Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Roussets Verführungskünste

 

Die Geschichte der Königin und Zauberin Armida wurde in der Historie der Oper mehrfach vertont – man denke an die Werke von Lully, Gluck, Rossini, Haydn und Dvorák. Nun erweitert APARTÉ diese Liste um ein weiteres, gänzlich unbekanntes Werk mit diesem Titel –  Antonio Salieris Dramma per musica – und bringt es auf zwei CDs als Weltpremiere heraus (AP244 in eleganter Ausstattung). Die Aufnahme entstand im Juli 2020 in Paris.

Salieris Oper auf ein Libretto von Marco Coltellini wurde 1771 im Wiener Burgtheater erfolgreich uraufgeführt. In den Hauptrollen der Armida und des Kreuzritters Rinaldo wirkten die Sopranistin Catharina Schindler und der Kastrat Giuseppe Millico in der Hosenrolle mit. Beider Weggang aus Wien verhinderte dann eine Wiederaufnahme, doch fand  das Werk schnell auch ein begeistertes Publikum in Kopenhagen, St. Petersburg und Hamburg.

Die Solisten der APARTÉ-Aufnahme sind hierzulande weniger bekannt. Einzig die Mezzosopranistin Teresa Iervolino in der Partie von Armidas Vertrauter Ismene ist auch in unseren Breiten ein Begriff. Pesaro und Salzburg erprobt, nimmt ihre reich timbrierte Stimme in den Arien für sich ein und erzielt auch die nötige Aufmerksamkeit in den expressiv vorgetragenen Rezitativen.

In der Titelrolle ist die Sopranistin Lenneke Ruiten zu hören – ein dunkel getönter Sopran mit starkem Nachdruck in ihren Gesangsnummern, wie in der Arie „Tremo, bell’ idol mio“ zu vernehmen ist. Auch in der von starker innerer Erregung geprägten  Arie im 2. Akt, „Ah mi tolga almen la vita“, zeichnet sie den Zustand der Figur plastisch, lässt aber auch forcierte Spitzentöne hören. Mit der Arie „Io con voi la nera face“ beendet sie die Oper in Verzweiflung und rasendem Zorn. Die Sängerin riskiert hier eine stimmliche Überforderung durch die extreme Dramatik, mit der sie die Nummer angeht, was aber den Effekt nicht verfehlt.

Den Rinaldo gibt die Sopranistin Florie Valiquette mit hellerem, lieblichem Stimmklang, den man nicht unbedingt mit einer Hosenrolle assoziieren würde. Mit der stürmischen, an Koloraturen reichen Arie „Vedo l’abisso orrendo“ beendet der Kreuzritter den 2. Akt.

Beide Soprane haben ihren ersten Auftritt zu Beginn des 2. Aktes in ihrem Duett „Qui’l regno è del contento“, in welchem sie sich ihrer Liebe versichern. Die Stimmen verblenden sich in perfekter Harmonie und sind auch versiert in der Koloraturtechnik. Die Stimmen vereinen sich auch im 2. Akt zu einem Duett („Dilegua il tuotimore“), das zunächst lyrisch-empfindsam tönt und im Schlussteil an Fahrt aufnimmt. An Grenzen stoßen sie im Terzett des 3. Aktes mit Ubaldo, „Strappami il cuor dal seno“.

Der Bariton Ashley Riches komplettiert die Besetzung als Kreuzritter Ubaldo mit viriler, energischer Stimme. Die Arie am Ende des 1. Aktes, „Finta larva“, besitzt starken Nachdruck, die im 2., „Come in un momento“, auftrumpfende Vehemenz. „Torna schiavo infelice“ im 3. Akt offenbart Mühen mit der Bewältigung der Verzierungen.

Ihre Meriten empfängt die Einspielung durch die Mitwirkung des renommierten Ensembles Les Talens Lyriques unter seinem Leiter Christophe Rousset, der die Musik in ihrer Vielfalt hinreißend auffächert. Schon bei der Sinfonia erzeugt er eine enorme Spannung durch ein reiches Farbspektrum und die pulsierende Dramatik. Kontrastierende Effekte erzielt er in den  Ballettmusiken, welche eine galante, graziöse Stimmung einbringen. In den zahlreichen Chorszenen, die in ihrem kantablen Melos nicht selten an Gluck erinnern, überzeugt der Choeur de chambre de Namur (Thibaut Lenaerts) mit klangvollem und expressivem Gesang. Wunderbar die Einleitung zum 3. Akt, welche Rousset mit düster-fahlen Farben ausmalt und der Chor mit ernsten Tönen das prophetische „Chi sorde vi rende“ anstimmt. Bernd Hoppe

Anita Cerquetti

 

Anita Cerquetti  – was für eine wunderbare Sängerin und Frau. Ganz unverstellt: Es gibt zwei Sängerinnen, deren Kunst und Stimme ich verfallen bin – Anita Cerquetti und Sena Jurinac(Pace: auch Maria Callas, aber eher vom Intellekt als von der rein emotionalen Anrührung her, davon später) Das sagt vielleicht mehr über mein Alter und meine musikalische Lernstrecke als über Objektivität und mein journalistisches Credo, aber wenn ich zu einer „Geliebten Stimme“ befragt würde, wären es diese beiden, die ich spontan nennen könnte. Namentlich die Cerquetti-Norma ist von solcher Kraft und majestätischen Würde, dass ich diese sogar über die in ihrem unvergleichlichen, interpretativen Willen natürlich einzigartigen Callas-Dokumente stellen würde. Die strömende Würde, die hohe Menschlichkeit, die Unangefochtenheit der vokalen Mittel – all das paart sich mit der blühenden Schönheit des Tons, der Großzügigkeit der Kommunikation. Dem unmittelbaren Eindringen in meine Seele.

Anita Cerquetti Mitte der 80er/ Azzali

Für mich ist sie die ideale Norma (wie man auf den Dokumenten aus Rom vor allem neben einem strahlenden Corelli und auf technisch schwierigeren aus Neapel nachhören kann). Die Fülle des Tons, dieses Gestalten nur aus der Musik heraus, die Würde der bedeutsamen, aber sich nicht selbstständig machenden Deklamation, dieses instinktive Wissen um Betonung und vor allem das Rezitativ – das findet man fast nur bei ihr. Eine Spinto-Stimme des großen Zuschnitts ohne die veristischen Momente einer Caniglia. Und ihre Gioconda: ebenfalls von tiefer Würde, von Kommunikation aus der Vorgabe der Musik heraus. Keine wie sie (vielleicht noch die Jurinac im anderen Fach) hat das so vorgelebt. Ihre Dokumente sind einigermaßen zahlreich, zum Teil (wie die Abengeraci vom Theater selbst aus Florenz soger erstaunlich, Don Carlo und Forza, Mosé und  Oberon sehr anständig bei den verschiedenen Firmen. Aber die Krönung bleibt die Norma – ein glorioses Dokument einer großen Künstlerin und der gesungenen Menschlichkeit.

Ich hatte das ganz große Glück, sie noch vor ihrem Tod zu erleben – sie empfing mich in ihrer kleinen, engen Wohnung im römischen Olympiaviertel EUR, wo neben der Wäsche die Nachbarn aus dem Fenster hingen und lautstark unseren Besuch kommententierten („Anita, sono i giornalisti…!“, „Ma guarda, Tedeschi!“), und wo sie raumverdrängend präsidierte, die starke Physis mit einem unvergleichlichen, majestätischen Gesicht krönend, schüchtern zu Beginn, dann mit tiefer Stimme aus dem dto. tiefen Nähkästchen ihrer Erinnerungen Anekdoten und auch ein bisschen Tratsch holend („Tutto era tanti anni fa… quelle memorie“).

Anita Cerquetti/ OBA

Ich werde diese Begegnung bei Wein und Gebäck nicht vergessen. kann mich an ihren Mann nur dunkel erinnern, aber er muss noch gelebt haben und war sicher dabei. Ich hatte mein Aufnahmegerät nicht dabei, wollte das  Gespräch nicht so „kommerzialisieren“. Und das kam auch nur durch Zufall durch meine Freundin Mietta Sighele zustande, die ja in Rom wohnte und deren Mann in der römischen Oper gerade Rossini sang. Beide waren mit der Cerquetti befreundet und wussten von meiner tiefen Bewunderung zu ihr. Eine Überraschung also, eine unvergessliche und mir kostbare.

Und da wir bei operalounge.de beschlossen haben, in dieser Serie „Meine geliebte Stimme“ unserer ungezügelten Adoration freien Lauf zu lassen, gibt es nun ein auch historisches Interview mit dieser in jeder Hinsicht großen Frau von 1995, das unsere Kollegin Gina Guandalini in Rom mit der Cerquetti gemacht und uns liebenswürdiger Weise überlassen hat. Die Cerquetti wurde am 13. April 1931 in Montecosaro/Macerata  geboren und lebte in Rom, nach ihrer Karriere zurückgezogen, aber unvergessen. Sie starb am 11. Oktober 2014 im Alter von 83 Jahren in Perugia. Diese Hommage an sie ist ein Zeichen unserer Dankbarkeit an sie als Künstlerin, als Monument wunderbaren Gesangs und als hinreißende Frau voller Humor und Güte. G. H.

 

Anita Cerquetti mit Ehemann Elio Feretti/ Trovato/Azzali

Nun also Anita Cerquetti und O-Ton: Heute unterrichte ich, reise herum, halte Bühnen- und Meisterklassen ab, bekomme Preise und Anerkennungen überreicht. Ich nehme an Jurys von Gesangswettbewerben teil, aber jetzt nur noch auf nationaler Basis. 1987 war ich in der Jury des Rosa­-Ponselle-Wettbewerbs in New York, und sie luden mich für das kommende Jahr wieder ein, aber ich fand das einfach zu weit zum Reisen. Im letzten Jahr machte ich einen Film mit Werner Schröter mit dem französischen Titel Poussieres d’amour („Staub der Liebe“, auf DVD erhältlich).  Werner beteuerte mir immer, dass es in seinem Leben nur zwei Lieben gibt, die Callas und Anita! Ich habe unseren Film noch nicht gesehen, ein  Kritiker  schrieb, dass der eigentliche Titel Anita Cerquetti “ lauten sollte. Abgesehen davon: Ich bin kein unruhiger Geist und bleibe lieber zu Hause bei meinem Mann und meiner Tochter.

Stimmen: Wenn Sie mich nach den heutigen Stimmen fragen – ob sie nun vorhanden  sind oder  nicht -, dann finde  ich das ein sehr komplexes Thema. Ich denke, dass die Stimmen zu verschiedenen Zeiten verschieden üppig ausfallen.  Es gibt Epochen  mit besonders vielen Dichtern und Musikern, und es gibt unfruchtbare, tote, wo sich nur geringe  künstlerische  Schaffenskraft  findet, und das bisschen, das es dann gibt, ist substanzlos  und nur unzureichend  zu  einer künstlerischen Vollendung geführt. Die Lehrer sind dann schlecht, die Schüler oft auch.

Anita Cerquetti als Norma 1963 mit Widmung/ OBA

Ich betone  immer,  dass  man  am  Anfang Demut braucht, und viel davon. Heutzutage existiert „Demut“ gar nicht. Diese Kinder gewinnen Wettbewerbe  und glauben, dass  sie es dann  „geschafft“  haben, während sie doch in Wirklichkeit nicht einmal mit der  harten Arbeit angefangen  haben. Sie sollten bescheiden genug sein, auf den Rat anderer zu hören, andere Künstler zu erleben und diese nicht zu imitieren. Jemanden nachzumachen stellt sich als der schlimmste Fehler überhaupt heraus, wissen Sie. Und sobald ich merke, dass meine Schüler nicht auf Ratschläge hören, lasse ich sie fallen .

Im Wesentlichen unterrichte ich Bässe, Baritone. Eben nicht nur die Mädchen. Sie sind alle ziemlich viel älter, als wir damals zu Beginn waren. Heute verbringen sie fünf Jahre am Konservatorium – reine Zeitverschwendung, meiner Meinung nach. Und wenn sie das hinter sich haben, geht alles noch mal von vorne los. Sie müssen einen Korrepetitor finden, um  die Partituren zu lernen usw. Viele Soprane kommen zu mir und imitieren die Callas.  Aber warum nur? Sie hatte einen so besonderen, faszinierenden Ton, sie war zudem in der Lage, ihre Unzulänglichkeiten in ganz besondere Qualitäten zu verwandeln. Aber die, die sie imitieren, können ja  nur die Aspekte der negativen Jahre am Konservatorium betonen und machen sich so einfach lächerlich. Nein, die Callas war einzigartig.

Das ultimative Buch über Anita Cerquetti gibt es im Azzali-Verlag von Elio Trovato, voll mit schönen Fotos und seriöser Berichterstattung, leider ohne ISBN, aber noch bei Bongiovanni und anderen zu haben

Erinnerungen: Aber ich war so unerfahren und grün damals! Ich hatte ja nie zuvor eine Oper gesehen! Die Aida in Spoleto war die erste überhaupt für mich. Danach machte ich bei anderen Wettbewerben mit, bei der RAI in Mailand im Trovatore, und bekam als Preis ein Konzert im Radio. Dann begann ich mit Tourneen in Italien, und diese Erfahrungen waren absolut unerlässlich. Die alten Maestri, die Dirigenten, waren für uns von unschätzbarem Wert, denn sie gaben einem alles; sie sangen ganze Rollen vor, um ihre verschiedenen Gestaltungs-Vorschläge zu demonstrieren. Ich erinnere  mich mit besonderer Wärme an Tullio Serafin, der für mich sogar seine Anweisungen niederschrieb. Ich versuchte eben, so viel wie möglich von allen zu absorbieren, zu lernen, Ratschläge anzunehmen. Heute sind die  Dirigenten nur noch am Orchester interessiert – die Sänger kommen erst ganz zum Schluss.

Manche Begegnungen waren schöne als andere, aber an wirkliche Schrecken kann ich mich nicht erinnern. Mitropoulos, was für ein Musiker! Wie sein Orchester mich im Ernani begleitete – ich erinnere mich an seinen Zeigefinger, der das Tempo angab, er dirigierte ohne Stock. „Wofür brauche ich den?, sagte er, Ich habe zehn Taktstöcke!“ Ich war aber auch eine disziplinierte Sängerin, und man arbeitete gut mit mir. Meine Einstellung war stets die, dass man alles einstecken musste, auch Kritik.

