. Als Statist am Landestheater lernte er Heidi, seine spätere Frau kennen, mit der er noch heute zusammenlebt. Er heuerte beim Österreichischen Rundfunk als Hilfstechniker an.1960 begann er sein Studium bei Hans Swarowsky in Wien, einer Legende unter den Dirigenten-Machern. Weikert weiß nur das Beste über Swarowski zu berichten. Als Barpianist erspielte er sich das Geld für das Studentenzimmer. Vor allem aber, so betont er, „Das Erleben großer Dirigenten wie von Karajan, Böhm, Prêtre, Sawallisch, Maazel und Monteux oder allererster Sänger und Instrumentalisten, prägte uns Studenten für unser ganzes weiteres Leben.“ 1963 beendete er sein Studium mit besonderer Auszeichnung. Dann machte er die klassische „Kapellmeister-Ochsentour“, er begann als Korrepetitor am Salzburger Landestheater. Dort durfte er auch Schauspielmusiken komponieren.

1965 gewann er einen Dirigierwettbewerb in Kopenhagen mit dem ersten Preis, was ihm in Salzburg Türen als Dirigent öffnete. Seine erste eigene Premiere war Offenbachs „Schöne Helena“. Der „Papst aller Opernagenten“, Robert Schulz vermittelte ihm dann den Posten eines 1. Kapellmeisters in Bonn. Nach mehre­ren Probedirigaten wurde er im Alter von 25 Jahren am Theater der Bundes­haupts­tadt engagiert. Elf Jahre blieb er dort und erarbeitete sich ein enormes Repertoire, von Mozart über Donizetti, Puccini, Wagner und Strauss, das französische Repertoire, Prokofiev und Strawinsky bis hin zu Hans Werner Henze.  Als GMD Hans Zender nach seinen ersten beiden Jahren das Haus verließ, wurde Weikert 1968 stolzer Chefdirigent. Er war 27 und „der jüngste Chef eines deutschen Opernhauses“.  Weikert schreibt Ehrenvolles über den Ausstattungsleiter O.W. Mayer, über die Primadonna Mechtild Gessendorf und den Regisseur Adolf Rott, aber auch Unehrenvolles über Gottfried Wagner der in Bonn einen absolut unspektakulären „Lohengrin“ inszenierte und eher dadurch auffiel, dass er Bücher gegen die eigene Familie schrieb, obwohl ihm dank seines Urahns doch überall in der Welt roten Teppich ausrollte werden. 1977 wechselte Weikert an die Oper Frankfurt, die unter dem Diri­genten-Intendanten Michael Gielen eine Blütezeit erlebte. Weikert würdigt Gielen als „hilfreichen Intendanten, zumal „zeitgemäßes Regietheater“ nicht seine Sache war und Hans Neuenfels, dessen Frankfurter „Aida“ für heftige Kontroversen sorgte, „laut grölend und oft alkoholisiert“, für ihn der unsym­pathische Inbegriff jener ungeliebten Theaterästhetik war.

Das „Unter­hosen-Theater“ des Regietheaters im 21. Jahrhundert war Weikerts Sache nie. Über Regisseure wie über Kritiker schreibt er in seinem Buch so Manches. 1981 wurde Weikert Chefdirigent des Mozarteum-Orchesters und des Landestheaters Salzburg, seit je seine Wahlheimat, in der er noch heute seinen Wohnsitz hat. Dem Regisseur Frederik Mirdita und dessen Kontakt zum „Allgewaltigen“ zu Herbert von Karajan, habe er diese Berufung zu verdanken, so bekennt Weikert freimütig.  1984 rief ihn die „Schweiz, das gebührenpflichtige Paradies“, aber er stellt klar, dass Salzburg keineswegs nur „Steigbügel für Zürich“ gewesen sei, wie ihm damals von Vielen vorgeworfen wurde. Intendant Helmut Drese holte ihn als  GMD nach Zürich und man erfährt Näheres über den singulären Bühnenbildner und Regisseur Jean-Pierre Ponnelle und seinen Monteverdi- wie Mozartzyklus und Sänger wie Matti Salminen, Edita Gruberova (mit der er den „Barbiere“ Rosinis auf CD aufnahm) Lucia Popp, Agnes Baltsa, Francisco Araiza und viele andere damalige Stars, aber auch über Dirigenten wie Fer­dinand Leitner, über den damals aufsteigenden Dirigenten Nikolaus Harnon­court (der eigentlich aus der Alten Musik kam)  und den kauzig-knorzigen Nello Santi. Auch den als konservativ verschrienen Regisseur August Everding würdigt er: „Die Zusammenarbeit mit diesem Altmeister unter den Regisseuren war eine der harmonischsten meiner ganzen Zürcher Jahre,“ auch wenn er „niemals bereit war, etwas selbst zu bezahlen und überall als Nassauer verschrien war.“ 1987 bot ihm die New Yorker Met einen Gastvertrag an, den er mit Freuden annahm, zumal die Chemie mit dem Nachfolger Dreses, Alexander Pereira, „nicht wirklich stimmte“. Dessen unbestreitbares Verdienst sei es gewesen, „Sponsorengelder aufzutreiben. Und die Welt weiß, dass daran Pereira, der große Sängernamen liebte, kräftig mit verdiente. „Im Haus hieß es, wir würden langsam zur Casa di riposo“, einem Altersheim für Sänger, die ihren Zenit überschritten hatten.“ Es war Zeit, Zürich zu verlassen, Weikert blieb dennoch bis 2013 Gastdirigent mit zehn bis 15 Dirigaten pro Spielzeit. 1992 verließ Weikert die ihm zunehmend entfremdete Stadt an der Limmat, in der es nur noch ums Geld zu gehen schien.

Reisen als Gastdirigent wurde seine Lebensform. Vor allem in seinem „Lieblingsland Italien“ ist er gern gesehen, ob in Triest, Venedig, Bologna, Mailand, Turin oder Bari. Beim Maggio musicale in Florenz, bei den Puccini-Produktionen des Festivals in Torre del Lago, in Palermo und in Catania feierte er große Erfolge. Aber auch in Neapel, im „wahrscheinlich schönsten Opernhaus der Welt“.

Gastspiele führten ihn in Deutschland an die Deutsche Oper Berlin, an die Bayerische Staatsoper, nach Hamburg, Stuttgart, Köln und Dresden, um nur einige zu nennen. Bei den Bregenzer Festspielen trat er auf und in Aix-en-Provence, aber auch in Bordeaux, Paris, Lyon, Lille und Toulouse war er gefragt. Seit 1982 dirigierte er auf Einladung Vaclav Neumanns auch Konzerte der Tschechischen Philharmonie. Seit 1982 dirigierte er am Gran Teatro del Liceo in Barcelona, wo er die von ihm verehrte Montserrat Caballé kennenlernte (mit der er eine gefeierte CD-Produktion des Rossinischen „Tancredi“ einspielte), Auch in Barcelona dirigierte er und in Madrid. Seine Gastspiele in den USA, im „häss­lichen Los Angeles“, an der Met und in San Francisco erwähnt er vorwie­gend der sängerischen Extraklasse wegen, mit der er zusammenarbeitete. Auch den Regisseur Otto Schenk, Altmeister der gediegenen Konvention, hebt er hervor. Ein besonderes Kapitel seiner Karriere bildete die Wiener Staatsoper, wo er zwischen 1974 bis 2004 immerhin 115 Mal dirigierte. Man liest Detailliertes über seine Gastspiele in Helsinki, Stockholm, und Kopenhagen, Athen, Amster­dam und Südamerika. Kurioses, Befremdliches, ja Erheiterndes schreibt er über seine (wohl pekuniär nicht ganz uninteressanten) Asiengastspiele in China, Japan (er hat es 15 Mal bereist) und Südkorea.  Die Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnung der Japaner, auch ihre musikalische Präzision sei lobenswert, das Essen mit Stäbchen sei allerdings speziell, man erlerne es „schnell oder gar nicht“. Von Karl Böhm überliefert er den Satz „Mit einem Staberl kann ich mir mein Leben verdienen, mit zweien müsst ich verhungern“. Es ist eine der vielen Anekdoten des Buches. Weikerts Erfahrungen in China lesen sich fast alptraum­haft, sowohl was das Organisatorische, die Tischsitten und das ständige Aus­spucken auf der Straße als auch die Zusammenarbeit mit den Musikern angeht.

