Archiv des Autors: Geerd Heinsen

„Gott, ich lebe noch!“

 

Allzu viele Einspielungen von Lélio, ou Le Retour à la vie, dem so bezeichneten Lyrischen Monodrame in sechs Teilen für Sprecher, Solisten, Chor und Orchester von Hector Berlioz, gibt es mitnichten. Orfeo schafft dem mit einer Neuerscheinung nun Abhilfe (Orfeo C210071). Es handelt sich bei Lélio, dem „Seltsamste[n], was Berlioz je komponierte“ (Dietmar Holland), im Grunde genommen um die Fortsetzung der ungleich bekannteren Symphonie fantastique, der wohl bedeutendsten französischen Sinfonie des 19. Jahrhunderts. Anders als diese ist Lélio kein homogenes Werk. Vielmehr werden Lieder, Chöre und Instrumentalstücke zusammengenommen und durch von einem Erzähler vorgetragene Schauspielmonologe zusammengehalten. Musikalische Zitate aus der Symphonie fantastique gibt es bereits in der ersten Ballade Le pêcheur nach Goethe. Vor allem aber dreht es sich um Shakespeare, Ausdruck der Begeisterung Berlioz‘ für die irische Shakespeare-Schauspielerin Harriet Smithson, seine spätere erste Ehefrau. Bereits im düsteren Chœur d’ombres ein Bezug zum Hamlet. Wiederum greift Berlioz ein früheres eigenes Werk, die Kantate La mort de Cléopâtre, auf, mit welcher er (erfolglos) den Prix de Rome erringen wollte. Das wiederum solistische und idealistische Chanson de brigands handelt von den Freiheiten kalabrischer Räuberbanden und ist in seiner lebensbejahenden Grundstimmung völlig anderer Natur. Im berückenden Chant de bonheur sowie im orchestralen, geradezu ätherischen La harpe éolienne zitiert der Komponist seine andere Rompreis-Kantate La mort d’Orphée. Mit der Fantaisie sur La Tempête de Shakespeare ist schließlich als krönender Abschluss eine viertelstündige Tondichtung über Shakespeares The Tempest eingebaut, die eigentlich für sich allein stehen und unabhängig vom Rest des Werkes in Konzertprogrammen berücksichtigt werden könnte. In dieser stellenweise wirklich stürmischen Fantaisie nähert sich Berlioz auch am ehesten seiner Fantastischen Sinfonie an, selbst wenn vokal vom Chor beigesteuert wird.

Für die künstlerische Ausführung ist verantwortlich das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der begnadeten Leitung von Michael Gielen, der für den SWR übrigens auch die Symphonie fantastique eingespielt hat (Michael Gielen Edition Vol. 4). Bestens disponiert die Wiener Singakademie wie auch die Solisten Herbert Lippert (Tenor) und Geert Smits (Bariton). Der markante Joachim Bißmeier beeindruckt im hier deutschsprachigen Part des Sprechers. Klanglich gibt es an diesem ORF-Mitschnitt aus dem Wiener Konzerthaus vom 7. Dezember 2000 nichts auszusetzen – sieht man von gelegentlichen Publikumsgeräuschen ab. Eine echte Bereicherung der Diskographie und ein weiteres Plädoyer für Lélio. Höchstwertung in allen Belangen. Orfeo-typisch vorbildlich das umfangreiche Beiheft (Englisch und Deutsch) mit den kompletten Texten im Original sowie mit Übersetzung. Daniel Hauser

Gutes Schlangen-Karma

 

Die Messlatte ist hoch. Als Vorbild für sein Auftragswerk im Rahmen des aus drei Schlangen-Opern, The Ouroboros Trilogy, bestehenden Festivals in Boston hatte sich der 69jährige Virgil Thomson-Schüler Scott Wheeler 2016 ausgerechnet in Mozarts Zauberflöte verguckt. Auch in Wheelers Zweiakter Naga wird ein junger Mann von Schlangen in Schrecken versetzt: es sind die beiden Schlangen Madame White Snake und die in sie verliebte und ihre dienende grüne Schlange namens Xiao Quing, die den jungen Mönch auf seinem Weg der Erkenntnis und Erleuchtung begleiten. Zwischen Märchenoper und mythologisch-religiösem Spiel schickt Wheeler seinen buddhistischen Mönch auf eine spirituelle Reise und in eine Welt, die von guten und bösen Kräften bestimmt ist. Den Text, wie auch für die beiden weiteren Schlangen-Opern des Festivals, lieferte ihm die aus Singapur stammende Cerise Lim Jacobs, die bereits für Zhou Longs auf der gleichnamigen chinesischen Legende basierende Madame White Snake das Libretto geschrieben hatte. Das chorlastige Werk, inklusive eines durchgängig prominent eingesetzten Kinderchores (der Boston Children Chorus), reflektiert bereits im Prelude christliche, hinduistische und buddhistische Mythen – „In the beginning God said“, „Where are you now triumphant Krishna?“, „Where are you now holy Nuwa?“ – und gipfelt in der Anrufung des altägyptischen Gottes Apophis „Apophis comes, Apophis comes“. Mit der Attitüde der Königin der Nacht erklärt sich Madame White Snake zur Krönung der Schöpfung, was Stacey Tappan in feinen Verzierungen und Staccatos in der Sopranhöchstlage in „What moves these mortals?“ unterstreicht; zusammen mit der grünen Schlange treibt sie die Handlung voran. Die grüne Schlange ist androgyn angelegt und mit dem elegischen Anthony Roth Costanzo, der sich 2019 an der Met als Echnaton in Akhnatan von Glass weiter in ägyptische Mythologie vertiefte, ausgezeichnet und prominent besetzt. In „We have watched many humans come and go“ bringt er mit fast kindlich zarter Anmut seine Liebe zur weißen Schlange zum Ausdruck, die wiederum vom Mönch angezogen ist. Ein weiterer inniger Moment für Cotanzo ist seine Arie im zweiten Akt „How many winters have changed to spring“, die deutlich auf „Must the winter come to soon“ in Barbers Vanessa verweist.

