Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Rudolf Kelterborn

 

Am 24. März 2020, wenige Monate vor seinem 90. Geburtstag, ist Rudolf Kelterborn in Basel gestorben. Am 3. September 2021 hätte der Schweizer Komponist, Musikvermittler, Lehrer und Mentor der neuen Musik seinen runden Geburtstag gefeiert.

„Der ‚Inhalt‘ meiner Musik“, sagte Rudolf Kelterborn, „wird bestimmt durch die oft schier unerträgliche Spannung zwischen den Schönheiten dieser Welt, den unerhörten Möglichkeiten des Lebens einerseits und den Ängsten, Schrecken und Nöten unserer Zeit andrerseits.“ Ein unermüdliches Fortschreiten, eine unbändige Neugier, ein Reflektieren und leidenschaftliches Neuschaffen bestimmten die Werke des Schweizer Doyens.

Sein Schaffen umfasst alle Genres – vom Solostück bis zur abendfüllenden Oper. Sein Lebenslauf dokumentiert sein Wirken in vielen Bereichen des Musiklebens und seine Berufung im umfassenden Vermitteln von Musik. Kelterborn wurde 1931 in Basel geboren und war neben seiner schon früh erfolgreichen kompositorischen Arbeit auch als Lehrer und Professor in Detmold, Karlsruhe, Zürich und Basel tätig, unterrichtete in der ganzen Welt von USA bis Fernost. Später wurde er Leiter der Abteilung Musik beim Schweizer Radio DRS, Chefredakteur der Schweizerischen Musikzeitung, Direktor der Musik-Akademie Basel und Mitbegründer der originellen Konzertreihe des Basler Musik Forums. Mit diesen vielfältigen Aktivitäten hat Kelterborn das Schweizer Musikleben maßgeblich mitgeprägt, nicht zuletzt als Lehrer des Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini.

Ein stetes Neu-Denken von musikalischen Strukturen bestimmt sein ungebrochen kreatives Schaffen als Komponist. Eine kontrastreiche, vielschichtige, energiegeladene Musiksprache, die unmittelbar packend wirkt und den Hörer mitnimmt, kennzeichnet seine Kompositionen.

Anlässlich seines Geburtstages sind zahlreiche Konzerte bedeutender Werke, unter anderem mit dem Sinfonieorchester Basel und der Basel Sinfonietta geplant. Sie werden nun zu klingenden Nachrufen.

Der Bärenreiter-Verlag trauert um einen der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler seiner Generation und einen bis zu seinem Tod ungebrochen kreativen Komponisten. (Quelle/ Foto Bärenreiter)

Rollentausch

 

Was Bayreuth für Richard Wagner und Pesaro für Giacchino Rossini ist, das bedeutet Bergamo für Gaetano Donizetti, dessen Werke jedes Jahr im September im Rahmen eines Festivals aufgeführt werden. Angesichts des umfangreichen Oeuvres  des Komponisten kommt es immer wieder zur Wiederentdeckung fast nie oder äußerst selten gespielter Werke, zu denen auch Torquato Tasso gehört, der der oberitalienischen Stadt auch deshalb besonders nahe steht, weil er zwar in Sorrent geboren wurde, seine Familie aber  aus Bergamo stammt. Die Geschichte des wahrscheinlich von Wahnvorstellungen geplagten Dichters von La Gerusalemme liberata, der an vielen italienischen Fürstenhöfen, darunter auch an dem von Ferrara und sieben Jahre lang in einem Gefängnis lebte, hat viele Dichter inspiriert, darunter auch Goldoni und Goethe, mit deren Werken sich Donizetti beschäftigte. In Goethes gleichnamigem Drama kommen auch die beiden Eleonoren vor, die eine die Schwester des regierenden Fürsten, die andere ihre Hofdame. Ungewöhnlich ist die Besetzung des Helden mit einem Bariton und darauf zurückzuführen, dass Donizetti begeistert von den Talenten und der Physis des Baritons Giorgio Ronconi war und ihm vor dem Tasso bereits die führende Partie im Vorläufer Il Furioso all’isola di San Domingo anvertraut hatte. Weiterhin auffällig ist die Verbindung der eigentlich tragischen Handlung: Torquato Tasso wird zwar nach sieben Jahren Kerker befreit und als Künstler hoch geehrt, muss aber erfahren, dass die geliebte Eleonora seit Jahren tot ist, mit einer Figur der Buffa, dem intriganten Don Gherardo,  die aberwitzig virtuose Prestissimi wie ein Don Bartolo oder Don Pasquale zu singen hat.

Die DVD von Torquato Tasso stammt aus dem Jahre 2014, die Regie führte Federico Bertolani, der die Sänger nicht unnötig durch inszenatorische Geniestückchen beansprucht, sondern einen würdigen Rahmen für ihre Auftritte schafft, sie  in den sparsamen, aber die unterschiedlichen Schauplätze stilisiert verdeutlichenden Bühnenbildern von Angelo Sala agieren lässt. Die historisch korrekten Kostüme stammen von Alfredo Corno. Bemerkenswert sind die unzähligen Blättern offensichtlich vom Dichter Tasso beschrieben und von roter Farbe, wenn der Geliebten zugedacht, die den Boden aller Schauplätze bedecken, sogar an den Säulen kleben und die der plötzlich zu Ruhm und Ansehen Gelangte am Schluss zusammenrafft so gut es geht, um sein neues Leben als Dichterfürst zu beginnen.

Waren es die ungewöhnlichen Fähigkeiten als Sänger wie Schauspieler des Baritons, die diesem einst zur Titelpartie verhalfen, so ist die Optik des Koreaners Leo An nicht die eines immerhin auch  noch jugendlichen Helden und die Stimme, die sich bereits an Kalibern wie Scarpia erprobt hat, zwar eine furchtlos alle Tücken der Partie meisternde, die mezza voce  farbig und er kann durchaus ein schönes Piano singen, doch bevorzugt  er zu oft ein donnerndes Forte und singt damit die anderen Beteiligten an die Wand. Das andere Extrem vertritt der Tenor Giorgio Misseri als Roberto Geraldini, eine zarte, leicht meckernde Rossinistimme mit guter Technik, die sich den irrwitzigen Schwierigkeiten des „Quel tuo sorriso“ und den häufigen Intervallsprüngen furchtlos stellt. So wie dieser ist auch der zweite Tenor Alessandro Viola, der die kleine Partie des Ambrogio schüchtern angeht, ein attraktiver Mann, was der Optik des Tasso zusätzlich schadet. Alle Register eines erfahrenen, unerschütterlichen Buffo zieht Marzio Giossi als Don Gherardo. Gabriele Sagona stützt mit reifem Bass als Alfonso II. Eine sehr schöne, farbige, geschmeidig eingesetzte Sopranstimme setzt Gilda Fiume für die Eleonora d’Este ein, ihre Klage ist wunderschön gesungen und damit sehr berührend. Annunziata Vestri ist die „andere“ Eleonora di Scandiano mit angenehmem Mezzosopran. Orchester und Herrenchor des Bergamo Musica Festival kennen natürlich ihren Donizetti und erstere begleiten unter Sebastiano Rolli einfühlsam (Bongiovanni AB 20040)Ingrid Wanja

„Eifersucht, du Kind der Höllen“

 

Nach Philippe Jaroussky und seinem Album „La vanità del mondo“ mit italienischen Oratorien-Arien stellt nun auch Valer Sabadus auf seiner neuen CD bei SONY Auszüge aus geistlichen und weltlichen  Vokalwerken vor (19439803302). Diese stammen großteils aus dem reichen Schaffen von Johann Sebastian Bach und werden ergänzt um einige Arien aus Singspielen sowie einer Oper von Georg Philipp Telemann. Das Kammerorchester Basel begleitet den Countertenor unter Leitung von Julia Schröder. Die prominente Geigerin bereichert das Programm noch um das Konzert für Violine, Streicher und Basso continuo, BWV 1042. Mit energischem Zugriff, aber auch hoher Virtuosität in den Solopassagen gibt sie ihrer Interpretation das Prädikat des Besonderen.

Die Arie „Ich habe genug“, welche Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 82:a von den Titel gab, eröffnet die Programmfolge. Sie erklingt hier in der Fassung für Sopran, was für den Sänger eine Herausforderung darstellt. In der exponierten Tessitura klingt die Stimme ungewohnt und gespannt. Besser liegen ihm die Alt-Arien „Laudamus te“ aus der Messe in h-Moll, BWV 232 und „Et exsultavit“ aus dem Magnificat D-Dur, BWV 243. Sie bringen die Schönheit und Reinheit des Organs zu gebührender Wirkung. Das betrifft auch die Arien Vergnügte Ruh’“ aus der gleichnamigen Kantate, BWV 170, und „Schlafe, mein Liebster“ aus der Kantate Lasst uns sorgen, BWV 213. Letztere ist ein Beispiel für das von Bach mehrfach praktizierte Parodie-Verfahren. Die Arie verwendete der Komponist später in einem seiner populärsten Werke, dem Weihnachtsoratorium.

Die Beispiele aus dem Schaffen Telemanns beginnen mit zwei Szenen aus dem Singspiel Sieg der Schönheit – Rezitativ und Arie des Honoricus „Wo ist das Ende meiner Plagen/Zeige dich, geliebter Schatten“ sowie „Ich fliehe Dich/Lass in Augen Feuer blitzen“. Hier kann der Sänger in den Affekt betonten Rezitativen und den ausdrucksstarken Arien durch sein großes Einfühlungsvermögen für sich einnehmen. Aus der Oper Flavius Bertaridus singt Sabadus die stürmische Arie des Titelhelden „Hò disarmato il fianco“. Sie belegt das virtuose Vermögen des Sängers und seine Fähigkeit zur Aplomb reichen Attacke. Das Programm endet mit Rezitativ und Arie des Zemir „Mein Feind frohlockt/Eifersucht, du Kind der Höllen“ aus dem Singspiel Miriways als weiteres Beispiel für die Kombination aus Bravour und heroischem Zugriff. Bernd Hoppe

 

Der „Fall Frida Leider“

 

Wie geht man mit Geschichte um? Wie lässt man historischen Persönlichkeiten Gerechtigkeit widerfahren? Die Frage stellt sich für uns und mich selbst als unabhängiger Journalist, Chefredakteur und privat erinnernder Zeitzeuge einmal mehr, weil der alte Streit, die alte Müh‘, um Frida Leider und das Buch über sie von Eva Rieger neu entbrannt ist (wir berichteten davon in der Rezension zur Publikation von Rüdiger Winter, meine eigenen Erinnerungen an Frida Leiders Lebensgefährtin Hilde Bahl sind in einem getrennten Artikel als meine eigenen Gedanken erkennbar). Ganz abgesehen von den vielen, vielen Ungenauigkeiten und Sach-Fehlern in der Biographie (die ein Lektor hätte beseitigen können und die in einer geplanten englischen Ausgabe hoffentlich korrigiert werden) alarmierten mich die Zeilen, die Frau Professor Rieger an mich und die Redaktion am 1. 4. 2021 schrieb – ganz offensichtlich nicht als ein Aprilscherz: „Sie haben wieder gegen mich gehetzt …Ich soll absichtlich Frida Leiders lesbische Beziehung vertuscht haben. Und das, obwohl ich mich schon mehrfach gegen Ihre erfundenen Wunschvorstellungen gewehrt habe.  Wenn Sie noch weiter solche Lügen verbreiten, werde ich zu meinem Anwalt gehen und mich gegen eine solche Schädigung meines Rufs wehren.  Eine solche Verleumdung, wie Sie sie unablässig verbreiten, habe ich lange genug hingenommen. Ich habe längst aufgegeben, die vielen Unwahrheiten, die in der damaligen Kritik meines Buches in Ihrem Portal standen, zu korrigieren…. wenn Sie wieder wagen, Ihren Wahn überall zu verbreiten, werde ich mich dieses Mal wehren. … Ich warne Sie noch einmal ausdrücklich davor, mich bei anderen Menschen, die selbst publizieren und in der Öffentlichkeit tätig sind, mit Unwahrheiten und fantasievollen Wunschvorstellungen zu diffamieren.“ Und so weiter.

 

Das ist schon heftig und zeigt, wie wenig eine Autorin, anerkannte Frauenforscherin und Verfasserin vieler Publikationen, mit berechtigter Kritik umgehen kann, zumal sie eine fundierte Rezension meines Kollegen und meinen eigenen  Erinnerungsbericht vermischt. Was vielleicht ein von dieser Person Leider abgelöstes Problem aufzeigt. Wie weit will jemand zulassen, dass das Objekt seiner Darstellung anders gesehen wird als vom Autor selber? Wieweit wird eine geschichtliche Persönlichkeit – wie in diesem Falle jemand, der vor rund 80 Jahren zu singen aufgehört hat! – zu einer Art Heiligenfigur verklärt, wo anderslautendende Erinnerungen ausgeblendet und diskriminiert werden? Wo in der Publikation die musikalische Wertung (im Falle einer Sängerin) beklagenswert dürftig ausfällt, wo Fakten nicht erwähnt, Lebensumstände verbissen einseitig dargestellt und Gegenstimmen unterdrückt werden. Wo viele Ungenauigkeiten und vermeidbare Fehler herrschen.

Darstellungen geschichtlicher Persönlichkeiten sind stets problematisch, weil zumeist zu subjektiv. Im Falle der Leider fällt zudem die Dürftigkeit der gesicherten Fakten auf. Ihre eigene Autobiographie (für die Zweitausgabe nochmals gekürzt) gibt außer Anekdoten nicht viel her. Die Beziehung zu dem Dirigenten und Ehemann Deman bleibt obskur, viele Details aus dem Leben sind nicht mehr zu rekonstruieren. Auf die Nachkriegsperiode wird kaum eingegangen.

Was bleibt, sind Zeitzeugen. Und Zeitzeugen sind eben auch subjektiv in ihren Erinnerungen. Dennoch müssen sie gehört und nicht nach Kommodität aussortiert werden. Nicht hören zu lassen, was sich nicht in diesen schwärmerischen Heroenkult fügt, ist unwissenschaftlich, nimmt jedoch die Autorin dies für sich in Anspruch. Wie so oft darf die Erinnerung an eine große Persönlichkeit nicht „beschmutzt“ werden, soll das Objekt der Verehrung „rein“ bleiben, keine Abseiten haben, keine „düsteren“ Geheimnisse. Huhhh, wie kleinbürgerlich, wie unhistorisch.

Ich sehe diese Entwicklung überall. Unhistorisches Denken greift um sich, ob nun die idiotische Umbenennungssucht von belasteten Straßen-Namen oder leichtfertige Reportagen im Fernsehen, wo Gegendarstellungen nicht auftauchen und schlampig recherchierte Berichte für Falschmeldungen sorgen. Oder die Verleugnung von Meinungen.

Eva Rieger/ Wikipedia

Umso erschreckender sind die Drohgebärden von Autoren, die ihre Bücher kritisiert sehen und sich gegen Richtigstellungen oder abweichende Meinungen mit juristischen Andeutungen zur Wehr setzen. Wie gehen diese Menschen eben mit Kritik um? Muss man als Journalist immer die Adresse seiner  Rechtsschutzversicherung unter einen Artikel setzen? Zumal wenn die Autoren nicht zwischen einer seriösen Rezension und einem sehr persönlichen Beitrag der Erinnerungen (mit namentlicher Kennzeichnung als privat) unterscheiden können? Wie weit können sie überhaupt mit Kritik umgehen? Ist es nicht ein beklagenswertes Zeichen der Zeit, dass abweichende Meinungen unterdrückt werden und die political correctness als „Keule“ niedergeht (um Herrn Walser zu zitieren).

Insofern reiht sich die „Affäre Leider“ in das allgemeine Tagesgeschehen ein. Was nicht sein darf auch nicht sein kann. Schöne glatte Welt. Dabei wurde im Falle der Leider eine große Chance versäumt, sie beispielhaft als das Model einer selbstbestimmten, emanzipierten Frau in schwierigen Zeiten  darzustellen. Wie lebte sie wirklich, wie war ihre Überlebensstrategie, wie ging sie mit ihrem Privatleben um, wie weit war ein öffentliches mit einem privaten Leben zu vereinbaren. War ihre Heirat eine freundschaftliche Sachlösung aus gegenseitigem Schutz wie bei Lorenz oder Gründgens (der Fall Rudolf Deman/1880–1960 ist ja unerforscht). Das sind doch wichtige Fragen, zumal von großem, sozialpolitischem Interesse für uns Heutige. Mehr noch als die langweilige Aufzählung allseits bekannter dürftiger Fakten und zweifelhafter Ausflüge in musikalische Gefilde.

Hilde: Der Gedenkstein ist in das Ehrengabe von Frida Leider und Rudolf Deman eingelassen. Foto: Winter

Die musikalischen Aspekte der Leider werden im Buch nicht wirklich diskutiert, wobei man ja nachhören kann, wie schnell der Abbau der Stimme vor sich ging. Das ist natürlich eine partielle Erklärung, warum sie nicht in London mehr sang, auch nicht an der Met. Und nicht mehr in Bayreuth, um von der Fuchs  ersetzt zu werden.  Auch, warum die Stimme nicht die letzten Kriegsjahre überdauert hat, um neu danach noch einmal anzufangen: Die instabile Gesangstechnik gab’s nicht her. Und als Unterrichtende/ Regisseurin gelang der Leider der Anschluss auch nicht mehr. Da war nicht die Lemnitz an allem schuld. Wie also lebte die Leider nach dem Krieg? Was war das mit dem Fond für junge Sänger, in den ihre restliches Vermögen ging. Was erbte die Bahl?