Fazit der Lebensbeschreibung dieses verträumten Jungen aus Linz hin zum kosmopolitischen Dirigenten: „Den schönsten Beruf, den des Dirigenten, ausüben zu dürfen, ein Leben lang mit der Musik zu verbringen, ist wahrlich mehr, als man jemals erhoffen durfte.“  

Eine wichtige, wenn auch nicht die wichtigste Tätigkeit seines Lebers war das Lehren, an der Zürcher Musikhochschule, bei Sommerkursen in Vieste, an der Wiener Musikuniversität und in Luzern, Die Bilanz seiner Lehrtätigkeit zog er 2018 in seinem Buch „Beruf Dirigent“

Es ist ein Vademecum für Studenten und angehende Dirigenten. Grundsätzliches wie Spezielles über Tempo und Form, Takt und Schlagtechnik, Dynamik und Partituranalyse, Umgang mit Räumen, aber auch über Voraussetzungen und Bedingungen, Traditionen und Unwägbarkeiten des Berufs werden konkret dargestellt. Wagner, Strauss und Mozart wird besondere Aufmerksamkeit zuteil. „Dirigieren ist immer Interpretieren“ lautet eine der Kernaussagen des Maestros, aber „ohne genaues Wissen“ nicht möglich“. Partitur-, Stil- und Instrumenten­kunde seien Voraussetzung jedes Dirigats. Selbstverständlich ist auch die Kennt­nis von Sängerstimmen und Gesangstechnik Voraussetzung.  „Ein Diri­gent muss stets auf drei Ebenen handeln: Er muss vor dem Erklingen genau wissen, was kommen soll, er muss während es Klingens unmittelbar agieren und er muss reagieren auf das, was soeben erklungen ist.“ Ein Kunststück! Aber über das, was man zur Vollbringung desselben lernen kann, erfährt man Einiges in diesem Buch, Praktisches wie Gelehrtes. Vor allem aber lehrt Ralf Weikert, der leidenschaftliche Musiker, Demut, die beileibe nicht allen heutigen Dirigen­ten eigen ist: „Musik bedarf der Wiedergabe, was uns nicht dazu verleiten darf, uns als ihr Schöpfer zu fühlen. Es ist und bleibt unsere Verpflichtung, aus­schließ­lich im Geiste des Schöpfers als sein Diener an seinem Werk zu wirken“ (Ralf Weikert: Der Strom der Töne zog mich fort…; Schweizer Literaturgesellschaft 2020, 188 Seiten, ISBN: 9783038831242 / Ralf Weikert: Beruf Dirigent; Böhlau Verlag 2017, 189 Seiten, ISBN: 3205205308). Dieter David Scholz

Totentanz

 

Von bösen Ahnungen erfüllt gewesen sein muss Stephan Märki, Regisseur der Berner Carmen bei Arthaus, als  er bereits im April 2018 eine weitgehend corona-konforme Produktion auf die Bühne brachte, mit einer Zusatzfigur namens Joker, eher als der Tod höchstpersönlich identifizierbar, der eine jede Form von Aerosol zurückhaltende Maske trägt, die im Verlauf der Handlung auch der männliche Teil des Chors tragen muss. Zudem gelingt es der Figur immer wieder auf zunehmend penetrante Weise, sich zwischen die Figuren, so im Schlussduett von Carmen und Don José, zu drängen, so dass auch auf diese Weise die Ansteckung mit dem lästigen Virus verhindert wird, allerdings auch die Entstehung einer echten Spannung zwischen den eigentlichen Mitwirkenden. Die großartige tänzerischen Leistung von Winston R. Arnon wird damit keinesfalls in Frage gestellt, wohl aber die Sinnhaftigkeit seines Einsatzes im Werk, wenn er anstelle von Fraquita oder Mercedes die Karten mischt oder wenn er versucht, Carmens Hände zu seinen erogenen Zonen zu lenken. Er ist nicht die einzige speziell Berner Zutat zu Bizets Meisterwerk, es gibt auch musikalische Änderungen, wenn es weder Rezitative noch Dialoge gibt, die man allerdings nicht vermisst, stattdessen einige Takte bisher unbekannter Musik, die der Dirigent Mario Venzago entdeckt hat, so vor dem Kinderchor, vor der Habanera und im Schlussduett. Ihre Notwendigkeit allerdings kann sie nicht zwingend beweisen, hält eher, so vor der Habanera, den Fluss der Handlung ohne zusätzlichen Gewinn auf.

Recht eigenartig ist die Kostümierung sowohl der Solisten wie des Chors durch Philipp Fürhofer, der die weiblichen Solisten in weiße, der Alta Moda würdige Gewänder mit rotem Gürtel kleidet, man denkt an Charlottes Werther, diese allerding in schlichterer Ausgabe, ihnen kunstvolle Frisuren verpasst und Micaela wie das Ebenbild Carmens erscheinen lässt, und alle stöckeln auf hohen Absätzen durch die Felsenschlucht. Der Kinderchor besteht aus Ballettratten, eine von ihnen wird zur Beute des Todes. Die Herren treten in moderner Alltagskleidung , die Chordamen teilweise in albernen Paillettenhöschen auf. Die Bühne ist schwarz, zeitweise spiegelt sich das Publikum in ihr, manchmal gibt es Videobilder wie das einer Hochhauslandschaft. Nicht nur die Bühne, auch die Seitenlogen und die Umrandung des Orchestergrabens werden bespielt. Warum die Blume zum Handschuh, das Messer zur Glasscherbe wird, die Herren zum Straßenanzug Koppel tragen in dieser Inszenierung, wird nicht erhellt.

Wesentlich Angenehmeres als den Augen wird den Ohren geboten, so dass der Genuss der beiden CDs ein größerer als der der DVD ist.  Das Orchester unter Mario Venzago spielt straff und federnd, die Sänger, dem Haus seit längerem verbunden, sind teilweise vorzüglich. Besonders der leuchtende lyrische Sopran von Elissa Huber ist von schöner Reinheit, ihre große Arie im dritten Akt der musikalische Höhepunkt der Aufführung. Claude Eichenberger setzt einen schlanken, ebenmäßig gefärbten und flexiblen Mezzosopran für die Titelfigur ein. Den beiden hochgewachsenen, schlanken Sängerinnen steht mit Xavier Moreno ein recht kleiner, stämmiger Don José gegenüber, dessen Tenor durchschlagskräftig ist und der am Schluss der Blumenarie des Komponisten Willen gehorcht. Eher optisch dem Escamillo entspricht Jordan Shanahan als vokal, denn sein Auftrittslied verrät Tiefenprobleme, verquollene und verschluckte Töne beeinträchtigen seine Leistung, die im dritten und vierten Akt ansprechender wird. Aus dem Rest des Ensembles ragt der Morales von Carl Rumstadt durch eine angenehme Stimme hervor, so dass die Erweiterung seiner Partie nur erfreuen kann (Arthaus 109433 von 2018). Ingrid Wanja    

Offenbachs „Roi Carotte“

Jacques Offenbach gehört (nicht nur für mich) zu den am meisten verkannten Genies des Musikthea­ters im 19. Jahrhundert, auch wenn schon Rossini ihn als „Mozart der Champs-Elysées“ würdigte, der Pianist und Wagnerdirigent Hans von Bülow, Friedrich Nietzsche, Karl Kraus und der Kulturkritiker Egon Friedell ihm Lorbeerkränze flochten. Die Vorurteile gegen Offenbach, er sei seicht, halten sich hartnäckig, auch wenn sie auf Unkenntnis basieren. Insbesondere für das monumentale „Spätwerk Le Roi Carotte (Grün nennt das Stück auch eine „Monumental­féerie“) – begonnen am Ende des Second Empire, vollendet in der Trosième République – gelte dies, so beklagt Alexander Grün in seiner opulenten, 500seitigen Dissertationsschrift, die jetzt erschienen ist.

Offenbach: „Le Roi Carotte“ in Lyon/ Foto Stofleth Opera Lyon

Sein Ziel ist es, „Offenbachs Oper mit unverstelltem Blick auf ihre Faktur, d. h. ihre musikalisch-dramatische Konzeption und ihre Wirkung, adäquat zu unter-suchen und dabei erstmal ein spätes Bühnenwerk in den Mittelpunkt (einer) Untersuchung zu stellen.“ Die Offenbach-Forschung, die Grün kenntnisreich wie ausführlich resümiert, hat gerade jene Werke jenseits der Repertoire­stücke „nur flüchtig bewertet“.

Die abschätzige „Verweigerung“ bzw. „das mangelnde Interesse der musik­wissen­schaft­lichen Zunft an Offenbachs monumentalem Oeuvre“ hat Grün veranlasst, seine monumentale Untersuchung zu schreiben, zumal das Werk des schillernden „Empire-Kapellmeisters von Napoleons Graden“ wie er gelegent­lich genannt wird, mittlerweile ediert ist und auch auf der Bühne, wenn auch entstellt oder reduziert ausgegraben wurde.

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Seit 15 Jahren gibt der Verlag Boosey & Hawkes unter Leitung von Jean-Chris­tophe Keck eine historisch-kritische Ausgebe der Werke Offenbachs heraus. Von den 150 Bühnenwerken Offenbachs, von denen heute mal eben ein halbes Dutzend gespielt wird, sind inzwischen 30 komplette Werkausgaben erschienen. Eine der neusten ist die der Opéra-bouffe-féerie (bzw -féerique wie Grün schreibt „Le Roi Carotte“. Nach der Wiederentdeckung der romantischen Oper „Les Fees du Rhin“ (2002 konzertant und 2005 szenisch) ist die erste Wieder­aufführung (2015 in Lyon) von „Le Roi Carotte“ seit 1876, als das Stück zuletzt in Wien gespielt wurde, die wohl wichtigste Offenbach-Ausgrabung. Das Stück hat, wie Frank Harders-Wuth­enow vom Verlag Boosey & Hawkes betont: „eine ganz entscheidende, zentrale Bedeutung im Oeuvre Offenbachs. Es wurde kom­poniert auf dem Scheitelpunkt seiner Karriere. Es war das Ende einer Epoche in Frankreich und der Beginn einer neuen. Das Theater funktionierte danach anders und man musste Rücksicht darauf nehmen. Offenbach versuchte mit seinem kongenialen Librettisten Victorien Sardou ein neues Genre zu kreieren, indem er zwei alte, die so nicht mehr zu gebrauchen waren, nämlich die Feerie und die Opera-bouffe zu einer Synthese zu führte.“ Er gab den politisch-satiri­schen Anspruch nicht auf, verschmolz ihn aber mit kulinarisch-phantastischen Ingredienzien zugunsten der Idee eines Gesamtkunstwerks, das „das bewegte Bild und das klingende Wort mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der theatralischen Kunst zu einem rauschenden Höhepunkt führt.“

