Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen, dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper eine sozialpolitische Funktion zeigt und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist ausübt steht ja außer Zweifel. Zwar schlagen sich zwar wichtige politische Ereignisse meist nur mit Verzögerung in den Opernplots nieder, aber auch aktuelle Bestrebungen nach nationaler Einheit und Identität ((und dem Verlust derselben) finden sich in vielen Werken ganz aktuell, oft auch durch Reaktivierung glorioser Siege in der ferneren Geschichte des jeweiligen Landes (so zum Beispiel bei Gounod oder Saint-Saens um die Schmach des deutsch-französischen Krieges vergessen zu machen.
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Ein inzwischen fast vergessener Skandal vom Beginn des 20. Jahrhunderts kam spätestens mit der Aufführung der Cassandra Vittorio Gnecchis beim Radio-Festival von Montpellier 2000 wieder ins Bewusstsein: Hat Richard Strauss (um es umgangssprachlich zu sagen) „geklaut“? Denn seine Elektra von 1909 und Gnecchis bereits 1903 fertiggestellte Cassandra weisen überraschende Ähnlichkeiten in den musikalischen Strukturen, Motiven und auch in der Textverwendung auf. Vittorio Gnecchi (1876-1954) ist ein inzwischen völlig vergessener italienischer Komponist des spätromantischen Idioms (etwa vergleichbar Catalani und Respighi). Er stammte aus wohlhabendem Hause, was ihm Zeit seines Lebens den „Makel“ des Dilettanten, des sich alles leisten Könnenden, eintrug. Ein Vorurteil, unter dem Gnecchi litt. Er studierte bei bekannten musikalischen Größen wie Michele Saladino (dem Lehrer Mascagnis und de Sabatas) und Ernesto Gatti. Und er begann seine Laufbahn mit einer Pastorale, Virtu d‚amore, 1896 nur privat im Familiensitz Verderio bei Como aufgeführt. 1905 folgte Cassandra in Bologna, in deren Folge sich der bereits erwähnte Streit um seine und Strauss‘ Oper entwickelte. Die langanhaltende Schaffenspause resultierte auch daher. Erst 1927 gab es eine neue Oper, La Rosiera, darauf Giuditta 1953, die in ihrer zeitverhafteten post-wagnerianischen Musiksprache sich beide nicht mehr durchsetzen konnten.
Die Geschehen um die Cassandra hören sich heute wie ein Wirtschaftskrimi an. Toscanini, der stets die jungen Komponisten Italiens protegierte (so auch Catalani), war ein begeisterter Champion für Gnecchis interessante Musiksprache und verhalf nicht zuletzt durch sein Mitwirken der Oper in Bologna zu einem gewissen Erfolg, der eher im Kompositorischen lag denn im Bühneneffekt. Bereits Gnecchis erstes Werk, Virtu d’amore (1896), weist interessante Parallelen zu Richard Strauss‘ Ariadne (1911) auf, wie schon die zeitgenössische Kritik der weitgereisten Fachleute in England oder Italien anmerkte. Jedenfalls führten diese Stimmen dazu, dass sich der Musikzar Giulio Ricordi für Gnecchi interessierte.
In den folgenden Jahren nach dem Erstling beschäftigten sich Gnecchi und sein Librettist lllica mit der griechischen Literatur als Stoff für eine neue Oper. Aischylos ‚ Atriden-Tragödie Die Orestie bot sich an. Und 1903 erblickte Cassandra das Licht der Welt. Nach Beendigung spielte Gnecchi sie Ricordi vor, der nicht sehr enthusiastisch darüber war und einen Bühnenerfolg bezweifelte.
Dennoch interessierte sich Toscanini durch Vermittlung von Gnecchis Lehrer Tullio Serafin dafür, hielt sie für sehr spielbar und brachte sie 1905 in Bologna zur Aufführung. Elisa Bruno war Cassandra, immerhin Salomea Kruszelnicka die Clitennestra (und spätere Salome in Strauss‘ gleichnamiger Oper anlässlich ihrer italienischen Erstaufführung in Turin), dazu die renommierten Baritone Quercia und Federici. Die Proben verliefen nicht besonders glücklich, und Toscanini war gereizt. Die Premiere selbst jedoch geriet zu einem schönen, überregionalen Erfolg, wenngleich sich Widersacher gegen den „Dilettanten“ Gnecchi regten, die seine Musik zu „deutsch“ und zu „schwer“ fanden, zu exhibitionistisch, in der Darstellung der Charaktere zu überzogen, die Verwendung archaischer Motive und Melodiken (vor allem in der Schluss-Szene) zu hellenistisch-bemüht und zu sehr im polyphonen Stile verharrend (das klingt bekannt, wenn man sich die Reaktionen auf Strauss‘ Elektra ansieht). Auch der stets übersensible Toscanini blieb von dem vehementen Streit um die Qualitäten der Musik Gnecchis nicht unberührt und wollte damit und mit dem Werk nichts mehr zu tun haben, zumal sich die Gerüchte hielten, Gnecchi habe Toscanini bezahlt, das Werk aufzuführen. Daran war nichts Wahres, aber der Schaden war da. Toscanini rührte hinfort keine Note Gnecchis mehr an.