In einem schönen, fast spätromantisch anmutenden Duett nimmt der junge Mönch Abschied von seiner Frau (Sandra Piques Eddy) und dem gemeinsamen Heim, das eine Art Eden sein muss. Der wenig belastbare Bariton von Matthew Worth klingt nicht unattraktiv, seine Arie am Ende des ersten Akts „O beauty beyond belief“ hat einen netten Musical-Touch. Wheeler akzentuiert die Figuren, zu denen als Mentor des Mönchs und Feind der Schlangen und Sarastro-Pendant noch der Master (der robuste Bass David Salsberry Fry macht deutlich, dass er aus einer sehr diesseitigen Welt kommt) hinzutritt, und Sphären mit einer fein geklöppelten, durchaus leidenschaftlichen Musik, die in den Chören ganz von Fern an die zupackenden Art in Peter Grimes denken lässt, ein bisschen spätromantisch welk à la Barber und Thomson ist, und klugen Gebrauch von den Instrumenten macht, natürlich Harfe für die Märchenwelt, aber vor allem alle Art von Gongs, Schlag- und Klingelwerk für die rätselhaften und unergründlichen Momente der Handlung. Vielleicht mag man auch an Tippett denken, der 1955 mit The Midsummer Marriage einen blässlichen Zauberflöten-Nachfolger geschaffen hatte. Sprache und Sprechgesang bringen den Text klar zum Ausdruck, die Arien – und deren sind es viele, wenn auch größtenteils recht kurze – sind hinreichend opernhaft, fast spätromantisch schmeichelnd. Der erleuchtete und um Erkenntnis reichere Mönch verhindert am Ende, dass der Master die weiße Schlange tötet („I save your immortal soul from the karma of killing her“), die grüne Schlange reißt die weiße mit sich fort, während diese im divenhaften Abgang mit hohem C verspricht „You and I shall meet again“. Carolyn Kuan dirigiert Chorus und Orchestra des White Snake Projects, das im September 2016 in Bostons prächtigen Beaux Arts Cutler Majestic Theatre stattfand. Die 90 Minuten lassen sich gut aushalten. (2 CD New World Records 80814-2). Rolf Fath

Corneliu Murgu

 

Die Wiener Stzaatsoper schreibt: Die Wiener Staatsoper trauert um Corneliu Murgu, der am heutigen Dienstag, 27. April 2021, im Alter von 73 Jahren in Timişoara verstorben ist (geboren am 25. 8. 1948 in Temisoara). Dem Haus am Ring war der rumänische Tenor viele Jahre lang eng verbunden: Sein Hausdebüt gab er als Turiddu in Cavalleria rusticana – mit insgesamt 24 Vorstellungen wurde dies seine meistgesungene Partie an der Wiener Staatsoper.

Bis zu seinem letzten Auftritt als Canio in Pagliacci 2003 war er hier an 77 Abenden zu erleben, neben Turiddu und Canio weiters noch als Radamès (Aida), als Andrea Chénier, als Luigi (Il tabarro), Arturo (Lucia di Lammermoor), Macduff (Macbeth), B.F. Pinkerton (Madama Butterfly), Des Grieux (Manon Lescaut), Cavaradossi (Tosca) und Gustaf III. (Un ballo in maschera). /(Quelle Wiener Staatsoper/ Foto Axel Zeininger)

 

Im Folgenden ein Auszug aus dem rumänischen Wikipedia in der Google-Übersetzung: Unter den international bekannten rumänischen Musikpersönlichkeiten sticht der Tenor Corneliu Murgu in besonderer Weise hervor. Der Weg seiner Solokarriere war und ist einer der spektakulärsten: schnell, ungestüm mit einer geografischen Verbreitung auf fünf Kontinenten, aber darüber hinaus auf den wichtigsten Bühnen der Welt: der Staatsoper in Wien, der arbeitet in: Berlin, München, Hamburg, Frankfurt, Köln, Stuttgard, Zürich, Paris, Lyon, Toulouse, Bordeaux, Avignon, Montpelier, Lissabon, Las Palmas, Bilbao, Barcelona, ​​London, Metropolitan in New York, Philadelphia, Pittsburgh , New Orleans, Palm Beach, Denver, Melbourne, Rio de Janeiro, Johannesburg, Tokio usw. und natürlich die im Land.

Corneliu Murgu, der Sohn der Stadt Timisoara, in der er seine musikalische Ausbildung begann, kultivierte seine Stimme an der höchsten Gesangsschule, dem Italiener, am Konservatorium von Florenz und als Schüler von Marcello del Monaco. Das Ergebnis dieser außergewöhnlichen Ausbildung wurde durch wichtige Leistungsauszeichnungen bei Vercelli (1977) und dann bei Treviso (1978) in Italien erzielt, insbesondere aber durch Verträge mit den bekanntesten italienischen Opernhäusern: Scalla in Mailand, Teatro San Carlo “aus Neapel , Oper von Rom, Arena von Verona, Theater „La Fenice“ in Venedig, „Terme di Caracalla“, „G. Verdi “aus Triest und anderen.

Nach seinem außergewöhnlichen Debüt als Riccardo in „Masked Ball“ an der Metropolitan Opera in New York wurde Corneliu Murgu regelmäßig in die USA eingeladen und trat auf den Bühnen von Opernhäusern in Philadelphia, Pittsburg, New Orleans, Palm Beach und Denver auf. Ein Höhepunkt seiner künstlerischen Karriere war sein Debüt 1996 in Covent Garden in London. Als einer der angesehensten zeitgenössischen Darsteller der Rolle des Otello von G. Verdi wurde er in Parma, Italien, mit der Verdi d’Oro-Medaille ausgezeichnet 1987. Zusammen mit einer außergewöhnlichen Aufführungsagenda hat Corneliu Murgu, angeregt durch einen hohen bürgerlichen und humanitären Sinn, ständig zu zahlreichen Galas beigetragen, die von der UNESCO und UNICEF organisiert wurden.

Bei all diesen außergewöhnlichen Aktivitäten betonte Corneliu Murgu, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte, dass er ursprünglich aus Timișoara stamme, der Stadt, in der die rumänische Revolution von 1989 ausbrach, und beteiligte sich daher, angeregt durch zutiefst patriotische Gefühle, an der Organisation von zwei Konzerten zugunsten Rumäniens in Paris (26. Dezember 1989) und Wien (30. Januar 1990).