Und kein anerkennendes Wort über eben diese, die langjährige Gefährtin Hilde Bahl, die bei Rieger infamer Weise als Hausdame deklassiert wird. In einer kleinen Alt-Neubau-Wohnung! Nein, Hilde Bahl war eine gebildete Frau, von ihrem industriellen Vater in Japan gut ausgebildet, sprach mehrere Sprachen, war eine großbürgerliche Tochter (im Gegensatz zur Leider, die aus schlichten Verhältnissen kam). Sie war – wie ich selber in manchen Begegnungen bei ihrem köstlichen Streuselkuchen erleben konnte – ebenfalls eine bemerkenswerte, wenngleich sehr zurückhaltende, Frau und eben Partnerin der Leider. Die mir viel Privates erzählte. Aber was nicht sein kann, das nicht sein darf.

Wie also geht man mit historischen Persönlichkeiten um? Ich denke mit mit Empathie und Forschungssinn für die Wahrheit, soweit sie zu ermitteln ist. Nicht mit Weglassen oder Nicht-Wahrhaben wollen. Und sicher nicht mit juristischer Keule gegen Zeitzeugen, die nicht gehört werden sollen. Oder gegen Journalisten, die offensichtliche Fehler nachweisen. Geerd Heinsen

Zwischenbericht

 

Spaziergänge durch das musikalische Leipzig hat der Henschel Verlag inzwischen in vierter Auflage herausgebracht, nach dem Raum wird nun die Zeit erforscht mit Hagen Kunzes Gesang vom Leben-Biografie der Musikmetropole Leipzig. Der zunächst befremdlich erscheinende Titel erklärt sich mit dem Cover, das Teile von Sighard Gille gleichnamigem, sich über vier Etagen erstreckendem Gemälde im Gewandhaus zeigt, leider die einzige Bebilderung, obwohl sich eine besonders reichhaltige eigentlich anbieten würde.

Das Buch ist geschickt gegliedert, indem es einerseits chronologisch vorgeht, zugleich aber auch thematisch, so bestimmten Persönlichkeiten oder Institutionen ein Kapitel widmend, was dazu führt, dass sich manche Kapitel zeitlich  überlappen. Jedes Kapitel, und alle umfassen nur jeweils einige Seiten, ist untergliedert in Schwerpunkte, was erstens das gesamte Buch trotz seines beachtlichen Umfangs übersichtlich erscheinen lässt und zweitens dem Leser die Möglichkeit lässt, auch einmal , zeigt er sich nicht besonders interessiert, den einen oder anderen Abschnitt zu überspringen.

Es beginnt mit der Gründung des Klosters Sankt Thomas und damit mit einer der berühmtesten Institutionen, dem Thomanerchor. Er und seine Chorleiter begegnen dem Leser natürlich immer wieder, ebenso wie die Betonung, dass Leipzig nicht Residenzstadt wie Dresden, sondern eine Stadt freier Bürger war, die seit 1190 das Messeprivileg besaßen und die nach der Reformation den Chor zu einem städtischen werden ließen. Hand in Hand geht mit der Entwicklung der Stadt, der Thomaner und der „Stadtpfeifer“ die Entwicklung der Musik von der Gregorianik zur Mehrstimmigkeit, und ein Chorbuch beweist, dass schon früh der Sopran zur führenden Stimme wurde. Neben der geistlichen Chormusik, Heinrich Schütz widmet der Stadt in schwerster Zeit, dem 30jährigen Krieg, eine solche, wird die Entwicklung auch der weltlichen Musik detailliert beschrieben, so die Opern von Johann Kuhnau,  unsterblich  aber sind Lieder wie Vom Himmel hoch oder  Lobet den Herrn .

Viel erfährt der Leser über die Komponisten, die in Leipzig wirkten, als Thomaskantor oder Gewandhausorchesterdirigent, so über Telemann, Melchior Hoffmann mit seiner 15stündigen Oper und natürlich Johann Sebastian Bach, der seinen Einstieg in Leipzig als Orgelbegutachter hat.

Nicht nur Künstler machen Leipzig zur Musikstadt, sondern auch Orgelbauer wie Silbermann, Verleger wie Breitkopf, zu dem später Härtel stößt oder Peters oder Klavierbauer wie Blüthner. Einige dieser Namen tauchen auch in den Kapiteln über die Nazizeit und die DDR-Geschichte auf, wenn glücklich, dann mit einer Neugründung oder Wiedergründung endend.

Natürlich nimmt Bachs Wirken einen breiten Raum im Buch ein, seine Johannespassion und danach die Matthäuspassion, das Musikalische Opfer, das nicht der Stadt, sondern dem Erzfeind Friedrich von Preußen gewidmet ist. Zur Posse wird das Schicksal des Toten, endend mit dem lakonischen „Tach, ich bring Bach.“

Die Geschichte des Musklebens der Stadt Leipzig ist auch eine der Gebäude, in denen musiziert wird, sei es die Thomanerkirche oder sei es das Gewandhaus.  Nicht vergessen werden das Musikinstrumentenmuseum oder die Singakademie, die Völkerschlacht von 1813, dem Jahr, in dem auch Richard Wagner in Leipzig geboren wurde.

Immer wieder wird Leipzig von berühmten Künstlern besucht, sei es Mozart mit einem Orgelkonzert, Paganini oder Clara Wieck, deren leidvolle Liebesgeschichte mit Robert Schumann nicht ausgespart wird. Nicht nur damals ist Albert Lortzing „der verkannte Komponist“, heute ist es viel schlimmer, denn er ist der vergessene Komponist. Das alles wird in einem romanhaft flüssigen wie sachlich korrekt wirkenden Stil beschrieben, so dass die Lektüre zugleich unterhaltsam wie kenntniserweiternd ist.

Natürlich darf Mendelssohn-Bartholdy nicht fehlen, noch darf es der Streit um sein Denkmal, dass während des Urlaubs des Oberbürgermeisters Carl Goerdeler von den Nazis abgerissen wurde, der später zum engsten Kreis um Stauffenberg gehörte. Mendelssohn seinerseits hatte ein Bachdenkmal gestiftet, das in Beisein des letzten Urenkels Bachs eingeweiht wurde.

In manchen Institutionen oder vielmehr ihren wechselnden Namen spiegelt sich deutsche Geschichte, so im Musikerverein Euterpe von 1824, der 1948 zum Orchester der DeutschSowjetischen Freundschaft mutieren musste, um nach dem Mauerfall zum Sinfonischen Musikverein zu werden.

Auch Gustav Mahler ist Teil der Musikgeschichte Leipzigs und vollendet Webers Die drei Pintos,  nicht nur neue Dirigenten kommen, es werden auch neue Gebäude für alte Institutionen gebaut und die Interpreten mit der Zeit wichtiger als die Komponisten.

Bereits 1924 wird der Mitteldeutsche Rundfunk aus der Taufe gehoben, die Nazis kommen an die Macht und vertreiben Gustav Brecher wie Bruno Walter, Nachfolger Hermann Abendroth ist Parteimitglied wie SU-Freund und deshalb Abgeordneter für die NDPD in der Volkskammer. Die Thomaner werden der Hitlerjugend eingegliedert, aber ihre Bindung an die Kirche bleibt, nach den ersten Bombenangriffen werden sie nach Grimma evakuiert, ihre Schule bleibt auch nach 1945 humanistisches Gymnasium.

Bereits 1943 wird Leipzig durch Bomben zerstört, die Oper geht ins Varieté Dreilinden, das Gewandhausorchester ins Capitol und spielt weiterhin im Rundfunk, was vielen Mitgliedern das Leben rettet.

Nach 1945 bleibt Leipzig Musikstadt, mit der die Namen Joachim Herz, Uwe Wand, Herbert Kegel, Udo Zimmermann, Henri Maier, Ulf Schirmer verbunden sind, und natürlich ist dem Wirken von Kurt Masur, sei es künstlerisch oder politisch, ein Kapitel gewidmet.

Dem Jazz, Swing, der Tanz- und Straßenmusik sind eigene Kapitel zugedacht,  aus den Montagsgebeten werden Montagsdemonstrationen, aus Wir sind das Volk wird Wir sind ein Volk.  In die klassische Musik bringen das Triumvirat Luisi, Viotti, Honneck neue Impulse, ebenso Herbert Blomstedt, Riccardo Chailly und Andris Nelson.  Aber auch die U-Musik mit Rammstein, Prinzen oder Kulturfabrik Werk 2 prägt das Leipziger Musikleben. Schließlich lugt sogar schon Corona um die Ecke und lässt den Veranstalter des Bachfestes weinen. Endnoten, Literaturverzeichnis und Register vervollständigen den Band.

Der Verfasser nennt sein Buch eine Biographie, die normalerweise mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Die Geburt der Musikstadt Leipzig liegt im Dunkeln, ihren Tod wird sie hoffentlich nie erleiden müssen, so dass das Buch mit der Hoffnung schließen kann, dass noch viele Kapitel über sie geschrieben werden können (338 Seiten, Henschel Verlag 2021; ISBN 978 3 89487 811 5). Ingrid Wanja

 

Schöne Stimme, schöner Kitsch

 

Seien wir optimistisch und glauben wir der frohen Botschaft, die Sonya Yoncheva im Booklet zu ihrer jüngsten CD mit dem frohgemuten Titel Rebirth zu verkünden hat und die „aus der fruchtbaren Stille, die der Geburt einer neuen Schöpfung vorausgeht“ geboren sein soll. Und voller Sendungsbewusstsein fährt sie fort:“ Die Welt braucht heute einen Weckruf zur Wiedergeburt“, und der Sänger offensichtlich auch „den plötzlichen Impuls, …zu sprechen statt zu singen“, womit die frohe Verkündigung noch nicht ihr Ende gefunden hat, sondern noch  eins draufgesetzt wird mit : „Durch die Musik wird der Künstler aus seiner Asche wiedergeboren, wie der Phönix“. So ein Erlebnis möchte man doch gern mit anderen teilen, und so weiß auch Dirigent Leonardo Garcia Alarcón, Chef der Capella Mediterranea, zu berichten: „Alle Musiker verfielen am Ende in eine Art karthartischer Trance“. Nicht jedem Hörer werden solche Höhenflüge vergönnt ein, ein hohes musikalisches Vergnügen allerdings ist ihm mit dem Genuss der CD garantiert, hängt allerdings kaum mit einem titelkonformen Inhalt der einzelnen Tracks zusammen.

In denen ist je nach Sprache kaum von rebirth, vielmehr von morte, muerte, to dy, la tomba die Rede, und selbst das bulgarische Lämmchen weint der wohl geschlachteten Mutter nach, wenn auch gebunden an eine angenehm beruhigende, das Gemüt besänftigende Musik, die adäquat von Sängerin und Orchester zu Gehör gebracht wird.

Die längst mit den großen Verdi-Partie in der ganzen Welt gastierende Sopranistin kehrt mit dieser CD zu ihren Anfängen zurück, auch wenn sie anstelle der Poppea nun deren Amme mit dem fermatenreich bis hin zu Manierstischem gesungenen Oblivion soave  singt, davor ebenfalls von Monteverdi Voglia di vita uscir, nicht gerade das Gemüt erheiternd, aber sehr schön gesungen, der Sopran dunkel getönt und äußerst geschmeidig. Überhaupt ist es erstaunlich, wie fein die doch inzwischen große Stimme sich dem Stil der frühen Meister anzupassen weiß, wie sehr sie als Stradellas Salome mit Queste lagrime e sospiri (auch nicht besonders zukunftsorientiert) die Stimme instrumental zu führen und erstaunlich schlank zu halten weiß. Das Bemühen um ein ätherisches Hörbild geht allerdings auf Kosten der Textverständlichkeit. Eine ausgeklügelte Gratwanderung zwischen Raffinesse und Semplizität mit hingetupften Höhen vollzieht der Sopran in Cavallis Lucie mie, vom Italienischen geht man zum Englischen und Spanischen über, fast ausschließlich aber in der einmal gewählten Zeitspanne verbleibend.

In Gibbons The Silver Swan gehen Stimme und Begleitung ein inniges Verhältnis ein und überzeugen durch betonte Schlichtheit. Schöne Bögen und eine ebensolche Linie kennzeichnen Alarcóns Y a tus plantas Nisea, das ebenfalls aus unserer Zeit stammende Orchesterstück  von Simon Diaz könnte sich prompt unter die Renaissancemusik schmuggeln. Bewegter als die anderen Tracks ist Barbara Strozzis L’Eraclito amoroso, in dem das den im Booklet hervorgehobenen Intentionen widersprechende „m’uccida“ besonders hervorgehoben wird. Von Alfonso Ferrabosco stammt Hear me O God, das seinen Höhepunkt mit dem Einsatz der Sprechstimme findet. Von schöner Zartheit und auch so gesungen ist Dowlands Come again, noch einmal nach dem Tode verlangt, aber nun auf Spanisch, wird mit Velazcos No hay que decir, ehe sechs den Ohren schmeichelnde Minuten mit Like an Angel von ABBA verbracht werden dürfen und noch einmal die Schönheit der Sopranstimme dokumentieren, weniger dem im Booklet dokumentierten Anliegen dienlich sind (Sony  19439824022). Ingrid Wanja

Sandor Konya

 

Diese Folge unserer Serie Meine geliebte Stimme hat der Bremer Musikliebhaber Wolfgang Denker dem Tenor  Sándor Kónya gewidmet. Sie ist sehr persönlich gehalten, und sie berichtet nicht nur von seiner Bewunderung für diesen  großen Sänger, sondern auch von seiner  Freundschaft mit einem wunderbaren Menschen.

Meine allererste Opernschallplatte überhaupt war ein Querschnitt durch Verdis Troubadour bei der Deutschen Grammophon. Gloria Davy sang die Leonora, Cvetka Ahlin die Azucena, Raymond Wolansky den Luna und Sándor Kónya den Manrico – alles in deutscher Sprache wie damals üblich.  Kónyas Stimme hat mich sofort mitten ins Herz getroffen. Es heißt ja, dass man seiner ersten Liebe treu bleibt. In diesem Fall trifft das uneingeschränkt zu. Dabei gab es in den 60er Jahren durchaus auch andere Tenorstimmen, die mich begeisterten: Fritz Wunderlich,  Rudolf Schock oder Giuseppe di Stefano und Franco Corelli gehörten dazu. Aber von keiner war ich so berührt wie bei der von Sándor Kónya. Kein Wunder, dass bei der Anschaffung neuer Opernplatten immer Kónya für mich die erste Wahl war.

Sándor Kónya/Foto Denker privat

Sándor Kónya/Foto Denker privat

Kónya war damals Exklusivkünstler bei der Deutschen Grammophon Gesellschaft. Die produzierte zu der Zeit hauptsächlich für den deutschen Markt. So sind viele Querschnitte wie Aida und Cavalleria rusticana (beide ebenfalls mit Gloria Davy), Der Bajazzo (mit Anny Schlemm), Hoffmanns Erzählungen (mit Gladys Kuchta) und Nabucco (mit Thomas Stewart) in deutscher Sprache aufgenommen. Das gilt auch für die drei Puccini-Gesamtaufnahmen: Tosca (nut Stefania Woytowicz), Madame Butterfly (mit einer eindrucksvollen Anny Schlemm in der Titelpartie) und La Boheme. Gerade die Boheme ist für mich bis heute eine der schönsten Aufnahmen dieser Oper geblieben – nicht nur wegen Sándor Kónya, sondern auch wegen der unvergessenen Pilar Lorengar, die als Mimi wie kaum eine andere bezaubert. Und auch die weitere Besetzung mit Dietrich Fischer-Dieskau und Rita Streich ist erstrangig. Überhaupt Puccini! Geradezu sensationell ist das Puccini-Recital, das Sándor Kónya 1962 in Florenz mit dem Maggio Musicale unter Altmeister An­tonino Votto für die Deutsche Grammophon aufgenommen hat. Was Kónya in diesen Aufnahmen an Farbenreich­tum, lyrischem Schmelz, dramatischer Wucht und einfach berückendem Wohlklang zeigt, dürfte wohl von keinem Tenor überboten werden. Kónyas Stimme klingt in allen Lagen rund und voll, da gibt es auch in der extremen Höhe keine Verengung oder Verfärbung. Er singt mit Gefühl und Herz; kleine Schluch­zer, wohldosiert und geschmackvoll eingesetzt, verstärken die emo­tionale Kraft dieser Aufnahmen. Sie sind erst kürzlich bei DGG/Eloquence (2 CD DGG 4807096) als „The Art of Sándor Kónya“ zusammen mit weiteren Arien von Donizetti, Verdi, Wagner und anderen sowie Liedern von Verdi und Wagner wieder auf den Markt gekommen.