Grün weist zurecht darauf hin: „Im Jahr 1869, im Jahr der Uraufführung von Wagners Rheingold beschließen Victorien Sardou und Jacques Offenbach, eine Ausstattungsoper der Superlative zu schreiben. Sieben Jahre späterhebt sich im neuerbauten Bayreuther Festspielhau der Vorhang zur Götterdämmerung, im selben Jahr erlebt Sardous und Offenbachs Gesamtkunstwerk Le Roi Carotte im Theater an der Wien seine letzte Premiere nach dessen Aufführungen in Paris, London und New York. Das mehrteilige Musikdrama des sächsischen Kapell­meisters und die Opéra-bouffe féerique des Wahlfranzosen preußischer Abstammung bilden die denkbar entferntesten Pole eines Verständnisse von Musiktheater im 19. Jahrhundert.“

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Mit Le Roi Carotte hat Offenbach 1869 ein Stück geschrieben, das zu Recht als geradezu sensationell politisches Stück betrachtet wurde. Mit ihm hat Offen­bach dem Zweiten Kaiserreich einen gnadenlosen Spiegel vorgehalten, es ist ein Schlüsselstück über Pariser Verhältnisse. Tatsächlich hat kein anderes Werk Offenbachs seine Feinde und Freunde zu so hitzigen Kontroversen ani­miert wie dieses Märchenstück frei nach E.T.A. Hoffmann „Klein Zaches, genannt Zinnober“. Es handelt vom König Friedolin, dem schlechten Herrscher, der seiner schönen Gattin zum Leidwesen des Landes allzu sehr die Regierung überlässt. Die von Friedolins Vater verbannte böse Zauberin des Schlosses lässt während einem der spektakulären Hoffeste die Pflanzengeister des königlichen Gartens lebendig werden. Aus den Wurzeln (lateinisch radix) kommen die Radikalen und der rote König Mohrrübe entthront Fridolin, der, um sein Leben zu retten, als Emigrant sein Land verlässt wie weiland Louis-Napoléon. Aber während der frühere König in der Emigration sieht und lernt, stellt sich in der Heimat bald heraus, dass König Mohrrübe um nichts besser, ja schlechter und korrupter regiert als sein Vorgänger. Revolution: Das Volk erhebt sich, treibt die Gemüse-Geister wieder unter die Erde und setzt den weiser gewordenen Friedo­lin wieder in seine alten Rechte ein. In der Situation von 1869 ein gewagtes Stück, 1870 sollte Premiere sein. Der Deutsch Französisch Krieg verhinderte es. Als Le Roi Carotte nach diesem Krieg auf die Bühne kam, hatte sich der Zeitgeist, auch der Theatergeist gewandelt. Der Direktor des Théâtre de la Gaité, der, wie Grün ausführt, ganz auf Féerie setzte, also große Revue mit „verblüf­fenden Verwandlungen, optischen Täuschungen, gigantischen Bühnenbildern, phantasievollen Kostümen, opulenter Ausstattung, Tanz und Artistik (sowie) raffinierten Beleuchtungseffekte“, weil er ein Haus mit fast tausend Plätzen füllen musste, brachte das Stück in 22 Bildern mit über 200 Mitwirkenden auf die Bühne. Über 1000 Kostüme wurden eigens genäht. Es gab einen Eisenbahn­auftritt, ein gigantisches Defilee verschiedenster Insekten, die Offenbach detailliert einforderte, ein „Insektenballett“ Es ist „beispiellos im Oeuvre Offenbachs“, nicht zuletzt einen Vesuvausbruch über dem antiken Pompeji. Der Erfolg des politischen Zauber- und Ausstattungsstücks war überwältigend, denn es war ein Stück mit unmittelbarer politischer Vergangen­heit und Zukunftsspekulationen. Immerhin saßen im Publikum Republikaner und Monarchisten, Gestrige und Zukünftige. Das Werk erlebte bei der Urauf­führung 1872 in Paris einen Sensationserfolg mit fast 200 Vorstellung in nicht einmal einem Jahr und feierte anschließend Triumphe in Wien, London und New York, dann verschwand es von der Bühne.

Doch für Grün ist das Stück ungeachtet seiner heutigen Vergessenheit geradezu „bilanzi­erende Summe des Offenbachschen Oeuvres zwischen Kaiserreich und Nachkriegszeit“. Offenbach fusionierte den Prunk der französischen Zauberoper mit dem scharfen Witz der Offenbachiade zu einem hinreißenden Lehrstück über Macht, Korruption und Liebe. Frank Harders vom Verlag Boosey & Hawkes, der 2015 die erste komplette originale Fassung des Stücks herstellte, erinnert daran, dass das Stück totales Erlebnis-Theater war, gewissermaßen ein Vorläufer „der Erfindung von Film und Fernsehen. Und ein großes Spektakel, was ein spekta­kel­süchtiges Publikum befriedigt hat.“

Alexander Grün will den Ausnahmerang des Werks in seiner umfassenden Untersuchung belegen. Mittels „zeitgenössischer Quellen (Presse, Bildquellen, Briefe)“ werden die Entstehung und die „Wirkkraft der Oper auf ihr Publikum und dessen Faszination für Le Roi Carotte am Ende des 19. Jahrhunderts verständlich gemacht und in den historischen Kontext eingebunden. Es werden aber auch „ausgehend vom Autograph mittels exemplarischer Detailanalysen zu Form, Melodik, Rhythmik Sprache etc. Funktion und Wirkung jener gattungskonstituierenden Elemente“ verdeutlicht.

Jacques Offenbach/Nadar/Wiki

Grün befleißigt sich wissenschaftlicher Akribie und Sorgfalt. Eine bewunderns­werte Fleißarbeit, die nicht genug gerühmt werden kann, die aber dem Leser viel Geduld abverlangt. Die Lektüre ist mühsam, doch es ist die erste detaillierte Untersuchung des Notentextes. Der gründliche schematische Überblick über den Aufbau der Partitur ist für Grün der methodische Schlüssel zur Erschließung des Stücks. Der Autor räumt mit Vorurteilen auf, korrigiert manche Irrtümer und rückt hartnäckigen Fehleinschätzungen zu Leibe. Damit liefert er den Beweis, dass Le Roi Carotte ein inkommensurables, zukunftsweisendes, quasi „modernes“ Meisterwerk ist, musikalisch wie dramaturgisch.

Nicht nur sei es falsch, immer wieder zu behaupten, Offenbach sei ein ‚Klavierauszug-Komponist‘, der das Orchestrieren seinen Mitarbeitern überlassen habe, auch die „Mitarbeit Offenbachs bei der Entstehung der Libretti“ macht er am Beispiel von Le Roi Carotte besonders deutlich.

Er zitiert den großen Offenbachkenner Peter Hawig: „Offenbachs gesamtes Komponiere (ist) eine zwar unterschiedlich gewichtende, sich aber letztlich erstaunlich gleichbleibende Spiegelung von Mustern und Bausteinen, Klischees, Stereotypen und Vorprägungen, …Allgemein gesprochen: Offenbachs Komponieren ist immer auch ein Diskurs über das Komponieren als solches, über die Möglichkeiten des Komponierens in seiner Zeit.“

Damit biete er – so Grün – neben Bruckner, der den Formenkanon bis zum Zerreißen spannte und dehnte, aber auch neben Wagner, der die überkommene Nummernoper zum „Musikdrama“ umstrukturierte, eine Alternative, „heiter und melancholisch die Verbindlichkeiten der langsam versteinernden Traditions­muster in Anführungszeichen zu setzen, mit ihnen zu jonglieren und zu spielen“.

Schon Carl Dahlhaus, auf den sich Grün immer wieder beruft, hat sprach von der „Offenbachschen Eigentümlichkeit von „konstruierter Komposition und komponierter Konstruktion“ gebracht.

Peter Hawig, Grün zitiert ihn zurecht immer wieder, bringt es auf den Punkt: „Offenbach beantwortet die Frage nach einem „modernen“ Musiktheater mit der Partitur des Roi Carotte einmal mehr gänzlich pragmatisch – als komponie­render Theaterproduzent bzw. als akribisch planender ’Impresario-Komponist‘, dem theoretische Reflexionen über die ‚Musik der Zukunft ‘fernliegen und der sttattdessen sowohl an seinem Credo gewinnbringender Melodie und einer transparenten Instrumentierung als auch an seinem kompositorischen Prinzip der Referentialität konsequent festhält.“

Der Autor: Dieter David Scholz ist renomierter Musikjournalist und Autor zahlreicher Bücher über musikalische Themen, namnentlich Wagner und Offenbach/ operacomique

Diese „in der Geschichte der Oper auf eine beispiellose Verbindung von ‚Zitatdiskurs‘ und ambivalenter Anspielung‘ angelegte kompositorische Handschrift mit einer auf optische Faszination ausgerichteten Rahmenhandlung, die Elemente des Märchenhaften, Phantastischen und Satirischen aufgreift sei ein „Umstand, der sowohl die Kritiker der Uraufführung mit Blick auf eine Einordnung des Stücks als auch die Regie der jüngsten Inszenierung des Werkes in Hannover) überfordert.“ Recht hat Grün mit Blick auf die Inszenierungsgeschichte.

Zudem bemängelt er: „eine den klanglichen Vorstellungen Offenbachs gemäße Besetzung dürfte an den heutigen Gegebenheiten der Theaterorchester im Reper­toirebetrieb scheitern.“ Gerade deshalb plädiert er für eine „historisch informierte Aufführungspraxis und Besetzung“.

Fazit: Eine imposante Arbeit, die durch zahlreihe Anhänge (Bibliographie, Notenbei­spiele, Quellen-, Literatur-, Noten- sowie Librettoverzeichnis und mehr das (im wahrsten Sinn des Wortes) schwergewichtige Buch zu einer konkurrenz­losen Monographie eines konkurrenzlosen Werks, er nennt es „die Zauberflöte des 19. Jahrhunderts schlechthin“ macht. (Alexander Grün: Le Roi Carotte – Faktur und Wirkung einer Partitur Jacques Offenbachs; Tectum Verlag, 524 S., 2020, ISBN 978-3-8288-7324-7). Dieter David Scholz

Dimitri Mitropoulos: „Soeur Béatrice“

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Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen,  dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper eine sozialpolitische Funktion zeigt und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist ausübt steht ja außer Zweifel.