Kürzlich (2014, 2015 und 2016) leitete er die künstlerischen Darbietungen von Opernaufführungen: „The Troubadour“ von G. Verdi, „Turandot“ von G. Puccini, „Cavalleria rusticana“ von P. Mascagni und das Ballett „Clowns“ von R. Leoncavallo (künstlerische Konzeption). Er starb am 27. April 2021 in Timisoara . (https://ro.wikipedia.org/wiki/Corneliu_Murgu)

Reichlich Moniuszko

 

Das Cover täuscht. Es sieht eindeutig nach einer Kinder-CD à la Klassik für Kinder aus. Mit einem dirigierenden Väterchen Moniuszko, einer lachenden Sonne, einem spitzbübischen Mond, einem Fiedler, einem Fischer, einem Kosaken und anderen Figuren, die offenbar Stanislaw Moniuszkos zwölfbändiger Liedsammlung Śpiewnik domowy entsprungen sind, was so viel heißt wie Lieder für den Hausgebrauch. Es handelt sich um Klassik mit Kindern, die im Juni 2018 und Juni 2019 zu Moniuszkos 200. Geburtstag in der Philharmonie von Wroclav versammelten. Selten hat man in einem Beiheft NFM 63 ACD 265 2) so viele singende Mädchen abgebildet gesehen: die zopfigen Mädchen in blauen und roten Röcken und weißen Blusen des Clave de Sol Chores, die Mädchen in dunkelblauen Kleidchen und lilafarbenen Schleifen des Gaudeamus Chores, die sehr zahlreichen Mädchen in bodenlangen blauen Kleidern und weißer Gürtelschleife des Chors der Marschall Jozef Pilsudski Mittelschule in Rzekuń, die jüngeren Mädchen in rotkarierten Röcken und dunklem Oberteil des Kamerton Chores und schließlich die Mädchen in etwas dunkel Bodenlangem und pinkfarbenem Schal vom Portamento Kammerchor. Das ist nicht immer kleidsam. Aber die gute Absicht zählt, schließlich versammeln sie sich alle im in der Akademia Chóralna, einer Chorakademie zur Förderung des Gesangs unter Leitung von Agnieszka Franków-Zelazny, deren Biografie uns das Beiheft auf deutsch und polnisch auf vier Seiten erzählt. Gerne hätte man stattdessen etwas über die ausgewählten Lieder erfahren, bei denen es sich um die heute noch volkstümlichsten aus den berühmten Sammlungen Moniuszkos handelt. Alles arrangiert von Roman Drozd. Aufgewertet wird das 54minütige Programm durch die Arie des Jontek und den Chor aus dem vierten Akt der Halka, einem Chor aus Verbum nobile, dem Chor aus dem zweiten Akt, der Arie des Skoluba und schließlich dem Mazurkafinale aus dem Gespensterschloß. Begleitet vom NFM Leopoldinum Orchester singen die Mädchen das so lustvoll, freudig und mit rhythmischem Drive wie es richtige Volkslieder verdienen, eben als Popsongs von gestern, denn Moniuszko hat die Bedürfnisse der damaligen Gesellschaft genau erfasst. Es handelt sich meist um kurze strophische, gelegentlich balladenartige, melodisch elegant und ansprechende Lieder mit nicht zu hohen Ansprüchen. Dazu gehören Der alte Mann und die alte Frau, Die Spinnerin, Der Kosake, Das Teufelchen, Kameraden, die alle Moniuszkos Volkstümlichkeit erklären. Sie wurden nicht nur in den Schlossern des Adels und den großbürgerlichen Häusern, sondern auch in den strohgedeckten Hütten gesungen, wie einer seiner Biografen bemerkte, und prägten das polnische Lebensgefühl. Die Opernchöre verlieren durch die jungen Stimmen leider etwas an Ausdruck und Farbigkeit. Das klingt dann doch sehr nach Abschlussabend in der Schulaula. Mit gutem Willen und viel Gefühl singt der Tenor Sebastian Mach die Arie des Jontek, der offenbar erfahrenere Bassbariton Jerzy Butryn die Arie von der alten Uhr aus dem Gespensterschloss; im Mazurka-Finale vervollständigen eine Sopranistin und Altistin der Solistenquartett.  Rolf Fath

 

Das wäre damals das passende Mitbringsel gewesen. In der letzten Stunde des Musikkritik-Seminars an der Wiener Uni vor den Ferien brachte jeder etwas möglichst Unbekanntes auf Tonträgern mit. Und alle, inklusive unseres Professors, sollten aus dem knisternden Zeugs Epoche, Komponisten, möglichst auch das Werk erraten. In Zeiten, da nicht nahezu alles auf irgendwelchen Quellen ständig greifbar war, bedeutete das eine nicht geringe Herausforderung. Nun hören wir ein geschmackvolles Preludio. Zwei Krieger unterhalten sich auf Italienisch, einer liebt Neala, die Tochter des der Brahmanen-Kaste zugehörigen Hohepriesters Akebar. Dann folgt der Chor der Krieger. Das ist eine Situation wie aus Norma oder La vestale. Offenbar ein Priesterinnendrama aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, vielleicht aus dem Umkreis von Mercadante oder Pacini.

Die Sprache führt in die Irre: Stanislav Moniuszkos letzte vollendete Oper, das dreiaktige indische Kasten-Drama Paria wurde 1869 in Warschau uraufgeführt, nach langem Schweigen nach dem zweiten Weltkrieg mehrfach wiederbelebt und zuletzt im Vorjahr zum 200. Geburtstag des 1819 geborenen Vaters der polnischen Nationaloper in Posen/ Poznań zur größeren internationalen Verbreitung des CD-Mitschnitts in einer von Moniuszko offenbar parallel vertonten italienischen Übersetzung gegeben (2 CD Dux 1622 1623). Vermutlich wäre ich nie auf das Werk gestoßen, wenn mir Geerd Heinsen nicht vor mehr als zehn Jahren stolz den Mitschnitt einer Krakauer Aufnahme von 1980 geschickt hätte. Geerd hat sich auch eingehend und umfangreich hier in operalounge.de mit dem Paria beschäftigt, der mich damals keinesfalls beeindruckte:Der DUX-Mitschnitt aus dem Konzertsaal des Philharmonischen Orchesters Poznań vom April 2019 bietet nun einen nicht unwesentlichen klangtechnischen Vorteil.