In Chicago erinnert man sich besonders liebevoll an mich, ich hatte dort ein wunderbares Debüt und fühlte mich wie zu Hause. Damals war Carol Fox Direktorin dort, Tito Gobbi und Boris Christoff auch. Ich sang Ballo und Don Carlo mit Bergonzi und Björling! Publikum und Presse waren enthusiastisch, man verglich uns mit der Ponselle und Caruso. Die Ponselle hörte mich im Radio und hinterließ mir nach ihrem Tod eine herrliche Brosche mit den Initialen R. P. und der Anweisung, dass ich in der Jury des von ihr gegründeten Wettbewerbs sitzen sollte. Während meines ersten Aufenthaltes mochte ich das Essen dort nicht, also nahmen mein Mann und ich im folgenden Jahr alle diese wunderbaren italienischen Sachen mit: Spaghetti, Parmesan, Olivenöl, na, Sie wissen schon. Nicola Rossi Lemeni, der ein enger Freund von  uns  und ein sehr kultivierter, intellektueller  Mann war, amüsierte sich erst darüber, aber dann roch er meinen selbstgemachten sugo und lud sich selbst zum Essen bei uns ein …

Gianni Poggi: Enzo neben Cerquettis Gioconda in Florenz/Trovato/ Azzali

Rollen: Ich liebte immer Verdi – tutto! Alles und jedes von Verdi. Ich begann mit Aida, und Verdi ist mein Favorit geblieben. Und dann diese starken, komplexen Rollen – Norma! Ich liebe auch die Gioconda (aber ich hätte sie noch mehr geliebt, hätte Verdi sie geschrieben). Leider habe ich nichts von Donizetti  gesungen, das  bedaure  ich. Mario Missiroli, der damalige Direttore Artistico der Arena di Verona, schickte mir einen Blankovertrag für die Turandot – ich hätte die Gage, den Dirigenten und alles andere bestimmen können. Aber ich liebte diese kalte, undankbare Rolle nicht und sprach darüber mit Bergonzi, der meinte: Ich glaube nicht, dass Du eine Turandot bist, und ich glaube auch nicht, dass sie viel zu Deiner Karriere beitragen würde.“ Karajan wollte mich als seine lsolde (!!!), und ich hätte sie gerne in Italienisch gesungen. Denn ich muss einfach jedes einzige Wort, das ich singe, verstehen, nicht nur die allgemeine Bedeutung der Wörter im Libretto – wie  hätte ich das je  auf Deutsch lernen können. Ich spreche kein Deutsch und für uns Italiener ist es ja fast unmöglich, das akzentfrei zu singen. Also wurde nichts daraus. Serafin wollte mich auch als Violetta, er bestand absolut darauf. Und es war mir sehr unangenehm, ihm absagen zu müssen. Ich sagte, ich sei physisch zu gewaltig und szenisch ungeeignet. Serafin konterte: Er würde nur voluminöse Sänger neben mir engagieren. Und ich sagte, ich würde darüber nachdenken. Aber es wurde nichts daraus, und das tut mir heute leid.

Das originale LP-Cover neben der späteren Gioconda, die sie hier im Kostüm zeigt, der ersten und einzigen offiziellen Cerquetti-Decca-LP/OBA

Zumindest hätte ich die Traviata für die Schallplatte aufnehmen sollen. Aber die Carmen und Violetta lehnte ich zumindest nicht aus stimmlichen Gründen ab. Dokumente: Meine Beziehung zu den Aufnahmestudios ist schnell erzählt (Decca nahm mit mir ein Arien-Programm/nun bei Preiser und die Gioconda auf). Zu meiner Zeit musste man erst einmal berühmt sein, um Schallplatten-Angebote zu bekommen. Heute ist es anders herum. Und ich selber ziehe Live-Aufnahmen vor – sie sind echterauthentischer.  Außerhalb Italiens gibt es einen großen Markt für meine eigenen Live MitschnitteErnaniMosèForzaTellDon CarloNormaVespriBallo, verschiedene Konzerte – ich glaube, meine Stimme ist ganz gut repräsentiert. Und da gibt es auch noch den Oberon für die RAi mit ganz gutem Klang. (Ein Blick zu jpc und zu Amazon zeigt, was noch auf dem Markt ist, seitdem die Live-Firmen verschwunden sind. Redaktion Geerd Heinsen)

 

 

 

 

West-östlicher Divan

 

Ein für westeuropäische ungewohntes Bild bietet das Cover der ersten CD von Fatma Said, einer ägyptischen Sängerin, die an der Berliner Hanns-Eisler-Hochschule ausgebildet wurde, denn neben dem Namenszug der Sängerin finden sich, wohl als Titel gedacht, ein El Nour, was so viel wie Guten Morgen heißt, und ein arabischer Schriftzug, der wahrscheinlich dasselbe meint. Einen Track des gleichen Wortlauts gibt es auf der CD zwar nicht, aber der Hörer kann sich der Vorstellung hingeben, eine junge Künstlerin begrüße ihn frohen Mutes als Teil eines zukünftigen Publikums, dessen eine Gruppe wohl aus dem arabischen Raum stammen sollte, denn auch das Booklet und die Übersetzungen der Liedtexte berücksichtigen ein Publikum aus dem Morgenland.

Das Booklet spart denn auch nicht mit lobenden Attributen für das Unternehmen, wenn gleich in den ersten Zeilen des informationsreichen Artikels Vokabeln wie „Offenbarung“, „ungeheuer talentiert“, „denkwürdig“, „charismatisch“,“ virtuos“ und „außergewöhnlich“ auftauchen und den Leser fast einschüchtern. „Auf eine frische Art“ will die CD westliche und nahöstliche Musik präsentieren, die „erweitert“ wurde durch „Elemente, die uns stimmig erschienen“. Damit ist vor allem die Begleitung der  mehr oder weniger orientalische Themen benutzenden Werke europäischer Komponisten durch orientalische Instrumente wie Ney oder Kanun gemeint, die ihnen ein zusätzliches orientalisches Flair verleiht.

Fatma Said findet gleichermaßen in ihrem modischen Stil, einem Mix aus orientalischem Schmuck und westlicher Abendrobe, wie in der Art ihres Singens zu einem gelungenen Ausgleich zwischen ausgebildeter Opernstimme und volksliednahem Ton, dort wo er sich anbietet.

Es beginnt mit Ravels Shéhérazade, di sich in zart flirrendem Klang äußert, sich flexibel bewegt zwischen einer gut ausgebildeten Mittellage und einer Höhe, die wohl absichtlich stellenweise leicht gepresst klingt, scharf bis schneidend werden kann. Im zweiten Beitrag innerhalb des kleinen Zyklus gibt es ein reizvolles Wechselspiel zwischen Stimme und Flöte, lasziv verführerisch wird im abschließenden Track die Mittellage eingesetzt.

In De Fallas Schwarze Augen preisendem Chanson wiegt sich die Stimme herausfordernd auf der Begleitung durch Burcu Karadag, verspielt unterschiedliche Farben annehmend, nimmt sie sich Serranos Zarzuela “Marinela, Marinela“ an, und BerliozZaide klingt gewollt fremdartig, wenn sie nicht mit aufblühender, sondern scharf werdender Stimme in die Höhe klettert. Philippe Gaubert komponierte Le Repos en Égypte, während derer die Sängerin „l’air bleu“ wie einen sanften Hauch erscheinen lässt.

Aus den Canciones espanolas antiguas  von Garcia Lorca stammen die folgenden Stücke, für die der Sopran sich herb, auch stellenweise scharf gibt, gut mit der Gitarre von Rafael Aguirre korrespondiert und mit natürlich wirkendem, nie aufgesetztem Temperament zu agieren scheint.

Purer Übermut kennzeichnet die Interpretation von Abdel-Rahims Beitrag, geschmeidig verführerisch klingt Bizets Adieux de l’hotesse arabe, und es kommt einem der Klang von Jodeln in den Sinn, wenn man sich „dem Geheimnis der Unvergänglichkeit“ zuwendet, ehe die Schöne Frau, Lebhafte Nächte und eine Weiße Taube verzaubern können. Mit ihnen entfernt sich natürlich die Sängerin weit vom europäischen Opernrepertoire, so dass man ein Urteil über ihren Standort in demselben nicht fällen mag, sie am ehesten sich als Despina, Zerlina u. ä. vorstellen kann (Warner Classics 0190295233600). Ingrid Wanja

Unbekannte Lieder eines Kosmopoliten

 

Giacomo Meyerbeer (1791-1864) zählt neben Berlioz, Liszt und Wagner zu den innovativsten und erfolgreichsten Kompo­nisten des 19. Jahrhunderts und gilt als Meister der Grand Opera. Der in der Nähe von Berlin erstgeborene Sohn eines weltoffenen, aufgeklärten und tole­ranten Elternhauses erhält wie alle seine drei Brüder eine fundierte künstlerisch­-wissenschaftliche Ausbildung – Ausdruck einer mehr und mehr erstarkenden jü­dischen Bildungsschicht, die sich zuse­hends in die bürgerliche Mitte integriert, ohne dabei das Entreebillet zur euro­päischen Kultur mittels eines Taufscheins (wie Heinrich Heine) zu bemüßigen. Meyer­beer bleibt zeitlebens ein zutiefst gläubi­ger, aber nicht orthodoxer Jude und erträgt die religiösen Ressentiments mit Stolz, Würde und Geduld. 1836 setzt er mit Les Huguenots dem religiös-ideologischen christlichen Fanatismus ein nachhaltiges Zeichen – aktuell bis in unsere Zeitrechung hinein. In Berlin wird er von Lauska, Zelter und B. A. Weber unterrichtet. Den letzten Schliff erhält er in Darmstadt in der musi­kalischen Schule des legendären Abbe Vogler. Entmutigt durch den (schwachen Erfolg seiner deutschen Opern Jephtas Gelübde (1812) und Alimelik (1814), er­wägt er vorrübergehend eine Karriere als Pianist.

Meyerbeer-Lieder-Autoren: Heinrich Heine (1797 – 1856/ Gemälde von Oppenheim/ Wiki-Commons)

Meyerbeer zählt zu den profiliertesten Klaviervirtuosen seiner Epoche. Auf Anraten Salieris durchstreift er Italien, sam­melt Volksweisen, studiert die italienische Melodie, wird von Rossinis Tancredi über­wältigt, reüssiert mit italienischen Opern und begibt sich in das musikalische Fahrwasser eines Mayr, Mercadante und Rossini. Mit eigenen Akzenten setzt er auf den Trend der Zeit und gibt dabei der Musik eine fortschrittliche Bewegung. Den Reigen seiner insgesamt sechs italienischen Opern eröffnet die 1817 in Padua aufge­führte Romilda e Costanza; der fulminate Erfolg der letzten Oper II Crociato in Egitto, von Meyerbeer 1824 in Venedig selbst in Szene gesetzt, gibt seinem Namen im internationalen Operngeschehen ein nicht mehr weg zu denkendes Gewicht und ebnet ihm den Weg nach Paris, der Kulturhauptstadt des 19. Jahrhunderts. 1831 katapultiert ihn Robert le Diable an die Spitze der europäischen Oper und über alle Grenzen hinaus. 1836 folgen die bereits erwähnten Les Huguenots, 1849 Le Prophete und posthum 1865 L’Africaine/ Vasco da Gama. Für die Opera comique entste­hen L’Etoile du Nord (1854) und Dinorah ou Le Pardon de Ploermel (1859). In sei­ner Eigenschaft als preußischer General­musikdirektor ist Meyerbeer ab 1842 für die repräsentativen Opernaufführungen und die gesamte Hofmusik verantwortlich.

Was sich bei Meyerbeer in seinen Opern als musikalisch kosmopolitischer Stil, als eine Verschmelzung italienischer, deut­scher und französischer Einflüsse bezeich­nen lässt, spiegelt sich auch als Abbild in der kleinen Form des Liedes wider. Etwa 83 Lieder, Romanzen und Melodies kom­poniert Meyerbeer zwischen 1810 und 1863.

In Frankreich dominiert zu Beginn des 19. Jahrhunderts die sentimentale, lei­denschaftliche wie dramatische Romanze. Die meisten waren einfach in Strophen­form konzipiert, schlichte Kadenzharmo­nik, selten Ausweichungen oder Modula­tionen. Das Klavier wurde zur bloßen Begleitung degradiert, genügte kaum einem pianistischen Anspruch, traf aber den Geschmack und die Möglichkeiten der aufblühenden Haus- und Salonmusik – verkümmerte Massenware.

Meyerbeer-Lieder-Autoren: Charloptte Birch-Pfeifer (1800 – 1869/ Wikipedia)

Meyerbeers Liedschaffen entspricht seinem Bestreben, sich quasi zwischen den Opern im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu hal­ten. Einen Kontrapunkt setzt er bewusst gegen die oberflächliche Salonmusik und die seichten Moderomanzen. Dabei hat er in Hector Berlioz einen – auch rheto­risch – sehr eloquenten wie versierten Unterstützer an seiner Seite. Beide suchen und experimentieren mit neuen Klang­qualitäten, die sich am Treffensten mit Musique characteristique bezeichnen las­sen. Der überaus große Erfolg seiner Romanzen und Lieder überraschte selbst Meyerbeer – er schien ins Wespennest der Zeit gestochen zu haben. Im Journal des debats, wo alle Kulturströmungen kontro­vers und mit großer Leidenschaft disku­tiert werden, feiert Berlioz besonders Meyerbeers Le Moine. Über die 1834 kom­ponierte biblische Romanze Rachel à Nephtali und Le Moine hat uns Meyerbeer ein ganz rares Dokument zu seinen ästhe­tischen Ansichten in einem Brief an den Liederkomponisten Wilhelm Speyer vom 28. Januar 1835 hinterlassen: »Erlauben Sie mir in beifolgender Rolle ein kleines musikalisches Neujahrsandenken beizufügen. Es ist so unbedeutend, wie Neujahrsandenken gewöhnlich sind, und soll auch nur meinen Namen ein wenig bei Ihnen auffrischen. Es sind zwei Roman­zen, welche ich kürzlich in Paris componirt habe, und die einige Sensation dort ge­macht haben, welches um so mehr zu ver­wundern ist, da sie in direkter feindseeliger Tendenz gegen die bis jetzt beliebten schmachtenden und duftenden Mode- Romanzen des Salons auftreten, da sie eine dramatische Grundidee und Localcouleur, natürlich in dem verjüngten Maaßstabe der kleinen Form auszuspre­chen suchen. Die Tendenz des zwischen Versuchung und Reue ringenden Mönch’s, spricht sich wie ich hoffe deut­lich genug aus [um] keines <…> ästheti­schen Commentars zu bedürfen. Nicht so vielleicht aber die biblische Romanze Rachel à Nephtali, wo die Farben vom Dichter so zart aufgetragen sind, daß auch ich nur andeuten durfte. Die Scham der jungen Jüdin, ihrem Schwager zu geste­hen, daß sie seine verbothene Liebe theilt, hält die <…> Gluth ihrer Leidenschaft zurück, die nur immer bei dem letzten Verse jedes Couplets („Pitiez, je suis ta soeur“) durchbricht. Ich habe daher dieses comprimirte Gefühl durch die sich stets behauptende kleine Baß-Figur auszu­drücken gesucht, und beim letzten Verse des jedesmaaligen Couplets wo die Gluth durchbricht, geht diese Baß-Figur in die Singstimme über. Leid thut es mir diese Romanze nicht 4/4 statts 2/4 geschrieben zu haben, da die Bewegung langsamer sein muß, als sie sich so geschrieben für’s Auge ausnimmt.«1

Meyerbeer-Lieder-Autoren: Bruder Michael Beer (hier in einem Stich von C. Vogel/ 1800 – 1833/ Wikipedia)

Die Texte seiner Lieder stammten von seinem Bruder Michael, Journalisten, Rechtsanwälten, Ministern, Librettisten und Dichtern. Von Heine stammen drei Textvorlagen, von Goethe eine. Wer von Meyerbeer vertont wurde, war sich einer ganz besonderen Auszeichnung bewusst, empfand sich musikalisch nobilitiert. In den Liedern offenbart sich eine pittoreske Vielfalt, grenzüberschreitend zwischen Keckheit, Sentimentalität und religiöser Meditation. Meyerbeer kostet dabei den Stimmenumfang der Sängerinnen und Sänger facettenreich und ausdrucks­voll aus, bis in kleinste Nuancen und Schattierungen hinein – von ganz banalen musikalischen Floskeln, über eine Tarantella oder einem Galopp bis hin zu locker-flockigen Walzerrhythmen; biswei­len sind es Opernszenen en minature, ein explizit hoher stimmtechnischer Standard, und der Komponist verlangt vom Auszuführenden Gestik wie Mimik. Wesentlichen Anteil am Stimmungsgehalt hat die Klavierbegleitung, nicht nur als Stütze des Sängers prägt sie das rhythmi­sche Profil und bestimmt das szenische Timbre. Im Gegensatz zum Kunstlied deut­scher Prägung verzichtet Meyerbeer auf Tonmalerei – die mitunter virtuose Klavier­stimme ist bei ihm Stimmungsmalerei.