Sándor Kónya im "Troubadour"-Querschnitt bei DG

Als ich Kónya Anfang der 60er Jahre für mich entdeckte (bei einer ZDF-Verfilmung von Lehars Paganini, bei der Kónya aber nur zu hören war. Den Paganini spielte Walter Reyer.), steckte er bereits mitten in seiner internationalen Karriere, die seit seinem sensationellen Bayreuther Debüt als Lohengrin (1958) ordentlich an Fahrt aufgenommen hatte. Ich selbst konnte ihn zweimal auf der Bühne erleben: 1971 in Bayreuth als Parsifal und 1972 bei einem Gastspiel in Hannover als Cavaradossi. Es waren unvergessliche Eindrücke. Wie sein großartiger Aufschrei „Amfortas! Die Wunde“ in den Raum brach, habe ich noch heute im Ohr.

Ein Sängerleben und Etappen – von Sarkad nach Steinhude: Sándor Kónya wurde am 23. September 1923 in Sarkad, einem kleinen ungarischen Städtchen, geboren, wo er auch seine Kindheit und Jugend verlebte. Ein berühmter ungarischer Gesangslehrer hörte damals den Schüler Kónya und empfahl ihn an die Franz-Liszt-Akademie in Budapest. 1944 wurde er jedoch zum Militär eingezogen und kam Ende des Krieges in Deutschland in englische Kriegsgefangenschaft. Dort blieben seine gesanglichen Fähigkeiten nicht lange unentdeckt; und so wurde er von den Engländern zur Truppenbetreuung in Bunten Abenden eingesetzt. Mit Hilfe von Freunden konnte er aus dem Gefangenenlager fliehen und kam schließlich 1946 zu Frederick Husler in Steinhude, einem der anerkanntesten Gesangspädagogen seiner Zeit. Im Jahr 1949 heiratete Kónya die Steinhuderin Anneliese Block, die ihn während der gesamten Karriere immer begleitet hat.

Sándor Kónya und Ehefrau Anneliese/Foto Denker

Sándor Kónya und Ehefrau Anneliese/Foto Denker

Die sängerische Karriere Kónyas begann 1951in Bielefeld und währte gut 25 Jahre.  Er hat dabei mit den bedeutendsten Sängerinnen und Dirigenten der damaligen Zeit zusammengearbeitet. Kónyas Partnerinnen waren u.a. Licia Albanese, Lucine Amara, Victoria de los Angeles, Martina Arroyo, Inge Borkh, Grace Bumbry, Fiorenza Cossotto, Regine Crespin, Eileen Farrell, Mirella Freni, Elisabeth Grümmer, Marilyn Horne, Gwyneth Jones, Dorothy Kirsten, Gladys Kuchta, Pilar Lorengar, Christa Ludwig, Eva Marton, Martha Mödl, Anna Moffo, Melitta Muszely, Birgit Nilsson, Roberta Peters, Leontyne Price, Regina Resnik, Anneliese Rothenberger, Leonie Rysanek, Elisabeth Schwarzkopf, Renata Scotto, Anja Silja, Rita Streich, Joan Sutherland, Renata Tebaldi, Gabriella Tucci, Astrid Varnay, Felicia Weathers u.v.a. Kónya sang u.a. unter den Dirigenten Karl Böhm, Richard Bonynge, Pierre Boulez, Andre Cluytens, Oliviero de Fabritiis, Carlo Maria Giulini, Eugen Jochum, Herbert von Karajan, Rudolf Kempe, Otto Klemperer, Hans Knappertsbusch, Erich Leinsdorf, Ferdinand Leitner, Alain Lombard, Lorin Maazel, Kurt Masur, Zubin Mehta, Francesco Molinari-Pradelli, Georges Pretre, Nello Santi, Wolfgang Sawallisch, Hermann Scherchen, Horst Stein, Silvio Varviso, Antonino Votto, Heinz Wallberg u.v.a. Ihre Stationen und Höhepunkte seiner Karriere sollen hier chronologisch nachgezeichnet werden.

Sándor Kónya: die letzte Autogrammkarte/Foto Denker

Sándor Kónya: die letzte Autogrammkarte/Foto Denker

Von Bielefeld bis Edinburg: Ein Vorsingen in Bielefeld fiel so überzeugend aus, dass der damalige Intendant Herrmann Schaffner und der Generalmusikdirektor Bernhard Conz ihn sofort engagierten. Er debütierte 1951 als Turiddu in Cavalleria rusticana, damals noch unter dem Namen Alexander Kónya. Bis zu 200 Abende stand er in großen und kleineren Partien damals auf der Bühne. Schon im zweiten Jahr wurde Kónya häufig zu Gastspielen eingeladen. Bonn, Köln und Hamburg holten ihn; in Kassel sang er sogar neben dem berühmten Willi Domgraf-Fassbaender in Rigoletto. Schon 1953 nahm Herbert von Karajan Kontakt zu Kónya auf und wollte ihn als Manrico an die Mailänder Scala verpflichten. Doch Kónya entschied sich, noch ein weiteres Jahr in Bielefeld zu bleiben und weiter Repertoire zu erarbeiten. Später sang er unter Karajan Mahlers „Lied von der Erde“ in Berlin und die 9. Symphonie von Beethoven in New York.Gustav Rudolf Sellner holte ihn für die Spielzeit 1954/55 fest nach Darmstadt. Umfangreiche Gastverträge banden ihn da schon an die Opernhäuser in Stuttgart und Hamburg. Mit der Hamburgischen Staatsoper gastierte er 1956 auch als Nureddin zusammen mit Melitta Muszely und Arnold van Mill im Barbier von Bagdad bei den Edinburgher Festspielen. Auch dem NDR war Kónya aufgefallen: 1957 nahm er dort, wieder neben Muszely und dem großartigen van Mill, den Max im Freischütz auf. Die Aufnahme ist beim Hamburger Archiv für Gesangskunst (hafg 30057) und bei Cantus erschienen. Dirigent war Willhelm Brückner-Rüggeberg

Carl Ebert holte Kónya 1955 an die Städtische Oper Berlin, wo er hauptsächlich das italienische und französische Fach sang, aber auch den Hüon in Webers Oberon.Ein sensationeller Erfolg war die Premiere von Un ballo in maschera mit Leonie Rysanek und Dietrich Fischer-Dieskau unter Wolfgang Sawallisch. Kónya trat auch in moderneren Werken auf: So war er etwa der Boris in Katja Kabanowa von Janácek oder der Michele in der deutschen Erstaufführung der Oper Die Heilige der Bleeckerstreet von Gian-Carlo Menotti.  Auch moderneren Partien näherte sich Kónyadabei immer mit den Mitteln des Belcanto. Ein besonderes Ereignis war die Uraufführung der Oper König Hirsch von Henze am 23. September 1956, also an Kónyas 33. Geburtstag – damals ein großer Theaterskandal.

Sándor Kónya als Dick Johnson/Met Opera Archive/Mélancon/Foto Denker

Sándor Kónya als Dick Johnson/Met Opera Archive/Mélancon/Foto Denker

Von Bayreuth nach Amerika: Sándor Kónyas Bayreuther Debüt als Lohengrin 1958 ist legendäre Operngeschichte. Wieland Wagners blau-silberne Inszenierung erwies sich als Sensation. Sie ist bis heute ein Markstein in der Geschichte der Bayreuther Festspiele geblieben. Und Sándor Kónya wurde als der neue Wagner-Tenor gefeiert, dem nun eine Weltkarriere offenstand. Bei den Festspielen 1959, 1960 und 1967 sang Kónya wieder den Lohengrin. Der Bayreuther Lohengrin aus dem Jahr 1959 gilt als die perfekteste, homogenste Einspielung des Werkes, die von Orfeo im Rahmen ihrer Bayreuth-Edition in hervorragender Mono-Qualität veröffentlich wurde (Orfeo C691063D). Elisabeth Grümmer ist hier als die ideale Elsa zu hören – zusammen mit Kónyas Lohengrin einfach traumhaft. Zudem Franz Crass als König, Rita Gorr als Ortrud und Ernest Blanc als Telramund. Dirigent ist Lovro von Matacic.Lohengrin gibt es auch in der Studio-Aufnahme von 1965. Sie ist bei RCA mit dem Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Erich Leinsdorf erschienen und zeichnet sich durch hervorragende Klangqualiät aus. Ursprünglich war Leontyne Price als Elsa vorgesehen; nach ihrer Absage übernahm Lucine Amara die Partie. Kónya singt hier die Gralserzählung in der vollständigen Fassung.  Weitere Mitwirkende sind Rita Gorr, William Dooley und Jerome Hines.1958 war Kónya in Bayreuth auch als Froh („Rheingold“) und junger Seemann („Tristan“) zu hören. 1964 kam der Stolzing unter Karl Böhm und 1966 der Parsifal unter Pierre Boulez hinzu. Den Parsifal sang er unter Eugen Jochum auch 1971, seinem letzten Bayreuther Jahr.Kónyas Lohengrin-Darstellung war in ganz Europa begehrt und führte ihn u. a. an die Grand Operá Paris (unter Knappertsbusch), an die Covent Garden Opera (unter Klemperer), nach Lyon, Barcelona, Lissabon, Catania, Palermo und Rom. In Italien sang er den Lohengrin in italienischer Sprache –  so auch  in der 1959 unter Ferdinand Leitner entstandenen Rundfunkaufnahme mit Marcella Pobbe und Aldo Protti. Sie ist bei Myto  erschienen und offenbart, wie viel Belcanto besonders im Lohengrin enthalten ist. Sándor Kónya genoss nun auch in Italien den Ruf, der weltbeste Lohengrin zu sein. Und so holte man ihn 1963 in dieser Partie in die Arena di Verona.

Sándor Kónya: Don José an der Deutschen Oper Berlin/Foto Buhs/Denker

Sándor Kónya: Don José an der Deutschen Oper Berlin/Foto Buhs/Denker

Aber vor allem sang Kónya weiter an den großen Opernhäusern in Deutschland. Berlin und Hamburg waren Schwerpunkte, aber auch in Stuttgart und München trat er regelmäßig auf. Nicht nur in der Oper, auch im Konzertsaal war Kónya zu erleben, etwa mit dem Verdi-Requiem oder bei den Münchner Sonntagskonzerten. Am 18. September sang er (wieder einmal mit Gloria Davy) in Bonn die Missa solemnis zur Wiedereröffnung der Beethovenhalle. An der Mailänder Scala, wo Kónya später auch Calaf, Radames und Stolzing (auch dies ein Rollendebüt) sang, sollte er 1960 as Parsifal debütieren. Was niemand an der Scala wusste: Den Parsifal hatte Kónya noch nie gesungen, und den 3. Akt musste er auf der nächtlichen Autofahrt nach Mailand studieren. Aber es ging alles gut und wurde ein Riesenerfolg. Von der Premiere am 2. Mai 1960 gab es einen Schallplatten-Mitschnitt; Geerd Heinsen schrieb in der damalitgen Opernfachzeitschrift „Orpheus“ darüber: „Unter den Neuveröffentlichungen nimmt eine wichtige Stelle der Parsifal von Sándor Kónya aus der Scala di Milano von 1960 ein, wo der strahlende Tenor mit der betörenden, italienisch geschulten Stimme dem Parsifal eine beinahe belcantistische Glut und Süße verleiht, ohne den heldischen Aspekt des dritten Aktes zu vernach­lässigen. Diese Aufnahme steht in würdiger Nachbarschaft zu Kónyas Lohengrin aus Bayreuth.“ Die Besetzung dieses Parsifal war in­ternational: Rita Gorr war die Kundry, der große bulgarische Bas­sist Boris Christoff sang den Gurnemanz, Gustav Neidlinger den Amfortas; der Dirigent war André Cluytens. Und eine der Soloblumen war eine damals noch völlig unbekannte Sängerin, die sich später zum Weltstar entwickeln sollte: Montserrat Caballé. Die Aufnahme ist inzwischen bei Andromeda in bester Rundfunkqualität auch auf CD erschienen.

Sándor Kónya: Parsifal an der Mailänder Scala/Foto Denker

Sándor Kónya: Parsifal an der Mailänder Scala/Foto Denker

Nun wurde es Zeit für den Sprung über den großen Teich. 1960 sang Kónya den Lohengrin in Barcelona. Kurt Herbert Adler, der musikalische Leiter der San Francisco Opera, war ebenfalls dort und packte die Gelegenheit beim Schopf: Auf einem Briefbogen des Hotel Oriente schloß er am 13. Januar 1960 mit Kónya einen Vertrag für die San Francisco Opera ab. Dort debütierte Kónya am 23. September 1960 – wieder ein bedeutender Auftritt genau an sei­nem Geburtstag – als Dick Johnson in Puccinis La Fanciulla del West. Die war der Beginn einer intensiven, vierzehn Jahre andau­ernden Karriere in Amerika. In San Francisco ist Kónya über viele Jahre immer wieder gastweise aufgetreten. Auch an den Tourneen der Oper, nach Los Angeles, San Diego und San Jose, nahm Kónya teil. Hier, wie auch später an der Metropolitan Opera, war er im italienischen, deut­schen und französischen Fach zu Hause. La Bohème, Tosca und Madama Butterfly, Mefistofele, Pagliacci und Carmen sowie Lohengrin und Parsifal waren seine wichtigsten Opern in San Francisco. Auch den Siegmund in der Walküre hat Kónya hier kon­zertant gesungen. Was die Attraktivität der Besetzungen angeht, konnte San Francisco durchaus mit der Metropolitan Opera mithal­ten. Wenn man eine Bohème mit Victoria de los Angeles, Marilyn Horne (als Musetta!), Sándor Kónya, Ettore Bastianini, Geraint Evans und Giorgio Tozzi besetzen kann, dann spricht das für sich…

Sándor Kónya: Calaf an der Met/Foto Met Opera Arcive/Foto Denker

Sándor Kónya: Calaf an der Met/Foto Met Opera Archive/Mélancon/Foto Denker

New York: Wenn es für Sándor Kónya so etwas wie ein Stammhaus gab, dann war es die Metropolitan Opera New York.  Ein Streit zwischen dem Orchester und der Direktion der Met gefährdete die gesamte Spielzeit 1961/62 und damit auch Kónyas Debüt. In dieser Situation schloss Kónya einen Vertrag für sechs Aufführungen von Cherubinis Medea an der Mailänder Scala ab; seine Partnerin sollte Maria Callas sein. Inzwischen konnte aber in New York eine Einigung erzielt werden, und die Met war Kónya in diesem Moment wichtiger als die Medea an der Scala, wo Jon Vickers für ihn einsprang.Sándor Kónyas Debüt an der Metropolitan Opera erfolgte am 28. Oktober 1961 als Lohengrin. Gleich in seiner ersten Spielzeit sang er so verschiedene Rollen wie Lohengrin, Dick Johnson, Radames und Calaf. Seine Partnerinnen waren Ingrid Bjoner, Leontyne Price, Galina Vishnevskaya, Birgit Nilsson und Dorothy Kirsten. Von den vielen Höheponkten seiner New Yorker Zeit seien stellvertretend Die Meistersinger von Nürnberg und Lucia di Lammermoor genannt. Für Sándor Kónya war der Stolzing ein besonders großer persönlicher Erfolg. Die Ehre der „Opening Night“ sollte ihm in der Saison 1964/65 als Edgardo in Lucia di Lammermoor mit Joan Sutherland zuteil werden.  Allerdings hatte er bereits für die Bayreuther Festspiele 1964 einen Vertrag als Tannhäuser. Das wäre stimmlich mit dem Edgardo unvereinbar gewesen. Doch Wieland Wagner zeigte viel Verständnis – und Kónya sang dafür an Stelle des Tannhäuser 1964 in Bayreuth den Stolzing.Die Metropolitan Opera sollte für Sándor Kónya das zentrale Opernhaus seines künstlerischen Wirkens werden. Mitte der sechziger Jahre war er dort der höchstbezahlte Tenor. Als Stewa in Janáceks Jenufa, gesungen in englischer Sprache, hatte er am 12. Dezember 1974 seinen letzen Auftritt an der Met; Astrid Varnay sang die Küsterin.

