Entdeckung

 

Von den drei möglichen Schlüssen für Charles Gounods in Frankreich selten, in Deutschland fast nie gespielte Oper Mireille haben sich der Dirigent Marc Minkowski und Regisseur Nicolas Joel den operngemäßesten ausgesucht. Die Titelheldin wird trotz aller Widerstände weder mit ihrem Korbflechter Vincent glücklich vermählt, noch sterben beide voneinander getrennt, er am Fluss der Rhone vom Rivalen niedergestreckt, sie entkräftet und verdurstend auf ihrer Wallfahrt zur Eglise des Saintes-Maries. Stattdessen treffen die beiden Liebenden, so wie sie es einander versprochen hatten, wieder am heiligen Ort aufeinander, können einander sich ihrer ewigen Liebe versichern, ehe Mireille zu Füßen des Heiligenbilds das Zeitliche segnet. Mit dieser Entscheidung folgen Minkowski und Joel der von Michel Plasson, der 1979 mit Mirella Freni, Alain Vanzo und José van Dam das Werk aufgenommen hatte. (Vorher gab es es eine ganze Reihe von nationalbesetzten Aufnahmen  – Renée Doria, Andrée Esposito, Danielle Borst und manche andere Titelsängerinnen bestätigen die Popularität der Oper in Frankreich) Happy end oder nicht war nicht das einzige Problem, mit dem sich Gounod auseinander zu setzen hatte, sondern auch mit seiner Primadonna, die trotz des dem entgegenstehenden Charakters der Figur sich für die Mireille eine Bravourarie wünschte, auch sonst einiges an ihrer Partie auszusetzen hatte. Das fünfaktige Werk erfordert sieben unterschiedliche Schauplätze, Bühnenbildner Ezio Frigerio lässt den des ersten Bilds, ein Kornfeld in einer provencalischen Landschaft, mehrfach verwenden, was dem wunderbar attraktiven Eindruck von Gemälden in Van-Gogh-Nähe keinerlei Abbruch tut. Was wohl Gounod bei seinem langen Aufenthalt in Saint Remy vor Augen hatte, als er sich mit Mistrals Poem Mirèio auseinandersetzte, findet sich nun auf der Bühne der Opéra National von Paris wieder, sonnendurchglüht und passend zu den vielen Melodien und Tänzen, die von der Volksmusik der Region inspiriert wurden.  Wunderschön sind auch die Kostüme von Franca Squarciapino, raffiniert die Lichtregie, so am nächtlichen Rhone-Ufer, von Vinicio Cheli. Die Choreographie von Patrick Ségot hat nichts Tümelndes an sich, sondern ist perfekt ins Geschehen integriert.

Inva Mula, bis vor einigen Jahren sehr gut im Geschäft vor allem in Frankreich und immer eher überzeugend in den braven, als den heroischen Partien, ist eine sehr gute Mireille mit feinem Glockenton und sehr glaubwürdig sogar in der heiklen Schlussszene. Ihre große Arie im zweiten Akt verlangt ihr viel ab, und sie meistert sie als rührende Klage souverän. Der schmuckste Vincent, den man sich denken kann, ist Charles Castronovo, damals (September 2009)  noch ein schmaler Jüngling, der den leidenschaftlichen Korbflechter nicht nur bewundernswert spielt, sondern mit dunklem Ton auch sehr berührend singt. Angemessen rau und präpotent singt Franck Ferrari den Alfio-nahen Ourrias, nobel klingt der Maitre Ambroise von Nicolas Cavallier, würdig, wenn er  nicht gerade mit einem markigen Fluch gegen die aufmüpfige Tochter die Contenance verliert, ist Alain Vernhes als Maitre Ramon. Rührend ist die Schwester Vincents mit dem passenden Namen Vincenette, die von Anne-Catherine Gillet mit zarter Entschlossenheit gesungen wird. Andächtig macht das gemeinsame Gebet mit Mireille. Nach schütterem Beginn wird Sylvie Brunet zunehmend souveräner und bühnenbeherrschender in der Rolle der geheimnisvollen Taven.

Mark Minkowski lässt die Musik so schwungvoll, so frisch und so zu Herzen gehend erklingen, dass man nur empfehlen kann: Wer Mireille noch nicht kennt, sollte sie durch diese Blu-ray kennen lernen (Naxos NBDO126V). Ingrid Wanja