Kaum sind die Krieger verschwunden, enthüllt Idamor seine Seelenqual: er hat sich zwar als Krieger siegreich geschlagen, ist aber ein Paria und deshalb Nealas unwürdig. Alles Folgende enthüllt sich wenig überraschend und in den Konventionen einer nachgeborenen Seria. Akebar entbindet seine Tochter vom Keuschheitsgelübde und bestimmt ihr Idamor zum Gatten. Neala liebt Idamor und steht auch zu ihm, nachdem sie seine wahre Herkunft erfahren hat. Akebar lässt Idamor töten, Neala sagt sich von den Brahmanen los und zieht mit Idamors Vater Djares von dannen. Den Text schrieb Jan Chęciński, der im Gespensterschloss prall und lebensecht eine Epoche der polnischen Geschichte beschworen hatte und hier nur steifleinene Zeilen lieferte, für die er sich auf ein Stück von Casimir Delavigne, nicht zu verwechseln mit dem Auber- und Meyerbeer-Librettisten Germain Delavigne, von 1821 von stützte. Verblüfft stellt man sofort fest, dass weder der Ort der Handlung, ein heiliger Hain in der Nähe von Benares, die Tempel der Gottheiten, die Säle der Brahmanen, noch ihre kriegerischen oder religiösen Gesänge irgendwelche Folgen für die Musik haben, die auf ernüchternde Art ohne Exotik und Lokalkolorit auskommt. Nach dem Prolog folgt die fast zehnminütige Ouvertüre, die, wie fast immer bei Moniuszko, ausgezeichnet ist, dann arbeitet sich der Komponist brav an den dem ihm bekannten und vertrauten Schemata ab, gibt Idamor und Neala schöne Cavatinen, auch zwei gemessen leidenschaftliche Duette, der Sopranistin noch eine Romanze im zweiten und eine kleine Arie im dritten Akt,  Akebar bekommt u.a. eine Invocazione mit anschließender Arie, im dritten Akt noch eine Preghiera, ist aber weit entfernt von der Wucht eines Oroveso, besonders schön sind die Canzone und die Einwürfe des Paria-Vaters Djares, die von einer fast schon kitschig edelmütigen Eingängigkeit sind.

Der noch junge polnische Bariton Szymon Komasa singt den verbotenerweise die heiligen Bezirke eindringenden Djares mit aufregender Pracht und belkantistischer Linienführung. Er und der weißrussische Tenor Yuri Gorodetski, der seinen Sohn Idamor singt, stehen auf der Habenseite dieser Aufnahme. Gorodetski hat einen kleinkalibrigen, hübschen Tenor italienischer Schule, und weiß offenbar auch genau, was er singt, zumindest kann es vermitteln, worin sich die Lektionen durch Raina Kabaivanska bezahlt machen, und man hört ihm und Komasa ausgesprochen gerne zu, weshalb beider Duett am Ende des zweiten Akt das eigentliche Zentrum der Aufführung ist. Die Finali verkleckern ansonsten müde. Es herrscht ein schulmeisterlicher, unspezifischer Ton. Im Beiheft (pol./engl.) heißt es, dass die Musik „Rewarding for performers“ sei, „However ist lacks in originality, there is no unique tone her, both in melancholy and in dramatic guts, there is no panache, sincere emotions and tragedy….“. Dem ist nichts hinzufügen. Katarzyna Holysz hat einen spitzen, nicht durchgebildeten, in den Höhen gespreizten Sopran, dem es für die Neala an Fülle für die emotionalen Szenen, an Durchschlagskraft und Textausdeutung mangelt. Als Hohepriester versieht Robert Jezierski seinen Dienst, dazu gibt es noch den von Tomasz Warmijak gesungenen Ratef und die nicht allzu sehr beschäftigte Priesterin von Justyna Jedynak-Obloza. Die Chöre der Brahmanen und Priester sind zwar häufig und deutlich im Einsatz – Lohengrin warf seinen Schatten bis nach Warschau – können sich aber nicht vermitteln: Warsaw Philharmonic Choir. Lukasz Borowicz hat das Werk mit dem Poznań Philharmnic Orchestra so genau einstudiert, wie man es von ihm mittlerweile kennt. Das Orchester versenkt sich in die instrumentalen Finessen, vor allem die vielen Streichersoli, da aber Moniuszko im Paria seine eigene Sprache aufgegeben hat, bleibt dieser Indien-Ausflug weiterhin eine Fußnote in der Geschichte der polnischen Oper (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/.). Rolf Fath

 

An den Ufern der Weichsel: Der Flößer  Es wirkt wie auf einer Illustration aus dem Warschau des 19. Jahrhunderts. Die Ouvertüre ist eine musikalische Idylle, zeichnet ein Bild vom alten Warschau, wo die frommen Landleute am Ufer der Weichsel nach einem überstandenen Sturm Gott auf Knien danken. Die von dem bedeutenden, durch seinen Dioramenschauen berühmt gewordenen Maler und Bühnenbildner Antonio Sacchetti „nach der Natur“ gemalte Weichsel und die sich in ihrem Wasser spiegelnden Szenen entzückten bei der Uraufführung von Moniuszkos Flis das Publikum. Gefeiert wurde auch der Komponist, der am 24. September 1858 im Teatr Wielki selbst am Pult stand. Es war alles in allem ein großer Abend, bei dem beim Betreten des Theaters auch der russische Zar gefeiert wurde, der sich zwischen dem 25. und 28. September mit seinen Kollegen aus Preußen, Österreich und Bayern zu Manövern traf. Doch Alexander II. sah weder den Flößer, da er die Aufführung während des davor gespielten Balletts Robert und Bertrand verlassen musste, noch besuchte er eine Aufführung der ebenfalls in dieser Zeit angesetzten Halka. Flis, so der originale polnische Titel des Einakters, war sofort erfolgreich, zeigt er doch liebgewonnenes ein Bild aus einem alten Polen, wie es auf romantisch verklärte Weise im Gespensterschloss wiederkehrt. Fabio Biondi und seine Getreuen zoomen – zehn Jahre nach einer Aufnahme aus dem Schloss von Szczecin – dieses historische musikalische Diorama jetzt in die Gegenwart und nahmen den Flößer im August 2019 am Ort der Uraufführung, also im Teatr Wielki in Warschau, auf (F.-Chopin-Institut 1 CD NIFCCD 086, Textheft mit engl./poln. Libretto – Kompliment für die gute Ausstattung).