In vierzehn Spielzeiten hat er dort 22 verschiedene Partien gesungen. In chronologischer Reihenfolge waren das: Lohengrin / Lohengrin (31)/ La Fanciulla del West / Dick Johnson (10)/ Aida / Radamés (17)/ Turandot / Calaf (13)/ Madama Butterfly / Pinkerton (35)/ La Forza del Destino / Alvaro (1)/ Die Meistersinger von Nürnberg / Stolzing (37) / Der Rosenkavalier / Sänger (7)/ Der fliegende Holländer / Erik (18)/ Ariadne auf Naxos / Bacchus (8)/ La Traviata / Alfredo (3)/ La Bohème / Rodolfo (11)/ Lucia di Lammermoor / Edgardo (26)/ Tosca / Cavaradossi (27)/ Carmen / Don José (7)/ Parsifal / Parsifal (7)/ Martha / Lionel (4)/ Un Ballo in Maschera / Riccardo (3)/ Don Carlo / Don Carlo (2)/ Cavalleria rusticana / Turiddu (3)/ Der Freischütz / Max (9)/ Jenufa / Stewa (2)

Sándor Kónya als Don Carlo mit Gwyneth Jones/Elisabetta in Tokyo/Foto Denker

Sándor Kónya als Don Carlo mit Gwyneth Jones/Elisabetta in Tokyo/Foto Denker

Von Budapest nach Tokyo und Buenos Aires: Bereits 1955 bekam Kónya eine Einladung an die Ungarische Staatsoper in Budapest. Doch er zögerte. Ein Gastspiel in seiner Heimat Ungarn war etwas Besonderes, was gut vorbereitet sein wollte.  Aber 1964 – Kónya sang gerade in Turandot an der Wiener Staatsoper – war es dann endlich soweit. Kónya sang bei diesem ersten Besuch in Budapest den Lohengrin und den Calaf. Aber er hatte bei keinem Auftritt, weder in Bayreuth noch an der Scala oder der Metropolitan Opera, soviel Lampenfieber wie hier in Budapest. Er sagte: „In der Budapester Oper, wo ich als Student immer von den Stehplätzen aus zugehört habe, jetzt selber vor den eigenen Landsleuten zu singen, war schon eine besondere Situation.“  Sogar die New York Times berichtete über Kónyas ersten Auftritt in Ungarn: „Als Kónya in Budapest sang, mußte die Polizei Menschenmengen von Kartensuchenden unter Kontrolle bringen. Im Publikum waren Kónyas Mutter, seine neunzigjährige Großmutter und Verwandte aus ganz Ungarn.“ Im Herbst 1967 kam eine Einladung der Römischen Oper  zur Teilnahme an einem Gesamtgastspiel in Tokyo mit Verdis Don Carlo. Es war die japanische Erstaufführung dieser Oper – ein großer Erfolg, der auch im japanischen Fernsehen übertragen wurde. Sándor Kónyas Partnerin war sie damals dreißigjährige Gwyneth Jones. Die musikalische Leitung hatte Oliviero de Fabritiis. Kónya hat besonders gern unter ihm gesungen, weil er ein typischer Sängerdirigent war. Ein Mitschnitt dieses Don Carlo (angereichert mit Otello-Ausschnitten) ist bei On Stage erschienen (3 CD OS 4714/3).In zwei ganz unterschiedlichen Rollen seines Repertoires ist Sándor Kónya in Buenos Aires am Teatro Colon aufgetreten: 1968 war es der Stolzing unter Ferdinand Leitner, ein Jahr später der Hoffmann unter Peter Maag. Auch hier gibt es Mitschnitte: Die Meistersinger sind bei Living Stage erschienen und bieten zudem die seltene Gelegenheit, Gustav Neidlinger als Sachs zu hören. Les contes d’Hoffmann gibt es bei Opera d’Oro..In seinen letzen Karrierejahren hatte sich Kónya eine neue Rolle erarbeitet: Verdis Otello, der als eine der schwie­rigsten Partie im italienischen Fach gilt. Der Dirigent Alain Lom­bard war von Kónyas Fähigkeit, mit heldenteno­raler Kraft bei gleichzeitiger Beherrschung eines lyrischen Pianos und einer perfekten Mezzavoce zu singen. Er drängte Kónya, diese Partie zu studieren. Er sang ihn erstmalig 1973 in Straßburg unter Lombard und später in Budapest. Und in Budapest stand er auch 1976 als Don Carlo und Otello letztmalig auf der Bühne.

Sándor Kónya/Pressefoto/Foto Denker

Sándor Kónya/Pressefoto/Foto Denker

Ausklang – von Stuttgart nach Ibiza: Nach dem Ende seiner aktiven Karriere hatte Kónya schnell ein neues Aufgabengebiet gefunden. Wolfgang Gönnenwein holte ihn als Gesangsprofessor an die Musikhochschule in Stuttgart. Dort unterrichtete Kónya bis 1988, bis zu seinem 65. Geburtstag.Danach siedelte Kónya mit seiner Frau nach Ibiza über. Ich habe ihn dort als liebevollen Katzenfreund, als reizenden Gastgeber und faszinierenden Gesprächspartner erlebt, wenn er mit vielen Anekdoten aus seinem Sängerleben erzählte. Er war auch in seinen letzten Lebensjahren noch voller Aktivitäten: So hat er nicht nur immer wieder junge Gesangsschüler unterrichtet, es kam auch oft vor, dass etablierte Kollegen bei ihm Rat suchten.Unvergesslich ist mir unser Besuch in seinem Geburtsort Sarkad, wo er 1996 mit diversen Empfängen im Rathaus, einem Ehrenkonzert mit Sängern der Ungarischen Staatsoper und der Verleihung der Ehrenbürgerwürde geehrt wurde. Zudem hat ihm die Stadt eine kleines „Museum“ mit vielen Fotos, Programmheften,  Originalkostümen und Partituren eingerichtet.Im Jahr 2001 war er in New York einer der Gäste eines großen Treffens vieler ehemaliger Stars der Metropolitan Opera, dass zum 100. Todestag von Giuseppe Verdi veranstaltet wurde. Und er hatte noch viele Pläne, zog u. a. die Gründung eines Gesangswettbewerbs in Erwägung und wollte gern noch mal eine ausgedehnte Reise in seine Heimat Ungarn unternehmen, Mit großer Freude verfolgte er, wenn alte Aufnahmen von ihm wieder- oder erstmalig veröffentlicht wurden, etwa die grandiose und mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnete Meistersinger-Aufnahme unter Rafael Kubelik, die ursprünglich für die Deutsche Grammophon geplant war und 1997 zuerst bei Calig (50971/74) und dann bei Arts (Arts Archives 43020-2) erschien.1999 starb seine Frau, am 20. Mai 2002 verstarb Sándor Kónya auf Ibiza. Aber seine Stimme, meine „Geliebte Stimme“,  lebt in vielen Aufnahmen und Erinnerungen weiter (Foto oben: DG/ Cover/ Ausschnitt). Wolfgang Denker.

Momentaufnahmen

 

Bei der Verbreitung der Werke Gustav Mahlers haben die Berliner Philharmoniker von Anfang an eine entscheidende Rolle ge­spielt. Es begann mit der Aufführung von Liedern aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn mit Amalie Joachim unter Leitung von Raphael Maszkowski am 12. De­zember 1892. Am 4. März 1895 stellte Mahler in einem ansonsten von Richard Strauss dirigierten Konzert der Philharmoniker die drei Instrumental­sätze (1, 2, 3) seiner zweiten Sym­phonie vor. Am 13. Dezember 1895 leitete er die Uraufführung der vollständigen Zweiten. Seine Musik fand allerdings beim Publikum und bei großen Teilen der Kritik eine gemischte, eher negative Aufnahme. So sehr man Mahler als Dirigent bewunderte, so wenig hielt man von seinem Komponieren.

Arthur Nikisch, der zweite philharmonische Chefdirigent, setzte sich stark für Mahler ein. Wichtige Mahler-Interpreten von 1911 bis 1932 waren Oskar Fried, Bruno Walter, Klaus Pringsheim, Otto Klemperer und Jascha Horenstein. Einer wichtigsten Mahler-Dirigenten seiner Zeit, Willem Mengelberg, leitete am 17. Mai 1912 im Zirkus Schumann die Berliner Erstaufführung der Achten Symphonie. – Wilhelm Furtwängler, dritter künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker, hatte kein genuines Interesse am Oeuvre Gustav Mahlers. Seine Dirigate der Ersten, Dritten und Vierten Symphonie hinterliessen keine große Wirkung. Allerdings gewann er große Anerkennung mit Dirigaten und Aufnahmen der „Lieder eines fahrenden Gesellen“ und der „Kindertotenlieder“.

In den Jahren der NS-Diktatur war Mahlers Musik wie die aller jüdischen Komponisten verboten. Am 13. Oktober 1932 war zum letzten Mal eine seiner Kompositionen in einem philharmonischen Konzert zu hören. Erst 16 Jahre, am 2. Mai 1948, stand mit der Vierten Symphonie, dirigiert von Otto Klemperer, zum ersten Mal wieder ein Werk von Mahler auf dem Programm.

Die beiden ersten Chefdirigenten nach dem Krieg, Leo Borchardt und Sergiu Celibidache, spielten keine Rolle als Mahler Dirigenten. Überhaupt waren es nach 1945 eher Gastdirigenten, die sich Mahlers Musik annahmen – genannt seien Hans Rosbaud, Hermann Scherchen, Joseph Keilberth und die folgenden wichtigsten Mahler-Interpreten wie Rafael Kubelik, Georg Solti, Bernard Haitink und vor allem Sir John Barbirolli, der Brite italienischer Herkunft. Barbirolli, der selbst erst relativ spät zu Mahler fand, hat die Mahler-Tradition der Philharmoniker entscheidend geprägt. Er war es, der den Philharmonikern, unter denen es viele Mahler-Skeptiker gab, diese Musik nahebrachte. Er dirigierte in der Philharmonie fast alle Symphonien mit Ausnahme der Siebten und Achten. Seine Interpretation der Neunten Symphonie, veröffentlicht von EMI, gilt immer noch als exemplarisch. Fast alle Aufführungen wurden seinerzeit vom SFB mitgeschnitten und erschienen über die Jahre bei Testament Records. Mahlers Neunte dirigierte auch Leonard Bernstein bei seiner einzigen Begegnung 1979 mit den Berliner Philharmonikern.

Herbert von Karajan fand erst spät und nur begrenzt zu Mahler. Ihm lagen vor allem die Fünfte, Sechste und Neunte Symphonie sowie das „Lied von der Erde“. Karajan feilte, wie so oft, wieder und wieder an den Interpretationen. So entstanden exemplarischen Einspielungen der Fünften, Sechsten und vor allem der Neunten Symphonie. Mit seinem Nachfolger Claudio Abbado, kam ein Dirigent zu den Philharmonikern, dessen Karriere und Erfolg mit Mahlers Musik verbunden war. Abbado dirigierte in seinem Berliner Antrittskonzert kurz nach der Wahl zum Chefdirigenten eine aufregende und mittreissende Erste Symphonie. Mahler-Symphonien zählten zum festen Repertoire seiner Konzerte in Berlin und auf zahlreichen Reisen. Seine Aufnahme der Neunten Symphonie ist ein kongeniales Vermächtnis Abbados.

Kyril Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Simon Rattle, der im November 1987 mit Mahlers Sechster sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern hatte, brachte in seiner Amtszeit als Chefdirigent sämtliche Symphonien Mahlers zur Aufführung, dabei hat er immer wieder neu über die Interpretationen nachgedacht. – Kirill Petrenko, Rattles Nachfolger, ging schon vor seinem Amtsantritt der Ruf eines interessanten Mahler-Dirigenten voraus. Mit einer Aufführung der Dritten Symphonie hatte er bereits Aufsehen in München erregt. In Berlin dirigierte er (einstweilen) die Sechste Symphonie und (in Zeiten der Corona-Pandemie passend) die Vierte in einer Kammermusikfassung in der Philharmonie – mit großem Erfolg.

Die Mahler-Tradition der Berliner Philharmoniker ist lebendig und kann jeden Vergleich mit derjenigen der Wiener Philharmoniker oder des Concertgebouw Orchesters bestehen. Die Mahler-Edition legt Zeugnis von der Vertrautheit des Orchesters mit Mahlers Oeuvre ab. Gleichwohl ist sie eher eine Momentaufnahme denn ein großer, gar ultimativer Wurf. Wenn man nun nur die neueren, zwischen 2011 und 2020 entstandenen Interpretationen präsentiert, so ist zu fragen: Repräsentieren diese Aufnahmen den Stand der Mahler-Interpretationen der Berliner Philharmoniker? Da drängen sich immer wieder auch Vergleiche mit früheren Aufnahmen auf.

Claudio Abbado dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Deutlich wird zunächst, dass es einige ernstzunehmende noch jüngere Mahler-Dirigenten gibt. Kirill Petrenko, Yannick Nézet-Seguin, Daniel Harding, Andris Nelsons und Gustavo Dudamel, zwischen 1972 und 1981 geboren, sind mit sechs Symphonien vertreten. Ihnen stehen der Mittsechziger Simon Rattle mit zwei Symphonien und die „Altmeister“ Bernard Haitink (Jahrgang 1929) und Claudio Abbado (1933-2014) mit jeweils einer Symphonie gegenüber.

Daniel Harding liefert eine insgesamt nur ordentliche Erste Symphonie ab. Im ersten Satz fehlt es an der geheimnisvollen Stimmung, an Naturlaut-Idylle, an Charme und überhaupt an Überraschungen. Seine Interpretation bleibt insgesamt nüchtern und unter- statt überzeichnend. Im Finale lässt Harding das Orchester nicht mit der von Mahler geforderten „großen Wildheit“ auftrumpfen, dem Scherzo fehlt das Wienerische, die „Lindenbaum“-Episode geht nicht ans Herz.

Andris Nelsons überrascht angenehm mit einer fast restlos überzeugenden, klar disponierten, immer spannenden Inszenierung der Zweiten Symphonie. Er lässt nicht seiner manchmal zu beobachtenden Neigung zum Überhitzen von großorchestralen Partituren freien Lauf, lässt viele Nuancen und Stimmungen herausarbeiten. Gemessen der Kopfsatz, mit sehr langsamen Schlußtakten; das Andante moderato fließend, das Scherzo nicht knallig, aber sehr markant; zart das „Urlicht“, der Schlußsatz mit seinen gewaltigen Steigerungen voller Spannung, Kontraste, ohne pathetisch zu enden. Und wie deutlich sind die Haupt- und Nebenstimmen zu hören, wie stark wirken Nelsons rubati!

Gustavo Dudamel dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Gustavo Dudamel hat längst das Image des „Hitzkopfs“ überwunden. Seine Interpretation der Dritten Symphonie liess schon im Konzert aufhorchen; sie hat nichts an Wirkung verloren. Schon im gewaltigen Kopfsatz mit dem Nebeneinander von lyrischen und Marschcharakteren wird das ganze Panorama, ein eigener musikalischer Kosmos entfaltet. Das geschieht in einem einzigen großen Bogen, ohne nachlassende Spannung Die Philharmoniker musizieren vom „entschieden“ des Hauptthemas am Beginn bis zum ausschwingenden Schluss perfekt, brillant, klangsatt, subtil, kein Detail wird ausgelassen.

Mit der Fünften Symphonie hat Dudamel eine weniger glückliche Hand, hier erreicht er nicht die Tiefe, Intensität, klangliche Auslotung und Empfindung wie bei der Dritten. Die Inszenierung istvirtuos, spannend, führt die hervorragenden Musiker:innen des Orchesters im Ensemble und in Soli vor. Es gibt viele eindrucksvolle Stellen, die sich indes nicht zu einem kohärenten Ganzen fügen. Beispielhaft zu beobachten am zweiten Satz: Hier ist wenig vom Grimm, von der Zerrissenheit, von der Wehmut, die in dem Satz stecken, zu vernehmen (man höre nur einmal zum Vergleich John Barbirollis Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra oder die Berliner Philharmoniker mit den Dirigenten Jascha Horenstein, Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Simon Rattle).

Yannick Nézet-Seguin rückt die Vierte Symphonie ins rechte Licht, gibt ihr den klassischen Charakter, den sie am stärksten unter den Mahlerschen Symphonien hat. Das Orchester spielt subtil, abwechslungsreich in Tempi und Dynamik, die Partitur wird sehr gründlich strukturell durchleuchtet; manche Passage hört man neu. Manchmal wirkt die Detailarbeit aber auch leicht maniriert. Im Finale allerdings ist man, auch mit dem nicht optimal besetzten Vokalsolo von Christiane Karg weit vom „behaglich“ der „himmlischen Freuden“ entfernt.

Gustav Mahler Foto: Sammlung Manskopf

Die neueste Aufnahme der Edition ist der Mahler-Einstand des neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko. Er tritt gegen markante Vorgänger – Barbirolli, Karajan, Abbado und Rattle an – auf seine Weise. Zunächst setzt Petrenko in der Sechsten Symphonie auf zügige Tempi, im Kopfsatz, im Scherzo, im Finale, sogar auch im Andante. Das wirkt drängend, manchmal aber auch hastig. Die große Spannung, der große Kontrast zwischen dem typischen Drängen und Innehalten, zwischen Überwältigung und Nachdenken und auch pianissimo und fortissimo fehlen dabei zum Teil noch. Manchmal scheint die Dynamik weniger subtil als in der Partitur notiert. Wie schon Abbado, Rattle und Barbirolli entschied sich Petrenko für die Satzfolge, bei der das Andante an zweiter und das Scherzo an dritter Stelle steht. Dafür gibt es gute Gründe, die teils von Mahler selbst, teils von den Mahler-Forschern und –Herausgebern angeführt werden. Dennoch kann (sollte?!) man dieser Reihung die „alte“ entgegensetzen. Bernard Haitink hat in einem Interview seinerzeit starke Argumente dafür ins Feld geführt: Das Scherzo solle unmittelbar auf den ersten Satz folgen: „Kurz vor dem Finale braucht man eine Pause. Wenn Sie das Scherzo dorthin setzen, werden sich diese beiden Sätze gegenseitig umbringen. Aber wenn Sie das Scherzo direkt nach dem Eröffnungssatz setzen, schaffen Sie einen Atem für das Finale.“ Zum Glück kann man sich zuhause die passende Reihenfolge mit wenigen Handgriffen einstellen.