1850 – also auf der Höhe seines Ruhmes – veröffentlicht Meyerbeer eine persönlich getroffene Auswahl seiner Lieder, wobei es dem Kosmopoliten wichtig erscheint, dass die Lieder alle mehrsprachig er­scheinen. Die Lieder der Aufnahmen mit Andrea Chudak und Andreas Schulz am Klavier (1-CD-BM 1439008) sind chronologisch geord­net, wobei die beiden geistlichen Lieder Gottergebenheit und Reue erstmals auf Tonträger erklingen.

 

Meyerbeer-Lieder mit Andrea Chudak, Julian Rohde, Tobias Hagge und Alexandra Rossmann (Klavier)/ Foto Alex Adler Eventphotography/ Bella Musica

Die darauffolgende Doppel-CD von 2019 (2-CD-Bella Musica Antes BM 319294) vereinigt 38 Liedkompositi­onen von Giacomo Meyerbeer und ist damit die bislang umfangreichste Sammlung von Aufnahmen dieser Art. Die Sopranistin Andrea Chudak setzt sich seit Jahren unermüdlich für die Wiederentdeckung des großen jü­disch-deutschen Komponisten ein. Intensiv recherchierte sie anhand unterschiedlicher musikwissenschaftlicher Quellen – wie den Meyerbeer-Tagebüchern oder Listen „verschollener Werke“ – und so gelang es ihr, die Autographen und Erstdrucke von 14 bislang als verschollen geltenden Vokalkompositionen aufzufinden. Sie konnte dabei auch auf wertvolle Mitarbeit eines Netzwerks von Meyerbeer-Forschern zurückgreifen; Fundorte gab es in verschiedenen Ländern, darunter Deutschland, England und Israel. Unter den neu aufgefundenen Wer­ken befinden sich wahre Schätze und Kuriositäten wie Meyerbeers A-Cappella-Einlage der Vroni und des Toni zum Schauspiel Der Goldbauer von der Bühnenautorin Charlotte Birch-Pfeiffer (1800-1868). Eine Sensation sind auch zwei Lieder auf Texte des dichtenden baye­rischen Königs Ludwig I. (1786-1868), dessen Bayeri­schen Schützenmarsch Meyerbeer 1829 als Kantate für Männerstimmen und Blechblasinstrumente vertonte. Wer auch immer von Meyerbeer vertont wurde, durfte sich mehr als nur geschmeichelt gefühlt haben: Es war eine Nobilitierung der besonderen Art und Weise.

 

Meyerbeer-Lieder-Autoren: Wolfgang Robert Griepenkerl (1810 – 1869/ Wikipedia)

Giacomo Meyerbeer (1791-1864) komponierte mehr als 100 Romanzen, Elegien, Lieder und Balladen. Sie erschienen in Einzeldrucken, Anthologien und Sammel­ausgaben, als musikalische Beigaben in Zeitschriften, Journalen und in Büchern. In den eleganten Salons der Rothschilds, eines Bankiers Fould, der legendären Ma­dame Merlin oder der Princesse Belgiojoso wurden viele dieser Lieder von den Stars der Opera inmitten einer illustren Gesellschaft vorgetragen, wo auch berühmte Kulturschaffende wie Heinrich Heine, Gioachino Rossi­ni, George Sand, Daniel-Francois-Esprit Auber, Frederic Chopin, Luigi Cherubini, Franz Liszt oder ein Alexandre Dumas verkehrten.

Etliche dieser Lieder hat Meyerbeer für bestimmte Sängerinnen und Sänger komponiert; so widmete er Le Moine dem Bassisten Nicolas-Prosper Levasseur, der 1831 die Partie des Bertram in Meyerbeers Robert le diable sang. Sogar Franz Liszt ließ es sich nicht nehmen, eine groß angelegte Paraphrase für das Klavier über Le Moine zu komponieren. 1850 veröffentlichte Meyerbeer in 40 Melodies eine Auswahl seiner Lieder in französischer, deutscher und italienischer Sprache – ein ungewöhnliches Zeugnis polyglotten Weltbürgertums im 19. Jahrhundert. Die Lieder Meyerbeers, die einen Kont­rapunkt zu den seichten und sentimentalen Salonroman­zen bildeten, erfuhren in Frankreich eine überwiegend positive Rezension und wurden besonders von Berlioz im Journal des debats begeistert besprochen. Doch es kam nicht von ungefähr, dass ihm deutsche Kritiker wie Lud­wig Rellstab seinen Kosmopolitismus und seine Internationalität vorwarfen. Weil Meyerbeer keine explizit deut­sche Musiksprache pflegte, wurde er als „Abtrünniger“ wahrgenommen, was sicher auch mit aufkeimenden na­tionalistischen Tendenzen und dem Antisemitismus in Zu­sammenhang steht.

Bis heute hat sich Deutschland nicht wirklich mit Meyerbeer versöhnt. Es gehörte zu seinem universalen Verständnis, dass er sich weder in seinen Opern noch in seinen melodies auf einen Stil festlegen ließ: Seine musikalischen Inspirationen und Eingebun­gen nährten sich aus der italienischen Kantilene, einer grundsoliden deutschen Harmonik mit Akkordrückungen, unvermittelten Tonartenwechseln, chromatischen Ein­würfen, einer ausgefeilten Rhythmik und natürlich der französischen Deklamation. Ausgehend von der Ganzheit einer Textvorlage war es für Meyerbeer selbstverständ­lich, die französischen, italienischen und deutschen Ge­dichte durch ein jeweils national-musikalisches Idiom zu charakterisieren. Jeder Vertonung schenkte er dabei eine eigene Individualität und experimentierte mit neuartigen Formen und Motiven. Darüber hinaus verlangte er Mimik, Gestik und eine leidenschaftliche Hingabe der Ausfüh­renden. Von der neckischen Liebelei bis hin zu Dramen à la miniature, von geistlichen Texten bis hin zur sentimen­talen Romanze – niemals verleugnete Meyerbeer dabei sein dramatisches Talent. Immerhin wurden die Lieder in den mondänen Salons aufgeführt und boten den aus­führenden Interpreten reichlich Gelegenheit, ihre stimm­lichen und darstellerischen Qualitäten unter Beweis zu stellen. Der Klavierpart ist dabei sehr anspruchsvoll, mitunter sehr virtuos. Im Gegensatz zum deutschen Lied im Sinne Schuberts und Schumanns ging es Meyerbeer primär nicht um Tonmalerei, sondern um Stimmungsma­lerei. Ihm war die Reflexion des Sujets wichtig, und er lotete die innere Stimmung der Lyrik bis ins Detail aus.

 

Meyerbeer-Lieder-Autoren: Auch König Ludwig I. (1786 – 1868, Gemälde von Kreul, ca. 1835/Wikipedia-Commons) gehört mit dazu.

Wie schon auf einer ersten CD-Ausgabe Andrea Chudaks Giacomo Meyerbeer – Lieder (Bella Musica Antes BM319294) wiederum in der Unterstützung durch Julian Rohder, Tobias Tagge und Alexandra Rossmann am Klavier sind die Lieder auch hier chronologisch geordnet, so dass Meyerbeers musikalische Entwicklung quasi hörbar wird. Welch eine Pluralität der Formen und des musikalischen Ausdrucks! Kein Lied gleicht dem anderen. Die Lieder erklingen in den Originalsprachen und mit den von Meyerbeer vor­gesehenen Stimmen von Sopran, Tenor und Bass. Unterschiedlichste Textdichter sind vertreten: Die Canzonetten auf Texte Pietro Metastasios (1698-1782) entstanden während der Lehrzeit Meyerbeers bei Georg Joseph Vog­ler in Darmstadt und versprühen mozartsche Anmut. Mo­zart, Gluck und Spontini gehörten zu den musikalischen Idealen und Vorbildern Giacomo Meyerbeers. Marceline Desbordes-Valmore (1786-1859) war eine der bedeu­tendsten französischen Lyrikerinnen des 19. Jahrhun­derts; Emilien Pacini (1811-1898) war Librettist und verfasste u. a. die französische Fassung von Carl Maria von Webers Freischütz und Verdis II trovatore; Charles- Hubert Millevoye (1782-1816) schrieb klassizistisch­romantische Dichtungen; Meyerbeer vertonte mehrere Gedichte seines Bruders Von Heinrich Heine (1797-1856) setzte Meyerbeer drei Gedichte in Töne; der Dichter und Dramatiker Henri Blaze de Bury (1813-1888) zählte zum näheren Bekann­tenkreis Meyerbeers; neben einigen Liedtexten, die von Meyerbeer vertont wurden, verfasste er das Schauspiel La jeunesse de Goethe, zu dem Meyerbeer die Schau­spielmusik komponierte (unveröffentlicht), 1865 pub­lizierte Henri Blaze de Bury eine recht authentische Biographie über Meyerbeer (Meyerbeer et ses temps). Wilhelm Müller (1794-1827) dichtete auch Schuberts Die schöne Müllerin und Die Winterreise, Wolfgang Robert Griepenkerl (1810-1868) gehörte zu den Mit­arbeitern der Neuen Zeitschrift für Musik, die Verfasser der Cavatine Ach dies Herz, des Aimez, der Canzonetta II nascere e il fiorire d’una rosa, der Arietta Soave ins­tante und des melancholischen Cantique du trappiste sind unbekannt. Johann Gabriel Seidl (1804-1875) war Archäologe, Lyriker und Dramatiker; Amadée-Edmond Thierry (1797-1873) wirkte als Bittschriftenberichterstatter im französischen Staatsrat und gehörte der Akademie der Künste an. Walter Scott (1771-1832) war Dichter, Schriftsteller und Literaturkritiker, und viele seiner Werke waren Grundlagen für Opernlibretti (unter anderem La donna del lago für Rossini und Lucia di Lammermoor für Donizetti). Der Komponist, Kritiker und Übersetzer Jean Maurice Bourges (1812-1881) gehörte zu den Mitarbeitern der Revue et Gazette musicale und übersetzte auch einige Lieder Meyerbeers. Crevel de Charlemagne (1807-1882) war Schriftsteller und wurde besonders mit seiner Biographie über den Komponisten Benedetto Marcello (1686-1739) bekannt.

Der Autor Thomas Kliche, renommierter Meyerbeer-Forscher und Initiator zahlreicher Veranstaltungen im Meyerbeer-Umkreis/Beck Verlag

Für Aylic Langles (1827-1870) Schauspiel Murillo ou la Corde de pendu komponierte Meyerbeer eine Ballade als musikalische Einlage. Ignaz Franz Castelli (1781-1862) gehörte zum engeren Freundeskreis Meyerbeers, er war Dichter und Dramatiker und verfasste u. a. das Libretto zu dem seinerzeit sehr populären Singspiel Die Schwei­zer Familie von Joseph Weigl. Pietro Beltrame (1817- 1849) war Politiker, Schriftsteller und Librettist von Opernlibretti (u. a. La fidanzata di Lammermoor von Al­berto Mazzucato (1813-1877) und publizierte 1847 eine viel beachtete Biographie über Vincenzo Bellini. Joseph Mery (1798-1866), ein Dichter und Satiriker, schrieb die schaurig-schöne Ballade Le revenant du vieux chäteau de Bade, die von Meyerbeer als ein melodramatisches Kabinettstück vertont wurde. Die Romanze der Erminia aus Das Hoffest von Ferrara (1843) nach einem Text von Ernst Raupach (1784-1852) ist interessant, da die Komposition mit Meyerbeers biblischer Romanze Rachel á Nephtali identisch ist, nur mit einem anderen Text. Ne­ben Le Moine zählte Rachel à Nephtali zu den Bravour­stücken der Salons. Nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen Liedern forderte Meyerbeer seinen Interpreten die gesamte Palette ihres Könnens ab, bei ihm steht der Mensch mit allen seinen Leidenschaften und Affekten im Fokus seines Interesses, nicht nur das Leben erschien ihm wie ein fortwährendes Drama. Thomas Kliche

 

 

Meyerbeer-Lieder: Andrea Chudak und Pianist Thomas Schulz/ Foto Alex Adler Evenphotographie/ Bella Musica

Andrea Chudak studierte an der Hoch­schule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin. Ein weiterführendes Studium absolvierte sie am Institut Musiktheater der Staat­lichen Hochschule für Musik Karlsruhe. Dem Liedgesang widmete sie sich in den Klassen von Eric Schneider und Wolfram Rieger. Sie besuchte zahlreiche Meister­kurse, u.a. bei Peter Schreier und Elisa­beth Schwarzkopf. Andrea Chudak erhielt mehrfach Preise bei nationalen und inter­nationalen Wettbewerben, u.a. beim Int. Emmy-Destinn-Gesangswettbewerb in Budweis. Seit dem Jahre 2001 ist sie an den Opernhäusern in Karlsruhe, Kaisers­lautern, Stuttgart, der Staatsoper Berlin und dem Theater an der Wien als Solistin tätig. Konzertverpflichtungen im In- und Ausland ließen sie mit vielen Orchestern und namhaften Dirigenten zusam­menarbeiten. Festivalerfahrungen sammel­te die Sopranistin u.a. 1998 beim Festival der Europäischen Musik im Meistersaal Berlin, 2000 beim Festival „Les Notes en Bulles“ Auray (Frankreich), bei der „Klangwerkstatt 2004 – dem Festival für Neue Musik Berlin“, beim Festival „Lied: Strahl 2007″ in Kempten, beim „Festival Schloss Britz“ in Berlin sowie beim Kleistfestival des Maxim-Gorki-Theaters 2011 in Berlin. Die CDs „Zwiegespräche“ (BM-CD319181), „Im Grase lieg ich“ (BM- CD 319254), „Max Doehlemann – Jacobs Traum“ (BM-CD319267) und „Carl Maria von Weber – Lieder“ (BM319280) doku­mentieren ihr künstlerisches Schaffen.