Wie bei der Halka spielt Europa Galanta, es wirken Sänger mit, die wir von ebendieser Halka oder anderen aktuellen Moniuszko-Aufnahmen kennen. Das Libretto von Stanislaw Boguslawski, war so schlicht wie volkstümlich und effektiv und band ein kleines Familien- bzw. verwandtschaftliches Geheimnis so locker um eine Liebesgeschichte wie Unmengen solcher nach dem Muster von Rossinis Farsen gestrickte Einakter. Da erscheint logisch, wenn man bedenkt, dass große Teile der Oper während Moniuszkos Paris-Aufenthalt entstanden, bei dem er auf Auber und Rossini getroffen war.

Zosia, die Tochter des wohlhabenden Fischers Antoni, liebt den Flößer Franek, soll aber nach dem Wunsch des Vaters den Frisör Jakub heiraten. Vergeblich versucht auch ehemalige Soldat Szóstak den Vater umzustimmen. Also beschließt Franek in die Welt zu ziehen, um seinen vermissten Bruder zu suchen, als welcher sich Jakub herausstellt, der großzügig auf Zosia verzichtet usw. Moniuszko stattet die sechs Personen musikalisch reich aus: gibt der Primadonna eine Dumka, wie er sie schon in der Halka verwendet hatte, ein Duett für sie und den Soldaten, der gleichfalls ein Ariette erhält und damit zu einer zentralen Gestalt neben dem Liebhaber aufgewertet wird, welcher  sich in ein Duett mit Zosia teilt. Auffallend für einen sechzigminütigen Einakter ist der mehrfache Einsatz des Chores, vor allem in der eindrucksvollen Eingangsszene. Noch auffallender, die Ouvertüre, die vom Umfang 15 % des Werkes ausmacht und ein bisschen wo wirkt als wolle Moniuszko, der wenige Wochen vor der Uraufführung sein Amt als Chefdirigent der Polnischen Nationaloper am Teatr Wielki angetreten hatte, mit Kanonen auf Spatzen schießen. Große Worte findet auch Biondi für die Musik des „grande Moniuszko“, der „l’intensia emotiva e la profondità dell’orchestrazione restino sempre al servisio, nel dramatico e nel buffo, al grande tema universale che ci guida, l’amore“. Biondi und das auf Originalinstrumenten spielende Ensemble Europa Galante bringen die Ouvertüre, die in die Eingangsszene leitet, als stimmungsvolles Orchestergemälde zur Geltung, in der sich Moniuszkos Musik volkstümlich locker, allerdings nie im „internationalen“ buffonesken italienisch-französischen Stil entfaltet. Diese Fähigkeit zu farbiger Detailzeichnung und vorwärtstreibender Melodik zeichnen die Aufnahme aus, in der Ewa Tracz eine typgenaue lyrisch pralle Zosia ist und Matheus Pompeu einen agilen, italienisch timbriert eleganten Franek singt. Mit hellem Bass und verschmitzter Lockerheit gibt Wojtek Gierlach den Ex-Soldaten Szóstak, im Duett mit dem kraftstrotzenden Bariton Mariusz Godlewski als Jakub setzen sich die Männerstimmen gut voneinander ab.  Aleksander Teligas (Antoni) grober Bass besitzt Wiedererkennungswert, und Pawel Cichoński setzt mit seinem liebeswerten Tenor als Flößer Feliks kleine Akzente (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/.).  Rolf Fath

 

„Or che l’alma riscaldata da l’ingarico liquore“ klingt uns doch gleich viel gefälliger als das konsonantenreich sperrige „Niechaj zvje para mloda Przy zareczyn tych obrzedzie!“ mit dem Dziemba, der jetzt Gema heißt, die Ballgäste auf Stolniks Schloss begrüßt. Bei einer Polonaise feiern sie die Verlobung von Stolniks Sohn Janusz mit Zofia bzw. Giannis mit Sofia, derweil die Leibeigene Halka, die vom Adelsspross ein Kind erwartet, ihr Schicksal beklagt. Fabio Biondi, der erst kürzlich seinen in Warschau entstandenen Ur-Macbeth vorlegte, hat es sich in der polnischen Hauptstadt offenbar gemütlich eingerichtet und bei Konzertaufführungen im August 2018 gleich nach den Sternen gegriffen. Sprich nach Polens Nationaloper Halka, die am Teatr Wielki 2011 immerhin auch einen renommierten Kollegen wie Marc Minkowski gereizt hatte.

Eine überraschende Fassung: „Halka“ in Italienisch unter Fabio Biondi

Doch Biondi legt uns quasi eine neue Oper vor: die italienische Fassung der Halka in der Übersetzung des Moniuszko-Freundes Giuseppe Achille Bonoldi (1821-71), über den wir im Text der üppig gestalteten Ausgabe mit dem über 200seitigen Text (pol., engl) und Libretto (poln., ital., engl.) fast nichts erfahren (F.-Chopin-Institut b2 CD NIFCCD 082-083). Immerhin weist der Text ohne Nennung des Übersetzers auf die italienische Erstaufführung 1905 in Mailand hin, wie auch Loewenbergs „Annals of Opera“, die zudem Bonoldi als Übersetzer verzeichnen. Ob die im Text dieser vom Chopin Institut herausgegebenen CD-Ausgabe auch genannte Aufführung 1888 in Ferrara ebenfalls in Bonoldis italienischer bald nach dem enormen Erfolg der Warschauer Aufführung von 1858 erschienenen Übersetzung erklang, bleibt unklar. Warum diese Nationaloper, dieses Monument polnischer Identität,  in Italienisch???