Nachdem Daniel Hauser hier bei operalounge.de zwei unbekannte griechische Komponisten mit ihren Einspielungen bei Naxos vorstellte, wollen wir auf einen weiteren und auf dem Feld der Oper höchst unwahrscheinlichen Landsmann aufmerksam machen: Dimitri Mitropoulos, den man „nur“ als Dirigenten von Weltrang erinnert und dessen Dokumente bei jedem Hören erneut Bewunderung auslösen. Dass er (ein zutiefst religiöser Mensch) aber auch (nur) eine Oper, nämlich Soeur Béatrice, hinterlassen hat, scheint uns doch wirklich bemerkenswert.

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Der junge Dimitri Mitropoulos/ Foto Lyra

Oper in und aus Griechenland zu verstehen bedeutet unbedingt, einen Blick auf die leidvolle jüngere Geschichte der Befreiungskriege gegen die osmanischen Türken zu werfen, die Mitte des 19. Jahrhunderts unter vielen Einzelschlachten erst auf den Inseln und später auf dem peleponesichen Festland geschlagen wurden. Nicht nur die schlecht ausgerüstetetn Griechen setzten Leib und Leben ein, auch die Europäer nahmen mit Gusto und staatmännischen Machtgelüsten daran teil. Aber auch die begeisterte europäische (und sogar amerikanische) Intelligenzia sah in diesem Kampf gegen das verrottete osmanische Imperium den eigenen Kampf gegen Unterdrückung zu Hause. Dichter wie Lord Byron feuerten sie, Poeten wie Clemens Harris (Siegfried Wagners Sehnsuchtsfreund) und viele mehr reisten in die Kriegsgebiete und arbeiteten dort an ihren Ruhm.

Davon nachstehend, nach den Betrachtungen über die Mitrropoulos-Oper, dann viel mehr, denn die Vertreibung der Türken leutete die Verschiebung Griechenlands zum einen nach Westeuropa ein. Und eine fast zeitgleich sich etablierende, westlich orientierte (durchaus auch kriegsgewinnlerische) Oberschicht instrumentalisierte im gesellschaftlichen wie vor allem im kulturellen Betrieb eben dieses neu aufkommende Phänomen Oper, das ein ganz defintives soziales Moment der festen, anerkannten Zugehörigkeit zur westeuropäischen Kulturterfamilie ausmachte (man hatte ja sogar einen deutschen König aufgesetzt bekommen.  Aber dazu wirklich später mehr.)

Theater-Plakat zur „Soeur Béatrice“ 1920/ Lyra

Dimitri Mitropoulos: Dirigent und Komponist. Ein lndiz für die westliche  Ausrichtung Griechenlands nach der gelungenen Befreiung vom türkischen Joch war die Verwendung der fremden Sprache für eine Oper im Athen des frühen 20. Jahrhunderts. Soeur Beatrice, die einzige Oper Dimitri Mitropoulos‘, ist in Französisch, auf einen Text von Maurice Maeterlinck, komponiert. Allein die Tatsache, dass der später so berühmte und nach Amerika ausgewanderte Dirigent überhaupt eine Oper geschrieben hat, 2006 in Bulgarien aufgenommen bei der griechischen Firma Lyra, spricht für die oben angedeuteten heutigen Verhältnisse.

Mitropoulos wurde in Athen am 1. Mai 1896 geboren, studierte am Athener Konservatorium von 1908 bis 1921 bei Armand Marsick, einem belgischen Schüler von César Franck), Vincent D‘ lndy und Guy Ropratz, also bei einem Musiker deutlich in der Ausrichtung auf Wagner und der französischen Spätromantik bzw. des musikalischen Symbolismus. Zwischen Lehrer und Schüler entspann sich eine enge Beziehung, die wohl sowohl erotisch wie geistig war, so wie Mitropoulos später immer wieder solche Beziehungen mit andere, jüngeren Musikern eingegangen ist (Bernstein, Rohrem u. a.).

„Mea culpa“ in Opernform: Wagner (vor allem der Tristan) und Franck stehen als Paten für die musikalische Sprache der Soeur Béatrice, Debussy eher im Hintergrund, und in Hinsicht auf den Text war die Beziehung des Wallonen Marsick zu der Literatur seines Heimatlandes von eminenter Bedeutung. Er war es auch, der Mitropoulos mit Maeterlincks Dichtung vertraut machte. Dieser hatte das miracle (wie er es bezeichnete) eigentlich für Gabriel Fauré geschrieben, der das Stück (eine Nachdichtung einer flämischen Legende) aber nicht verwendete. Es war der Dirigent und Komponist Albert Wolff, der nach Mitropoulos dieselbe Dichtung noch einmal vertonte und die Beatrice als Einakt­-Oper in drei tableaux 1949 in Nizza aufführen ließ. Ohne Nachwirkung und nur Musikwissenschaftlern bekannt, so wie die Oper von Mitropoulos auch.

Katya Paximou als sündige Béatrice 1920 am Stadttheater von Athen, mit offensichtlich hypnotischer Wirkung auf das damalige Publikum. Es kam zu Skandalen/ Lyra

Durch Marsick also erhielt Mitropoulos die Inspiration der Vorlage, so wie dieser Lehrer/Freund überhaupt überragenden Einfluss auf die musikalische Laufbahn und das philosophische Denken seines Schülers hatte. Marsick brachte den Mitropoulos auch in Kontakt mit der eminent wichtigen Schola Cantorum in Paris, wenngleich die ersten Schritte den jungen Mann aus reichem Hause von Athen nach Berlin an die Hochschule für Musik führten (1921 – 24). Dort arbeitete er auch als Repetiteur für Erich Kleiber an der Staatsoper. Danach ging er über Paris nach Amerika, wo er 1937 zum Chef des Minneapolis Symphony Orchestra ernannt wurde und wo er viele zeitgenössische europäische Kompositionen als amerikanische Erstaufführungen herausbrachte. 1946 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1950 dirigierte er erstmals beim Maggio Musicale in Florenz (1953 die berühmte Forza mit Tebaldi) und von 1956 an der Lyric Opera van Chicago. Sein Debut an der New Yorker Met geschah 1954 mit der Salome. 1958 leitete er die Uraufführung von Barbers Vanessa ebendort, dann auch in Salzburg. Er starb am 2. November 1960. Viele Aufnahmen /Mitschnitte bestätigen seinen genialen Ausnahmestatus.

Die alte Lyra-Ausgabe der Oper „Soeur Béatrice“ voin Dimitri Mitropolulos

Und nun endlich die Oper Soeur Béatrice: Mindestens seit 1915 beschäftigte sich der junge Musiker mit dem Stoff der Béatrice, wie die Drei Klavierstücke belegen, die nach dem 1. Weltkrieg in Belgien mit diesem Titel erschienen, seinem Freund, dem Pianisten Antonis Skokkos, gewidmet. Die Grundidee in diesen Stücken findet sich auch in den Eck-Akten der Oper wieder. Bemerkenswert scheint die lange Beschäftigung mit dieser religiösen Vorlage – eine Beobachtung, die sich auch auf ähnlich gelagerte Sujets anderer homosexueller Komponisten erstreckt (Poulenc, Menotti oder Refice vielleicht als Beispiele, Puccini natürlich nicht), die ihre Probleme mit einer restriktiven Gesellschaft in suppiger Religiosität verarbeiten. Mitropoulos wird in seinen jungen Jahren als tiefreligiös (katholisch?) geschildert Und die Soeur Béatrice könnte eine starke Kompensationsvorlage gewesen sein. Das altbekannte Sujet des Sünders, dem vom Himmel vergeben wird, ist hier nur allzu deutlich und allzu biographisch. Ähnlich wie bei Tschaikowsky, der sich mit seinen weiblichen Hauptfiguren identifizierte und die schönsten Melodien für diese schrieb, vde. das Wiegenlied der Maria am Ende von Mazeppa, das einen sensiblen hörer zum Weinen bringt.

Warum aber gab er das Komponieren auf? Er durchmaß als Künstler eine weite Spanne der Einflüsse: von Franck, Wagner bis zu Kalomiris (Griechische Sonate/ Mutters Ring), kam in Kontakt mit Schönberg und dessen Schule sowie Strawinsky und Bartok. Danach schrieb er nichts mehr. Der Dirigent und Musikwissenschaftler Byron Fidetzis, der die einzige Aufnahme der Soeur Béatrice ebenso eingespielt hat wie viele andere Werke griechischer Komponisten, meint, dass das eher verhaltene Urteil seines Lehrers Marsick wie auch das von Busoni den jungen Musiker enttäuschte, der keine Geduld für einen langsamen Reifeprozess als Komponist aufbrachte, sondern als Perfektionist alles auf einmal und absolut fehlerfrei machen wollte. Er war kein Wunderkind wie Mozart und war zu sehr auf einen persönlichen Stil versessen, wobei er eher eklektizistisch die Stile und Formen anderer aufsog, was bei einem Anfänger namentlich in jenen chaotischen Jahren nicht verwunderlich erscheint. Mit Ausnahme der Bühnenmusik zu Hippolitus und Elektra schrieb Mitropoulos nach dieser Enttäuschung nichts mehr für das Theater. Außerdem machte sich seine rekreative Begabung als Dirigent und Interpret der Musik anderer so stark bemerkbar, dass seine eigene kreative Arbeit/lnspiration dahinter zurückstehen musste.