 

Dazu auch die Rezension von Michele Ferrari aus dem Jahr 2020: MEYERBEER IM SALON: Komponisten des 19. Jahrhunderts, die den Erfolg anstrebten, mussten sich doppelt beweisen. In erster Linie hatten sie natürlich das Theaterpublikum für sich zu gewinnen, dessen kapriziöser Geschmack die Tonsetzer unter einen ständigen, kaum auszuhaltenden Druck setzte. Dann aber galt es, die Salons zu erobern. Dafür schrieben die Herren Compositeurs Lieder und Romanzen, mit denen nicht nur die Sehnsüchte von stets gelangweilten und den Kick suchenden Bourgeois bedient wurden, sondern mit denen dank passender Widmungen vor allem Netzwerke aktiviert wurden, die für die Karriere lebenswichtig waren. Es waren Gelegenheitskompositionen, und die Gelegenheit bestand oft darin, die Unterstützung spendabler Gönner zu gewinnen. Giacomo Meyerbeer entzog sich diesem Zwang nicht, auch wenn er im Gegensatz zu seinen italienischen Konkurrenten einen Nachteil hatte: er war kein Schnellschreiber. Er schrieb trotzdem um die 100 Stück, wovon ungefähr die Hälfte auf den vorliegenden zwei CDs sowie einer schon 2014 erscheinen CD beim selben Label (Giacomo Meyerbeer, Lieder: A. Chudak, A. Schulz, Klavier, ANTES BM 319294) versammelt sind. Sie stammen aus allen Schaffungsepochen: man findet neben Canzonette italiane des 19jährigen auch deutsche Lieder (zwei hier zum ersten Male eingespielte auf Texte Ludwigs I. von Bayern) sowie Romances und eine 15minütige Ballade auf Französisch (die aber bis zum einem kurzen gesungenen Finale aus reiner Rezitation mit Klavier-Einsprengseln besteht) aus dem letzten Lebensabschnitt. Eine Besonderheit stellt „Komm!“ (CD 1, tr. 16) dar, dessen deutsch und französisch gesungener Text von Heinrich Heine und dem Bonner Johann Baptist Rousseau (1802-1867) stammt (ein erfolgloser Schreiberling, der sich Meyerbeers finanzielle Unterstützung erbat). Wenige Sänger haben sich dieser Petitessen angenommen. In Erinnerung ist etwa ein Rossini-Meyerbeer-Recital von Thomas Hampson aus dem Jahre 1992. Mehrere der hier vorgestellten Kompositionen wurden von der Sopranistin Andrea Chudak wieder entdeckt, was dieser Veröffentlichung einen sicheren Repertoire-Wert sichert. Und dadurch, dass Meyerbeer auf sehr unterschiedliche Vorlagen zurückgriff, entsteht beim Hören nicht die Langeweile, die man nicht selten bei Liederplatten empfindet. Andrea Chudak hinterlässt hier einen günstigeren Eindruck als auf ihrer Meyerbeer-Platte bei NAXOS, die in der OperaLounge schon besprochen wurde. Ihr matter, an Stellen unsteter Sopran wird jedoch nicht jedermanns Sache sein. Mit dabei sind Julian Rohde, der über einen leichten, bisweilen in der Höhe allzu eng klingenden Tenor verfügt, und Tobias Hagge mit fahlem Bass-Bariton. Sie werden sehr gekonnt von Alexandra Rossmann am Klavier begleitet, dem die Aufnahmetechnik an Stellen leider einen dumpfen Ton verliehen hat. Alle vokalen Interpreten eint die gute Aussprache und der Wille, diesen Miniaturen – die man freilich sofort nach dem ersten Hören vergisst – Gehör zu verschaffen. Insgesamt lässt aber diese Produktion die etwas parfümierte Unterhaltung in Salons des vorvorigen Jahrhunderts erfolgreich aufleben (Giacomo Meyerbeer, Romanzen, Lieder, Balladen: Andrea Chudak (Sopran), Julian Rohde (Tenor), Tobias Hagge (Bass-Bariton), Alexandra Rossmann (Klavier), 2 CDs ANTES BM 149008.)Michele C. Ferrari

 

Dank an Thomas Kliche, dem renommierten Meyerbeer-Forscher und Initiator mancher Aufführungen seiner Lieder und Werke im Ausser-Opern-Bereich für die Überlassung der Texte, die wir den beiden Veröffentlichungen wie auch die Künstlerfotos der Ausübenden bei Bella Musica entnahmen. Von Thomas Kliche erschien im Backe-Verlag Hützel: „Camacho und das ängstliche Genie – Innenansichten der Familien Mendelssohn und Meyerbeer“, ISBN-10: 3981487370 ISBN-13: 978-3-9814873-7-4; 1 Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher. Band 2, hg. von Heinz und Gudrun Becker. Berlin 1970, S. 432f.

Harmlos und prätentiös

 

Der schöne grüne Jungfernkranz wird nicht gewunden. Auch vier weitere Nummern opferte Laurence Equilbey ohne Not, so dass ihr Freischütz, der, man muss er fairerweise sagen, hier als The Freischütz Projekt mit der Unterzeile Highlights from Der Freischütz firmiert, mit knapp unter 80 Minuten Spielzeit bequem auf eine CD passt (Erato CD und DVD 0190295109547). Im Frühjahr 2019 war dieses Projekt von Caen über Wien und Ludwigsburg nach Luxembourg gereist und schließlich in Paris angekommen, wo im Oktober desselben Jahres im CD und DVD entstanden. Das Ergebnis lässt ratlos. Nicht etwa, dass der französischen Dirigentin und Chorleiterin, die ihren 1991 gegründeten Chor accentus und das 2012 installierte Insula Orchestra um sich versammelt hat, der Zugriff für diese Musik fehlt. Im Gegenteil, die Harnoncourt-Schülerin spürt in Webers Partitur eine naturnahe Schlichtheit und Idylle auf, verwirklicht eine traumzarte Weichheit und biedermeierlich tänzerische Bewegtheit, hinter der allerdings nie böse Alpträume und Dämonen lauern oder sich Abgründe auftun. Dazu die Dirigentin: „Die beiden letzten bahnbrechenden Aufnahmen, von Carlos Kleiber und in jüngerer Zeit von Nikolaus Harnoncourt, sind außergewöhnlich und wurde mit modernen Instrumenten eingespielt. Geleichzeitig gibt es praktisch keine Aufnahmen mit historischen Instrumenten. Erstaunlicherweise haben sich Originalklangensembles, obwohl diese Oper der Ausgangspunkt für große musikalische Innovationen war, immer noch sehr wenig mit ihr beschäftigt. Das war der Auslöser für unsere Arbeit mit dem Werk. Equilbey setzt also auf eine historisch informierte Aufführungspraxis und einen durchsichtig leichten, mit vielen instrumentalen Feinheiten durchsetze Klang, dem auch die Besetzung folgt: Johanni van Oostrum als schlicht innige und mit gutem Legato singende Agathe, Chiara Skerath als robustes, gar nicht soubrettiges Ännchen, der geschmackvolle und musikalische Stanislas de Barbeyrac als romantischer Max, der nur selten bei greinendem Einheitston spüren lässt, dass dies momentan eine Grenzpartie für ihn sein dürfte, Vladimir Baykov mit rauem Bariton als Kaspar, Christian Immler als Eremit und Samiel-Sprecher sowie Daniel Schmutzhard als Ottokar.

Auch die auf DVD festgehaltene provinzielle Inszenierung (mit leichten Abweichungen gegenüber der CD) macht die Aufnahme nicht attraktiver. Der musikalischen Poesie stellen Clément Debailleul und Raphael Navarro von der Compagnie 14:20, die in ihren Projekten eine „Magie nouvelle“ hochhält, eine nachtgraue Dunkelheit entgegen. Graugrünbraune Einheitskleidung für den Chor, die bei den Solisten durchaus auch von einer hautecouturehaften Finesse sein kann (Kostüme: Siegrid Petit-Imbert), dunkle Bühne, schlichte Versatzstücke, simples Bühnenspiel mit symbolbeladenen Gesten und Lichtern (Bühnenbild und Video stammen von Debailleul), wirkungsvolle Bühneneffekte, vor allem aber ein dekorativer Samiel (Clément Dazin), der Max als sein Doppelgänger begleitet, ohne mit ihm zu agieren. In manchen Momenten erinnert diese dunkelschwarze Romanik von 14:20 von ganz, ganz fern an Bob Wilsons Black Hunter , doch in weiten Teilen bleibt dieses Freischütz-Projekt eine banale, bestenfalls gefällige Arbeit, die den dramatischen Konflikt des Werkes kaum anreißt. Harmlos und ein wenig prätentiös.  Rolf Fath

Vibrato-Reiches von der Insel

 

Welcher Sopran möchte nicht wenigstens einmal im Leben Tosca, Butterfly, Norma oder Traviata sein, und sei es auch nur auf einer CD mit einigen der Stimme günstig gesonnenen Arien und mit einem Booklet, das sich in drei Sprachen wortreich über selbst dem sporadischen Opernbesucher bekannte Werke äußert (weil vielleicht die eigene Karriere wenig adäquaten Stoff für einen umfangreichen Text aufzuweisen hat?)! Linda Richardson (who???), hat gemeinsam mit der Sinfonia of London unter John Wilson Italian Opera Arias eingespielt und dabei weder Casta Diva, noch È strano oder Un bel di ausgelassen.

Es beginnt mit Pace, pace, wobei die zarte, sensibel geführte Stimme mit etwas zu schmalem Farbspektrum bereits im mezzo forte viel Vibrato gibt und in der Höhe scharf werden kann. Ein feines Piano am Schluss, eine empfindsame Wiederholung des „pace“ täuschen nicht darüber hinweg, dass man sich die Britin schwer in einem typisch italienischen Ensemble vorstellen kann. Es geht weiter mit Violettas È strano, das kapriziös klingt, agogikreich gesungen wird, in der Cabaletta zunehmend piepsig erscheint, zu soubrettig, aber mit einem schönen Spitzenton schon fast versöhnen kann. Warum es keinen Alfredo dazu gibt, ist umso mehr unverständlich, als an anderer Stelle ein Tenor als Butterfly-Rufer auf der CD erscheint. An anderer Stelle ist dann noch Addio del passato aus demselben Werk, wofür allerdings das dramatische Potential fehlt. Für Mimi im dritten Akt hat die Sängerin ein zartes und berührendes „senza rancor“ zur Verfügung, aber insgesamt nicht genug Farbe in der Stimme. Tosca schließt sich an mit unangenehmer, vibratoreicher Schärfe dort, wo die Stimme aufblühen sollte.

Weit besser als Verdi und Puccini gelingen der Sängerin die Auszüge aus Donizettis Anna Bolena, hier überzeugen die schöne Nachdenklichkeit, der elegische Grundton, der kluge Aufbau der Szene und das schöne Ausschwingen der Stimme. Man hat nicht den Eindruck von Überforderung. Amelias zweiter Arie fehlt es an innerer Spannung, daran kann auch der gewaltige Ausbruch kurz vor Schluss nichts ändern. Eine tadellose Kadenz macht Gildas Arie zu einem Hörgenuss, auch wenn man sich die Stimme für das junge Mädchen etwas frischer wünschen kann, aber tadellos gesungen ist Caro nome allemal.

Casta diva darf natürlich nicht fehlen, hat viele Einzelschönheiten wie einen feinen Triller, aber insgesamt stören Schärfen, die Dramatik ersetzen sollen. Senza mamma erfreut durch innige Töne und einen sehr schönen Schluss. Wie viel Mittellage eine Butterfly benötigt, um zu überzeugen, wird im letzten Track hörbar, aber auch hier stehen ein durchaus bemerkbares Verstehen der Figur und  nicht optimale vokale Voraussetzungen nebeneinander (Chandos 20155). Ingrid Wanja         

Für Freunde russischer Musik

 

Bereits vor drei Jahrzehnten legte Dmitrij Kitajenko, mittlerweile achtzig, Rachmaninows opus Die Glocken mit dem Dänischen Nationalen Rundfunk-Sinfonieorchester vor (Chandos). Die nun erschienene Neuaufnahme mit dem Gürzenich-Orchester Köln erweist sich gleichsam als Neuauflage (Oehms OC 470). Die Tempovorstellungen des Dirigenten haben sich im Detail etwas verschoben, so dass der erste und dritte Satz etwas langsamer, der zweite und vierte dafür etwas flotter daherkommen. Diese Sätze bilden die vier menschlichen Lebensabschnitte ab. Das als „Poem für Sopran, Tenor und Bariton solo, gemischten Chor und Orchester“ betitelte Vokalwerk führt bis heute ein ziemliches Schattendasein sowohl auf Tonträger und noch mehr im Konzertsaal. Kitajenkos Solisten sind durch die Bank idiomatisch: Anna Samuil im Sopranpart, Dmytro Popov als Tenor sowie Vladislav Sulimsky in der Rolle des Baritons. Kongenial der Tschechische Philharmonische Chor Brno, einstudiert von Petr Fiala. Ergänzt wird die CD um die noch weniger geläufige Kantate für gemischten Chor und Orchester Johannes Damascenus von Sergej Taneeev. Das dem Kirchenlehrer Johannes von Damaskus gewidmete dreisätzige Werk klingt, trotz Bach-Bezug, insgesamt orthodoxer angehaucht und ist am stärksten in den A-Capella-Abschnitten, gar nicht einmal in den pompösen Orchestermomenten. Wunderbar der leise Ausklang. Eine Entdeckung für den Freund der russischen Musik. Auch klanglich weiß die zwischen 14. und 19. Juni 2018 in der Kölner Philharmonie entstandene Einspielung zu gefallen. Daniel Hauser

Cultural Clashes

 

In einer Kölner Taverne räsonieren Mephisto und Faust über das Menschsein: „Wir alle stellen etwas dar, ich einen Zauberer, ihr einen Gelehrten. Jeder Mensch ist, wenn man Moses glaubt, lediglich ein Abbild Gottes“, so Mephisto, worauf Faust ausführt, „Der Mensch ist geschaffen nach dem Ebenbild des Schöpfers selber, und deshalb sind ihm Eigenschaften, die weder Engel noch Dämonen verstehen.“ Vielgesichtigkeit der Renata, dazu die Mischung aus realistischen Handlungssträngen, Alpträumen, Halluzinationen, sexuellen Anspielungen und das was man neudeutsch als cultural clashes bezeichnen würde faszinierte auch Emma Dante an Sergej Prokofjews Der feurige Engel. Im Mai 2019 inszenierte Italiens Maestra rätselhafter Tanz-Theaters die Oper am Teatro dell’ Opera di Roma (DVD Naxos 2.110663), wo 53 Jahre zuvor Virginio Puecher den Engel herausgebracht hatte.

Das Köln des frühen 16. Jahrhunderts findet Dante (Bühnenbild: Carmine Maringola) in den Katakomben ihrer Geburtsstadt Palermo. Der aus Amerika in das Köln des Jahres 1534 zurückehrende Ritter Ruprecht taucht in der Krypta unter Palermos berühmter Kapuzinergruft auf und trifft auf die in einem der Gräber neben den in Wandnischen gelagerten Mumien aufrecht mit Schlafhäubchen und blassrosa Kostüm ruhende Renata, die ihn von sich stößt und von ihren Erscheinungen erzählt. Als Kind war ihr ein feuriger Engel namens Madiel erschienen, der verschwand, nachdem die Jugendliche körperliche Liebe von ihm erwartete. Wenn der Knecht und die Wirtin Renata als Dirne und Verderberin beschimpfen, dringt der Geist der rustikalen Stegreifkomödie in die Gruft. Vergänglichkeit in Form der als Memento mori mahnenden Gruft und derb ländliche Lebenslust stehen in Dantes Inszenierung selbstverständlich nebeneinander. Selten grell ausgeleuchtet, wie in tänzerischen Aktionen ihrer 15köpfigen Tänzer-Equipe, doch in den erdenen Farben (Kostüme Vanessa Sannino) als selbstverständliche süditalienisch-sizilianische Verschlingung von Mystizismus, Realität und Aberglaube, Wirklichem und jenseitig Phantastischem, Engel und Dämonen.