Giuseppe Achille Bonoldi, bzw. Józef Achilles Bonoldi (1821-1871), war ein polonisierter Italiener, der sich 1842 in Vilnius niedergelassen hatte, ein Multitalent als Sänger, Autor und Fotograf, dazu politisch aktiv im demokratischen Flügel der Aufständischen, Mitglied im litauischen Provinzkomitee und nach dem zweiten polnisch-litauischen Aufstand 1863 Mitglied in der provisorischen Provinzregierung von Litauen. Zudem engagierte er sich in der Pariser Kommune. Der Fotograf Bonoldi ist im litauischen Nationalmuseum in Vilnius vertreten, wo seine frühen Fotografien, Daguerreotypen und Ambrotypen, zu den wertvollen Dokumenten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehören, darunter das Porträt des Widerstandskämpfers Konstantinas Kalinauskas.

Librettist der „Halka“ Moniuszkos und dessen Freund, , Freiheitskämpfer, Dichter, Sänger, Patriot: G. B. Bonoldi 1863/ Wiki

Bonoldi war der rechte Mann für die Oper, deren politisch patriotische Sprengkraft ihm am Herzen gelegen haben muss und mit der aufs engste durch die erste Privataufführung 1848 in Vilnius vertraut war, bei der er die Baritonpartie des Jontek sang. Später hatte Moniuszko entweder bereits für eine weitere Aufführung in Vilnius 1854 oder für die auf vier Akte umgestaltete Zweitfassung von 1857, die am 1.1.1858 am Teatr Wielki herauskam, die Rolle für Tenor umgeschrieben. Für die heute gespielte Fassung von 1857 entstand auch die Mazurka am Schluss des 1. Akts sowie die Tänze der Goralen im dritten Akt, für den Sänger des Stolnik Wilhelm Troschel die Polonaise-Arie im ersten Akt und für den Tenor Julian Dobrski die Dumka in der zweiten Szene des 4. Aktes; die Sopranistin Paulina Rivoli erhielt, offenbar als Dank dafür, dass sie sich bereitfand, den einfachen Kittel eines Dorfmädchen anstelle der gewohnten Primadonnenrobe überzuziehen, eine zusätzliche Arie zu Beginn des zweiten Aktes.

 „Mio caro bene, or son beata“ jubelt Halka, die immer noch an die Liebe Giannis glaubt. Tina Gorina singt das mit einem kindlich harten, fast harsch durchdringenden Sopran und einem klagenden Einheitston, der zunehmend enerviert, so dass Giannis Zögern fast verständlich erscheint. Auch in ihrer Arie am Ende des ersten Aktes, in der sie immer wieder vom „Cielo azzurro“ singt, entwickelt Gorina bei einer gewissen Brillanz in der Höhe keine Wärme. Aber die Verdienste der im Rahmen des Festivals Chopin and his Europa erstellten Ersteinspielung auf historischen Instrumenten liegen ohnehin auf der Fassung, die möglicherweise seinerzeit zu einer gewissen Verbreitung des Werkes in der internationalen Sprache der Oper beitrug und auch heute noch von nicht unwesentlichem Reiz ist. Zusammen mit dem Orchester Europa Galante wirft sich Fabio Biondi mit Feuereifer in die Nationaloper, die nicht nur am Anfang der neueren polnischen Oper steht, sondern mit ihrer Konfrontation höfischer Musik, Polonaise und Mazurka, und der Musik aus dem Karpatenkreis, genauer der Goralen, die hier etwas unpräzise als „Danza di montanari“ bezeichnet werden, auch lokale und gesellschaftliche Gegensätze aufzeigt. Gerade diese tänzerischen Elemente sind von mitreißender Kraft und Lebendigkeit und bilden den dramatisch zugespitzten Hintergrund zu dieser Geschichte einer verführten Unschuld, die Biondi mit geradezu realistischer, veristischer Sogkraft versieht.

Genannt werden muss unter den Sängern unbedingt Matheus Pompeu als Halkas Freund, der seinen Namen Jontek auch in der italienischen Fassung behalten darf. Der brasilianische Tenor singt mit fescher jungmännlicher Emphase und Leidenschaft, schönem Ton, und er ist im Duett mit Robert Gierlachs Gianni diesem an Feuer und Tonschönheit deutlich überlegen. Monika Ledzion-Porczynska als lyrisch-klare Sofia, Rafal Siwek als Alberto/ Stolnik und Karol Kolowskis Giovanotto runden das Ensemble ab, das durch den Podlasie Opera and Philharmonic Choir eine deutliche Aufwertung erfährt. Eine in vokaler Hinsicht unerhebliche, doch musikalisch destotrotz mitreißende neue“ Halka, von der es ohnehin nicht viele Einspielungen gibt.

 

