Jeder kennt die Oper Hänsel und Gretel. Sie machte Engelbert Humperdinck weltbekannt und zum musikalischen Märchenerzähler der Nation. Aber ihr Komponist, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum hundertsten Male jährt, ist noch immer weithin wenig bekannt. Der Musikwissenschaftler Matthias Corvin schließt diese Lücke, er dokumentiert das Leben Humperdincks, seine Jugend im rheinischen Siegburg und Paderborn, seine Stipendiatenzeit in Italien, seine Wagner-Assistenz in Bayreuth, seine Reisen durch Frankreich und Spanien, seine beruflichen Stationen in Köln, Essen, Barcelona und Mainz, die Höhepunkte seiner Karriere in Frankfurt und Boppard (wo er seine imposante Komponistenresidenz erbaute), das Kapitel seines späten Ruhms (als Professor an der Akademie der Künste) und seinen Abgesang in Berlin. Dort zählten so diverse Komponisten wie Manfred Gurlitt, Kurt Weill, Friedrich Hollaender, Robert Stolz und viele andere zu seinen Schülern.
Der 1854 im rheinischen Siegburg geborene, stets bescheidene und freundliche Fin-de-siècle-Komponist war gefeierter Dirigent, Pädagoge, Komponist, Musikkritiker, -schriftsteller und Volksliedsammler. Eine imposante Erscheinung im Musikleben seiner Zeit, weit mehr als nur „Repräsentant der Gründerzeit“. Neben Hänsel und Gretel, schrieb er weitere 14 Opern, Chor- und Orchesterwerke, Lieder und Kammermusik. Neun Schauspielmusiken komponierte er, darunter für den Berliner Regisseur Max Reinhardt zu dessen Inszenierungen von Shakespeares Wintermärchen Der Sturm, Was ihr wollt und Der Kaufmann von Venedig. Alles wird kenntnisreich und präzise beschrieben und eingeordnet bei Corvin.
Nicht zu vergessen die Pantomime Das Mirakel, die 1911 in London ihre Premiere erlebte, um später in Berlin, New York und bei den Salzburger Festspielen Triumphe zu feiern. Zurecht bezeichnet der Autor das Werk als einen „Wegbereiter der Filmmusik.“
Humperdinck hatte Kontakt mit vielen berühmten Komponisten seiner Zeit, u.a. mit Richard Strauss, Giacomo Puccini und Hugo Wolf, Max von Schillings, Ermanno Wolf-Ferrari, aber auch mit Dirigenten wie Arthur Nikisch, Hermann Levi und Felix Mottl. Er blickte stets über seinen Tellerrand, war neugierig, aufgeschlossen für Neues und diskussionsfreudig, kurz: Er war auf der Höhe seiner Zeit.
Thomas Mann zum Trotz, der in Humperdinck „den deutsch-bürgerlichen Teil des Wagner-Erbes erblickte, mit „Käppchen-Meistertum und Treufleiß“ behauptete der Kulturkritiker und Opernkenner Oskar Bie schon 1923, Humperdinck und Strauss seien „die zwei Pole der modernen Musik“.
Natürlich war Humperdinck Wagnerianer, aber er fand doch seinen eigenen musikalischen Tonfall. Bereits als junger Mann assistiert er Richard Wagner bei der Parsifal-Uraufführung in Bayreuth. Dort kopierte er die Parsifal-Partitur, schrieb diverse Arrangements für Wagner, bewährte sich als Solorepetitor und verlängerte auf Wagners Wunsch hin die Verwandlungsmusik im ersten Akt des Parsifal (Die Klavierfassung des Parsifal giubts es u. a. auch bei youtube) Corvin hat alle Wagner-Aktivitäten und -Bearbeitungen Humperdincks gewissenhaft dokumentiert.
Sein Melodram Die Königskinder (1897) inspirierte die Moderne und wurde 1910 für die Metropolitan Opera New York zur Märchenoper umgearbeitet. Humperdinck war – wie Corvin klar macht, einer der bedeutendsten Künstler im Deutschen Kaiserreich. Zu seinen bedeutendsten Schülern gehören der Dreigroschenopern-Komponist Kurt Weill und der Wagner-Sohn Siegfried. Humperdinck starb im September 1921.
Die Biografie Matthias Corvins bietet eine längst überfällige Neubewertung des unterschätzten Komponisten, der alles andere als der „gemütliche Märchenonkel“ war, als der er oft bezeichnet wurde. Zuletzt hat nach Otto Boschs Humperdinck-Biografie von 1914 der (nationalsozialistisch schwer belastete) Humperdinck-Sohn Wolfram 1965 die letzte deutschsprachige Biografie des Komponisten vorgelegt. Dass er im Dritten Reich seinen Vater „als Vorreiter rechter Ideologien“ feierte, unterschlägt Corvin wie manches andere Heikle nicht. Sein sachliches, gut lesbares Buch enthält neben einer luziden, detailreichen Biographie (auf dem neusten Stand der Humperdinck-Forschung) auch ein vorzügliches Werkverzeichnis, eine umfassende Bibliographie, eine vollständige Diskografie/Videografie und ein nützliches Register. Es ist die lange erwünschte Monografie dieses weithin unterschätzen, von „Hänsel und Gretel“ einmal abgesehen, wenig bekannten Komponisten, sie dürfte schon jetzt als Standardwerk in Sachen Humperdinck gelten. Dieter David Scholz
Und noch einmal: Rund die Hälfte des Buches (mit Abbildungen!) besteht aus einer erschöpfenden und so noch nicht dagewesenen Discographie und einem fabelhaften kritischen Apparat. Nach Ommer und Steiger ist dies eine ungleich umfassendere und wahrscheinlich komplette Auflistung. Und die querverweisende Auflistung von Titeln und Namen sind ungemein hilfreich, also auch vom Akademischen her ist dies ein unverzichtbares Buch für den Musikfreund und Forscher. G. H.