Vor diesem Hintergrund gewinnen die Geschichte einer von sexuellen Visionen gepeinigten Frau, die Prokofjew zwischen 1919 und 1927 in seiner zweiten Oper komponierte, eine bezwingende Überzeugungskraft. Großartig die mit Büchern und wissenschaftlichen Instrumenten vollgestellte Studierstube im zweiten Akt, die die Atmosphäre der Bibliothek im oberbayerischen Kloster Ettal aufnimmt, wo Anfang der 1920er Jahre weite Teile der Partitur entstanden. Vorlage bildete der gleichnamige, 1907 veröffentlichte teilweise autobiografische Roman des russischen Symbolisten Valerij Brjussov. Der feurige Engel wurde zu Prokofjews Lebzeiten nicht aufgeführt. Erst in Jahr nach seinem Tod erfolgte 1954 in Paris die konzertante und 1955 in Venedig die von Giorgio Strehler betreute szenische Uraufführung. In Russland, wo man die ersten Aufführungen nach Sibirien und Usbekistan verbannt hatte, leite erst 1991 die von Valery Gergiev betreute und in Koproduktion mit Covent Garden entstanden Inszenierung David Freemans am Mariinsky-Theater – Emma Dantes quasi nackte Tanzggeister und Krüppel scheinen fast wie ein Zitat der lauernden Dämonen, die Freemans Konzept bestimmten – eine Kehrtwende in Russland ein. An Renata arbeiteten sich in den letzten Jahre Kosky in Berlin und München, Bieito in Zürich, Treliński in Aix und Warschau ab; Andrea Breth hatte den Feurigen Engel bereits im Vorjahr für das Theater an der Wien vorbereitet.

Renata, in stets neuer Verwandlung, darunter mit einem 18. Jahrhundert-Militärrock wie ihn auch Ruprecht trägt oder einem Hauskleid aus der Zeit, und der sie leidenschaftlich liebende Ruprecht begeben sich auf die Suche nach dem Engel (verkörpert von dem Darsteller Alis Bianca) und unternehmen in diesem Stationendrama eine Reise durch Emma Dantes Italien und finden sich stets vor und zwischen Klostermauern ein, die oftmals nicht gar so Pappkulissenhaft wirken müssten. Dantes Truppe ist für die Halluzinationen der Renata und das stumme Spiel zwischen den Akten zuständig, doch selbst die Orgie im Kloster und die Teufelsaustreibung, bei der Faust und Mephisto aus der Proszeniumsloge zuschauen, wirken gezügelt, werden überstrahlt vom Strahlenkranz der Madonna, der Renata am Ende umgelegt wird, während der Inquisitor ihre Verbrennung befiehlt. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie Dantes Inszenierung fließ, singt die mit einem sehr schönen Sopran aufwartende Polin Ewa Vesin die Renata, die weniger als Studie über Hysterie à la Salome und Elektra klingt, sondern lyrisch ebenmäßig projiziert und feinnuanciert ist;  quasi mit Italianità – gesungen wird natürlich russisch – doch kraftvoll und durchhaltestark. Ruprecht ist keine dankbare Partie. Leigh Melrose gelingt es, sie attraktiv zu gestalten und in Übereinstimmung mit der fast kammermusikalisch dichten Interpretation von Alejo Perez mit nicht übermäßig großem, etwas einfarbigem Bariton fast ebenso attraktiv zu singen. Das größtenteils russisches Ensemble besitzt hohes vokales Potenzial: Mairam Sokolova als Wahrsagerin und Äbtissin, Sergey Radchenko als Agrippina, Andri Ganchuk als Faust, Maxim Paster mit seinem durchdringend hohen Tenor als Mephisto und Goran Juric als imposanter Inquisitor. Unter Alejo Perez klingt Der feurige Engel weniger wild und expressiv aufgepeitscht als – der dunkel magischen Klosteratmosphäre entsprechend, etwa in den geheimnisvollen Gesängen hinter der Bühne – italienisch mystisch eingedunkelt und präzise ausziseliert.  Rolf Fath

Was wird bleiben?

 

Erscheint ein würdigendes Buch über eine allseits bekannte Persönlichkeit bereits ein Jahr nach deren Hinscheiden, dann kann man sicher sein, dass fast durchweg Lobendes, zumindest Anerkennendes zu vernehmen sein wird. So seien denn gleich zu Beginn und an dieser Stelle zügig die beiden schüchternen Ansätze für Kritik in dem Buch Begegnungen mit Peter Schreier (im Sax-Verlag) das von Matthias Herrmann, ebenfalls Kruzianer,  herausgegeben wurde, vermerkt. Einmal ist vom kritischen Erstaunen von Orchestermitgliedern darüber die Rede, dass der viel beschäftigte Sänger auch noch das Dirigieren übernehme, zum anderen vom Schweigen zu den Ereignissen im Herbst 1989, als sich andere Kulturschaffende wie zum Beispiel Kurt Masur für die Demonstranten, die schließlich das Ende der DDR erzwangen, einsetzten, während der ebenfalls über große moralische  Autorität verfügende Peter Schreier sich nicht äußerte. Im Buch wird aber auch die „Entschuldigung“ mitgeliefert, die besagt, dass der Tenor sich gerade in einer Phase der Erholung befunden habe.

Das Buch gliedert sich in einen besonders umfangreichen Teil, der Zeugnisse von Zeit- und Weggenossen, vor allem natürlich von Musikern über das Wirken des Sängers, Dirigenten und Cembalisten enthält, es folgt ein schmalerer Abschnitt mit Reden anlässlich der Verleihung von Musikpreisen an Peter Schreier, „Aspekte des Wirkens“, durchweg aus dem Jahre 2020 stammend, würdigen des Sängers und Dirigenten Arbeit in Österreich und Japan, außerdem besonders den Bach-Interpreten, schließlich sind die Reden, die auf   der Trauerfeier im Januar 2020 in der Dresdner Kreuzkirche gehalten wurden, abgedruckt, während ein umfangreicher Bildteil und ein Anhang, bestehend aus Personenregister und Präsentation des Herausgebers, den Schluss bilden.

Anekdotisches wird durchaus nicht ausgespart, so im Geleitwort der Scherz Herbert Blomstedts über den gänzlich unpassenden Familiennamen, in der Einführung wird die enge Beziehung Schreiers zu Dresden, von der Geburt bis zur Beerdigungsstätte reichend, hervorgehoben. „Weil ich nun mal eine alte sächsische Provinznudel bin“, will sich der Tenor selbst charakterisiert haben. Die wichtigsten Daten zum Lebenslauf legen davon Zeugnis ab, die in Bezug auf Furtwängler oft erhobene Anklage, er habe den Nazis zu Renommee verholfen, klingt vorsichtig im Beitrag von Hansjörg Albrecht an, wenn er über die Aushängeschilder der DDR Schreier, Adam und Güttler berichtet. Vom Bewunderer zum Kollegen wurde Olaf Bär, der „Demut und Respekt“ gegenüber Bachs Werk mit ihm teilte, bereits 1948 hörte ihn der Hornist Peter Damm als Altus und ist dankbar dafür. Lang ist die Liste der Vorzüge, die der Liedbegleiter Helmut Deutsch mit erstklassiger Diktion, sicherer Intonation, technischer Souveränität aufzuzählen weiß, so dass gelegentliche Spannungslosigkeit daneben kaum ins Gewicht fällt, durch seltene Proben aufgehoben werden kann. Gewagt sind die Vermutungen Peter Gülkes, der in Schreiers Palestrina einen Protest gegen die DDR nicht ausschließen mag, auch wenn der Sänger „auf abgründige Weise“ in der DDR zuhause war. Ludwig Güttler erinnert sich gern an die Heiterkeit während der Arbeit, Hartmut Haenchen an die „musikalische Sensibilität“ beim Kollegen. Eckart Haupt, der zeitweise Untermieter bei den Schreiers war, erwähnt eine gewisse Unbarmherzigkeit des Dirigenten gegenüber Sängern, Robert Holl behauptet: „Er klingt in mir.“

Als „außergewöhnlichen Musiker“ erlebte ihn Marek Janowski bei den Aufnahmen zum Rheingold. Siegfried Matthus schätzte besonders den David in der Karajan-Aufnahme, Christian Thielemann den Schumann-Interpreten. Der Bariton Egbert Junghanns erlebte Schreier zwischen den Polen „Hier gibt‘s alles umsonst“ und „Was wird bleiben?“ Edda Moser sah in Schreier „dieses Begnadete“, Heinz Zednick schätzte die gemeinsamen Abende beim Heurigen.

Die Laudatio zur Verleihung der Hugo-Wolf-Medaille hielt Brigitte Fassbaender und bekannte, Schreiers Die schöne Müllerin habe sie zu Tränen gerührt, weitere Reden stammen von Reimar Bluth anlässlich der Verleihung des Preises der Europäischen Kirchenmusik und von Hans John zur Überreichung des Sächsischen Mozartpreises. Günter Jena berichtet vom Neumeier-Projekt Matthäuspassion.

Viele Ausschnitte aus Kritiken finden sich in Markus Vorzellners Aufsatz, der besonders interessant wird durch die Schilderung einer Begegnung von Schreier mit Wunderlich. Fabian Enders vermittelt wohl am eindringlichsten in seinem Beitrag über den Bach-Interpreten die besonderen Vorzüge des Tenors Peter Schreier (S. 196). Alle Beiträge und ihre Verfasser durften zum Nachruhm des Sängers beitragen, der letztgenannte aber dürfte den Gepriesenen besonders freuen (256 Seiten, 2020 Sax-Verlag; ISBN 978 3 86729 263 4). Ingrid Wanja      

Vincent D´Indys „Fervaal“

Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen,  dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper eine sozialpolitische Funktion zeigt und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist ausübt steht ja außer Zweifel. Zwar schlagen sich zwar wichtige politische Ereignisse meist nur mit Verzögerung in den Opernplots nieder, aber auch aktuelle Bestrebungen nach nationaler Einheit und Identität ((und dem Verlust derselben) finden sich in vielen Werken ganz aktuell, oft in Form der Verwendung von Folklore und/oder nationalem Liedgut, oft auch durch Reaktivierung glorioser Siege in der ferneren Geschichte des jeweiligen Landes (so zum Beispiel bei Gounod oder Saint-Saens um die Schmach des deutsch-französischen Krieges vergessen zu machen, auch in Ivan Zajcs Nicola Subic Zrinski, in dem zwar die Türken niedergemacht werden aber die Österreicher gemeint sind; gleiches gilt für Pavlo Carrers Marcos Botsaris oder Naumanns Gustav Wasa und natürlich auch Verdis Nabucco).

In Occitania im schönen, heißen Montpellier am Mittelmeer gab es im Juli 2019 beim Radio-Festival die Wiederentdeckung einer sehr selten aufgeführten Oper des französischen Repertoires in Konzertform, Fervaal von Vincent d‘Indy (1851 bis 1931). Zum ersten Mal 1897 im Brüsseler Monnaie aufgeführt, erfreute sich das Werk schon damals keines großen Zuspruchs und fand nie den Weg in das Repertoire. Die Gründe dafür sucht man sicherlich nicht in der den kommenden Generationen verdächtigen politsichen und moralischen Haltung des Autors (Monarchist, Konservativer, Antisemit, gegen Dreyfus auftretend), sondern eher in der absoluten Abhängigkeit vom Modell Wagner, wenn auch „en francais“. (Wobei die konzertanten Aufführungen im schweizerischen Bern 2009 mit Philippe Rouillon und Sophie Koch nicht unerwähnt bleiben sollen, auch nicht die stark gekürzte und hochidiomatische Radio-Aufnahme aus Paris 1953 mit einem sehr engagierten Jean Mollien in der Titelrolle, erhältlich bei Malibran Records).

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Der Komponist Vincent D´Indy auf dem Cover der Musikzeitschrift La Revue musicale de Lyon/ Radio Festival 2019

Vincent D´Indy ist in Deutschland so gut wie unbekannt – gelegentlich (sehr gelegentlich) gibt es ein wenig Symphonisches von ihm im Konzert, seine „Alpensifonie“ („Jour d’été à la Montagne“/ Sommertag in den Bergen, op. 61 von 1905) oder sein Klavierkonzert. Als bedeutender Komponist kurz vor der Jahrhundertwende aus dem Umfeld des Deutsch-Französischen Krieges ist er bei uns ein absoluter No-Name. Es ist doch erstaunlich, dass angesichts der immensen Erzfeind-Ressentiments zwischen den beiden Ländern jener Zeit ein so unverhohlener Germanismus möglich war – Musik ist ja stets aus ein soziales Phänomen. Ein so wichtiges und vielleicht auch  bizarres Beispiel des französischen Wagnerismus ist es wert, unseren Lesern von operalounge.de vorgestellt zu werden, wäre dies doch eine der vielen Opern, die man sich im Rahmenprogramm von Wagner-Veranstaltungen in Deutschland (Bayreuth?) wünscht. Nachstehend also eine Konzertkritik zur Aufführung in Montpellier und die Einführung des renommierten Musikwissenschaftlers Hervé Lacombe für das Programmheft des Radio-Festivals von  Montpellier (Ein Radio-Mitschnitt von France Musique kursiert untrer Sammlern in exzellenter Klang-Qualität, ein Libretto gibt es auch …). G. H.

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Dazu eine Besprechung des Konzerten von unserem Kollegen Salvatore Podesta: Fervaal ist eine Oper mit einem Prolog und drei Akten, durchdrungen von der spätromantischen Kultur und der musikalischen Ästhetik Wagners, schuldet aber auch dem Zeitgenossen Berlioz einiges, so die Orchesterfarben betreffend, und, allerdings weniger, auch dem stets verleugneten Meyerbeer. Das Libretto oft geschwätzig und sich kostbar gebend, stammt vom Komponisten, der sich von „Axel“ des Schweden Esaias Tegnér inspirieren ließ, aber substanzielle Änderungen an der Vorlage vornahm. D’Indy verwandelte Axel, skandinavischer Soldat in Diensten des Königs, in die junge Marie verliebt und am Schluss der Oper zum Selbstmord gezwungen, in Fervaal, den einzigen Überlebenden des auf die Nubi, die antiken keltischen Götter zurückgehenden Geschlechts, einen keuschen und reinen Helden, der von dem Druiden Arfagard erzogen worden ist. Dieser sieht in seinem Zögling, wenn dieser sich seine Reinheit bewahrt, den kommenden Führer der Kelten und die Wiedergeburt Cravans und des alten Glaubens.

„Fervaal“: Illustration zum 3. Akt/ BNF

Die Handlung wird also von D’Indy nach Gallien versetzt, wo die Kelten gegen die schrecklichen Sarazenen unter der Führung der kriegerischen Maid Guilhen kämpfen, die, nachdem sie im Prolog dem verwundeten Fervaal beigestanden hat, ihn pflegte und beherbergte, sich schließlich in ihn verliebte, welches Gefühl erwidert wurde. Obwohl es Arfagard gelingt, Fervaal davon zu überzeugen, Guilhen zu verlassen, um seinem Schicksal zu folgen, kann nicht einmal die Beschwörung von Kaito, des alten keltischen Gottes, dem Priester klarmachen, dass für die Kelten alles verloren ist von dem Moment an, in dem Fervaal sein Gelübde der Keuschheit gebrochen hat. Der letzte Akt der Oper spielt in den verschneiten Bergen Galliens, vom Blut der sich bis zum letzten Mann bekämpfenden gefärbt, wo Fervaal die sterbende Guilhen trifft, nachdem er Arfagard, das Hindernis für die Wiedervereinigung mit der Geliebten, getötet hat. Als Fervaal das unmittelbare Ende der keltischen Götter nahen sieht, ersteigt er den Gipfel des Berges und hebt  auf seinen Armen die sterbende Geliebte dem Himmel entgegen wie in einer mystischen Apotheose, in der das gregorianische Pange Lingua erklingt, das die Ankunft einer neuen Religion der Rettung und des Lichts, des Christentums, ankündigt. Epos, mystisches Streben dem Unendlichen entgegen, Nationalismus, das sind die wesentlichen Themen in Fervaal.