Die Partiturlage ist interessant. Gnecchi hatte einen Vertrag mit Ricordi, dass die Rechte daran in sein Eigentum zurückfielen, wenn die Oper eine bestimmte Zeit nicht aufgeführt würde. Ein wohlhabender Freund der Familie Gnecchi hatte ohnehin nur „als Geschenk“ den Druck bei Ricordi bewirkt. Fünf Jahre lang schlief Cassandra vor sich hin, ohne wieder aufgeführt zu werden.
Eine revidierte Fassung kam dann in Ferrara zur Aufführung, in bescheidenerer Qualität und ohne großes Echo und mit der nun anhaltenden Feindseligkeit der Kritik. Jedoch blieb Cassandra nicht ohne Partisanen. Willem Mengelberg führte 1911 das Werk in Wien mit Maria Jeritza als Clitennestra auf (eine der Lieblingssängerinnen Strauss‘), in Anwesenheit des Komponisten, der gefeiert wurde. 1913 gab es die Oper am Teatro Dal Verme in Mailand. 1914 dirigierte Cleofonte Campanini sie in Philadelphia mit Rosa Raisa – also durchaus kein „erfolgloses“ Werk.
Und nun zu Strauss: Ein Zeitsprung führt uns zurück ins Jahr 1906, wo am 22. Dezember die Salome von Strauss ihre italienische Erstaufführung am Teatro Regio in Turin erlebte. Gnecchi war anwesend und überreichte dem deutschen Kollegen anschließend die Partitur (Original oder Kopie?) seiner Cassandra als Geschenk. Strauss zeigte sich begeistert und versprach, sich die Musik kritisch anzusehen und sie zu kommentieren. Gnecchi hatte ihn um seine Meinung gebeten. Aber er wartete vergebens. Er schickte nach einem Jahr erneut eine Kopie der Partitur nach Deutschland, deren Erhalt ihm Strauss dankend bestätigte (erhalten in einem datierten Brief vom August 1905). Nichts. 1908 trug sich der Intendant der Dresdner Oper, Ernst von Schuch, mit dem Vorhaben, Cassandra in der folgenden Saison aufzuführen (wie einem Brief an Gnecchi zu entnehmen ist). Und auch die Elektra von Strauss kam im folgenden Jahr, am 25. Januar 1909, in Dresden und unter Schuchs Leitung, zur Aufführung. Viele Stimmen bemerkten die frappierende Ähnlichkeit der beiden Opern in diverser Hinsicht, nicht nur in der Musik, sondern auch im Libretto. Und wenige Wochen nach der Premiere schrieb der renommierte italienische Musikwissenschaftler Giovanni Tebaldini in der Fachzeitschrift „Rivista Musicale ltaliana“ von einer bemerkenswerten „Telepatia musicale“ zwischen Strauss und Gnecchi und stellte dazu eine Tabelle mit mehr als 50 gleichen Themen in Cassandra und Elektra auf!