Katya Paximou als nun verherrlichte Béatrice im letzten Akt 1920 am Stadttheater von  Athen/ Lyra

Verbreitung: Eine konzertante Auffuhrung des 1. Aktes der Oper Soeur Beatrice setzte Armand Marsick am Athener Stadttheater am 12. April 1918 mit ihm als Dirigent durch. Hier sangen Maria Messalora in der Titelrolle und Kirnon Triantafyllou als Bellidor. Die eigentliche Premiere der szenischen Wiedergabe dirigierte Marsick am selben Theater am 11. Mai 1920. Katina Paxinou sang die Titelrolle und die Heilige Jungfrau (sie war mit Mitropoulos eng befreundet und brachte ihre wohlhabende Familie dazu, diese Aufführung und auch weitere Vorhaben ihres Freundes zu ermöglichen), Triantafyllou erneut den Bellidor, dazu eine Reihe guter Comprimari. Mit einer Folgeaufführung am 13. Mai (es gab keine späteren Wiederbelebungen bis zum Konzert/Einspielung in Sofia 2002). Die Uraufführung wurde von dem Komponisten Camille Saint-Saens besucht und sehr wohlwollend beurteilt, was in der Folge für die Karriere des jungen Komponisten von Bedeutung wurde.

Die Textlage des Werkes bleibt kompliziert, denn das alte Orchestermaterial ist verloren, das Manuskript  liegt in der  Athener  Gennadios  Bibliothek. Jedoch existieren ein  Klavierauszug und die Dirigierpartitur, die aber voneinander abweichen. Byron Fidetzis, Pionier für moderne Wiedergaben von Werken von Carrer, Samara, Kalomiris und vielen, vielen anderen, hatte eine neue Partitur eingerichtet und die Oper mit den Kräften aus Sofia (Pasardjik Symphony Orchestra und Chor Voices of Sofia) sowie mit einigen namhaften griechischen Solisten 2002 bei Lyra eingespielt (inzwischen ist das Label vom Markt).  Vor allem Marta Arapi in der Doppelrolle der Beatrice/Jungfrau beeindruckt in der Aufnahme; dazu kommen die gestandenen Solisten von Fidetzis aus anderen Aufnahmen, vor allem Vangelis Chatzissimos als verführerischer Prinz Bellidor, aber auch die Griechin Barbara Tsambali und andere mehr. G. H.

Dirigent und Pionier der griechischen Musik, Byron Fidetzis/Lyra

Zur Handlung: Akt 1 In einem Kloster wartet die junge Nonne Béatrice auf ihren Geliebten, den Prinzen Bellidor, mit dem sie fliehen will. Sie fleht die Marienstatue an, ihr durch ein Zeichen zu bedeuten, dass diese ihren Entschluss missbillige. Bellidor kommt, bestürmt Béatrice erneut. Sie wird schwach, und beide laufen davon, weil ja die Mutter Gottes nichts dagegen unternommen hat.

Akt 2 Die Statue ist lebendig geworden und nimmt nun den Platz der Entlaufenen ein. Sie tut Wunder, kümmert sich um die Armen und erstaunt die Schwestern, die doch Béatrice mit dem Prinzen haben davonreiten sehen. Alle halten die Jungfrau fur Béatrice. Jedoch kommt diese unter Verdacht, als man den Verlust der Statue selbst bemerkt, zumal man unter dem abgelegten Habit am Fuße des Altars die prächtigen Gewänder der Gottesmutter findet. Die vermeintliche Nonne wird hochnotpeinlich befragt und bestraft. Aber ein weiteres Wunder geschieht: Als die Peitsche den Rücken berührt, öffnet sich der Himmel, und aus den Blutstropfen werden blühende Blumen. Nun hält man (die falsche) Béatrice für eine Heilige und betet sie an.

Mitropoulos´“Soeur Béatrice“ auf der alten Lyra-CVD: Martha Arapí, Vangelis Hadjissimos, Varvara Tsambali/ Lyra

Akt 3 Nun steht die Statue der Mutter Gottes wieder auf ihrem Podest. Die völlig erschöpfte, verelendete Béatrice taumelt in die Kirche. Bellidor hat sie nach kurzer Zeit satt gehabt und verlassen. 25 Jahre sind vergangen, in letzter Not hat sich Béatrice in ihr altes Kloster geschleppt und hofft auf Absolution durch ihre Oberin. Aber diese – wie ihre‘ Mitschwestern – ist von den Geständnissen der sündigen Nonne verwirrt: War sie denn nicht wundertuend die ganzen Jahre als eine der Ihren unter ihnen? Béatrice haucht ihr Leben aus, und die Jungfrau singt von ihrem Sockel herunter: „Es gibt keine Sünde, wo Liebe gefleht hat“. Sie segnet die Sterbende. Ein himmlischer Chor preist Unsere Liebe Frau. Wenn das keine autobiographischen Momente sind… G. H.

Und als Abschluss unbedingt ein paar Worte zur Oper in Griechenland: Die Geschichte der (westeuropäischen) Kunstform Oper in Griechenland ist untrennbar mit der wechselhaften Geschichte des Landes verbunden und meist eine Reaktion darauf. Alles geht auf die jahrhundertelange Besetzung durch die Osmanen/Türken zurück, die schmerzhaft und erst in einem langen, erbitterten Prozess des Widerstandes im 19. Jahrhundert abgeworfen wurden (Rossinis Siege de Corinth ist ein Beispiel für die Anteilnahme Europas an dieser Bewegung, die von Lord Byron in der Literatur glorifiziert wurde und an der auch der Siegfried-Wagner-Freund Clement Harris teilnahm, wie wir an anderer Stelle in operalounge.de erwähnten). Die Befreiung erfolgte erst auf den lnseln im ionischen Meer und dann (weitgehend mit Hilfe der Engländer) auf dem Festland, wobei auf den lnseln wie vor allem auch an den Küsten der terra firma der unverhohlene Geneozid und die Deportationen der griechischen Siedler durch die Türken folgten (es hieß, in Smyrna hätte man über die Bucht auf den Leichen laufen können …), denn die Griechen hatten sich seit der Antike, später auch unter der osmanischen Herrschaft, weit über den kleinasiatischen Raum und die Mittelmeerregion verbreitet. Und der türkische Staat ist mit Genoziden ja gut bekannt.

Zu der Miuropoulos-Oper „Soeur Béatrice“: Szene aus dem Griechischen Freiheitskampf von Eugen Delacroix, 1856/ Wikicommons

Griechenland wurde danach im 19. Jahrhundert eine fremde (konstitutionelle) Monarchie aufgepfropft – erst kamen die bayerischen Wittelsbacher, dann die Dänen (Holstein­-Glücksburg bis 1973). Die Ausbeitung europaischer Kultur bzw. Rück-Wendung Griechenlands zu Europa geschah naturgemäß also erst wieder im 19. Jahrhundert und verstärkt im frühen 20.

Die westliche Kunstform Oper war ein wesentlicher Teil davon. Komponisten wie Carrer oder Samara waren in ltalien (am Konservatorium Mailand) ausgebildet und übertrugen das Gelernte auf eine  nationale Basis. Die eigentlichen Pioniere auf dem Gebiet der Oper waren jedoch zuvor reisende Truppen gewesen, die auf den lnseln von ltalien her Oper gespielt und eine gewisse Tradition oder zumindest einen Bekanntheitsgrad  für diese Unterhaltungsform gesetzt hatten. Oper also bedeutete ein Stück Europa (West­ Europa!), und Zugehörigkeit zur westlichen Völkerfamilie, der es sich durch seine Geschichte und seinen Widerstand gegen die osmanischen Besatzer eng verbunden fühlte. lnsofern ist jede Betrachtung der Operngeschichte Griechenlands auch ein Blick auf das Streben nach Anerkennung durch den Westen.

Der englische Dichter und S. Wagner-GHefährte Clement Harris, der aktiv am griechichen Freiheitskamp teilnahm und feurige, wenngleich auch verstörende Berichte schrieb/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Vor allem in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts war das griechische Musikleben auf die Oper ausgerichtet. Athen besaß ein wichtiges und erfolgreiches Konservatorium, an dem viele renommierte ausländische Lehrer unterrichteten. Die europäische Musik setzte sich mehr und mehr in der Öffentlichkeit durch (namentlich in der gebildeten dünnen Operschicht), und die allmähliche Anerkennung der ionischen Schule (der auf den lnseln gewonnenen Ausdrucksformen als spezifisch griechisch) half dem Musikleben zu einem neuen, eigenen Gesicht. Komponisten wie Mantzaros, Padovanis, Carrer, Rhodotheatos und andere schrieben für das Establishment, die Oberschicht , die sich nach Westen ausgerichtet hatte und die für die Errichtung von Opernhäusern und Konzertsälen nicht nur in Athen , sondern auch in Patras, Hermoupolis und anderen Städten sorgte. Es war die Oper, die – vor allem mit der post-wagnerianischen Ausrichtung – diese pro-westlichen Strömungen verkörperte und in die nun das Nationalgefühl, das Streben nach einem eigenen nationalen Ausdruck, eingebracht wurde. Wenngleich keine wirkliche Verschmelzung der äußeren Einflüsse mit den einheimischen erreicht wurde wie z. B. im Paris des beginnenden 19. Jahrhunderts. Oper bleibt bis heute – denke ich – in Griechenland etwas Akademisches: ein Medium für die Oberschicht, die wie in anderen Ländern des Balkans oder des Orients auf den Westen fixiert war/ist. Man sprach Französisch (und nur wenig Englisch). Noch Elvira de Hidalgo unterrichte ihre Schüler (und Maria Callas) zwischen den Kriegen in Französisch, während dann die besatzenden ltaliener (und Deutschen ihre Sprache für eine Zeit durchsetzten.