Serös und professionell, wenn auch ohne geniale Momente, war die musikalische Leitung von Michael Schonwandt, der sich darum bemühte, der Oper Zusammenhalt zu verleihen, Solisten und Chor zu führen und die Spannung auch in den schwächsten und weitschweifendsten Momenten aufrecht zu erhalten, gut das Orchester, sehr eifrig der Chor, aber in einigen Momenten des zweiten und dritten Akts weniger intensiv, als man erwartet hätte.

„Fervaal“: Szene aus der Wiederaufnahme an der Pariser Opéra Comique 1898/ BNF

Die Besetzung zeigt nur drei Hauptrollen, den Duiden Arfagard,die Sarazenenprinzessin  Giulhem und den nordischen Helden und Driden-in-spe Fervaal, der die herausragende Partie hat, umgeben von einer Zahl kleinerer Rollen, die einen positiven Beitrag zum guten Ausgang des Konzertes  leisteten, ohne dass man sie besonders hervorheben müsste. Am wenigsten beeindruckend war der Sänger des Arfagard, Jean-Sébastien Boue, trotz der guten Intentionen und der  perfekten Diktion, es mangelte ihm an Größe und an Überzeugungskraft für die rigorose, fanartische Figur des keltischen Druiden. Die Stimme leidet in den Extremen, Höhe wie Tiefe, daran, dass sie  in den Acuti nach hinten rutscht und bei den tiefen Tönen schwach und unsicher erscheint, es gelingt dem Sänger nicht, die prophetische und mystische Seite der Figur herauszustreichen, seine lange Erzählung im ersten Akt  ist ein Beispiel dafür. Ganz anders  die Guilhen von Gaelle Arquez, sicherlich eher Sopran und nicht Mezzosopran, wie sie selbst meint: Die Stimme, wenn auch beeinträchtigt durch ein nicht besonders persönliches Timbre, ist klangvoll und hat einen guten Sitz, was sich besonders in den wenigen  Höhen bemerkbar macht, die zentrale Zone beherrscht sie mühelos und nur in den Tiefen bemerkt man Probleme. Die Diktion ist hervorragend und auch das Bemühen um die Darstellung, wobei ihr die verliebte Frau besser gelingt als die kriegerische und rachsüchtige.

„Fervaal“: Illustration zur Pariser Erstaufführung/ BNF

Glorreicher Held des Abends ist hingegen Michael Spyres, der mit einer ganz eigenen „naiv enthusiastischen Verrücktheit“, meiner Meinung nach seine Eigenheit, die ungeheuer schwierige Rolle des Fervaal angeht.  Die Länge der Partie und ihre stimmliche Position in der Mitte mit häufigen Ausflügen in die Höhe stellen die Durchhaltekraft des amerikanischen Sängers auf eine harte Probe, der eine gewisse Ermüdung  nur jeweils am Schluss des zweiten und dritten Akts zeigt. Es handelt sich um eine allerhärteste Probe, sei es vokal oder interpretatorisch, die auf ein intensives Studium der Partie hindeutet (die Diktion ist exemplarisch) und auf eine bemerkenswerte Hingabe zum Gesang wie zum Werk. Die Stimme ist schön, robust, gesund und fühlt sich hörbar wohl, mehr in Tiefe und Mittellage als in den Acuti, die bewältigt werden, aber doch etwas schwächer und nicht von so leichter Emission auf Grund der im Zentrum angesiedelten Tessitura sind. Der Darsteller überzeugt vollkommen in der langen Liebesszene im ersten Akt wie auch im transzendenten, mystischen, verzweifelten dritten Akt, während er in den rein heroischen Teilen des zweiten Akts auch an seine Grenzen stößt. Ich bin zwar ein Bewunderer von Michael  Spyres, doch habe ich meine Zweifel: Unterwirft der Sänger seine Stimme nicht allzu großen Anstrengungen? Sicherlich beweist die Wahl dieser Rolle die Absicht des Sängers sein Repertoire zu ändern bzw. zu erweitern ins heroische Repertoire und weg vom Belcanto, wobei Tristan bereits vom Sänger erwähnt wurde. Verrückt vernünftig oder verrückt unvernünftig? Man wird sehen. Salvatore Podesta (aus dem Italienischen von Ingrid Wanja)

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 Den folgenden Artikel von Hervé Lacombe entnahmen wir mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors dem Programnmnheft des Konzertes:Fervaal“ oder der französische Wagnerismus: An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehörte Vincent d‘Indy (1851-1931) zu der Generation, die mit Ernest Chausson, Alfred Bruneau und Albéric Magnard dem französischen Wagnerismus seine Bedeutung gab. Nach einigen Jahrzehnten des Widerstands gegen das Wagnersche Repertoire und sein ästhetisches Konzept, verfällt Frankreich seinem Zauber. In den 80-iger Jahren sorgt sich Léo Delibes, damals Professor am Konservatorium: „Der Wagnerismus überrennt und überflutet uns.“  Zu dieser Zeit, genauer um 1889 beginnt D‘Indy, der schon lange von den Ideen des Bayreuther Komponisten überzeugt ist, Fervaal zu komponieren, was ihn bis 1895 beschäftigt. Wie Wagner ist er sein eigener Librettist und wie dieser wendet er sich den Legenden und der Mythologie zu – auf Kosten historischer Themen, die die Produktion der großen französischen Oper ein halbes Jahrhundert dominiert hatten.

Fervaal“: Szenenbild zur Pariser Erstaufführung/ BNF

Die konservative Opéra von Paris verschloss sich deshalb zahlreichen Komponisten, die glücklicherweise in Brüssel ein aufmerksameres Ohr fanden. Das Théâtre de la Monnaie hatte daher das Glück und die Ehre, die Hérodiade von Massenet, Sigurd und Salammbô von Reyer,  Gwendoline von Chabrier, Le roi Artus von Chausson auf die Bühne zu bringen. Dort führt auch D‘Indy sein neues Werk auf, dessen Uraufführung am 22. März 1897 stattfand, nach einigen Schwierigkeiten und außergewöhnlich vielen Proben.

D‘Indy gilt als Führer der „Modernen“. Die Premiere ist ein Ereignis, das von der gesamten Pariser Kritik verfolgt wurde – die Oper wurde zu dieser Zeit von den wichtigsten Zeitungen kommentiert, von spezialisierten Revuen bis zu den großen Tageszeitungen wie „Le Journal des débats“.  Fervaal wird im nächsten Jahr (am 10. Mai 1898) auch in Paris an der Opéra Comique unter der Leitung von André Messager aufgeführt. Man muss bis 1912 warten, um die Oper auch im Palais Garnier zu erleben. Wenn das Werk auch unterschiedlich aufgenommen wird, wird D‘Indy für seine musikalische Schreibweise geschätzt. Foucard, der Journalist des „Gaulois“, fasst das Gefühl eines Teils des Publikums zusammen: „ Man ist verblüfft, überrascht, überwältigt, wenig berührt. Wo wir sprühende Emotion erwarten, ist es eher das Pittoreske und der Einfallsreichtum, die ins Spiel kommen. Außerdem ist das Talent enorm.“ Andere Kritiker sind bedingungslos begeistert. „Ein schönes und großes Werk“, ruft Julien Tiersot in der Zeitung „Temps“ aus, „das zweifellos einen bedeutenden Platz in der französischen Musikgeschichte einnehmen wird.“

D´Indy: „Fervaal“/ Illustration von Paul Destez zum 1. Akt an der Opéra-Comique/ BNF

Die Oper versteht sich gleichermaßen als Wagnersches Erbe und als Ausdruck einer typisch französischen Oper. Die Form folgt den Erfahrungen Wagners: „Handlung“, wie Tristan, eine narrativ organisierte Folge, organisiert in einem Prolog und einer dreigeteilten Geschichte wie in einer Tetralogie; jeder Akt in drei Szenen geteilt, wie Parsifal….  Die Helden, die Ideen, die Situationen, die Worte, die musikalische Schreibweise und die Leitmotive sind von Wagner inspiriert, ohne jemals eine einfache Imitation zu sein. Fervaal hat von Siegfried seine Tapferkeit und seine Erziehung und von Parsifal seine Reinheit. Der Abschwörung der Liebe erinnert an Das Rheingold, während der Druide Arfagard eine  Mischung aus Gurnemanz (Parsifal) und Kurvenaal (Tristan) ist. Die Zauberin Guilhen (eine Art sarrazenischer Armida) erinnert teilweise an Isolde, an Mut und absolute Liebe, andererseits an Kundry, die weiblichen Charme, sexuelle Anziehungskraft und moralische Unreinheit repräsentiert. Kaïto, die ewige Mutter, die die Erde hervorgebracht hat, ist eine keltische Erda mit fantastischen Visionen. Ihre tiefe Kontraaltstimme gepaart mit seltsamen Chortönen, die durch vier Saxophone in der Kulisse verdoppelt werden, verkündet das Orakel: „Neues Leben entsteht aus dem Tod.“

D‘Indy verherrlicht eine Ideologie des Bodens und der Herkunft. Seine Kunst versteht sich als Verherrlichung der Verwurzelung. Der Hauptort der Handlung, die Cévennen, die Wiege seiner Familie, wo er auch einen Wohnsitz hatte, stellt die Handlung an einen genauen Ort. Derselbe Ort, den seine Symphonie cévenole von 1886 verherrlicht. Der Komponist betont, dass er mit seinem von Gebirge und den Ardennen geprägten Drama die Kunst- und Natureindrücke festhalten will, die er während seiner Ausflüge empfunden hat. Eine langsame psalmenartige Melodie von Frauenstimmen, die er in den Bergen gehört hat, inspiriert zu dem Gesang des Hirten am Beginn des 2. Akts. Das Französische, das er verherrlichen will, eröffnet auch eine moralische und religiöse Identität, die sich durch Anleihen von gregorianischen Choral ausdrückt, als Symbol des christlichen Glaubens, der sich nach dem Fall der alten Götter durchsetzt. Er verwendet sogar das liturgische Thema des Pange lingua. Dieser altertümliche populäre und religiöse Aspekt fügt vom musikalischen Standpunkt her der reichen harmonischen Sprache des Jahrhundertendes einen modalen Fond bei, der Teil seiner Einzigartigkeit ist. Fervaal kann auch als eine Art Gegenstück zu Tristan gesehen werden: Am Ende umarmt der Held seine tote Geliebte und steigt zum Himmel auf. D‘Indy ersetzt die von einer Frauenstimme getragene Nacht Wagners durch ein strahlendes Licht und den heroischen Gesang einer männlichen Stimme. Umgeben von einem mystischen Gesang (Chor in der Kulisse) hat Fervaal die letzte Offenbarung: „….ich höre, ich sehe, ich weiß! Der neue Gott befiehlt uns…!“ Es ist nicht die Liebe im Tod, sondern eine Überwindung: „Die Liebe besiegt den Tod.“ Das Orchester strahlt: „Über dem Liebesthema“, so schreibt D‘Indy auf der letzten Seite seiner Partitur, „erscheint der erste Strahl einer idealen Sonne.“

„Fervaal“: Der Autor Hervé Lacombe ist ein renommierter französischer Musik-Wissenschafter, zudem Professor an der Universität von Rennes, und ein Spezialist für französische Opern und Musik/ The Quobuz Blog

Die Reichhaltigkeit der vokalen und instrumentalen Melodien, der rhythmische Einfallsreichtum, die erstaunliche Vielfalt der Orchesterfarben, die Kunst der Modulationen, die der Entwicklung der dramatischen Situationen folgen, die Weite der formalen Konzeption, die Flexibilität der Kontrapunkte, die Wucht der symphonischen Entwicklung, das Flechtwerk der sich ständig neu konfigurierenden Motive machen aus Fervaal eine Partitur von unerhörtem Reichtum. Hervé Lacombe (aus dem Englischen von Daniel Hauser)

Zum Inhalt: Fervaal (Tenor) wird verwundet, als er sich, begleitet von seinem Meister, dem Druiden Arfagard, im Süden Frankreichs befindet. Guilhen (Mezzo), die Tochter eines sarazenischen Emirs, findet und pflegt ihn. Zwischen den beiden entsteht eine gegenseitige Liebe. Aber Fervaal ist für ein großes Schicksal bestimmt, wenn er keusch bleibt. Geheilt muss er nach Cravann, seiner von den Sarazenen bedrohten Heimat zurückkehren und seine Heilsmission erfüllen. Trotz seiner Liebe und auf das Verlangen von Arfagard verzichtet er auf Guilhen, die sich rächt, indem sie das kriegerische Feuer ihrer Truppen anfacht. Zurück in Cravann, wird Fervaal von den Druiden zum Kriegsherrn ernannt. Arfagard ruft die Göttin Kaïto (Kontra-Alt) an, die den Bruch des Schwurs prophezeit und ein neues Zeitalter ankündigt. Fervaal, der gegen sein Keuschheitsgelübde verstoßen hat, gesteht seinen Fehler. Er will durch seinen eigenen Tod sühnen. Der Kampf beginnt, die Kelten haben große Verluste. Guilhen erscheint, Arfagard will sich gegen sie wenden, Fervaal tötet ihn. Nach einer letzten Liebesbegegnung stirbt Guilhen erschöpft. Fervaal nimmt sie in die Arme, küsst sie und steigt hinauf ins Gebirge, bis er in den Wolken verschwindet. Übersetzung Daniel Hauser

Den Artikel von Hervé Lacombe entnahmen wir mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors dem Programmheft zur konzertanten Aufführung beim Radio-Festival von Montpellier am 24. Juli 2019, die auch im französischen Radio gesendet wurde. Dank auch an Ingrid Wanja und Daniel Hauser für die Übersetzungen.

Hommage an legendäre Altistinnen

 

Das neue Album der französischen Altistin Nathalie Stutzmann bei ERATO ist ein weiteres Zeugnis ihrer Doppelfunktion als Sängerin und Dirigentin (0190295209551). Seit mehr als zehn Jahren arbeitet sie mit dem französischen Ensemble ORFEO 55 zusammen, mit dem sie inzwischen mehrere CDs herausgebracht hat. Nach der letzten von 2017 (Quella fiamma mit Arie antiche) erschien jetzt eine neue Platte mit dem Titel Contralto, welche leider auch das Ende des Orchesters markiert, da die nötigen Subventionen und finanziellen Zuwendungen ausgeblieben sind. Contralto ist deshalb auch das letzte Dokument einer singulären Zusammenarbeit zwischen einer Sängerin und einem Orchester.