S

Simon Rattle dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

imon Rattle hat über die Jahre an seiner Lesart der Siebten Symphonie gefeilt und im Konzert seinen (vorläufigen, endgültigen?) Stand dokumentiert. Die Interpretation überzeugt jedoch nur zum Teil. Sie hat eine gewisse Glätte, es wird zu wenig hinterfragt, es fehlt an Leidenschaft. Das Scherzo könnte abgründiger sein. Andererseits kommt die Zweite Nachtmusik dem Charakter des „amoroso“ sehr nahe. Das Finale ist teils furios, drängend, aber nie wie zu oft brutal oder vulgär.

Die Achte Symphonie führten die Berliner Philharmoniker in 45 Jahren immerhin fünf Mal auf: 1975 mit Seiji Ozawa, 1982 mit Moshe Atzmon, 1994 mit Claudio Abbado, 1999 mit Bernard Haitink und 2011 mit Simon Rattle. Der Mitschnitt des Konzertes 2011 zeigt eine große Annäherung an das Werk, das in seiner teils irrwitzigen Komplexität vermutlich gar nicht optimal aufführbar ist. Schwierig ist es dazu aufgrund seines Charakters als Zwitter zwischen Chorsymphonie und Oratorium und das Gegenüber von zwei nicht recht zusammen passenden Teilen – dem christlichen Pfingsthymnus „Veni creator spiritus“ und dem Schlußteil von Goethes „Faust“. Die enorme Leistung aller Beteiligten ist von einer exzellenten Aufnahmetechnik eingefangen worden. Rattle zügelt sein Temperament, er balanciert geschickt zwischen den schier überwältigenden klangrauschenden und den subtileren Passagen. Die vielen Feinheiten der Partitur werden nicht unterschlagen. Neben den glänzend disponierten Philharmonikern geben die solistischen und chorischen vokalen Kräfte ihr Bestes. Bei aller Anerkennung für diese Leistung bleibt freilich Skepsis. Mahlers Achte ist, wenn überhaupt, nur im Konzertsaal einigermaßen adäquat zu hören (und zu genießen). Sie überfordert jede häusliche Musikanlage.

Bernard Haitink zieht mit seiner Lesart der Neunten Symphonie die Summe seiner langjährigen Erfahrungen mit Mahlers Symphonik, eines langen Dirigentenlebens und natürlich der Zusammenarbeit und Vertrautheit mit dem Orchester. Man spürt, wie die Berliner Philharmoniker ihn auf sehr suggestive Weise unterstützen ihm viel zurückgeben. Es ist, aufs Ganze gesehen, ein „Abgesang“ der starken Art – ohne Ermatten oder Schwäche, hoch konzentriert, mit elegischen, vielleicht melancholischen, aber nie sentimentalen Zügen. Beim Hören dieser Aufnahme meint man noch die Ergriffenheit des Publikums im und nach dem Konzert zu spüren. Es war eine Sternstunde.

Bernard Haitink dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Dass der große Mahler-Interpret Claudio Abbado hier ausgerechnet (nur) mit Mahlers Zehnter Symphonie d. h. mit deren Kopfsatz, Adagio, Berücksichtigung findet, mutet merkwürdig, ja befremdend an. Das Ergebnis ist allerdings eine Glanzleistung an Spannung, Versenkung, Intensität. – Die Präsentation der Symphonie Nr. 10 bleibt aus anderen Gründen halbherzig. Natürlich gibt es eine nicht enden wollende Diskussion darüber, wie fragmentarisch oder fertig diese Symphonie ist. Puristen wie Claudio Abbado, Pierre Boulez, Bernard Haitink stehen „Entdecker“ wie Simon Rattle, Riccardo Chailly, Berthold Goldschmidt und Kurt Sanderling stehen sich gegenüber. Revolutionär, und für manche direkt frevlerisch, war das Unternehmen des englischen Musikforschers Deryck Cooke, aus der von Mahler hinterlassenen Partitur, dem Particell oder den Skizzen einzelner Sätze eine „Aufführungsfassung“ zu erstellen. Wer sich über die Seriosität und Ernsthaftigkeit dieser Arbeit informieren will, der höre nur einmal Cookes „illustrated BBC talk“ aus dem Jahr 1960 sowie zwei von Berthold Goldschmidt dirigierte Aufführungen der Zehnten aus den Jahren 1960 und 1964 an (Testament, 3 CD, SBT3 1457)! Auch nach Cooke gab es weitere Versuche, diese fragmentarische Symphonie in eine Aufführungsform zu bringen: genannt seien nur die Fassungen von Clinton Carpenter, Remo Mazzetti oder Rudolf Barschai – allesamt diskussionswürdige und gewichtige Versionen. Wenn die Berliner Philharmoniker sämtliche Symphonien Mahlers im Jahre 2020 herausgeben, dann hätten sie neben dem Adagio doch die komplette Symphonie wenigstens „zur Diskussion stellen“ sollen. Immerhin plädierte ihr Ex-Chef Rattle immer wieder für die Zehnte, wobei er nicht bei einem einmal gefundenen Resultat stehen blieb. Selbst wenn Zweifel bleiben, ist die Cooke-Fassung allemal hörenswert.

Die Mahler-Edition der Berliner Philharmonikka/Buchbeilage

Zu fragen ist am Ende, warum in dieser glänzend aufgemachten Edition – Fertigung, Begleitbuch, Illustration sind wie immer von höchster Qualität, die Aufnahmtechnik ist größtenteils sehr gut – „Das Lied von Erde“ fehlt, immerhin doch ein symphonischer Liederzyklus, ein Werk zwischen Liedzyklus und Symphonie (Mahler-Edition der Berliner Philharmoniker, 10 CDs, 8 Dirigenten, 10 Jahre, hier klicken)Peter Heissler

 

P.S. Meine persönliche Bestenliste der Aufnahmen Mahlerscher Symphonien mit den Berliner Philharmonikern (Mitschnitte, die zum Teil später veröffentlicht wurden, und Studioproduktionen): Symphonie Nr. 1 – Claudio Abbado (1989, DG) Mariss Jansons (2007, RBB-Mitschnitt); Symphonie Nr. 2 – John Barbirolli (1965, Testament), Simon Rattle (2010, EMI);; Symphonie Nr. 3 – John Barbirolli (1969, Testament), Bernard Haitink (1990, Philips), Claudio Abbado (1999, DG);; Symphonie Nr. 4 – Simon Rattle (Sopransolo Christine Schäfer, 1998, RBB – Mitschnitt);; Symphonie Nr. 5 – Claudio Abbado (1993, DG);; Symphonie Nr. 6 – John Barbirolli (1966, Testament), Claudio Abbado (2004, DG), Simon Rattle (1987 und 2018, Berliner Philharmoniker Recordings);; Symphonie Nr. 7 – Claudio Abbado (2002, DG), Michael Gielen (1994, Testament);; Symphonie Nr. 8 – Claudio Abbado (1994, DG), Simon Rattle (2011, BPHR);; Symphonie Nr. 9 – John Barbirolli (1964, EMI), Claudio Abbado (1999, DG);; Symphonie Nr. 10 : Adagio – Claudio Abbado (2011), fünfsätzige Aufführungsfassung – Simon Rattle (1999, EMI). P. H.

„Echt japanisch“

 

Wer möchte schon eine Oper sehen, in der eine naive Kindfrau entführt, als Ausstellungstück für ein Bordell missbraucht, vom eigenen Vater verflucht wird, sich in die Gosse stürzt und hier elendiglich verendet?! Den Erfolg eines solchen Librettos bezweifelten wohl auch Luigi Illica und Piero Mascagni,  und so stellten sie an Anfang und Schluss ihrer Oper Iris einen mit seiner Klangfülle überwältigenden Inno del Sole, der der Elendsgeschichte einen beinahe versöhnlichen Rahmen verleiht, wenn die Nicht-Heldin einzugehen scheint in eine Welt der duftenden Blumen und wärmenden Sonnenstrahlen. Dem Publikum von heute ist wohl noch weniger Misere  zuzumuten, so dass die Regie sich in der Geburtsstadt des Komponisten Livorno  entschloss, Iris, der eigentlich Lumpensammler auch noch die kostbaren Kleider vom sterbenden Leib hätten reißen müssen, in Glanz und Gloria und unversehrt  in vollem Luxus-Geisha-Ornat in eine sonnige Zukunft schreiten zu lassen, umgeben von einem Teil des Chors, jungen Mädchen, die zuvor leblos auf der Bühne gelegen hatten. Das Bordell scheint offensichtlich generell kranke und sterbende Prostituierte in der Gosse zu entsorgen, die zum Totenlager der Iris wird.

In japanische Hände hatte man die Optik der Produktion gelegt, und Regisseur  Hiroki Ihara hatte offensichtlich das Hauptaugenmerk auf die tadellose Beherrschung der Trippelschritte gelegt, die der Europäer für das Kennzeichen asiatischer Frauen hält, die angemessen wohl für das Personal des Bordells, weniger für die arbeitsamen Wäscherinnen schienen. Auch windradartiges Armeschwenken für die Erscheinung des Blinden im letzten Akt und anderer Figuren  sind kein besonders guter Einfall. Für die Szene war 2017 Sumiko Masuda verantwortlich, sorgte für phantastische Hintergrundprospekte, so im 2. Akt für riesige Irisblüten oder bedrohliche Krakenarme. Der spärliche Blütenregen zum Schluss wäre allerdings besser unterblieben. Prachtvoll sind die Kostüme von Tamao Asuka für die Geishas und besonders natürlich für die Protagonistin.

Mit Paoletta Marrocu hatte man eigentlich einen guten Namen für die Titelpartie verpflichtet, für die sie zunächst einen kindlichen Ton hat, deren Sopran in der mezza voce angenehm klingt und die mit reicher Agogik singt. Anrührend wirkt ein zartes „di lacrime ho gli occhi pieni“.  Wird es dramatischer, kann die Stimme auch unangenehm schrill werden. Paolo Antognetti kann sich zu Recht seiner voce acuta rühmen, aber damit ist schon alles Positive über seinen Tenor gesagt, der eher zu einem Goro oder einer  ähnlichen den Charaktertenor erfordernden Partie, nicht aber zum Osaka passt.  Wie der Prototyp eines Stehtenors bleibt er unbeweglich, singt scharf und durchdringend, aber auch die berühmte Serenade ohne tenoralen Schmelz. Einen strapazierfähigen Bariton setzt Carmine Monaco d’Ambrosia für den Bordellbesitzer Kyoto ein und zeigt auch darstellerisches Engagement. Rollendeckend ist Il Cieco mit dem Bass Manrico Signorini besetzt. Eine hübsche, zarte Sopranstimme hat Alessandra Rossi für die Dhia. Recht verhangen klingt der Tenor von Didier Pieri für den Cenciaiuolo. Eher durch Masse als durch Klasse können die vereinigten Chöre Coro Ars Lyrica plus ein nicht näher bezeichneter Chor unter Marco Bargagna überzeugen, das Orchestra Filarmonica Pucciniana unter Daniele Agiman zaubert feine Stimmungsbilder, so mit dem verhaltenen Vorspiel zum dritten Akt (Bongiovanni AB 20039). Ingrid Wanja    

Jevgenij Nesterenko

 

Nach kurzer, schwerer Krankheit ist der russische Bassist Jewgenij Nesterenko, den viele Kritiker als einen neuen Schaljapin feierten, am 20. März im Alter von 83 Jahren in seiner Wahlheimat Wien gestorben.

Am 8. Januar 1938 in Moskau geboren, absolvierte Nesterenko ein Ingenieur-Studium (Schiffbau) in Leningrad und erhielt daneben Gesangsunterricht bei Vasily Lukanin am dortigen Konservatorium. Noch während der Ausbildung debütierte er 1963 am Malij-Theater als Gremin und war in den folgenden Jahren Ensemble-Mitglied des Kirov-Theaters. 1970 gewann er den 1. Preis im Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb und wurde daraufhin ans Bolschoj-Theater berufen, dem er für mehr als drei Jahrzehnte als aktiver Sänger angehörte. Durch Gesamtgastspiele dieses Hauses wurde er auch im Westen bekannt. An der Wiener Staatsoper, an der er 1975 als Filippo II seinen Einstand gab, fand er ein zweites Stammhaus. Bis 1993 sang er hier 56 Vorstellungen mit überwiegend italienischem Repertoire und wurde danach zum Kammersänger ernannt. Durch die Fernsehübertragung des fünfaktigen (italienisch gesungenen) „Don Carlo“ aus der Mailänder Scala (Januar 1978 unter Claudio Abbado) wurde er auch international bekannt und gehörte in den 80er Jahren zu den  Spitzenstars in seinem Stimmfach. Er trat in der Arena von Verona und auf anderen italienischen Bühnen auf wie am Teatre Liceu in Barcelona und an der Covent Garden Opera in London. Bei den Bregenzer Festspielen 1986 war er Enrico in „Anna Bolena“.

Nesterenko unterhielt gute Beziehungen zum Sowjet-Regime, das ihn mit mehreren Orden auszeichnete. Das tat seiner Beliebtheit beim westeuropäischen Publikum aber, selbst in Zeiten des Kalten Krieges, keinen Abbruch. An den großen deutschen Bühnen war er ein regelmäßiger und gern gesehener Gast. An der Bayerischen Staatsoper erlebte man ihn neben anderen auch in deutschen Partien wie Sarastro und Daland, an der Hamburgischen Staatsoper sang er neben Gremin italienische Partien wie Filippo, Fiesco, Basilio und Don Pasquale. Daneben war er als Konzertsänger sehr aktiv, brachte Schostakowitschs Michelangelo-Suite op. 145 in beiden Fassungen (mit Klavier und mit Orchester) zur Uraufführung (1974) und war ein gefragter Gesangsprofessor, erst am Moskauer, später auch am Wiener Konservatorium. Über seine pädagogische Arbeit hat er zwei Bücher geschrieben.

Sein diskographischer Nachlaß, darunter etwa 20 komplette Opernaufnahmen (die Live-Mitschnitte noch nicht mitgerechnet), ist stattlich und dokumentiert die wichtigsten seiner etwa 50 Bühnenpartien. Neben dem Boris waren dies vor allem Khan Kontchak („Fürst Igor“), Gremin, Kotschubej („Mazeppa“), Ivan Susanin („Das Leben für den Zaren“), Dosifey („Chowanschtchina“) und Rachmaninows „Aleko“. Die meisten russischen Aufnahmen aus dem Bolschoj-Theater erschienen auch auf dem deutschen Markt und machten das hiesige Publikum mit vorher nicht beachteten Werken wie Glinkas „Ruslan und Ludmilla“ und Rimsky-Korsakovs „Die Zarenbraut“ bekannt. Nesterenkos internationale Stellung dokumentieren Gesamteinspielungen von „Nabucco“ (unter Giuseppe Sinopoli, DG) und „Faust“ (unter Colin Davis, Decca). Beim Bayerischen Rundfunk zeigte er sich in kompletten Aufnahmen von Donizettis „L’elisir d’amore“ und „Don Pasquale“ an der Seite von Lucia Popp von seiner humoristischen Seite (Eurodisc).

Meine Eindrücke von seinen Aufnahmen sind gemischt. In seinen Glanzrollen als Boris Godunow und Filippo II, die in kompletten Videos dokumentiert sind, brillierte er mehr durch üppigen Klang als durch psychologische Innensicht. Auch in Verdi-Partien wie Attila, Zaccaria und Fiesco tritt voluminöses Auftrumpfen an die Stelle geschmeidiger Kantilene. In den Mephisto-Rollen von Gounod und Boito (davon findet sich ein kompletter Konzert-Mitschnitt aus Moskau von 1983 im Netz) fehlt es seinem Vortrag an Hintergründigkeit. Da würde ich Boris Christoff und Nicolai Ghiaurov in beiden Fällen den Vorzug geben. Dagegen ist der Khan Kontchak, mit dessen Arie Nesterenko schon beim Wettbewerb 1970 „abräumen“ konnte, in seiner Interpretation ein Kabinettstück: Mit zahlreichen mimischen und textlich-musikalischen Nuancen bringt er die Verschlagenheit des Charakters auf den Punkt. Und dass er weit mehr als ein stolzer Stimmbesitzer sein konnte, erkennt man auch bei einigen seiner Lied-Recitals, die ihn als subtilen Gestalter ausweisen und von denen mich ein Konzert mit dem Pianisten Vladimir Krainev (Moskau 1986) besonders beeindruckt (Foto Moskau News). Ekkehard Pluta

Ungewöhnliche Ostereier

 

Rechtzeitig vor dem Osterfest gibt CAPRICCIO als Weltpremieren auf einer CD Oster-Kantaten von Christoph Graupner heraus, die zwischen 1719 und 1743 entstanden (C5411). Christian Bonath leitet das auf Originalinstrumenten musizierende Pulchra Musica Barock Orchester, welches er 2011 gründete. Mit ihm bringt er die Musik in ihrer asketischern Strenge zu eindringlicher Wirkung. Weiterhin wirkt der Knabenchor capella vocalis aus Reutlingen mit, wo die Aufnahme im Sommer 2019 auch entstand.