Zu der Oper „Soeur Béatrice“ vom Dimitri Mitropoulos: “The Reception of Lord Byron at Missolonghi” by Theodoros Vryzakis/ Wikipedia

Unter diesen Umstanden wuchs das  Voilumen an griechischen Opern vor allem in dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Namen wie Samara, Lavrangas, Sakallarides, Kalomiris oder Sklavos stehen dafür (auf die veristische, i. e. italienische Atmosphäre in der Martire/ Natalia Samaras wurde bereits an anderer Stelle bei operalounge.de hingewiesen) Dabei muss auch erwähnt werden, dass eben viele bzw. die meisten Werke nicht in griechischer Sprache, sondern in einer westlichen (weitgehend italienischen) konzipiert und aufgeführt wurden und – so im Falle der Natalia Samaras – im westlichen Ausland einen größeren Erfolg fanden als im Heimatland: Natalia hatte z. B. durchaus eine deutsche Tradition und wurde bei Bote & Bock in Berlin verlegt, andere bei Ricordi oder Sonzogno in ltalien. Vielleicht war es die bewegte politische Zeit Griechenlands jener Jahre mit ihren Putschen, Umstürzen, Königsvertreibungen, Besetzungen und Kriegen, die ein weiteres Heranreifen des Opernlebens, des eigenen Idioms, verhinderten

Mit  dem 1. Weltkrieg  war  diese kurze Blüte des griechischen Musiklebens westlicher Prägung vorbei und hat sich davon nie wieder richtig erholt, selbst wenn heute natürlich internationales Kulturleben in Griechenland herrscht und namentlich das Athener Opernhaus (mit internationalem Spielplan und wenig Griechischem) und das Megaron (mit Aufführungen von Strauss und Wagner) bedeutende und eben internationale Institute sind, wie sie sich auch in anderen Regionen  Griechennlands vereinzelt finden.

Dank besonders an den von mir hoch verehrten Dirigenten Byron Fidetzis und seinen Artikel im Booklet zur Aufnahme der Oper bei der griechischen Firma Lyra 2006, inzwischen vergriffen und die Firma obsolet, was ein Jammer ist, denn es gab viele Einspielungen giechischer Musik und Opern ebendort..Das Foto oben zeigt Deborah Kerr als Nonne in dem britischen Film „Black Nacissus“ von Michael Powell und Emric Pressburger 1947/ Still aus der immer noch auf dem Markt erhältlichen Rank-DVD.

Und als Nachtrag von 2023 gibt es den Hinweis auf die moderne, konzertante Wiederaufführung der Soeur Béatrice in Athens Maria Callas Olympic Concert Hall 2022 mit Catherine Hunold in der Titelpartie (Foto oben/youtube) unter der Leitung von Pierre Dumoussaud; die Edition stammte von Byron Fidetzis. Anzuschauen bei youtube.

August Emil Ennas „Kleopatra“

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Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen,  dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper eine sozialpolitische Funktion zeigt und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist ausübt steht ja außer Zweifel.

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Natürlich gibt es viele  dänische Komponisten, und natürlich werden nun Kenner die Hände heben und aufschreien. Aber wirklich bekannt sind dänische Tonsetzer im Ausland nicht wirklich, wenngleich viele in Berlin oder Leipzig ausgebildet wurden. Ja, es gibt natürlich Niels Wilhelm Gade (1817–1890), Paul von Klenau (1883–1946), Carl Nielsen (1865–1931), Johann Adolf Scheibe (1708–1776), August Winding (1835–1899), Friedrich Kuhlau (1786–1832), Rued Langgaard (1893–1952), Poul Ruders (* 1949) und manche mehr, aber außer Nielsen und Gade – wage ich zu behaupten – sind die anderen nicht wirkliche Renner in den Opern- und Konzerthäusern der Welt und in Deutschland schon gar nicht. Das mag an manchem liegen, aber im Bereich der Oper und der Vokalmusik vor allem an der Sprache, die nur von Dänen beherrscht wird und die für Nicht-Dänen (und mich) eher wie Portugiesisch klingt, mit ihren sprachlichen Verkürzungen sich auch dem nicht-dänischen Ohr entzieht. Dazu kommt, dass Dänen und Deutsche nicht wirklich eine tiefe Freundschaft verbindet, was seine vielfältigen Gründe in der Vergangenheit beider Länder hat. Anders als die übrigen Angrenzer ist uns Dänemark zwar ein beliebtes Ausflugs- und Ferienziel, aber als Kultur und eigentliches Volk doch fremd geblieben, denke ich.

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Dennoch. August Emil Enna ist einer der interessanten Komponisten aus unserem nördlichen Nachbarland, absolut unbekannt bei uns wie viele seiner Kollegen, und nur die verdienstvolle Firma cpo hat einige CDs mit seinen Werken herausgegeben. An Opern gibt es das Mädchen mit den Schwefelhölzern nach Andersen auf CD. Das ist nicht viel. Aber: Im März 2019 gab das Opernhaus von Aarhus die große Oper Kleopatra von 1898, die auch in Dänemark tournierte, so am 12. März 2019 auch in Kopenhagen. Und sie ist nun bei DaCapo/ Naxos auf zwei schicken CDs erschienen, englische Übersetzung von Artikel und Libretto einschließlich. Eine Prachtausgabe, absolut habenswert und und im April 2019 in Odense aufgenommenm. Der Fan rast. Meine Empfehlung für 2020.

Rolf Fath berichtet von der Aufführung, und seinem Eindruck ist wenig hinzufügen, außer dass die stimmungsvolle Optik für die neuen CDs fehlt.. Sozusagen in Ergänzung dazu stellt Knud Tomerup einen 2019 Buch über den Komponisten vor (nur in dänischer Sprache, was die Verbreitung enorm einschränkt (Produktionsfotos Kåre Viemose for Den Jyske Opera). G. H.

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Tanja C. Kuhn: Charmion in „Kleopatra“ von August Enna an der Danish National Opera (mit Tenor Christian Juslin), Fotograf Kaare Viemose

In einer unterirdischen Gruft wird der Pharaonenabkömmling Harmaki vom Hohepriester Sepa auf seine Mission eingeschworen. Die Krieger, Priester und ägyptischen Fürsten wählen ihn zu ihrem künftigen Pharao, doch zuvor muss er Kleopatra aus dem Weg räumen. Nicht von ungefähr erinnert die Szene im Prolog von August Ennas dreiaktiger Kleopatra an die erste Szene aus Verdis Aida, die als Modell für die gut zwanzig Jahre spätere Ägypten-Oper, die am 7. Februar 1894 im Königlichen Theater in Kopenhagen uraufgeführt wurde, gedient haben könnte. Selbstverständlich erliegt Harmaki dem Zauber Kleopatras. Die Königin durchschaut die Untreue ihrer Vertrauten, der Hohepriestertochter Charmion, die selbst in Harmaki verliebt ist, und setzt ihre nicht unbeträchtliche Verführungskunst ein. Harmaki gesteht Kleopatra seine Liebe, sie entreißt ihm seinen Dolch, um ihm diesen später zuzuwerfen, worauf er sich ersticht und Charmion über seinem Leichnam zusammenbricht.

Der Erfolg von Kleopatra war geteilt. Vorausgegangen war Ennas ungeschicktes Taktieren zwischen seinem dänischen und deutschen Verleger, Henrik Hennings und Breitkopf & Härtel, in dem auch die Öffentlichkeit Partei ergriff, darunter sein Textdichter Einar Christiansen. Als Vorlage für seine Kleopatra hatte Christiansen den gleichnamigen Roman des Briten Henry Rider Haggard benutzt, der durch seine vielfach im ägyptischen Milieu spielenden Abenteuerromanen Berühmtheit erlangt hatte; man fragt sich nebenbei, ob Christiansens originaler Text so bräsig klingt wie die englische Übersetzung im Beiheft der world premiere recording. Auch die Besetzung erfüllte 1894 offenbar nicht alle Voraussetzungen. Erst als die Oper ein Jahr später wiederaufgenommen wurde und Ellen Gulbranson, die zwischen 1896 und 1914 regelmäßig in Bayreuth auftrat, die ihr ursprünglich zugedachte Titelrolle übernahm, stellte sich der große Erfolg ein, der nach zwanzig Aufführungen schlagartig abbrach. Cleopatra wurde in Berlin, Hamburg, Köln, Breslau, Amsterdam, Den Haag und Rotterdam, Riga und Zürich gespielt. Nach mehr als 120 Jahren setzte Philip Kochheim, an dessen Ausgrabung von Jenös Hubays schöner Anna Karenina während seiner Braunschweiger Operndirektion ich mich gerne erinnere, an der inzwischen von ihm geleiteten Dänischen Nationaloper, Den Jyske Opera, in Aarhus die Kleopatra des in der Folge von Kunzen, Kuhlau, Heise und Gläser und neben dem sechs Jahre jüngeren Carl Nielsen bedeutendsten dänischen Opernkomponisten 2019 auf den Spielplan.