Unter den 13 Gesangstiteln des Programms finden sich vier  Weltersteinspielungen, aber auch Werke populärer Komponisten (Händel, Vivaldi, Caldara, Porpora). Viele schrieben die Partien ihrer Opern für ganz bestimmte Sängerinnen, die für sie als Musen fungierten. Im Auftakt bei Händels Tamerlano und Irenes Arie „Dal crudel“ ist es Anna Vincenza Dotti, die 1724 die Partie kreierte und der mit dieser Aufnahme gedacht wird. Stutzmann ist eine Sängerin mit maskulinem Aplomb und schwarzen Farben. Ihre Stimme ist ganz sicher Geschmackssache, doch auf jeden Fall singulär. Unbestreitbar ist ihre Virtuosität, was sich vor allem in der souveränen Bewältigung der Koloraturläufe zeigt. Eine weitere bedeutende Händel-Interpretin war Francesca Vanini-Boschi, die zwei seiner männlichen Rollen kreierte – den Ottone in Agrippina (1709 in Rom) und den Goffredo in Rinaldo (1711 in London), dessen Arie „Mio cor“ hier  zu hören ist. Stutzmanns Wiedergabe lebt von Vitalität und Energie. 1729 engagierte Händel Francesca Bertolli – vor allem für Hosenrollen, doch ist hier eine Arie der Amise, Schwester des Titelhelden Arminio, im Programm – das stürmische und mit Koloraturen gespickte  „Sento il cor“, welches die Sängerin glanzvoll ausführt. Zu nennen ist auch Anna Maria Antonia, Händels Valentiniano in Ezio und seine Erenice in Sosarme 1732. Deren Arie „Vado, vado al campo“ ist der letzte vokale Beitrag des Albums und noch einmal ein Beispiel für die gestalterische Vehemenz von Nathalie Stutzmann. Eine kurze Karriere in London hatte Anastasia Robinson, doch war sie immerhin in den Premieren von Radamisto 1720 als Zenobia und Giulio Cesare 1724 als Cornelia besetzt. Ihre bedeutendste Rolle aber war die Titelheldin in Bononcinis Griselda, an die hier mit der Arie „Caro Addio“ erinnert wird.

Anna Vincenza Dotti sang auch die Statira in Vivaldis L’incoronazione die Dario, aus der zum Ende der Programmfolge die dreiteilige Sinfonia in C erklingt. Das Orchester hat hier Gelegenheit, einen nachdrücklichen und vielfältigen Schlusspunkt zu setzen.

Eine der wichtigsten  Sängerinnen in Vivaldis Umkreis war Anna Girò, einst seine Schülerin und dann mit 16 Jahren bis zu ihrem Rückzug von der Bühne 20 Jahre später Interpretin in mehr als 30 seiner Opern. Hier ist die Asteria  aus Bajazet mit ihrer Schlussarie „Suena, uccidi“ eingespielt. Nach einem Rezitativ von exaltierter Dramatik ist auch die Arie ungemein erregt, will sich die Prinzessin doch von  ihrem Vater töten lassen. Neben der Girò war die florentinische Kontraltistin Maria Maddalena Pieri eine bedeutende Protagonistin in Vivaldis Schaffen. Sie war vor allem auf männliche Rollen spezialisiert, was mit der Arie des Titelhelden aus Farnace, „Gelido in ogni vena“, dokumentiert wird. Mit ihren frostigen Akkorden in der Einleitung ist sie ein plastisches Gemälde des in den Adern gefrierenden Blutes und auch die Gesangslinie vermittelt eindrücklich den Konflikt der Figur, was die Sängerin mit Tönen von schmerzender Intensität umsetzt, grandios unterstützt vom eindringlich musizierenden Orchester. 1729 wurde in Mantua Tito Manlio mit Teresa Mucci in der weiblichen Hauptrolle der Vitellia uraufgeführt. Ihre Arie „Di verde ulivo“ demonstriert, in welch hohem Maße Vivaldi die virtuosen Fähigkeiten der Interpretin genutzt hat.

Für Vittoria Tesi schrieb Nicola Porpora mehrere Hauptrollen, so 1739 in Neapel die Semiramide riconosciuta, deren Arie „Tradita, sprezzata“ Stutzmann lautmalerisch und mit einer Vielzahl von Farben interpretiert, sowie 1742 in Venedig die Statira, die mit der Arie „Mira d’entrambi il ciglio“ vertreten ist. Stutzmann kann darin vor allem ihre profunde tiefe Lage ausstellen. In seiner 1726 in Venedig uraufgeführten Oper Meride e Selinunte sang Anna Maria d’Ambreville-Perroni die Partie der Ericlea. Deren inniges „Torbido intorno al core“ zeigt die Seelenpein der Figur, in die nicht weniger als drei Männer verliebt sind. Stutzmanns Intensität im Vortrag führt auch zu bohrenden, gar heulenden Tönen. Die Titelrolle der Meride sang die ungleich berühmtere Diana Vico, die auch als Dardano in Händels Amadigi di Gaula und Albina in Antonio Lottis Alessandro Severo reüssierte. Aus beiden Opern erklingen hier die Ouvertüren mit musikantischer Verve und dramatischem Impuls. Schließlich sei die Contessa Giuditta Starhemberg genannt, die in einer Privataufführung von Caldaras Euristeo 1724 in Wien als Erginda auftrat. Deren Arie  „Sotto un faggio o lungo un rio“ ist ein sanftes pastorales Gemälde und eine der Weltpremieren dieses originell konzipierten Albums. Bernd Hoppe

Beeindruckend

 

Keinen Geringeren als Piero Cappuccilli hat sich Ludovic Tézier, so lässt er im Booklet seiner Sony-CD mit Verdi-Arien verlauten, zum Vorbild genommen, und wer es miterlebt hat, denkt sofort an Situationen wie den Wiener Maskenball mit nicht enden wollendem Beifall für „Alla vita“, so dass Riccardo Pavarotti Ungeduld durchblicken ließ, an den Berliner Padre Germont, der mit seinem Krückstock dem verwirrten Dirigenten den Takt klopfte, an den legendären Tenorverwirrer, der vor einer Vorstellung gern mit einem mühelosen hohen C an der Garderobe des Kollegen vorbeimarschierte. Aber auch „pietà, rispetto, amore“ löste der italienische Bariton aus, als er nach eben diesem Titel nach der Pause sein Konzert in der Berliner Philharmonie nicht mehr fortsetzen konnte, so sehr hatte seine Gesundheit der Unfall ruiniert, den er auf der Heimfahrt aus der Arena di Verona in seine Heimatstadt Triest erlitten hatte.

Mit seinem berühmten Vorbild gemeinsam hat der französische Bariton sicherlich den Aplomb, mit dem er seine Partien, wenn diese das erfordern, angeht. So klingt sein Forza-Carlo kraftvoll, wenn nicht gar martialisch, sehr dunkel und damit weniger strahlend als der Italiener, gut konturiert und mit klarer Diktion. Er scheint eher prädestiniert für die düsteren als die Lichtgestalten der Baritonfraktion, manchmal etwas dumpf, mit viel Peng für die Cabaletten und immer voller Nachdruck. Eleganter klingt der französische Posa, ruhiger und mit schönem Fluss der Stimme, dazu mit zwei beeindruckenden Fermaten aufwartend. Gegen Ende der CD gibt es auch noch die italienische Version von Rodrigos Tod.

In Ernani kann  zunächst einmal das Orchestra del teatro comunale di Bologna, es geht doch nichts über ein erfahrenes Opernorchester, unter Fréderic Chaslin mit einem betörenden Vorspiel zur großen Szene des Carlo entzücken, danach kann der Hörer sich davon überzeugen, dass Tezier um die Bedeutung von Rezitativen weiß, auch die kleinen Notenwerte zu ihrem Recht kommen lässt und den „Sommo Carlo“ gebührend zu feiern weiß. Eine farbige mezza voce dokumentiert er mit dem ein weitgespannten Bögen verführerisch klingenden „Vieni meco“.

Wie aus einem Albtraum erwachend singt Tezier die große Szene des Ford, die vielfältigen Gefühlsregungen präzise nachzeichnend, ein Getriebener, der doch die sichere Höhe effektvoll einzusetzen weiß. Mit großer vokaler Geste zeichnet er die Gefühlsverfassung  des Luna nach, lässt die Stimme effektvoll strömen. Sein Padre Germont gibt den Schmerz des sorgenvollen Vaters wider und vermeidet alles nach Routine klingendes Umtata, feierlich klingt der Nabucco des Franzosen, geradezu Mitleid erregend sein Macbeth.

Keine nur auf Gruseleffekte zielende Brunnenvergifternummer ist sein Credo des Jago, sondern nur etwas offener gesungen, verhangen dann zum Schluss, im Piano ausgekostet das „e poi“- und die grässliche Lache am Schluss korrigiert etwas das Bild vom kultiviert und bedacht gestaltenden Sänger. Mit vorgetäuschter Atemlosigkeit sucht Rigoletto nach der geraubten Gilda, eine herrliche Crescendo-Fermate auf „taci“ und eine Superfermate auf „pietà“ lassen den Hörer staunen. Beide Renato-Arien erweisen den französischen Bariton noch einmal als effektvoll und eindringlich gestaltenden Sänger, dem „Eri tu“ geht noch einmal ein kunstvoll gestaltetes Rezitativ voraus, die Fiorituren werden schön ausgesponnen, der Schwellton am Schluss ist ein Höhe- und der Schlusspunkt, ehe noch einmal Rodrigo zu Wort kommt (Sony 19439753632). Ingrid Wanja

Libuse Domaninska

 

Die tschechische dramatische Soipranistin Libuše Domanínská wird Plattensammlern noch ein Begriff sein. Ihre Jenufa unter Bohumil Gregor bei Souprapohon zählt zu den bemerkenswertesten Rollenportraits der auf Dokumenten zu findenden Oper. Sie wurde (* 4. Juli 1924 in Brno; † 2. Februar 2021 in Hodonín) wurde als Libuše Klobásková im Brünner Stadtbezirk Královo Pole geboren. Ihren Bühnennamen Domanínská wählte sie nach der Ortschaft Domanín in der mährischen Slowakei, dem Geburtsdorf ihrer Eltern. In Brünn wurde sieam  Brünner Konservatorium 1940 dort Schülerin von Hana Pírková (1894–1944). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte sie ihre Studien bei Bohumil Soběský fort. 1946 absolvierte sie das Konservatorium.In ihrem letzten Studienjahr war sie als Solistin an der Janáček-Oper in Brünn engagiert.

Noch als Studentin am Konservatorium unterzeichnete sie einen Vertrag mit dem Nationaltheater Brünn, dem sie ab der Saison 1945/46 als Ensemblemitglied angehörte. Am 11. Oktober 1945 debütierte sie dort als Blaženka in der Smetana-Oper Das Geheimnis. Marie Řezníčková, eine Ensemblekollegin, wurde dort ihre neue Gesangslehrerin. 1947 sang sie Rusalka, Jitka, Mimì und Margarethe.1948 trat sie erstmals als Gräfin in Figaros Hochzeit auf. Sie übernahm außerdem die Rolle des Aljeja in Aus einem Totenhaus und die Ludiše in Die Brandenburger in Böhmen.

In den ersten vier Jahren ihrer Karriere studierte sie insgesamt 21 Rollen und legte damit den Grundstein für ihr Repertoire. Während ihres Engagements in Brünn verkörperte sie weitere wichtige Rollen der Opernliteratur, wie die Katuška in der Smetana-Oper Die Teufelswand, Xenia in Dimitrij von Antonín Dvořák, Málinka in Die Ausflüge des Herrn Brouček, Tatjana in Eugen Onegin und Jaroslawna in Fürst Igor. Ihre größten Erfolge hatte sie jedoch als Jenůfa und Káťa Kabanová, „die ihre Lebensrollen wurden“.

Ab 1. Januar 1955 war sie Solistin am Nationaltheater Prag, wo sie bis zum 31. Oktober 1990 im Ensemble blieb und ihr Repertoire weiter ausbaute. Sie sang dort Rollen wie Fiordiligi, Elisabeth von Valois, Abigaille, Desdemona, Aida, Lisa, die Titelrolle in Eva von Josef Bohuslav Foerster, Káča und Julia. Ihre offizielle Abschiedsvorstellung gab sie 1985 am Prager Nationaltheater.

1955 gastierte sie mit dem Ensemble des Prager Nationaltheaters in Moskau. 1956 gastierte sie an der Komischen Oper Berlin. 1959 sang sie beim Holland Festival in Amsterdam die Káta Kabanová. 1964 war sie mit dem Prager Nationaltheater zu Gast beim Edinburgh Festival, wo sie die Milada in Dalibor bei der britischen Erstaufführung des Werkes sang. Sie gastierte in Brüssel (1958), Helsinki (1960), Barcelona (1965), am Teatro Colón in Buenos Aires (1968), in Italien (1968) und in Deutschland. Ab der Spielzeit 1957/58 sang sie bis 1968 in über 100 Vorstellungen an der Wiener Volksoper die Rolle der Abigaille in Nabucco.

Ab 1956 war fast jedes Jahr zu Gast im Brünner Staatstheater. Sie sang außerdem am Staatstheater Košice (Štátne divadlo Košice) (1962), am Schlesischen Theater (tschechisch: Slezské divadlo) in Opava (1964, 1969), am Mährischen Theater Olmütz (1964), am Stadttheater Pilsen (1968) und am Antonín-Dvořák-Theater in Ostrava (1973).

Libuše Domanínská machte sich auch als Interpretin von Liedern, Kantaten, Oratorien und vokalen symphonischen Kompositionen einen Namen, darunter Werke von Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Dvořák, Janáček, und in Uraufführungen zeitgenössischer Komponisten.[2] Zu ihren wichtigsten Leistungen im Konzertsaal gehörte das anspruchsvolle Sopran-Solo in Janáčeks Glagolitischer Messe, mit der sie in vielen Teilen Europas auftrat und die sie auch mit den Dirigenten Břetislav Bakala und Karel Ančerl aufnahm.

Sie war auch eine gefragte Gesangslehrerin. 1974 wurde ihr der Titel „Verdiente Nationalkünstlerin der Tschechoslowakei“ verliehen.1996 erhielt sie den tschechischen Thalia-Preis für ihr Lebenswerk. Libuše Domanínská starb Anfang Februar 2021 im Alter von 96 Jahren.

Sie trat auch im Tschechischen Rundfunk auf, wo sie neben vielen Liedern unter der Leitung des Janáček-Schülers Břetislav Bakala Gesamtaufnahmen von Káťa Kabanová und Das schlaue Füchslein aufnahm. Sie sang auch eine Reihe von Schallplattenaufnahmen ein, u. a. Die Teufelswand (Supraphon 1960, mit Milada Šubrtová als Hedvika) und die Jenufa unter Bohumil Gregor, ebenfalls Supraphon. (Quelle/ Foto Wikipedia).