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Das war der Anfang vom Ende Gnecchis. Natürlich hatte Tebaldini nie wörtlich von einem Plagiat seitens Strauss gesprochen, sondern nur von einer auffälligen „Telepathie“ der Inspiration. Und er hatte auch keine Anklagen erhoben, sondern nur sachlich berichtet. Strauss jedoch reagierte nervös und erklärte öffentlich im krassen Gegensatz zu seinem eigenen Brief. vom August 1905, dass er Gnecchis Oper und keine einzige Note davon je gesehen oder gehört habe. Das war nicht klug. Er hätte angesichts des Riesenerfolges der Elektra ganz einfach die Vergleiche im fernen Italien ignorieren können, aber er fühlte sich (aus schlechtem Gewissen?) angegriffen und aktivierte infamerweise seinen Beziehungs-Apparat gegen Gnecchi selbst, nicht etwa gegen die Musikwissenschaft. Der Kritiker Rudolf Hartmann, gleichzeitig auch Übersetzer des Cassandra-Librettos für Schuch, fühlte sich aufgerufen, Strauss in einem eventuellen Rechtsstreit zu entlasten. Auch Ernst von Schuch bot sich – gleichfalls persönlich beleidigt – als Zeuge für Strauss an. Und im Endeffekt wendete sich die Geschichte gegen den armen Gnecchi. Denn man war eifrig bemüht, die Chronologie der Vorgänge zu verdrehen. Zum Schluss hieß es, Gnecchi habe bei Strauss abgeschrieben, wie in amerikanischen Journalen anlässlich der Aufführungen in Philadelphia nachzulesen war. Der Schaden reichte bis nach Italien. Als 1909 die Programmkommission der Scala dem künstlerischen Direktor Vittorio Mingardi die Cassandra zur Aufführung vorschlug, schrieb dieser einen privaten Brief an den Vorsitzenden, den Grafen Visconti, er wolle davon absehen, „pour ne pas deplaire a Strauss“ (dieser Brief ist erhalten), also um Strauss nicht zu verärgern, und das noch in Französisch. Man hielt eben auf oberer Ebene zusammen.
Was ist nun dran an dem Vorwurf eines Plagiats (durch Strauss!)? Es gibt viele und frappierende Ähnlichkeiten zwischen beiden Opern. Die Ausführungen des Musikwissenschaftlers Tebaldini sind unanfechtbar und belegen erstaunliche Parallelen der Text- und Musikbehandlung. Das betrifft die gleichlaufenden Tessituren der Partien im Fahrwasser der post-wagnerianischen Ära, das betrifft die Themenverwendung in der Cassandra im motivischen und semantischen Gebrauch sowohl im Prolog wie auch im Verlauf der Oper. Quirino Principe (in seinem Artikel „Vittorio Gnecchi e Richard Strauss: storia di un presunto plagio“, in der „Rivista illustrata del Museo Teatrale alla Scala“, Herbst 1990) unterstützt diese Anmerkungen und weist vor allem auf einen beispielhaften Moment in beiden Opern hin. Im Epilog der Cassandra weissagt die Seherin das blutige Ende der Atriden, worauf Clitemnestra brutal antwortet: „Und das Deine, oh Teucra“ („II tuo, o Teucra“) und die trojanische Prinzessin niederstreckt, die mit dem Ruf ihrer letzten Prophezeiung „Oreste!“ stirbt. Eine ganz ähnliche und im letzten Wort identische Situation ergibt sich bei Strauss. Chrysothemis ruft, als Elektra nach orgiastischem Tanz tot zusammenbricht, „Orest! Orest!“, und der Vorhang fällt. Principe weist auch im sehr viel delikateren musikalischen Bereich Ähnlichkeiten nach, etwa die gemeinsame Stimmung des Orchesters, die brutale Musiksprache, die Harmonik der Tonarten (Ausruf der Elektra, „Agamemnon“, auf ein Intervall absteigender Quinten), die beide Komponisten mit der Charakterisierung der Personen verbinden.
Dieser Vorwurf nimmt Strauss nichts von seiner Größe, macht aber doch nachdenklich und lässt Zweifel aufkommen … Vielleicht kann man nicht von einem bewussten Plagiat sprechen. Und Strauss war ungeschickt zu behaupten, dass er Gnecchis Oper und keine einzige Note davon je gesehen oder gehört habe.
Dieser hatte angesichts des Strauss’schen Riesenerfolges der Elektra ganz zweifellos auch eine wichtige Positionen unter den zeitgenössischen Komponisten. In diesem Sinne gehört er in die wagemutige Generation der Post-Jahrhundertwende Italiens, wie die Wertschätzungen solcher Dirigenten wie Mengelberg, Bruno Walter, Oliviero De Fabritiis oder George Szell bekunden.