Graupner war Schüler an der Leipziger Thomasschule, ab 1705 als Cembalist und Komponist an der renommierten Hamburger Oper am Gänsemarkt tätig. 1711 wurde er zum Hofkapellmeister in Darmstadt ernannt, wo er bis zum Ende seines Lebens 1760 wirkte. Anfangs widmete er sich der Oper, später der geistlichen Vokalmusik, was sich in nicht weniger als 1400 Kantaten widerspiegelt. Die vier in der vorliegenden Aufnahme umspannen den Bogen vom Gründonnerstag über den Karfreitag bis zum Ostermontag und bestehen aus jeweils sieben Sätzen – zwei Arien, einem Schlusschoral sowie Chören und Rezitativen.

Als Auftakt erklingt die Kantate zum Gründonnerstag, GWV 1126/33, von 1733 mit dem Titel Die Frucht des Gerechten, welche den Aspekt der Liebe, die Jesus seinen Jüngern im letzten Abendmahl angedeihen lässt, in den Fokus rückt. Alle drei Solisten der Einspielung wirken hier mit – der Tenor Sebastian Hübner im eröffnenden Dictum Accompagnato, der Bass Johannes Hill in der Arie „Mein Herz“, die das Liebesmahl zum Thema hat, und der knabenhafte Altus Jan Jerlitschka in der Arie „Jesus ist mein Baum“. Sie alle deklamieren die spartanischen Gesänge präzise und eindrücklich. Die Kantate zum Karfreitag, GWV 1127/25, stammt aus dem Jahre 1725 und ist betitelt Eröffnet euch ihr Augenquellen. Sie beginnt mit einem fünfstimmigen Chorsatz, in dem sich der  Knabenchor mit kultiviertem Gesang auszeichnet. Von besonders eindringlicher Wirkung in ihrer Todessehnsucht ist die Bassarie „Ich will mit Jesu gerne sterben“. Freude über die Auferstehung prägt die Kantate zum 1. Ostertag, GWV 1128/43, von 1743 mit dem Titel Der Sieg ist da. „Freude über Freude“ jubelt der Tenor in seiner Arie, in deutlichem Kontrast dazu steht die Bassarie „Jesus Sieg“. Der zunächst befremdliche Titel Ihr werdet traurig sein der Kantate zum 2. Ostertag, GWV 1129/19, von 1719 erklärt sich aus der Traurigkeit der Jünger nach dem Tod Jesu. Sie haben die frohe Botschaft von seiner Auferstehung noch nicht erfahren. Bass und Alt vereinen sich im klangvollen Duett „Ach, Zions Hoffnung“, der nachfolgende Chor „Bleibe bei uns“ bildet den Höhepunkt der Kantate und versinnbildlicht den Sieg über den Tod. Bernd Hoppe

Wasserspiele in Catania

 

Eigentlich hätte man gern den Blick noch auf dem prachtvollen Interieur des Teatro Massimo Bellini von Catania verweilen lassen, doch die Kamera wendet sich schnell und abrupt Orchestergraben und Bühne zu und damit den kühlen Farben, die sich Dario Gessati für des Sohnes der Stadt Vincenzo Bellini Frühwerk La Straniera ausgedacht hat. Ein Graben echten Wassers dominiert die Szene, durch das alle Protagonisten und auch der Chor im Verlauf der Vorstellung waten müssen, La Straniera selbst muss sogar Gesicht und Haare darin baden , Tenor und Bariton darin scheinertrinken und das nicht im Hochsommer, da wird auf Sizilien  Oper nur all‘aperto gespielt, sondern im Januar 2017. Eine wichtige Rolle spielt die Lichtregie von Fiametta Baldiserri, die zwischen Violett, Grün und Blau changiert, Wolkenungetüme unterstreichen die Dramatik der Handlung, die Kostüme von Tommaso Lagattolla sind zeitlos und machen die Chordamen zu taillelosen Ungetümen. Für den einleitenden Chor trägt derselbe goldene, die Jäger wenig später rote Masken, ohne ersichtlichen Grund werden viele Kerzen angezündet, die sich, ein Kreuz formend, im Himmel widerspiegeln und von der Titelheldin schließlich zum Erlöschen gebracht werden. Die Optik ist eine typisch italienische unserer Zeit: Man will nicht hinter modernen Inszenierungen des German oder mittlerweilen European Trash ganz zurückbleiben, lässt es aber auf ästhetisch nicht anfechtbaren, aber sinnlosen Detailänderungen  wie plötzlichem Laubfall beruhen. Die Regie von Andrea Cigni begnügt sich damit, die Darsteller sicher durch das Wasser zu geleiten, für mehr dürften sie auch nicht die Kraft gehabt haben. Die Optik scheint unter dem Motto zu stehen: „Seht her, wir können auch modern sein, aber nie hässlich und vulgär“.

Die krude Handlung von der anonym auf einer Insel lebenden verbannten Königin, die einen Bräutigam kurz vor dessen Hochzeit in den Liebeswahnsinn treibt, von zwei tot geglaubten Herren, die so plötzlich wiederauftauchen wie die Straniera wieder in ihre königlichen Rechte eingesetzt wird und so Schauplatz und sterbenden Liebhaber verlässt, kann eigentlich kein großes Interesse erwecken, wohl aber die Musik besonders für den Sopran, die immerhin Scotto, Caballè und Aliberti dazu veranlasste, sich der Partie anzunehmen.

Sebastiano Rolli sorgt mit dem Orchester des Hauses für eine sichere, einfühlsame Begleitung der Sänger. Mit Elan vertritt der Chor unter Ross Craigmile seine häufig wechselnde Meinung.

Das unglücklich liebende Paar ist von angenehmer, rollenadäquater Optik, was schon einmal viel wert ist. Francesca Tiburzi, die auch in Verismopartien unterwegs ist, hat einen runden, dunkel getönten Sopran interessanten Timbres für die Alaide bzw. Straniera, klingt leicht und angenehm verhangen  als Ausdruck der Trauer im ersten Akt oder im abschließenden „Un ultimo addio“. Nur in der Extremhöhe lässt sich eine leichte Schärfe nicht überhören. Einen tenore di grazia setzt Emanuele D’Aguanno für den Arturo ein, in der Mittellage noch ausbaufähig,  mit einer Höhe wie einem Fanal, besonders im rasanten Duett mit dem Bariton. Das deutsche Publikum kennt ihn bereits u.a. aus Augsburg und Magdeburg. Unausgeglichen zu Beginn, sich aber ständig steigernd ist Enrico Marrucci ein höhensicherer, besonders im „Meco tu vieni o misera“  vokal höchst präsenter Valdeburgo. Glaubwürdig seine bösen Intentionen vermittelnd singt Riccardo Palazzo mit strengem Charaktertenor den Osburgo. Sonia Fortunato spinnt als Isoletta unverständlich, aber angenehm klingend mit leichtem Mezzo die unendliche Melodie Bellinis. Zwei wackere Bässe werden mit Alessandro Vargetto für den Vater Isolettas und Maurizio Muscolino für den Priore aufgeboten. Man fühlt sich wohl und gut aufgehoben bei diesem Opernabend aus Bellinis Heimatort. (Bongiovanni AB 20038). Ingrid Wanja

Venedig für Opernfreunde

 

Die 25 Kriminalfälle Commissario Brunettis und ihre Schauplätze kann der Venedig-Verrückte (und wer ist das nicht, wenn er die Stadt auch nur einmal besucht hat) schon seit langem erforschen und  anhand eines Stadtplans und genauer Beschreibungen aufsuchen. Nun ist das auch seit einiger Zeit für Holländer und seit kurzem für Deutsche möglich, die der Oper verfallen sind, denn Willem Bruls hat mit seinem Buch Venedig und die Oper- Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner die Möglichkeit dazu geschaffen. Auf einem kleinen Plan der Stadt sind die immerhin 36 Stätten markiert, die der Auto für seine Forschungen aufgesucht hat, dazu kommen noch einige weitere mit Buchstaben versehene. Zwei darauf folgende Seiten bekunden, wie sehr Schriftsteller aus ganz Europa von der Lagunenstadt verzaubert waren und welche Dichtungen sie ihr gewidmet haben. August von Platens „Venedig liegt nur noch im Land der Träume“ kommt der Einstellung des Verfassers am nächsten, der auf den folgenden 250 Seiten nicht müde wird zu beteuern, dass Venedig nicht nur eine sterbende, sondern ein bereits seit langem tote Stadt sei, deren Blütezeit und damit auch die der Oper in ihren Mauern aus Wasser gerade einmal von ca. 1600 bis ca. 1800 dauerte, als Napoleon den letzten Dogen absetzte. Der Totgesagten allerdings widmet er eine höchst poetische Sprache, wenn er von „Fassaden, die auf dem Wasser treiben“ schreibt und manchmal versteigt er sich auch zu gewagten Vergleichen, wenn er ihr Siechtum nach 1800 mit dem der Gralsritter in Wagners Parsifal vergleicht.

Dem deutschen Komponisten ist natürlich ein Kapitel des Buches gewidmet, denn er komponierte in Venedig den zweiten Akt vom Tristan und starb im Palazzo Vendramin, heute das Casinò der Stadt im Winter. Hier und bei der Beschreibung anderer sehenswerter Orte hat der Autor die Erfahrung vieler Besucher  gemacht, dass man  viele Orte nur vom Wasser her erreichen kann, ansonsten kann man stundenlang ohne Erfolg in den engen Gässchen umherirren. Im Wagnerkapitel gibt es auch Hinweise zum Grab von Hasse und seiner italienischen Gattin Faustina Bordoni in der Kirche San Marcula und auf das Ghetto, ein Begriff, der auf getto, die venezianische Schmelzerei, zurückzuführen ist. Das Buch konfrontiert den Leser mit einer Fülle von interessanten Fakten, manchmal auch mit Behauptungen, die ohne Beweise im Raum stehen gelassen werden wie die, im Ring gebe es „unzählige antisemitische Bezüge“. Und reichlich oft wird wie auch in diesem Kapitel wiederholt, das Dasein Venedigs sei wie „regloses Warten auf das Ende“.  Noch schlimmer wird es auf Seite 152, wo es über die Zeit ab 1797 heißt: „Der morbide Leichnam dieser Erinnerung wird nun schon mehr als zwei Jahrhunderte einbalsamiert bewahrt. Doch unter den Schichten von Schminke, Stuck und Spachtelmasse dringt ein fürchterlicher Gestank hervor und lauert eine gähnende Leere“.

Der eher noch häufiger erhobene, aber durchaus nicht strafende Zeigefinger gilt der ungebremsten Wollust, derer man sich in der Blütezeit der Stadt hingab. Zuvor wird aber mit dem Kapitel über Attila, über seinen Regierungssitz auf der Insel Torcello  Verdis gleichnamiger Oper und der Gründung Venedigs gedacht, in Forestos Arie findet sogar schon „la fenice“ Erwähnung.

Gleich fünf Kapitel gelten Claudio Monteverdi und der Geburt der Oper, dem Übergang von der Renaissance zum Barock, der Zerstörung des christlichen Konstantinopels durch die Intrigen der Venezianer. Der Leser lernt die Opern des Maestro kennen und die Orte, an denen sie uraufgeführt wurden. Fast jede der reichen Patrizierfamilien hielt sich ihr eigenes Theater, noch erhalten für den ursprünglichen Zweck, wenn auch nicht in der ursprünglichen Form sind La Fenice, Teatro Goldoni oder Teatro Malibran.  Bei der Einsicht in die Partitur von Cavallis La Calisto gibt es ein interesantes Gespräch mit dem verantwortlichen Musikwissenschaftler, beim Besuch der Fondazione Luigi Nono ein solches mit der Witwe des Komponisten.

Zwischen beiden aber liegen noch die Kapitel über Händel und seine für den aus Venedig stammenden Kardinal Grimani komponierte Agrippina, über den Zwist zwischen Vivaldi und Benedetto Marcello und über die Chöre von himmlisch singenden und hässlich aussehenden Mädchen. Interessant ist es auch, dass es bereits vor Mozarts Don Giovanni in Venedig eine Oper gleichen Namens als Angriff auf das Lotterleben Casanovas gab.

Von Mozart über Rossini zieht Bruls eine Entwicklunglinie,  die vom edlen Bassa Selim zum lächerlichen Ausländer Mustafa reicht und die er als eine verhängnisvolle Wandlung vom Humanismus zum extremen Nationalismus ansehen möchte. Der Lido, Thomas Mann und sein Tod in Venedig, Visconti, Djagilew, Frederick Rolfe, Britten, die Homosexualität, der schöne Tadzio und sein Darsteller Björn Andrésen, der Helmut Berger eifersüchtig werden ließ, dürfen natürlich nicht fehlen. Und noch immer steht das  Grand Hotel des Bains leer, in dem sie alle einst logierten, und im Café Florian kostet der Cappuccino inzwischen zehn Euro. Für den nächsten Venedig-Besuch aber muss man mindestens eine Woche einplanen, um alle die interessanten Orte zu besuchen, von denen der Autor berichtet hat und die man nun mit anderen, wissenderen Augen wahrnehmen wird.

Hinweise zum Weiterlesen und Weiterhören und Wegbeschreibungen finden sich am Ende des Buches (264 Seiten, Henschel Verlag 2021; ISBN 978 3 89487 818 4). Ingrid Wanja

Nationales Erbe am Klavier

 

Der dänische Komponist Peter Heise (1830-1879), dessen einzige Oper im Laufe der Zeit zur Nationaloper avanciert ist (siehe Artikel von Rolf Fath), hat sich vor allem mit Liedern beschäftigt. Nachdem er ein begonnenes Jurasdtudium nach einem Jahr abgebrochen und auch sonst keinen Ehrgeiz in Karrieren jeglicher Art entwickelt hatte, machte er letztendlich die Musik zu seinem Lebensinhalt. 1830 in eine Akademiker-Familie in Kopenhagen geboren, begann er bereits mit 13 Jahren, Lieder zu schreiben; erste Kompositionsstudien betrieb er seit dem 18.Lebensjahr bei dem dänischen Komponisten Andreas Peter Berggreen. Da er seinem Talent allein nicht vertraute, ging er zur Vertiefung seiner Theorie-Studien 1852 nach Leipzig. Bei Thomas-Kantor Moritz Hauptmann studierte er Komposition und Theorie, spielte auf Bachs Orgel und engagierte sich im breit gefächerten musikalischen Angebot dieser lebendigen Stadt. Anstatt seine guten deutschen Verbindungen zu einer Karriere zu nutzen, kehrte er 1854 als Musiklehrer nach Kopenhagen zurück. 1857 nahm er die einzige Festanstellung in seinem Leben an der Musikakademie in Sorö an, wo er Choräle, Vokal-Quartette und Kantaten für den Universitätschor sowie Schauspielmusiken für Kopenhagen schrieb. In diese Zeit fällt die Hochzeit mit Vilhelmine Hage, Tochter aus sehr reichem Hause, so dass finanzielle Not ihn nicht anspornte, eine Komponisten-Karriere voran zu treiben.

Nachdem das Paar sich 1865 wieder in Kopenhagen – mit einem großen Landhaus in Tarbaek für den Sommer – niedergelassen hatte, schrieb Heise, der ein fähiger Pianist war und auch Geige spielte, mehrere Kammermusikwerke, allerdings ohne nachhaltigen Erfolg auf den Konzertpodien. Er wurde nie eine öffentliche Berühmtheit, obwohl seine Lieder gedruckt wurden und im Laufe der Zeit mehr und mehr bekannt wurden. Drei längere Italienreisen in den 1860er Jahren, auf denen Heise italienische Kultur, Kunst und Leben lieben lernte, wirkten sich nicht entscheidend auf seine Kompositionen aus. Er starb 1879 an Nierenversagen, kurz nachdem der Druck einer dreibändigen Edition seiner Lieder begonnen hatte, die sich nach seinem Tod in Dänemark schnell verbreitete.

Fast sein gesamtes Liedschaffen ist nun erstmals in einer Kassette mit 11 Silberscheiben bei Dacapo erschienen. In der Zeit von Oktober 2016 bis Februar 2020 wurden 272 Lieder – darunter drei bislang unveröffentlichte – eingespielt, gesungen von 18 Sängerinnen und Sängern meist dänischer Muttersprache. Sie wurden alle von Christian Westergaard am Klavier begleitet, der sich als Assistent-Professor an der Königlich-Dänischen Musikakademie in Kopenhagen unermüdlich mit der weiteren Erforschung und Veröffentlichung dänischer Komponisten beschäftigt.

Westergaard teilte die Lieder auf in verschiedene Gruppen entsprechend den Hauptthemen von Heises Arbeit. Wie auch in seiner Oper grif  Heise gerne auf historische Vorlagen und Ereignisse zurück, wobei ihn die Frauengestalten mehr reizten als kriegerische Gesänge. Dass die Psychologie der Frauen ihn so interessierte, mag wohl auf ein zentrales Ereignis seines Lebens zurückzuführen sein, den Tod seiner Mutter bei seiner Geburt.