A Virgil Thomson Portable

 

Virgil Thomson, 1896 in Kansas City geboren, 1989 in hohem Alter in New York gestorben, war einer der einflussreichsten amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, außerdem Musikschriftsteller und Kritiker. Nach dem Studium an der Harvard University prägte ihn ein Aufenthalt in Paris von 1925 bis 1940. Hier studierte er nicht nur bei der berühmten Kompositionslehrerin Nadja Boulanger, sondern kam in engen Kontakt mit der „Group de Six“ (vor allem Georges Auric, Darius Milhaud, Francis Poulenc, Arthur Honegger) und befreundete sich mit dem unkonventionell-eigenwilligen Werk von Eric Satie. Auch andere Kunstgattungen hatten ihre Wirkung auf den jungen Komponisten. So lernte er in Paris den amerikanischen Maler Maurice Grosser (1903-1986) kennen, der dann sein Lebenspartner wurde. In einem Salon traf Thomson führende Künstler der Zeit. Eine wichtige Mentorin und künstlerische Partnerin wurde die Schriftstellerin Gertrude Stein (1874-1946). Wichtige Ergebnisse der Zusammenarbeit der beiden waren die Musiktheaterwerke Four Saints in Three Acts und The Mother of Us All. Mitte der 1930er-Jahre wandte sich Thomson der Komposition für den Film zu. Für seine Musik für Robert Flahertys Dokumentarfilm Louisiana Story (1948) erhielt er 1949 den Pulitzerpreis für Musik. Thomson war außerdem ein wichtiger Autor zu musikalischen Themen. 1940 veröffentlicht er das einflussreiche Buch The State of Music und in der Folgezeit u. a. The Musical Scene (1945), The Art of Judging Music (1948), Music, Right or Left (1951) oder Music with Words: A Composer’s View (1989).

Virgil Thomson/ Library of America

Virgil Thomson hat praktisch für alle Gattungen der Musik komponiert. Immer aber spielte Kammermusik in den verschiedensten Besetzungen eine große Rolle in seinem Oeuvre. Das belegt die vorliegende Box (Virgil Thomson: Poirtraits, Self Portraits and Songs; 2 CD Everbest)  deutlich. Treibende Kraft und spiritus rector bei diesen 1990 und 1994 zuerst erschienenen und nun wiederveröffentlichten Aufnahmen war Anthony Tommasini, Pianist und seit 2000 Hauptmusikkritiker der New York Times. Tommasini, der den Komponisten in dessen letzten zehn Lebensjahren persönlich kannte und das exzellente, sehr gehaltvolle Booklet für diese Veröffentlichung verfasste, verfügt über eine einzigartige Vertrautheit mit Thomsons Oeuvre. Er schrieb auch die Biographie Virgil Thomson: Composer on the Aisle sowie Virgil Thomson’s Musical Portraits.

CD 1: Portraits and Self-Portraits: Über 70 Jahre hinweg schrieb Thomson um die 150 kleinere Stücke, in denen er Personen aus dem Bekannten- und Freundeskreis und sich selbst portraitierte. Die Arbeitsweise übernahm er von seinen Malerfreunden: Er skizzierte die Stücke in Anwesenheit der zu Portraitierenden – die er liebevoll seine „sitters“ (Sitzenden) nannte –, allerdings wurde bei der Arbeit nicht gesprochen. Um Spontaneität und Fantasie freien Lauf zu lassen, waren die Sitzungen auf maximal 90 Minuten angelegt. Die kurzen Werke zeigen eine große Vielfalt in Besetzung, Farbe, Charakter. Anthony Tommasini (Klavier) versammelte vorzügliche Instrumen–talisten um sich: Sharan Leventhal (Violine), Fenwick Smith (Flöte), Frederic Cohen (Oboe), Ronald Haroutunian (Fagott), Jonathan Miller (Violoncello). Solistisch, im Duo und im Trio vermitteln sie den Reiz dieser Miniaturen sehr eindrücklich. Die Seven Selected Portraits verraten den Einfluss von Satie, die Three Portraits, vom Geiger Samuel Dushkin für Geige und Klavier arrangiert, sind virtuos, tänzerisch, witzig und erinnern an Strawinsky – wohl nicht zufällig, verfasste er doch für Dushkin sein Violinkonzert. Die Six Selected Portraits für Soloklavier haben neoklassizistische, aber auch leicht impressionistische Züge. Jedenfalls schimmert das Französische durch. Die Nr. 6, eine „Akkordstudie“ ist „Tony Tommasini“ gewidmet. Sehr eindrucksvoll, mit weit schwingendem, schwebendem Ton und ganz im Sinne der Bezeichnung „Rapsodico“ spielt Fenwick Smith den ersten, unbegleiteten Satz des Konzerts für Flöte, Streicher, Harfe und Schlagwerk (Uraufführung 1954)

CD 2 : Mostly About Love: Songs and Vocal WorksMostly About Love ist eine Art Querschnitt durch das Vokalwerk des Amerikaners, durchaus repräsentativ, weil Werke aus frühen und späteren Schaffensphasen vorgestellt werden. Thomson verfasste um die 100 Vokalwerke: Lieder, Gesangsduette und –quartette u. a. m. Sie zeigen sein großes Interesse für die Literatur und die starke Verbundenheit mit französischen Autoren. Den Beginn macht Susie Assado (1926) auf einen Text von Gertrude Stein: knapp, lakonisch, wenn nicht minimalistisch – mit einem Sujet und Text zwischen Dada und Nonsense (im besten Sinne). Titelfigur ist eine charmante Gastgeberin die „süssen, süssen, süssen, süssen, süssen [sic!] Tee“ serviert. 1927 entstand, wieder auf einen Text Gertrude Steins Capital Capitals – ein Werk, das „die Provence, ihre Landschaft, ihr Essen und ihre Menschen evoziert, als ein Gespräch zwischen den Städten Aix, Arles, Avignon und Les Baux, hier Capitals One, Two, Three und Four genannt. Es spiegelt auch die Verbundenheit der Dichterin mit dieser sonnigen Region wider, die sie zum ersten Mal als Sanitäterin im Ersten Weltkrieg kennengelernt hatte“. So Virgil Thomson über die Komposition für vier Sänger und Klavier, die nur schwer in eine Gattungs-Schublade passen will: weniger Unterhaltung oder Assoziationen über das Thema „Kapitale“ denn ein „verbales Gefecht mit Stein’schen Statistiken und demographischen Feldstudien als Waffen“ (A. Tommasini). Sehr deklamatorisch, aber auch musikalisch als Sprechgesang mit Klavierpartner, ist es ein Werk, das man – zumal, wenn es so inspiriert und pointiert wie hier vorgetragen wird – auch ganz abstrakt und frei verstehen kann. Pigeons on the Grass Alas schließlich, Rezitativ mit Arie aus der Oper Four Saints von 1935 ist ein weiteres Ergebnis der Zusammenarbeit mit Stein.

Thomson trifft in seinen Vokalkompositionen Inhalt, Ton, Stimmung und Geist der literarischen Vorlagen, seine „Vertonungen“ verstärken oft die Wirkung der Literatur – und verhelfen auch wenig oder unbekannten Werken zur Geltung. Da gibt es Kompositionen mit religiösen Inhalten oder von der Bibel inspiriert wie Praises and Prayers, den 1963 entstandenen Zyklus auf Texte u. a. Franz von Assisis und des Kirchenvaters Augustinus sowie die reizvollen Five Phrases from the Song of Solomon (1926), kurze erotische Gedichte aus dem Hohelied Salomons, ungewöhnlich für Sopran und Schlagzeug besetzt, zum Teil in exotischem Tonfall. Zu den religiös inspirierten Kompositionen zählt auch die zwölfminütige Kantate Oraison Funebre für Solostimme und Klavier von 1930. Vorlage ist ein Trauergebet von Jacques Bossuet (1627-1704), einem in Frankreich berühmten Kanzelredner, Verfasser von Gebeten und Predigten, der auch politisch aktiv war und es sogar zum Bischof brachte. Thomsons Trauer gilt freilich nicht der Königin Henriette-Marie von Frankreich wie bei Bossuet, sondern einem früh zu Tode gekommenen Freund, dem französischen Maler Emmanuel FaŸ.

Virgil Thomson und Gertrude Stein/ virgil-thomson.org

1928 schrieb Thomson den Commentaire sur Saint Jérome auf einen Text des Marquis de Sade, später komponierte er viele Shakespeare Songs und 1959 den Liederzyklus Mostly about Love. Die Gedichte von Kenneth Koch und Thomsons Musik skizzieren verschiedene Aspekte oder Facetten der Liebe: Liebes-Erklärung, Liebes-Erörterung, Einladung zur Liebe. Und in einem Gebet an die heilige Katharina bittet ein Liebender darum, seinen Herzschmerz und seine Schüchternheit zu überwinden, um die Liebe schließlich gelingen zu lassen.

Die vorzügliche Produktion mit Interpreten, die alle auf dem gleichen, hohen Niveau musizieren, ist eine willkommene Wiederver­öffentlichung. Sie hat nichts an Wert oder Bedeutung verloren und eignet sich sehr als Einführung in das Werk dieses ebenso interessanten wie originellen Komponisten, den es in Deutschland noch zu entdecken gilt. Helge Grünewald

 

Informationen: https://www.virgilthomson.org/;    https://en.wikipedia.org/wiki/Virgil_Thomson;    David Dubal spricht mit Virgil Thomson;   https://www.youtube.com/watch?v=-wWLMGTOmRQ  ; https://www.youtube.com/watch?v=O4oMG592NiI;   Interview mit V. Thomson, Cuny TV;   https://www.youtube.com/watch?v=ID0h3zC8M6E

 

Erotische Verwirrungen

 

Der Hutmacher Prosper Aubertin, der mit dem Alltag seines bürgerlichen Lebens unzufrieden ist, träumt von außerehelichen Affären. Er ärgert sich jedoch, Angebote seiner Frau, Tochter und seines Dienstmädchens in den Antworten auf eine anonyme persönliche Anzeige zu finden, die er in den Kummerkasten gestellt hat. Um herauszufinden, was diese Frauen wirklich wollen, lädt er sie alle in eine Villa in Südfrankreich ein. „Dies ist eine bürgerliche Tragödie. Diese Tragödie hätte Sich selbst kennen heißen können und sehr übel enden können. Als ich sie in Alexandrinern schrieb und bevor ich sie der Comédie-Française anbot, dachte ich gut zehn Minuten lang sorgfältig nach … dann habe ich sie zu einer Komödie gemacht“, scherzte Sacha Guitry.

Diese musikalische Komödie, O mon bel Incconue,  ist nach Mozart (1925) die zweite Opern-Zusammenarbeit zwischen dem berühmten Autor und Bon-Vivant Guitry und dem Komponisten Reynaldo Hahn. Zu dieser Zeit genoss der Hahn wohlverdienten Ruhm im Genre des leichten Musiktheaters: Nach Ciboulette (1923) hatte er Erfolg nach Erfolg in den kleineren Theatern von Paris (Le Temps d’aimer, Une Revue, Brummel), und Ô mon bel inconnu , das nun in einer Aufnahme aus Avignon 2019 beim Palazzetto Bru Zane in gewohnten Buch-CD-Format vorliegt, enttäuschte nicht. Le Figaro hob die für Hahn in der Zwischenkriegszeit so charakteristische „Eleganz des Tons und der Unterscheidung der Form“ hervor und betrachtete ihn als den rechtmäßigen Erben von André Messager. Le Ménestrel war ebenso begeistert: „Die Musik von Monsieur Reynaldo Hahn passt zu dem Thema mit einer Vielseitigkeit und Berührungssicherheit, die so etwas wie ein Wunder darstellt. Sie zeigt unvergleichliche Verfeinerung und Taktgefühl und gleichzeitig einen Witz, der Emotionen nicht ausschließt. Sie wird durch eine flotte, ausdrucksstarke und transparente Orchestrierung ergänzt.“ Was will man mehr?

„O mon bel Inconnue“: die bezaubernde Arletty war der Star der Uraufführung/Foto Shazam

Eine perfekte Besetzung gab es für die erste Aufführung: unter der Leitung von Jean Aquistapace und glanzvoll ergänzt durch die bezaubernde Arletty in der Rolle der Félicie (die der Filmfan so betörend aus dem Streifen Les enfants du Paradis mit der Schilderung der Bouffes-Parisiens in Erinnerung hat). Eine solide Komödie der 30iger Jahre also … Hahn liebt suggestive Leichtigkeit; die Kunst der genussvollen Finesse, die sich auf verschiedene Weise zeigt; so kultiviert die Partitur von Oh, mein schöner Unbekannter diese Farbe der komischen Oper, eine leichte Komödie, fast eine Operette. Nach Mozart findet sich das Duo Hahn / Guitry bei einem Thema einer nicht so harmonischen Sippe wieder.

Die Familie Aubertin, Vater, Mutter und Tochter, eine typische Familie von kleinbürgerlichen Kaufleute (Prosper ist Hutmacher) erliegt der Verlockung von Phantasien, die aus brieflicher Korrespondenz entstehen, die geeignet sind, das häusliche und familiäre Einerlei inb Chaos umzuwenden. Statt der gewohntenb Langeweile dieser scheinbar ehrbaren Gemeinschaft, wird diese nun Opfer einer emotionalen Verwirrung und damit das Opfer von Pariser Frivolitäten. Das Verlangen und die zum Teil riskanbten Phantasien bedrohen ernsthaft das Gleichgewicht der Familie; die Erregung, die unhöflichen Worte lassen die sozialen guten Sitten implodieren (dornig, bitter, ganz im Geist von Guitry, der hier seiner neuen Zusammenarbeit mit Hahn seinen Stempel aufdrückt: „Aber Sie haben mich in den Hintern gekniffen“, schreit Antoinette zu Jean-Paul: Man könnte sich heute über eine solche emblematische Naivität der Zwischenkriegszeit wundern, aber die Zeiten waren andere, engere, reglementierte.

Was Hahn hier vor der Banalität rettet, ist die Tiefe und die Finesse unter der Maske einer scheinbaren Gleichgültigkeit (etwa die Rolle von Claude, des falschen Freiers: ausgezeichnet auf der neuen Aufnahme Yoann Dubruque, ausgesprochen natürlich, die Textdeklamation wie eine zweite Natur). Hahn rivalisiert so zwischen Ehrlichkeit und Drama mit seinem großen Vorbild, dem Mozart der Nozze di  Figaro. Bemerkenswert auch der unbestreitbar köstliche Witz von Éléonore Pancrazi in der Rolle der Haushälterin Félicie in der Einspielung aus Avignon. Hier sind zwei dramatische Talente vorhanden, in untadeligem Französisch, mit subtilem und wechselhaftem Ausdruck, die sich deutlich vom Rest der Besetzung unterscheiden. Auch von der inzwischen doch etwas ältlichen Véronique Gens als spöde Antoinette.

Der Dirigent Samuel Jean befördert dieses frivole und lustige Ambiente, vor allem in der Ouvertüre, in jedem Zwischenspiel und jeder Pause, wo nur die Orchesterinstrumente diese delikate Zweideutigkeit gestalten (zu bemerken ist als augenzwinkernde Anspielung auf den französischen Romantizismus das Saxophon, eindeutig ausgeliehen aus dem Orchester von Thomas´ Hamlet). Das Ganze ist gepflegt, lebhaft, stützt sich auf gut gezeichnete Charaktere; wodurch man über das Duo Guitry /Hahn so viel erfahren kann, wie sie Oktober 1933 die Pariser Musiklandschaft der Bouffes-Parisiens auf die Bühne brachten (VÖ 2. Februar 2021; Reynaldo Hahn: O mon bel Inconnue mit Véronique Gens, Olivia Doray, Èleonore Pancrazi, Thomas Dolié, Yoann Dubruque, Carl Ghazarossian, Jean Christophe Laniége; Ortchestra National Avignon-Alpes; Dirigent Samuel Jean; 1 CD Palazzetto Bru Zahn im gewohnten Buchformat in der Reihe Opéra francais mit zweisprachigen Aufsätzen und dto. Libretto). Clothilde Dumas/ Palazzetto Bru Zane (Übersetzungen Ingrid Englitsch/ Daniel Hauser)