Ennas Oper „Kleopatra“ an der Jütländischen Oper/ Szene/Kåre Viemose for Den Jyske Opera

Im Vorwort des im April 2019 in Odense entstandenen CD-Mitschnitts (2 CD Dacapo 8.226708-09) wird als bekanntestes Werk Ennas auf seine Ouvertüre zu der Andersen-Kurzoper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern verwiesen, außerdem heißt es, „At the turn of the last century… he was the best-known Danish composer outside Denmark, praised for his operas, his flair for drama und his instrumentation skills. But Enna wrote in an hyper-romantic style that you would have to be Richard Strauss to get away with in the 20th century. When Enna died in 1939, his music was forgotten, both at home and abroad“. Enna war bekennender Wagner-Anhänger und Delibes-Bewunderer. Seine durchkomponierte, selbstverständlich fließende Kleopatra ist ein interessantes Zeugnis für den, wie es Ulrich Schreiber nennt, „musikalischen Internationalismus“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts, verfügt ein exotisches Kolorit, wie wir es bei Ernest Reyer, Saint-Saens oder Karl Goldmark finden, in der die dramatischen Momente nicht so sicher platziert sind wie die sinnliche Ausreizung der Situationen; dennoch in ihrer Art schwer vergleichbar und deshalb eine willkommene Wiederentdeckung. Dramatische Höhepunkte wie die Finali des umfangreichen Prologs, des ersten und zweiten Aktes oder die exotischen Farben der Ballettszene zu Beginn des dritten Aktes sind sicher gesetzt, doch größtenteils dominiert in den lyrisch wabernden Szenen ein wenig spezifischer Schönklang. Die Aufnahme vermag das möglicherweise nicht alles ausreizen. Joachim Gustafson greift mit dem Odense Symphony Orchestra die instrumentalen Feinheiten der Partitur auf, doch der Klang wirkt auf mich nicht wirklich opulent eingefangen. Der Danish National Opera Chorus bietet eine mehr als gediegene Leistung, ebenso die Solisten, unter denen mit leichtem Wagner-Tenor Magnus Vigilius als Harmaki und die ukrainische Sopranistin Ruslana Koval als Charmion hervorstechen. Der Kleopatra merkt man, dass sie für eine reichere, dramatischere Stimme konzipiert ist als sie die zuverlässige, aber farblos girrende Elsebeth Dreisig, deren leichter Sopran sich zu wenig von Koval abhebt, aufbieten kann. Routiniert und theatralisch packend gibt Lars Møller den Hohepriester Sepa. Rolf Fath

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Ein paar Worte noch einmal zum Komponisten: August Emil Enna (* 13. Mai 1859 in Naskov; † 3. August 1939 in Kopenhagen) war ein dänischer  Musiker und Komponist.. Der Großvater, ein gebürtiger Italiener (vielleicht aus Enna in Sizilien), war nach den napoleonischen Kriegen (wo er als Soldat diente) mit seiner in Deutschland geborenen Frau nach Dänemark ausgewandert. August Enna wurde geboren in Nakskov auf Lolland, wo sein Vater Schuhmacher war. Die Familie zog 1870 nach Kopenhagen, wo Enna Schuhmacher-Lehrling wurde und Musikunterricht bekam (Violine, Klavier und Theorie; mit Christian Schiørring als Geigenlehrer und Organist Peter Rasmussen für die Theorie). Er wurde Geiger und trat in Finnland und Schweden auf. Im Jahre 1883 kehrte er nach Dänemark zurück, um Musikdirektor an ‚Werners Theatre Company‘ zu werden, einem reisenden Tourneetheater. 1884 komponierte er seine erste Oper, Agleia, einige Klavierstücke und Instrumentalwerke, und im Jahre 1886 eine Symphonie (in c-Moll), die das Interesse von Niels Gade erregte. 1890 / 91 war er Dirigent am Theater Dagmar in Kopenhagen. Danach lebte er vom Komponieren und von kürzeren Engagements; in seinen letzten Jahren war er arm. 1908 wurde er Titularprofessor.

1892 wurde seine bahnbrechende Arbeit, die Oper ‚The Witch‘ uraufgeführt. Dann hatte er großen Erfolg mit weiteren Opern, darunter Cleopatra (1893), The Little Match Girl (1897), Gloria Arsena (1917) und Komiker (1920). Mehrere von ihnen wurden an verschiedenen europäischen Bühnen aufgeführt, so zum Beispiel in Berlin, Hamburg, Weimar, Magdeburg und Köln. Er war ein Ritter des Dannebrog-Ordens. Begraben wurde er in Frederiksberg auf dem alten Friedhof.

ennaEr schrieb in einem hohen romantischen Stil, der lange aus der Mode war, als er 1939 fast vergessen starb. Sein einziges öfter aufgeführtes Stück ist wohl die Ouvertüre zu ‚Das Mädchen mit den Schwefelhölzern‘, einer einaktigen Oper, die nur etwas mehr als eine halbe Stunde dauert. Seine Musik ist von Wagner und Verdi sowie von der dänischen romantischen Tradition inspiriert. Enna hatte einen guten Sinn für Theater-Instrumente, hatte eine feine melodische Ader und beherrschte die Kunst der Orchestrierung. Einige seiner Werke sind auf die kleinen dänischen Provinz-Theater mit begrenzten Ressourcen zugeschnitten. Nach dem Ersten Weltkrieg war Ennas Zeit als erfolgreicher Komponist vorbei. In seiner Zeit gehörte er zu den international meistgespielten Opernkomponisten.

Neben Opern- und Theatermusik schrieb Enna ein Violinkonzert (Uraufführung in der Carnegie Hall in New York), zwei Sinfonien, andere Orchestermusik sowie Lieder und kleine Klavierstücke. Nur wenige seiner Werke sind auf CD erhältlich. Das Klassik-Label CPO veröffentlichte einige  CDs mit Werken des Komponisten, darunter die Opern Das Mädchen mit den Schwefelhölzern und Heisse Liebe. (Quelle Wikipedia)

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Unser Freund und Leser Knud Tomerup stellt im Folgenden die Neuveröffentlichung einer Enna-Biographie von Steen Christian Steensen vor, natürlich gibt´s die nur in dänischer Sprache und zeigt einmal mehr die Fremdheit zwischen den Nachbarn, bedingt durch die Fremdheit der Sprache gegenüber den Nachbarländern. Knud Tomerup schreibt:  “Hot as an Italian and naughty as a shoemaker boy” Über den dänischen Opernkomponisten August Enna (1859-1939), der ab 1892 und in den folgenden 20-30 Jahren mit seinen mehr als 10 Opern mehr Erfolg hatte als jeder andere dänische Komponist, ist jetzt ein Buch erschienen. Ein Erfolg, der in Europa sogar noch größer war als auf der heimischen Bühne. Doch allmählich ebbte das Interesse ab, und heute wissen nur noch wenige Menschen etwas über Enna.

Das Buch ist von dem Musikschriftsteller und Dozenten Steen Christian Steensen geschrieben, der einen MA in Musikwissenschaft und Kunstgeschichte hat und mehrere Bücher geschrieben hat, unter anderem eine Carl Nielsen-Biographie. Es ist sehr gut geschrieben und erzählt auf unterhaltsame Weise von Ennas Leben und seinen Opern, aber auch von seinem Verhältnis zu anderen Menschen und seinem Handeln.
Ennas Großvater stammte aus der Stadt Enna in Sizilien und sein Vater ließ sich als Schuhmacher nieder, zunächst auf der Insel Lolland und später in Kopenhagen. Daraus ergibt sich die oben erwähnte Aussage über sein Temperament, das der Autor wie folgt beschreibt: Eigensinnig, verschlagen und launisch, aber auch charmant, charismatisch und leidenschaftlich.

Ennas Karriere erinnerte anfangs an das Leben manch anderer junger Opernkomponisten, bevor sie ihren ersten Erfolg hatten und sich etablierten. Er war kein Autodidakt, sondern hatte nur eine begrenzte Schulbildung, obwohl er schließlich eine Ausbildung in Geige bei einem bekannten Kapellmusiker und in Theorie bei einem Organisten erhielt. Jahrelang ernährte er sich als Musiker in Unterhaltungsorchestern, in kleinen Theatern und dergleichen, sogar in Finnland und Schweden, und komponierte dabei kleine Orchesterwerke.

1888 erhielt er jedoch ein beträchtliches Stipendium, das es ihm ermöglichte, sich auf das Komponieren zu konzentrieren, und 1892 gelang ihm der Durchbruch mit der Oper Heksen (Die Hexe) in vier Akten, die auch im Ausland ein großer Erfolg wurde. Ein paar Jahre später folgte der nächste Erfolg: Cleopatra, die auch auf vielen ausländischen Bühnen aufgeführt wurde, z.B. 1897 in Amsterdam mit 50 Aufführungen. In Deutschland wurde vor allem Den lille pige med svovlstikkerne (Das kleine Streichholzmädchen) nach dem Märchen von H.C. Andersen später ein großer Erfolg. Enna war von Kindheit an von H.C. Andersen begeistert, und ein ganzes Kapitel des Buches befasst sich mit dem Einfluss des Dichters auf Enna, der sich auch in der Oper Prinsessen på Ærten (Die Prinzessin auf der Erbse), dem Ballett Hyrdinden og Skorstensfejeren (Die Hirtin und der Schornsteinfeger) und dem Vokalwerk Mutterliebe niederschlug.

Ennas Oper „Kleopatra“ in Aarhus: Regisseur Ben Bauer und Kostümbildnerin Uta Meenen im Gespräch/ Trailer Jyske Opera

Der Autor weist darauf hin, dass Ennas Musik keineswegs einen speziell nordischen Stil aufweist, sondern von der internationalen Inspiration geprägt ist, die er auf seinen Reisen durch Europa erhielt, unter anderem, wenn seine Opern irgendwo aufgeführt werden sollten. Er war, wie so viele andere, von Wagner beeinflusst, war dann aber sehr fasziniert von Strauss. Für Puccini und die Verismo-Komponisten in Italien hatte er dagegen nicht viel übrig, obwohl seine Musik sicherlich auch deren Einfluss zeigt. Seine Werke, bei denen es sich nicht nur um Opern, sondern auch um Operetten, Ballette und verschiedene Formen von Orchestermusik handelte, entsprachen also nicht dem nationalen und romantischen Stil, der zu dieser Zeit in Dänemark vorherrschte. Diese Tatsache in Verbindung mit seinem Temperament war wahrscheinlich der Grund dafür, dass er vor allem bei zeitgenössischen Künstlern, Schriftstellern und Komponisten einen großen Teil der einheimischen Unterstützung verlor. Es hatte wohl auch Bedeutung, dass er erst spät begann, sich zu erneuern.
Neben dem Prädikat „temperamentvoll“ wurde ihm im Laufe der Jahre auch nachgesagt, dass er mit der Zeit immer verbitterter wurde, unter anderem weil der etwas jüngere Carl Nielsen mit seiner kühlen nordischen Musik mehr Gehör fand.
Der Autor hat sein Buch weitgehend auf Briefe, Interviews, Rezensionen und Zeitungsartikel gestützt, sowie auf das Hören der etwas spärlichen Musikaufnahmen, das Lesen von Noten und Texten, vor allem zu seinen Opern. Vor diesem Hintergrund versucht der Autor, uns ein differenzierteres Bild von Enna und seiner Musik zu vermitteln. Und es gelingt ihm.