Zu den musikalischen Frauenporträts nach historischen Vorlagen gehören u.a. Dyvekes Sange, Lieder der Geliebten des Königs Christian II, in denen Heise deren Träume und Ängste nuanciert vertonte. In der Gesamtedition sind die sieben Lieder gleich zweimal enthalten: Die dänische Fassung wird von Mari Eriksmoen mit leichtem, hellem Sopran vorgetragen, während auf Deutsch Clara Cecilie Thomsen mit aufblühendem Sopran und mit dramatischen Akzenten aufwartet.

Das lange Gedicht Bergliot verfasste der norwegische Dichter Björnstjerne Björnson extra für Heise, den er in Italien kennengelernt hatte. Es entstand auf der Basis einer alten nordischen Sage über König Harald Harderade, der Bergliots Ehemann Einar und ihren Sohn Endride ermordete. Heise vertonte den Text in einer Verbindung von Liederkreis und Solokantate. Johanne Thisted Hoejlund gelingt es, mit vollen Mezzo-Timbre die dramatische Entwicklung deutlich herauszuarbeiten.

Gudruns sange, Lieder auf Passagen der nordischen Edda-Sage, drücken die Trauer und auch den Hass auf männliche Gewalttaten aus. Da singt zuerst Francine Vis mit hellem Mezzo die sechs tieftraurigen Lieder im dänischen Original, während J.T. Hoejlund sie in englischer Übersetzung mit dunklerem Mezzo auslotet; beides sind beeindruckende, zum Inhalt passend Interpretationen.

Zu Liederkreisen mit anderen Themen gehört die Gruppe der sieben Sydlandske sange, die Bo Kristian Jensen vorstellt: Mit jugendfrischem, lyrischen Tenor bringt er die italienisch anmutenden Lieder über Karneval und südländisches Leben rüber, darunter eine typische Tarantella mit Rossini-Zitat.

Wenig Raum in Heises Themenwahl nahm z.B. Nationalismus ein. Da gibt es hier nur sechs Krigssange nach dem verheerenden Krieg mit Preußen 1864; seitdem vertonte er überhaupt keine deutschen Texte mehr. Stig Fogh Andersen und Jakob Bloch Jespersen haben sich dieser Lieder angenommen: Dem Wagnertenor Andersen gelingen das ruhige Guds fred med vore doede und das die glückliche Heimkehr preisende Indtoget besonders gut. Jespersen trumpft mit markantem Bass-Bariton bei Krigssalme und Til kamp mächtig auf.

Ein Themenschwerpunkt von Heise waren Erotik- und Liebeslieder. Bei den unter Erotiske digte zusammengefassten Liedern aus dem letzten Lebensjahr des Komponisten zeigt Lars Moeller seine baritonalen Vorzüge: Er gestaltet das ruhige Skovensomhed mit gebundenen innigen Aufschwüngen, setzt  dramatische Impulse bei Til en veninde und beweist gute Tiefen in Advarsel. Zum Vergleich präsentiert J.B.Jespersen die Lieder mit feinen dynamischen und artikulatorischen Abstufungen am Ende derselben CD in deutscher Übersetzung. Bereits in den 60er Jahren vertonte Heise sechs Liebeslieder nach Emil Aarestrup, die der vorwiegend als Konzertsänger gefragte Adam Riis mit leicht ansprechendem Tenor vorstellt; reiner Jubelgesang sind das schwungvolle Hvile pa vandringen sowie das mit Emphase vorgetragene I hjemmet.

Ebenfalls aus dem letzten Jahr stammt der Zyklus Farlige drömme (Gefährliche Träume) nach Texten von Holger Drachmann, dessen sechs Lieder Bo Skovhus erst im dänischen Original, danach in deutscher Übersetzung mit ruhiger Stimmführung gekonnt vermittelt; sein viriler, flexibler Bariton passt gut zu den höchst anspruchsvollen Liedern.

In sieben Liedern zu den historischen Digte fra middelalderen bringt Astrid Nordstad ihren bestens durchgebildeten Mezzosopran zur Geltung; mit klaren Spitzentönen (Gammel fransk romance), dramatischer Attacke (Unge George Campbell) und lockeren Verzierungen (Skoenne fru Beatriz) erfreut sie besonders. Elsa Dreisig präsentiert mit leuchtendem Sopran dieselben Lieder auf Französisch, so dass sie einen ganz anderen Charakter bekommen.

In drei Duetten in Form von Wechselgesängen verbindet sich Astrid Nordstads Mezzo gut mit Simon Duus‘ rauem Bass-Bariton (Gudbrand og Astrid ); bei den beiden Anderen ist Aleksander Nohr mit leicht ansprechendem Tenor ihr kongenialer Partner, der auch mit den Einzelliedern – wie z.B. dem spannungsvollen Nomadeliv – Vielversprechendes hören lässt. Sofie Elkjaer Jensen stellt ihren warmen, lyrischen Sopran mit nahezu perfektem Schöngesang ganz in den Dienst der melodiösen Heise-Lieder.

Bei Vertonungen von englischen Texten im Original sowie Shakespeare in dänischer Übersetzung fühlt sich Signe Asmussens kultivierter Mezzo mit Höhe hörbar wohl wie z.B. mit dem ausdrucksstarken Kom nu kun, doed. Zu dem Drama Bertrand de Born von Ernst von der Recke schrieb Heise sieben abwechslungsreiche Lieder, die David Danholt mit kernigem Tenor (Mod syden i kvaeld), aber auch weicheren Tönen in den lyrischen Passagen (Rosamunde) darbietet. Sehr guten Eindruck macht Jens Söndergaard mit Nikolaus Lenaus fünf Schilfliedern. Mit kräftigem Bariton deutet er die deutschen Texte intensiv aus, was ihm bei Trübe wird’s, die Wolken jagen auch in den ruhigen Momenten zwischen den Boen gelingt.

Nicht hoch genug loben kann man Christian Westergaard, der über die 4 Jahre all diese Sänger und Sängerinnen verschiedener Altersstufen am Klavier begleitet und geführt hat. Wie er pianistisch die Vielfalt der Melodien und spielerischen Charakteristika klingen lässt, hat hohes Niveau. Vom schlichten Schlaflied Childe Harold mit unerwarteten kompositorischen Wendungen bis zu der geforderten Dramatik in Krigssange oder dem extremen Nachspiel von Kaeden sig spraenger – de kaemper ej laenger meistert er die kompositorischen Finessen Heises hervorragend.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Peter Heise viele melodische Ideen hatte, die er in seinen Liedern verwirklichte. Vom schlichten Strophenlied bis zu den letzten filigran und abwechslungsreich durchkomponierten Liedern lässt sich durchaus eine Entwicklung erkennen. Insofern hat sich der Aufwand der Gesamteinspielung gelohnt.

Leider stehen die meisten Lieder nur mit dem dänischen Text im Beiheft; genauere Angaben zu den Liedern, wie z.B. die Entstehungszeiten, kurze Inhalte der vielen übrigen Lieder, die nicht noch in anderen Sprachen gesungen werden, fehlen. So kann man beispielsweise nicht immer beurteilen, ob die Texte gut interpretiert werden; das ist dann einfach nur schöner Gesang.

Zur Verbreitung des Liedgutes in aller Welt sollte man aus den interessantesten Liedern eine CD zusammenstellen und zumindest alle dänischen Texte mit einer englischen Übersetzung versehen. Die informativen Artikel von Jens Cornelius über Heises Lebenswerk und von Christian Westergaard über sein Liedschaffen sind wenigstens auch in englischer Sprache vorhanden (DACAPO 8.201101, 11 CDs). Marion Eckels

Amis in Berlin

 

Eine der nachdrücklichsten Eindrücke an der damaligen West-Berliner (Städtischen) Oper in der Kantstrasse, im Theater des Westens noch vor dem Umzug 1964 ins neue Haus an der Bismarckstrasse, war ein Palestrina mit Helmut Krebs, Thomas Stewart und vielen anderen. Diese Buch-Seiten-Produktion, die später ins neues Haus übernommen wurde. Ich finde keine weiteren Unterlagen mehr zu meinem Besuch und erinnere mich nur an spätere Aufführungen in der Bismarckstrasse. Ich war mit meiner Schulklasse aus der Bremer Provinz in Berlin zu Besuch („Dreigeteilt niemals“, man erinnert sich, auch an die strengen Jugendherbergen), und diese ganze fragwürdige politische Indoktrinierung verschaffte den westdeutschen Schülern zumindest Fahrten in die aufregende Großstadt Berlin. Die Klasse ging einen trinken und ich in die Oper, kein Wunder, dass ich als Aussenseiter galt. Das war 1962 das erste Mal.

DOB: Barry McDaniel als Wolfram 1964/ Archiv Hei

1963 folgte vor dem Abschluss, bis ich 1964 nach dem Abitur aus Gründen der Bundeswehr in Berlin fest ankam und hier studierte, mehr Zeit allerdings in der neuen Oper im dritten Rang und am Bühnenausgang verbrachte. Wir waren da eine feste, lautstarke Clique (keine Claque, die hatte das Haus auch). Opernfans fanden schnell zusammen, selbst wenn mir schon damals eine gewisse rabiate Künstlerverehrung nicht lag. Am Bühnenausgang sammelten sich rivalisierende Gangs, die Autogramme tauschten oder einforderten (und ganze Folianten mit eben diesen mit sich rumschleppten – Fotos in abgegriffenen, ekligen Plastikfoldern: was für eine Art der Konservierung von Passionen, nicht immer zum Vergnügen der Sänger, die sich trotz der obligaten Pelzmäntel im Winter den Frost holten. Viele Aufführungen aus jener Zeit erinnere ich nur aus der Vogelperspektive des 3. Ranges (die Kartenverkäufer kannten uns und gaben uns die besten Plätze in der 1. Reihe), aber der Klang war toll da oben und mehr konnten wir uns eh‘ nicht leisten. Es gab substanziellen Studentenrabatt.

DOB: Glamour für Evelyn Lears Lulu bei der Deutschen Gramophon/ Archiv

Eigentlich lief an der nachfolgenden Deutschen Oper nichts ohne die „Amis“, wie man respektlos das amerikanische Kontingent dort nannte. Ohne sie ging der Vorhang nicht auf. Ein Blick in das nicht immer hilfreiche Buch von Gisela Huwe über die Deutsche Oper (Die Deutsche Oper Berlin im Quadriga Verlag 1984 und ausgesprochen Götz-Friedrich-hörig) nennt bereits 1961 ein starkes Aufkommen von Amerikanern. Das Ehepaar Evelyn Lear (sie damals noch wirklich mit unzureichender Gesangstechnik, die sie später behob und z. B. in Genf eine betörende Berlioz-Didon sang) mit Ehemann Thomas Stewart (der Wotan und Gurnemanz meiner Träume) gehörten zu den ersten. Die Lear wurde gerne ausgebuht (auch als Lulu 1968), was Ehemann Stewart aus der Seiten-Loge mit wütendem Beifall umzuwenden suchte. Ihre Madeleine (Capriccio) an der Harfe, alternierend mit Grümmer, Della Casa später und anderen, war wirklich keine aufregende Leistung. Er hingegen war stets aufregend, ob in den genannten Rollen oder in Klebes Alkmene (1961) oder in Milhauds Orestie 1963. Seine intelligente Textführung und diese typisch amerikanische Metalleinlage ließen die Stimme größer erscheinen als sie vielleicht war. Er sang so ungemein kommunikativ! Bei seinem Gurnemanz bin ich nie eingeschlafen (ein starkes Kompliment). Er gab sogar den Rigoletto 1965, der nicht wirklich seine Partie war. Und er war ein gutaussehender Mann. Er hat bei mir nachhaltige Erinnerungen hinterlassen. Ein wunderbarer Künstler, der dem Hause einige Jahre erhalten blieb.

DOB: James King und Christa Ludwig im „Fidelio“ des Umzugs, der auch als DVD bei Arthaus herausgekommen ist/ Arthaus/ DOB

Das amerikanische Paket verstärkte sich mit frühen Auftritten von James King, 1962 in Fidelio neben Christa Ludwig, vorher als Don José neben Patricia Johnson 1962 (und eine ganze Revue von Carmens erscheint vor meinen Augen: sogar Vera Little und Sieglinde Wagner, da fiel Pat Johnson nicht weiter auf; erst Alicia Nafé und Agnes Baltsa mischten die Partie in der späteren Beauvais-Inszenierung dann auf, Agnes zerschlug den Teller statt Castagnetten – ganz enorm, und Wehe der Teller war nicht da …). Die Engländerin Johnson habe ich sehr geliebt, trotz der schmalen und oft auch schimpfenden hellen Mezzostimme. Sie war eindrucksvoll als Gesamt-Künstlerin, eher denn rein stimmlich. Ihre Fricka war toll, ihre Carmen gewöhnungsbedürftig, aber damals eben da. Sie war im besten Sinne eine gute Hauskraft, der man übel mitspielte. Als der Macbeth 1987 zur Generalprobe kam, hatte Sinopoli Olivia Stapp überraschend für die Lady eingeflogen. Pat erfuhr das am Bühneneingang vom Pförtner und hat sich von dieser Ungeheuerlichkeit nicht erholt. Sie verließ die DOB danach und zog nach Brighton, wo sie mit Pendel wahrsagte … Aber ihre spätere Mozart-Marcellina (anfangs  noch mit Arie) ist für mich unerreicht und extrem lustig. Und bei YouTube gibt’s den Macbeth mit ihr und Bailey als Film von der BBC. Ätsch, von der Stapp nicht, wenngleich die toll war und bewundernswert um die Löcher in ihrer aufregenden Stimme herumsang. Ajour vocal …

DOB: Erika Köth und Donald Grobe in der „Heimlichen Ehe“/ Arthaus

James Kings Stimme war mir in der Höhe zu eng, und sein Timbre war nicht meins. Leider sang Jess Thomas zu wenig an der DOB, und an Hans Beirer denke ich für diese (Florestan) und andere Partien mit Schütteln (jedoch hat niemand hat so intensiv gebügelt wie Lisa Otto als Marzelline; Lustiges erinnere ich von der Physis des hohen Paares Brouwenstijn/Beirer in Fidelio, wo sein Bauch ideal unter ihre Oberweite passte …). Donald Grobe ließ mit dem Jaquino in dieser und anderen Produktionen bereits sein Dauerengagement an der DOB ahnen. Später mehr. Der britische Sänger Thomas Hemsley machte einen Abstecher in Henzes Elegie 1962, wo zu meinem Leidwesen eben auch Catherine Gayer erschien, die mich bis zu ihrem Abschied in den Achtzigern mit schlechtem Ami-Deutsch plagte. Sie war tüchtig und am besten in Zimmermanns Soldaten, wo’s vielleicht nicht so auf den Schönklang der Stimme ankam. Aber wir waren froh, wenn sie nicht auftrat. Was sie auch im heiteren Fach leider sehr oft tat.

DOB: Vera Little in einem, undefinierbaren Kostüm auf einer Künstlerpostkarte/ merkeronline

An Vera Little erinnere ich mich ganz genau, ihre Röhre als Wahrsagerin im Ballo war erstaunlich, alles zuerst in Deutsch und Carmen noch im alten Haus (1950 und damals vor meiner Zeit), ihre Azucena – alternierend mit der von mir geschätzten Patricia (Pat) Johnson – vielleicht etwas unsubtil, aber eindrucksvoll. Aber die eindrücklichste Erinnerung an sie war später die Cieca in der hinreißenden Inszenierung der Gioconda (1974, immer noch im Programm!) von Regisseur Filippo SanJust, der die alte originale Pappe der Uraufführung in Rom auf einem Speicher gefunden und für Berlin aufgehübscht hatte. Wenn Vera Little – blind – im ersten Akt sich rückwärts zum „Voce di Donna“ bewegte, fürchteten wir alle um den Leichtbau-Brunnen, dessen Kante gefährlich dicht in die Nähe der voluminösen Breitseite der Little geriet. Wir wetteten sogar darum. Sie riss den Brunnen nie um, aber es war doch der spannendste Moment in der Oper, Rysanek und manche andere (Janku!) hin oder her.

Ich erinnere mich gut auch an die Quickly der Little. In Deutsch wie das meiste, dass dann an der DOB im neuen Haus peu-a-peu in die Originalsprache umstudiert wurde. Ihre Quickly war satt und prall und absolut präsent. Wir waren so unschuldig und wunderten uns in diesen Rollen nicht, warum nun z. B. in Windsor eine schwarze Quickly wohnte. Aber ich erinnere mich auch an die erhitzte Debatte, an der die Boulevard-Presse ihren Anteil hatte, dass eine schwarze Frau diese Partien sang. Die Little wollte wohl auch die Amneris singen, was eine weitere Debatte (mit Intendant Sellner) auslöste. Sie war zudem meines Wissens die erste schwarze Sängerin an der Städtischen und der Deutschen Oper überhaupt. Was sich durch die absolut amerikanische Ausrichtung von West-Berlins Kultur erklärte.