„Straszny dwor“: der Mitschnitt des Konzertes in 2018 in Danzig bei Dux

Sind die höfischen und Volkstänze in Halka dramaturgisch motiviert, wirken sie in Moniuszkos komischer Oper Das Gespensterschloss/ Straszny dwór wie austauschbare Versatzstücke. Die zur Wiedereröffnung der Nationaloper 1865 entstandene Oper erzählt von den Brüdern Stefan und Zbigniew, die schwören sich als Junggesellen ganz in den Dienst des Vaterlandes zu stellen. Das Gelübde wird hinfällig, als sie zur Eintreibung von Schulden auf das Schloss des Marschalls von Kalinowa geraten und dessen Töchter Hanna und Jadwiga kennenlernen. Das tatsächliche Herrenhaus von Kalinowa gilt heute noch als Inbegriff des alten Polen. Die in Polen auch heute noch unvermindert populäre Oper entwarf ein Idealbild Polens, das mit der Realität wenig zu tun hatte, weshalb sie von der Zensur rasch verboten, aber im 20. Jahrhundert umso stärker als Beschwörung polnischer Kultur und Tugenden gefeiert wurde. Die von Walerian Bierdiajew dirigierte Aufführung 1953 in Posen gilt als erste bedeutende Opernproduktion der Nachkriegszeit. Sie liegt nun wieder auf CD vor (Naxos 8.111391-92) und ergänzt neben dem Konzertmitschnitt aus dem Mai 2018 aus Gdansk/ Danzig unter Zygmunt Rychert (Dux 1500/1501) die vorhandenen Aufnahmen unter Jan Krentz und Jacek Kaspszyk. Kein Libretto bei Naxos (8.111391-92), was man nicht erwartet, aber bedauerlicherweise auch keines bei Dux, stattdessen seitenlange Bios der Sänger. In seinen gemütvollen Szenen und Schilderungen erinnert das Gespensterschloss an Smetanas Das Geheimnis, Der Kuss und Zwei Witwen, und den gleichen Ton aus musikalischer Vertrautheit, gestischer Stimmigkeit und szenischer Lebendigkeit, den wir in älteren tschechischen Aufnahmen unter Kosler und Krombolc  – oder im Fall der Verkauften Braut unter Chalabala und Ancerl – antreffen, finden wir auch auf den 1953 und 1954 entstandenen Aufnahmen aus Posen. Hier stimmen die Figuren, sitzen die gemütvolle wie pfiffigen Konversationsszenen wie die Pointen in einer guten Boulevardkomödie. Hier stehen keine Stars an der Rampe, sondern werfen sich Singdarsteller die Bälle zu, agieren mit schauspielerischer Bewegtheit, Natürlichkeit und Lockerheit. Die Figuren erhalten Gesicht, sind, getragen von Bierdiajews Theaterverve und dem füllig mitreißenden Orchesterpart, pralle Figuren und liebenswerte Typen, darunter der gewaltige Bass Zgymunt Marianski als Kammerdiener Macieij und der robuste Marian Woznieczko, welcher als Herr auf Kalinowa den jungen Männern in seiner patriotischen Ansprache das Idealbild eines polnischen Bürgers entwirft. Der bekannteste Name ist Bogdan Paprocki (1919-2010), der ab 1957 drei Jahrzehnte an der Warschauer Nationaloper wirkte, 250 mal als Stefan im Gespensterschloss auf der Bühne stand und in seiner Arie vom Glockenspiel viel Poesie entfaltet, dazu eine französische und italienische Lustspielleichtigkeit à la Auber und Rossini, die in der Arie zu  Beginn des vierten Aktes wiederkehrt, wo Barbara Kostrzewska eine geschmackvoll liebenswerte Hanna ist. Als sein Bruder Zbigniew wirkt der ein Jahr jüngere Edmund Kossowski wie sein wesentlich älterer Bruder, Hannas Schwester wird von Felicija Kurowiak aufmüpfig verkörpert; Antonia Kawecka macht aus der Tante eine profunde Nebenfigur. Ab der das Finale einleitenden Mazurka ist kein Halten mehr.

 

eder da: Dank an Naxos für die CD-Erst-Wiederauflage der als Muza-Einspielung von "Straszny Dwor" von 2956

Endlich wieder da: die alte Muza-Aufnahme von 1953 erstmals als CD nun bei Naxos, Danke! Und jetzt noch bitte die alte Halka aus derselben Ecke!!!

Die Sänger in Gdansk, die ihre Aufgaben allesamt ordentlich erfüllen, reichen an diese Leistungen nicht heran. Keinem Vergleich mit Marianski und Henryk Lukaszek, welche die Episode zu Beginn des dritten Aktes zwischen dem Beschließer auf Kalinowa und Maciej bildlich suggestiv gestalten, halten beispielsweise Krzysztof Bobrecki und Piotr Lempa stand. Aber die 75jährige Stefania Toczyska, die in den 1980er und 90er Jahren von Wien bis New York als Amneris, Eboli, Azucena oder Carmen geschätzte Mezzosopranistinlässt sich ihr Alter nicht anmerken und macht sich ein Vergnügen aus der Partie der alten Truchsessin und Tante, die sie mit Leidenschaft an sich reißt; ein Vergnügen auch für den Hörer. Das Symphony Orchestra der Stanislaw Moniuszko Academy of Music spielt eleganter als die Posener, Rychert verfügt auch über hinreichend Theatererfahrung, um diese polnischste aller polnischen Oper zur melodiensatten Wirkung zu bringen, doch die ältere Aufnahme möchte ich schon jetzt nicht missen (Foto oben: „Straszny Dwór“ in Dąbrowa Górnicza 2015 – Foto Tomasz Zakrzewski) . Rolf Fath

 

Zum Moniszko-Jahr 2019 passte auch das neue Buch von Rüdiger Ritter, das sich als eines der wenigen in deutscher Sprache mit dem wichtigsten Komponisten unseres Nachbarlandes beschäftigt (als Folge seiner Dissertation im Peter Lang Verlag, 2005,   ISBN   3-631-52829-9; s. auch operalounge.de anlässlich der Besprechung von Moniuszkos Oper Paria).

Nicht nur polnische Kulturgeschichte: Nach 1945 war es für ostdeutsche Opernhäuser Ehrensache und selbst- oder fremdauferlegte Pflicht, Stanislav Moniuszkos Oper Halka aufzuführen, im Westen war das Werk so gut wie unbekannt (eine Ehrenposition nimmt die deutschgesungene konzertante Halka beim damaligen SFB Berlin während der Ägide von Einhard Luther 1994 ein). Nach der Wiedervereinigung vergaß man auch in den neuen Bundesländern beinahe seine Existenz. Seine Markenzeichen, sozialkritisch und zugleich Nationaloper des sozialistischen Brudervolks Polen, waren kein Anreiz mehr dafür, Halka auf den Spielplan zu setzen. In Polen aber erfreut sich das Drama um das von einem Adligen betrogene Bauernmädchen weiterhin ungebrochener Beliebtheit, erst 2018 gab es in Breslau wieder eine Premiere, während in Warschau unter Biondi eine italienische Version ausgegraben wurde (s. oben)..

Rüdiger Ritters Buch, „Moniuszko – Tröster der Nation“, im Harassowitz Verlag

Als den Tröster der Nation, so auch der Titel seines Buches, sieht Rüdiger Ritter den Komponisten, den nicht nur die Polen, sondern auch Weißrussen und Litauer als einen der Ihren ansehen. So befasst sich eines der interessantesten Kapitel des Buches mit der oft tragischen Geschichte unseres Nachbarlandes, gekennzeichnet durch mehrfache Teilung unter die angrenzenden Großmächte, durch die gemeinsame Vergangenheit mit Litauen (Moniuszko wurde in der Näher von Minsk geboren, lebte lange Zeit in Wilna) und den verzweifelten Kampf des unter  russischer Herrschaft stehenden Teils, seine nationale Identität zu wahren. Halka oder vielmehr die vieraktige, in Warschau uraufgeführte Fassung des vielen Änderungen unterzogenen Werks bezieht daher seine Wertschätzung nicht nur aus der vom Autor immer wieder betonten Schönheit der Musik, sondern auch aus seinem volkstümlichen Charakter, u.a. durch die Präsenz von Mazurka und Polonaise, typisch polnischer Tänze.