So stellt das Buch fest, dass er und Carl Nielsen zwar Konkurrenten waren und in vielen Dingen nicht übereinstimmten, aber sie konnten sich auch beruflich umgehen. So dirigierte Carl Nielsen 1912 die Uraufführung von Ennas Nattergalen (Die Nachtigall) und dem Vokalwerk Mutterliebe.

In dem Buch wird auf ein Interview in der Zeitung Berlingske Tidende vom 2. Mai 1934 anlässlich des bevorstehenden 75. Geburtstags des Komponisten verwiesen. Geburtstag. Hier ist Enna noch bereit, einige Angriffe gegen das dänische Musikleben im Allgemeinen und gegen bestimmte Personen im Besonderen vorzubringen. Die Überschrift des Interviews lautet: „Ich habe so viele Feinde, dass ich mich nicht überwinden kann, sie alle zu grüßen!“ Aber man erlebt auch einen zugänglicheren und zurückhaltenderen Mann mit einem Augenzwinkern.
Der Autor schreibt im Vorwort, dass das 143 Seiten umfassende Buch nicht vollständig und erschöpfend zu sein scheint, aber er möchte ein gesteigertes Interesse an dieser seltenen Persönlichkeit im dänischen Musikleben wecken. Das könnte geschehen, aber da das Buch kaum ins Deutsche oder Englische übersetzt ist, wird es wahrscheinlich nur in Dänemark einen Einfluss haben. Knud Tommerup/Übersetzt mit www.DeepL.com/.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Dolmetscher

 

„Beethoven ist ein Mythos“ so lapidar lautet der erste Satz der hervorragenden RowohltMonographie Martin Gecksdie1996 zum ersten Mal erschien und immer wieder neu aufgelegt wurde. Der renommierte Musikwissenschaftler, der 2019 verstarb, war nicht nur einer der Großen der Wagner-, sondern auch der Beethovenforschung. Zu beiden Komponisten hat er viel geschrieben. Seine Bücher gehören zum Besten in Sachen Wagner wie Beethoven. Was Geck auszeichnet, dass er nie ausgetretene Pfade beschritt. Auch für seine neuste Publikation, die nun postum zum Abschluss des (von Corona verhagelten) Beethovenjahrs erschien, gilt dies. Zur Erinnerung: Martin Geck veröffentlichte zuletzt „“Die Sinfonien Beethovens“ (2017), „Beet­hoven-Bilder“ (2019) und „Beethoven hören“ (2020) sowie „Der Schöpfer und sein Universum“ (2020). Seine neuste Beethovenpublikation bietet nicht mehr, aber auch nicht weniger als „Momentaufnahmen aus zweieinhalb Jahrhunderten, eine Rezeptionsge­schichte in 78 kurzen Feuilletons“, wie Holger Noltze im Vorwort des schmalen, nur 176 Seiten umfassenden Buches schreibt.

Viele Bücher sind im Gedenkjahr des 250. Geburtstages des Komponisten erschienen (zu schweigen von CD-Veröffentlichungen), Gecks Buch zieht gewissermaßen eine Summe seiner Erkenntnisse über jenes komponierende Phänomen, dessen Musik er nie müde wurde zu hören. Aber Geck lässt andere für sich sprechen. Diese Vielfalt der Beethoven- Charakterisie­rungen ist es, die vielleicht das Wesentliche erschließt.  Jede dieser subjektiven Äußerungen, die zusammengenommen den Mythos Beethoven umreißen, kommentiert Geck mit souveräner Sachkenntnis, wissenschaftlich profund, nicht selten mit Witz, Ironie und Humor. Was für Gecks Schreiben über Musik und Musiker gilt zeigt sich in ihnen: „immer auf eine Balance der analytischen Befunde und der biographischen oder emotionalen oder psychologischen ‚Betroffenheit‘ um das schwer korrumpierte Wort hier einmal zu sagen“ bemüht. Holger Noltze hat völlig Recht.

Geck stand der Musikwissenschaft immer skeptisch gegenüber, hat all jenen stets misstraut, die sich im Besitz der Wahrheit fühlten, hat sich positiv von den meisten seiner Kollegen abgehoben. Deshalb versucht er in seinen Büchern auch gar nicht erst, das „Genie“ oder den „Titan“ verständlich zu machen, er vertraut eher dem Werk: „Beethoven beschränkt sich nicht darauf, innerhalb seines eigenen Systems immer Freiräume aufzutun und somit dieses System beständig an seine Grenzen zu führen: vielmehr vermag er das Moment subjektiver Freiheit seinem eigenen System beständig entgegenzusetzen.“ Das schreibt Geck ausgerechnet als Kommentar auf Adornos Beethoven-Fragment.  Einer von vielen Kommen­taren Gecks. Die Liste der Beethoven-Bewunderer wie -Kritiker ist lang, die er für sein Buch ausgewählt hat, es sind vergessene, aber auch prominente Namen. Goethe, Clara Wieck, Schumann, Berlioz, Heine, Nietzsche, Tolstoi, Debussy, Richard Wagner, Furtwängler, Glenn Gould, Marcel Proust, Hanns Eisler, Friedrich Nietzsche, Stalin, Becket, Thomas Mann… Ein Panorama begeisterter, ja hymnischer, aber auch verächtlicher, überraschender und skurriler Beethoven-Deutungen.

So urteilte beispielsweise der Berliner Kritiker Ernst Woldemar (Pseudonym für Heinrich Herrmann), Zeitgenosse von Carl Maria von Weber: „Allein ob sich ein Mann von ebenso reicher wie exzentrischer Einbildungskraft wie Beethoven, dermaßen in düstere, leere, trockene, plan- und geschmacklose Spekulationen – mit der schönsten der Künste – mit der Musik, verliert, dass man nicht bloß das Ruder des allgemeinen gesunden Menschensinnes, sondern selbst das seines eigenen früheren Verstandes darin vermisst.“

Der Gelehrte und Freigeist Wolfgang Robert Griepenkerl schrieb 1838 in seiner Novelle „Das Musikfest oder die Beethovener“ vom „ersten Feldgeschrei jenes Ereignisses“, der Juli-Revolution, und bescheinigte Beethovens Sinfonien ein „Stück Völkerwanderung, ein Stück Kreuzzüge, ein Stück Reformation, ein tüchtig Quantum französische Revolution mit einem ganzen Napoleon, vor allem aber einem Teufel“.

Noch der Musiktheoretiker August Halm schrieb in seinem Buch „Von zwei Kulturen der Musik“ (1920) über Beethoven: Wir „finden in seiner Sprache viel Schädliches“.

Alfred Rosenberg, Chefideologe der Nationalsozialisten, verkündete in seinem Buch „Blut und Ehre“ (Reden und Aufsätze 191.-1939) „Wir leben heute in der Eroica des deutschen Volkes“, und orakelte „dass der Deutsche Beethoven über alle Völker des Abendlands hinausragt und den besten unter ihnen als ein Zentrum echter Schöpferkraft gilt.“

Lange nach der dümmlichen wie anmaßenden Beethovenvereinnahmung der Nationalsozialisten, im Jahre 2006, holte der psychoanalytisch geschulte, slowenische Philosoph Slavoj Žižek noch einmal zu einem Tiefschlag aus und bescheinigte Beethoven in seinem Buch „Paralaxe“ ein „lächerliches Getue“, ein „hysterisches Herumfuchteln, das durchblicken lässt, dass hier ein Hochstapler am Werk ist.“

Der Autor: Dieter David Scholz ist renomierter Musikjournalist und Autor zahlreicher Bücher über musikalische Themen/ operacomique

Der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke beschließt mit seinen Anmerkungen zu Beethoven das Buch. Nach eingehender musikalischer Analyse schreibt er über das Ende der siebten Sinfonie ,,da würden „wie nach einem Bombeneinschlag zerstreute Trümmer zusammenge­sucht“.  Der Kommentar Martin Gecks dazu: „Er ist beim Schreiben über Musik nicht nur seinem Gegenstand in Klang und Partitur nahe, sondern auch seinem eigenen Erlebnis“.  Das ist der wohl persönlichste Kommentar Gecks und so etwas wie ein Selbstbekenntnis. Man denkt an Gecks großartiges Wagnerbuch von 2010, in dem man liest „Diskurse sind Sprachspiele zu bestimmten Themen – interesse­geleitet, unabgeschlossen. Und das Wort ‚Sprachspiel‘ besagt: Es hat keinen Sinn, zwischen Wahrheit oder Lüge, Recht oder Unrecht, Richtig oder Falsch unterscheiden zu wollen.“ Ebenso wenig wie Wagner will Geck Beethoven „auf die Schliche kommen“, in beiden Fällen versteht er sich „nur“ als „Dolmetscher“. Ach, gäbe es doch mehr solcher Dolmetscher! (Rowohlt Tschenbuch, 9. überarbeitete Ausgabe, 178 S.,ISBN 978-3-499-50645-1, auch als e-book) ,  Dieter-David Scholz