So zum Beispiel auch das das Berliner Wirken von Jessye Norman, die 1968 nach einem glanzvollen Liederabend im Amerika-Haus (das später als Inbegriff des amerikanischen Kapitalismus mit Steinen beworfen wurde, auch von mir, und fortan auf Jahre nur Plastikscheiben aufwies). Die Norman wurde 1969 in das damalige Opernstudio der DOB aufgenommen und sang alle Partien ihres jugendlich-dramatischen Fachs, von der 2-Etagen-Aida (jahrelang auf einem Riesenposter neben Georg Fortunes Amonasro im U-Bahnhof Deutsche Oper zu sehen) bis Wagners Elisabeth (mit blonder Perücke der Grümmer) auf einer Schräge der Mitte gefährlich auf die Rampe zurollend … Die Verwechslungsszene im letzten Akt des Figaro gab für uns oben zu Schmunzeln Anlass, wenn Fischer-Dieskau im Halbdunkel versuchte, die Hand der Norman mit der zierlichen von der Köth zu verwechseln … Später leugnete sie diese Berliner Anfangszeit, und wenn von Berlin die Rede war (wie in einem Gespräch mit mir), war’s die Zeit mit Herbert von Karajan und ihren fulminanten Kleidern im Konzert der Philharmonie. Sie hatte sich in Frankreich neu erfunden. Und betrat nie wieder die Bühne der DOB.

DOB: Annabella Bernard als Verdis Elisabetta/ Künstlerkarte/ Buhs-Remmler

Vera Little sang – wie sich das für ein festes Ensemblemitglied gehörte – die üblichen Partien ihres Fachs, eine ganz fulminante Gäa/Daphne, viel Modernes, auch die Hoffmann-Mutter (1969) in der Drehbühneninszenierung von Kaszlick, die Gesichter weiß gekalkt und gruselig. Tschechisches Regietheater der Anfangszeit. Mit Vera Little (die dann 1972 als Mamma Lucia Little-Augustitis hieß und denselben Herrn geheiratet hatte, zur allgemeinen Überraschung) stand im Hoffmann eine weitere schwarzen Sängerin auf der Bühne, die Sopranistin Annabelle Bernard als Antonia,  die dann (oft neben der Little) auch als Troubadour-Leonora in der immer lichtärmer werdenden Inszenierung Karajans zu sehen war. Die Bernard war Amerikanerin wie die Little und in Berlin verheiratet, und sie sang das volle Repertoire ihres Spinto-Fachs.

William Dooley war aus dem dramatischen Bass-Bariton-Fach nicht wegzudenken, ohne Barry MacDaniel und Donald Grobe gab’s weder Mozart noch eine Operette, und ohne McDaniel natürlich auch nicht den Jungen Lord neben dem betörend schönen Loren Driscoll in der Titelpartie (wie man auf der DVD nacherleben kann). Was für ein schöner Mann war doch Driscoll. Wir vom Rang waren alle verliebt in ihn (oder vielmehr in sein Bühnenabbild, später auf der Straße normalisierte sich die Begeisterung). Barry MacDaniel hatte für mich eine der schönsten lyrischen Baritonstimmen meines Opern-Lebens. Von der Met gibt es mit ihm einen betörenden Pelléas zu hören, in Wien und anderen Städten der Welt war er ein gesuchter Sänger. Aber Berlin war seine Heimat, auch aus privaten Gründen. Sein immer etwas melancholisch wirkender, wunderbar weicher und so schön timbrierter, zudem sehr individueller Klang ist mir bis heute im Ohr. Zumal er viel aufgenommen hat, auch herrliche Bachkantaten unter Werner bei Erato. Auf der Bühne liebte ich seine Erscheinung und vor allem seinen noblen Gesang in Mozart, auch in Offenbachs Operetten. Namhaft im Rundfunk war er viel zu hören, wo er meterweise Lieder und Arien beim SFB und BR dokumentiert hat.

Glayds Kuchta als Brünnhilde mit Josef Greindl in Berlin/Buhs/DOB

Das amerikanische Kontingent füllte sich substanziell natürlich mit Gladys Kuchta entscheidend auf. Nach ihrer Try-out-Elektra 1961 kam Ihre Lady Macbeth 1963 in der alten Inszenierung (die ich dann nach meiner Übersiedlung nach Berlin 1964 sah) in Sellners kompakter Regie und – Luxus – unter Mario Rossis Leitung. Das war war nichts weniger als elektrisierend. Das hatten wir noch nie so gehört. Sicher nicht besonders italienisch (ich meine sogar noch in Deutsch wie Turandot und andere), aber die schiere Power war enorm. Sie war keine Bühnenschönheit, und wir spotteten gemeiner Weise über ihre prägnante Silhouette, die sich nur mit der von Liane Synek oder Gitta Mikesch am Haus vergleichen ließ (jetzt schmunzeln die Kenner), und eine gewisse Nasalität bestimmte auch ihren Ton. Ich leiste ihr heute akute Abbitte, weil wir sie damals – vielleicht auch wegen Dauerpartner Beirer – nicht so geschätzt haben. Wir waren undankbar. Ihre Isolde war wirklich jugendlich-leuchtend und kraftvoll, ihre Senta leidenschaftlich, ihre Turandot ungeschlagen. Eine besondere Aufführung der Turandot (wohl später mit der Mastilovic) bleibt mir im Gedächtnis, als ein italienischer Tenor den Calaf nur  in seiner Sprache kannte, und bis auf den Chor sich der Abend langsam in einen originalsprachigen verwandelte, weil sich die Kollegen nicht lumpen ließen, sehr lustig. James King stemmte sich durch den originalen Erst-Calaf (nicht sein Ding), Loren Driscoll, der Schöne, machte einen der drei Ping-Pang-Pongs. Aber Driscolls Triumph blieb ungeschlagen der Junge Lord (1965). Er verlor leider wegen einer Lungengeschichte die Stimme und gab jahrelang nur noch den Spoleta, allerdings mit Erfolg und nachdrücklich.

Meine Zuneigung galt damals auch Lou-Ann Wyckhoff (die nicht bei der Huwe auftaucht, naja): eine Entdeckung Abbados von der Scala. Flamboyant mit ihren roten Haaren und von üppig-erotischer  Erscheinung war sie eine wunderbare Ballo– Amelia oder Odabella (als solche versang sie sich grundsätzlich in der ersten Arie, während „Gundel“ Janowitz sich mit der zweiten schwer tat…/ Premiere 1971). Die Wyckhoff, der man Amouren mit Dirigenten in Mailand und an der DOB nachsagte, war eine unglaublich attraktive Frau, verführerisch und knackig. Der Rang liebte sie. Sie ging nach Amerika zurück, wüste Gerüchte umrankten sie von dort …

DOB: William Dooley als „Figaro“-Conte, hier an der Met/ Met Archives/Malancon

William Dooley (als „Tom Dooley“ nach dem gleichnamigen Schlager bei uns auf dem Rang benannt) war der Bass-Bariton-Felsen neben Stewart. Man bedauerte ihn, wenn er als stimmgewaltiger Jochanaan auf den silbernen Strickbikini von Siljas Salome (1962 und später) in Wieland Wagners Sparinszenierung aus seinem Kerkerloch starren musste. Ich hab‘ den Hype um die Silja nie so recht verstanden und war von der Salome der Rysanek im eigenen Baby-Doll-Kurz-Nachthemd mehr begeistert (auch natürlich von der intelligent-schmäleren Barstow später an der Staatsoper). Bei der Rysanek gab es neben vielen falschen Tönen eben Sinnlichkeit und tollen Ton, nicht diese fahle „Kindertrompete“. (Wir sagten immer, an 8 Abenden hätte man sie wegen der falschen Noten morden mögen, aber an zweien war sie einfach göttlich.) Dooley war eine Wucht, auch als Macbeth oder Figaro-Graf, stets sehr präsent und darüber hinaus erfolgreich in der Berliner Unterwelt „socializing“ …

Glora Davy und Vera Little überraschten in der für heutige Sicht ziemlich abstrusen Poppea 1963 in der dto. Inszenierung Margherita Wallmanns, die uns eine ebenso alberne Forza bescherte. Aber die Davy war schon was, dazu schwarz und schön und so unglaublich exotisch. Das hatte Berlin auch noch nicht gesehen. Ihre gewisse Kinderstimme war meine Sache nicht, und sie hielt sich nicht in Berlin. Sie lebt durch ihre LPs weiter.

DOB: Tomas Stewart, der Wotan meines Lebens, hier an der Met/ Met Archive/ Melancon

Noch einmal zu Gladys Kuchta, denn ihre Färbersfrau und vor allem ihre Wagnerpartien waren doch von solcher Kraft, dass sie mich in die Welt von Strauss und Wagner bleibend einbetteten. Sie hatte nicht die Helligkeit der Rysanek, deren „Vater bist du’s“ mir bis heute unvergesslich ist (und natürlich Ursula Schröder-Feinen als Partnerin daneben unerreicht, ach Uschi!!!). Aber sie hatte doch gerade in dieser Partie so was unerhört Menschliches, Eigenes. Und ihre Brünnhilden 1967 (alle drei und die aus Siegfried ohne Probleme auf der Höhe) setzten für mich Maßstäbe, die später nur wenige übertroffen haben. Erstes Hören ist ja immer wichtig, aber da denke ich, dass ich objektiv bin. Die Tetralogie war natürlich eng mit Thomas Stewart verbunden, der in der Wotrubas-Sellners- Hobelspänen-Inszenierung seinen unvergessenen und unübertroffenen Wotan und Wanderer/Gunther zeigen konnte (und Gott-sei-Dank Josef Greindl abhängte). Selbst gegenüber seiner späteren Karajan-Einsätze in Salzburg konnte Berlin mithalten. 1965 sang eine steife und ältliche Hilde Güden abwechselnd mit der von vielen vergötterten Pilar Lorengar die Violetta (und überzeugte auch nicht als Donna Elvira).

George Fortune/ DOB Archiv

Aber der Star war eigentlich George („Georgeporgie“) Fortune, Bariton-De-Luxe am Haus in vielen Rollen, vom Rigoletto zum Don José (in eigenen neuen Samthosen). Wir spotteten über seinen wie an einen Luftballon angebundenen Gang, aber seine recht typische amerikanisch ausgebildete Stimme mit dem nach Bedarf reingeschobenen Metall und der Bombenhöhe ließen ihn zu einem Ideal im italienischen Fach werden. Sein Luna in Karajans Pappe von ursprünglich 1964 (Price, Lazzarini, Perevedi, Guelfi, Bühne Theo Otto) war schon eine Wucht. Leider musste er immer das Feld räumen, wenn die illustren Gäste kamen: Taddei, eben Guelfi und mehr. Konkurrent war auch Robert (Bobby) Kerns, der einen bedeutenden Rodrigo oder Jago gab, was Fortune sicher gekränkt hat. Sein dauerhafter Ehrgeiz brachte ihn schließlich auch an die Met, was ich ihm gönnte. Aber er hatte es nicht einfach.

DOB: Ein „scheener Mensch“ war Robert Kerns, hier als Jago/ Buhs-Remmler; mann schwärmte …

Wenn ich in dem Buch von Gisela Huwe blättere, fallen mir die vielen Abende ein, in denen ich meine Lehre an der Deutschen Oper machen konnte. Namen, Namen, Namen stehen für ebenso aufregende Erlebnisse wie für natürlich viele lässlich, wie das in jedem Opernhaus so ist. Und natürlich waren da nicht nur die amerikanischen Sänger. Doch ohne sie wäre der Spielbetrieb schwieriger gewesen. Zumal sie in der Rollendarstellung prägnanter wirkten als die deutschen Kollegen. Sie brachten auch eine andere Qualität der Stimmen-Timbres ein. Die meisten von ihnen waren musikalisch hervorragend ausgebildet, nicht immer jedoch war Deutsch ihr ideales Idiom …  Man war doch froh, dass das Haus dann doch auf die Originalsprachen umstellte. Manche haben bis zum Schluss schauriges Deutsch gesungen (wenngleich die Agathe der spanischen Lorengar auch im Esparanto angesiedelt war; Claire Watson war als  ihre Vorgängerin in der Premiere 1966 auch nicht ohne Akzent gewesen).  Das Italienisch konnte man damals nicht so nachkontrollieren. Das aber war ja Standard der amerikanischen Ausbildung. Es gab eine Finishing-Academie in Graz, wo die amerikanischen Sänger auf ihre Anfänge in Europa vorbereitet wurden, James King und viele kamen aus dieser „Fabrik“.  Insofern war die sprachliche Umstellung doch ein Segen, auch wenn das Abo protestierte und eine gewisse Nähe zu den Stücken verloren ging. Der Nacken schmerzte von den Übertiteln.

DOB: Gern geleugnet – Jessye Norma und Carlos Cossutta in Verdi „Aida“ an der DOB/ Huwe/ DOB

Die Jahrzehntwende zu den Siebzigern brachte eine internationale Ausweitung der bis dahin doch sehr geschlossenen Sängerbesetzung. Lucy Peacock, für mich die beste Martha (in Steins Hamburger Opernfilm) hörte ich 1970 mit der Klugen und dann auf Dauer –ungemein tüchtig. Dass Friedrich die Valentine der Hugenotten mit ihr und nicht mehr  mit der Lorengar besetzte (und so als Video herausbrachte), kränkte die Lorengar ungemein. Das hatte sie auch nicht verdient, auch nicht ihren popeligen Abschied auf der Bühne. Ich wusste, warum ich was gegen Friedrich hatte und habe manche Sträusse als Journalist mit ihm ausgefochten, nicht nur wegen seiner Gattin …

Aber das homogene Ensemble, das bislang nur mit einigen Gala-Gästen aufgelockert wurde, begann sich aufzulösen. Nicht wirklich merklich zuerst, aber wenn man die Besetzungen jener Jahre liest, wird’s zunehmend internationaler, auch regietheaterlicher. Noch immer hatte die DOB ihr Ensemble-Gesicht, aber viele neue und nur mehr mit Abendspielverträgen ans Haus gebundene Sänger kamen. Tagliavini, Cossutta, italienische Tenöre am Meter (man weint heute, wenn man daran zurückdenkt), Siepi, Janku, Troyanos, Armstrong … Altersstars wie die Güden oder die Della Casa arbeiteten sich recht tonlos durch Mozart oder Strauss. Die Grümmer war der Lorengar gewichen und die wurde nicht wirklich von der Norman bedroht.

Auch Ost-Berlin und die DDR hatten ihre Schönheiten, die Staatsopern-Frau ohne Schatten konnte absolut mit unserer atmosphärischen von Sellner in Jörg Zimmermanns unglaublich poetisch beleuchteten mithalten. Im Osten Eva-Maria Bundschuh als Isolde auf dem halben Schiff ist mir doch auch unvergesslich (man munkelte, sie zahlte eine Vorstellung mit drei Wochen Stimmlosigkeit …). Auch die Tomowa-Sintow in ihren Anfängen. Helga Thiede ( in Dresden glanzvoll als Chrysothemis) als Eglantine in der Euryanthe … Der tolle Freischütz der Berghaus, vieles mehr, nicht zu vergessen Jeanette Lewandowski in Schrekers Fernem Klang in Gera oder die rothaarige Rosa Steurich als Senta, Wagner-Régenys Günstling in Potsdam …

DOB: Und natürlich darf Loren Driscoll nicht fehlen, hier in den „Bassariden“/ Huwe DOB

Vielleicht war’s auch, dass ich selber zu reisen begann und vielleicht etwas genug von meinem Stammhaus hatte, den Hype um die junge Catarina Ligendza als Kuchtas Nachfolgerin nicht nachvollziehen konnte (und  sie schritt immer auf der Bühne, als hätte sie Wasser in den Knien …), akut etwas gegen Götz Friedrich und seine übersexualisierte Sicht vieler Dinge hatte, das nahende Regietheater misstrauisch wahrnahm und überhaupt mich auch beruflich zum Belcanto, nach Italien und zu Frankreichs nationaler Oper orientierte. Ich ging immer noch viel in die DOB – und gerne. Sie war ja meine Heimat. Aber da waren eben Mailand und Rom, vor allem Paris unter dem italienischen Intendanten Bogianchino mit herrlichem Rossini und dem französischen Verdi: Nach Jerusalem für mich Don Carlos erstmals im Original mit meinem bis heute von mir hochverehrten Thomas Allen und der tollen Michele Lagrange, die auch eine riskante Norma hinlegte, neben ihr Martine Dupuy als androgyne Adalgisa, später dto. in Rossinis Hosenpartien neben Cecilia Gasdia eindrucksvoll im pastosen Malibran-Ton. Dann kam 1986 Pesaro mit seinen bis heute unerreichten Programm/Besetzungen der kurzlebigen Rossini-Renaissance und dem dto. unübertroffenen Tandem Gasdia/Valentini/Scalchi/Dupuy/Blake/Merritt. Die Welt öffnete sich. Dennoch – mein Dank geht an die Deutsche Oper, wo ich den Grundstock für mein weiteres Musik-Leben und Beruf lernte. Und eben auch an die amerikanischen Sänger ebendort. Geerd Heinsen

 

(Foto oben: Gladys Kuchta, Gerd Feldhoff, Hildegard Hillebrecht und Ruth Hesse in „Die Frau ohne Schatten“/ Huwe; alle Foto, soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen aus Gisela Huwes oben zitiertem Buch über die Deutsche Oper, Fotografen sind Ilse Buhs/Jürgen Remmler, Kranichfoto, Deutsche Berlin Archiv; wir bitten um Entschuldigung, falls wir jemanden vergessen haben und werden natürlich bei Information/Zuschriften nachbessern). Geerd Heinsen