Verbreitung: Gnecchi wurde in Amerika, aber auch in Deutschland und Österreich mehr geschätzt als zu Hause, wo ihm nun der absurde Ruf des Plagiators anhaftete. Walter Gieseking, Sergeij Prokofjew und andere kamen zu privaten Konzerten zu ihm nach Verderio, während Cassandra immerhin in Zürich, Prag, Paris, Philadelphia (von 1925-1929) und schließlich noch einmal, 1942, in Rom unter De Fabritiis gespielt wurde (Gabriella Gatti, Giuseppina Cobelli, Tito Gobbi unter Oliviero De Fabritiis). In Salzburg erlebte Gnecchi späte Anerkennung 1934 mit seiner Cantata bliblica, darauf mit einer Missa Salisburgensis unter Karl Koch und als szenische Umsetzung von Joseph Meßner im Mozarteum mit einem abschließenden Ballett Atalanta. Wenige Monate vor seinem Tod in trister Einsamkeit am 5. Februar 1954 in Mailand gab es noch einmal diese Missa in der Jacobskirche von Innsbruck, und die deutsche Version seiner Oper (Libretto von lllica) Giuditta (als Judith) in konzertanter Form am Salzburger Mozarteum.
Cassandras Prolog wurde schließlich am 16. 10. 1969 konzertant bei den lnnsbrucker Philharmonikern aufgeführt, während die ganze Oper am Theater von Lübeck im Februar 1975 unter der Leitung von Matthias Kuntsch das letzte Bühnenlicht erblickte. Dann rettet noch einmal Montpellier 2000 diesen „skandalumwitterten“ Komponisten vor der Vergessenheit mit der konzertanten Aufführung. Die Deutsche Oper Berlin spielte 2007/2008 auf Betreiben des damaligen Chefdramaturgen Andreas Meyer (heute Operndirektor in Bonn) einen Hotchpotch daraus als Warm-Up für die staubige und alberne Elektra-Produktion der ehemaligen Prinzipalin Kirsten Harms, in schönem Gold und gut besetzt, nur eben barbarisch zusammengestrichen (aber immerhin hörte man zumindest erstmals in Berlin einiges aus dem Werk: es sangen Gustavo Porta, Susan B. Anthony, Piero Terranova unter Donald Runnicles/Leopold Hager, 2010 wiederaufgenommen). 2011 spielte das Teatro Massimo Catania die Cassandra in einer überzeugenden Produktion unter Donato Renzetti mit Giovanna Casolla (alternierend Alessandra Rezza), Mariana Pentcheva und anderen (ich saß damals in der Vorstellung und war schwer beeindruckt, zumal Giovanna Casolla als Clitennestra einen das Gruseln lehrte; bei YouTube gibt’s das Ganze zum Hören, und das ist sehr viel erfreulicher als der Mitschnitt aus Montpellier, weil die Casolle ihrer dortigen Kollegin in fast allem überlegen ist …). 2016 schließlich gab die Enterprising-Operngesellschaft Grattacielo in New York eine Vorstellung unter Israel Gursky.
Und eine CD-Aufnahme gibt es auch (immer noch bei jpc und Amazon): Im Mitschnitt aus Montpellier 2007 singt Denia Mazzola-Gavazzeni die Clitennestra (dazu die Kollegen Tea Demurishvilli, Arnold Kocharyan, Nikola Miljakovic et al), und die Firma Agora, Mailand, hat das Ganze als CD herausgebracht, wo der Prinzipal des Hauses, Nikos Velissiotis, der Urheber dieser modernen Wiederbelebung ist (das ist auch der Herr, der den Schluss des 1. Aktes des Macbeth mit der Callas mit einem Finale mit der Gencer flickte, weil auf dem Vorlageband der Ton abfiel und man die nationalen Nachrichten hören konnte; so gelangte die montierte Aufnahme zur EMI/Warner und liegt noch immer so vor, ohne Kennzeichnung der Insertion …). Velissiotis fand 1980 auf dem Pariser Flohmarkt unter vielem Ramsch ein Blatt der Zeitschrift „L’ltalie et la France“ mit dem vielversprechenden Titel: „Richard Straus – plagiaire?“ mit einem Kommentar zum Artikel von Tebaldini. Und das setzte alles weitere in Bewegung. Geerd Heinsen
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(Außer den bereits zitierten beiden Quellen von Tebaldini und Principe verweise ich auch auf den Text zur Oper von Marco lanelli der Assoziaione Musicale Vittorio Gnecchi Roscone, Mailand 1999. Die Fotos stellte Nikos Velissiotis zur Verfügung. Ich danke auch dem Theater der Stadt Lübeck für seine Unterstützung sowie der Deutschen Oper/ Andreas Meyer für sein fabelhaftes Programmheft zur Berliner Teil-Erstaufführung 2007. Foto Winter)