Von Anfang bis Schluss und mittendrin als umfangreiches Kapitel ist Halka präsent, ist dem Autor wohl so vertraut, dass er nicht, wie mit anderen Werken wie Das Gespensterschloss mit Gewinn für den Leser eine Inhaltsangabe bietet, sondern voraussetzt, dass man das Werk kennt. Allerdings werden Teile der Handlung innerhalb des Textes erwähnt, so dass man sich aus den Mosaiksteinchen ein Gesamtbild konstruieren kann, auch gibt es sehr viele aufschlussreiche Notenbeispiele und eine Analyse der Musik, die die Vielseitigkeit des Autors unter Beweis stellt.

Ein erheblicher Teil des Buches wird dem Lebensweg des polnischen Komponisten gewidmet, der von Adelsstolz wie Armut gleichermaßen geprägten Familie, dem Studium in Warschau und Berlin, den beiden vergeblichen Reisen nach Paris, wo er wie Wagner nicht recht Fuß fassen konnte. Zwischen den Einflüssen deutscher und russischer Musik weiß er sich als polnischer Komponist zu behaupten, befasst sich fast ausschließlich mit Vokalmusik, besonders Liedern, Kantaten und neben den beiden bekanntesten auch noch weiteren Opern. Der Leser gewinnt einen umfassenden Einblick in das polnische Kulturleben, das eine Art Klammer zwischen den verschiedenen Teilen des unter fremder Herrschaft stehenden Landes darstellt, in den Kampf um den Lebensunterhalt für eine schnell wachsende Familie, sei es als Komponist, Organist, Operndirektor oder Lehrer.

Die Rolle der Salondamen im polnischen oder Pariser Kulturleben wird ebenso beleuchtet wie der Kampf Moniuszkos   um die Aufmerksamkeit Rossinis, der Einsatz Smetanas für Halka in Prag, die slawophilen Züge bei Moniuszko, die so ausgeprägt wohl nicht waren, wie sie eine spätere Geschichtsschreibung wahrzunehmen glaubte. So bleibt auch dem polnischen Komponisten nicht erspart, dass die Nachwelt ihm andichtet, was er in dieser Form nicht vertrat.

Entstehungs- und  Rezeptionsgeschichte der Halka, ihre Verwandtschaft mit Aubers La Muette de Portici, ein Vergleich der einzelnen Fassungen, der Versuch der Instrumentalisierung zur Schaffung eines nationalen Mythos- das Buch, das das erste deutschsprachige über den Komponisten ist, gewährt einen umfassenden und interessanten, dazu noch gut weil flüssig geschriebenen Einblick in ein Kapitel nicht nur polnischer, sondern europäischer Kulturgeschichte (Harrassowitz Verlag 2019, 256 Seiten,  ISBN 978 3 447 11109 6). Ingrid Wanja   

 

Hochromantisch: Passend zum Jubiläumsjahr von Stanislaw Moniuszko (1819 – 1872) gibt es als Weltpremiere eine im Nationale Forum für Musik (NFM) in Breslau entstandene, gelungene Aufnahme der weltlichen Kantate Widma (Die Geister). Diese „Lyrischen Szenen“, komponiert in der Zeit von 1852-1859, stehen wie andere seiner Kantaten im Schatten der bekannten Opern „Halka“ oder Straszny dwór (Das Geisterschloss). Moniuszko hat in der 1865 in Warschau uraufgeführten „Lyrischen Kantate“ für Solostimmen, gemischten Chor und Orchester einen Text des führenden Schriftstellers der polnischen Romantik Adam Mickiewicz aus dessen Dramenzyklus Dziady (Totenfeier) vertont. Dieses umfangreiche Werk, dem nur ein kleiner Teil entnommen ist, gilt als eines seiner bedeutendsten Werke und der polnischen Literatur überhaupt.

Wie in seinen Opern verwendet Moniuszko, der als Polens „Nationalkomponist“ gilt, übrigens auch in „Widma“ polnische Tänze wie Polonaise und Mazurka sowie Melodien der polnischen Folklore. Vielfältige Aufgaben hat bei der „Totenfeier“ der Chor, die der NFM-Chor, einstudiert von Agnieszka Franków-Zelazny, mit Klangpracht und Ausgewogenheit aller Stimmgruppen erfüllt. Mit Prägnanz leitet Andrzej Kosendiak das Wroclaw Baroque Orchestra, das eine gute Grundlage für die durchweg polnischen Sänger und Sängerinnen bildet. Mit farbenreicher, sicher durch alle Lagen geführter Stimme beeindruckt der polnische Bassbariton Jaroslaw Brek in der Hauptpartie des Guslarz, der die Totenfeier in einer Person als Priester und Barde leitet. Einen grimmigen Geist, der gern Kinder erschreckt und seine Höllenqualen bejammert, gibt Jerzy Butryn mit hell timbriertem Bassbariton. Der ausdrucksstark gesungene Chor der nächtlichen Vögel kontrastiert zu den Sprechtexten von Rabe und Eule. Aleksandra Kubas-Kruk als früh verstorbene junge Frau Zosia präsentiert ein hübsches Liedchen mit guter Intonation. Neben einigen Chorsolisten in kleineren Rollen bereichern zwei Knabensoprane als „kleine Engel“ die Klangvielfalt der hochromantischen Komposition (F.-Chopin-Institut NFM 47 – ACD 243-2) (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/.)Gerhard Eckels

„Mit dir ist keine Oper zu lang“

 

Der Briefwechsel zwischen Richard Strauss und seinem „Librettisten“ Hugo von Hofmannsthal ist legendär und gut zugänglich, der zwischen den beiden Künstlern und ihrem Szenographen Alfred Roller ist jetzt unter dem Titel Mit dir keine Oper zu lang beim Benevento Verlag erschienen und gibt auf 465 Seiten Text und zusätzlich vielen Bildseiten einen so umfassenden wie detaillierten Einblick in die gemeinsame Arbeit an vielen Ur- und Erstaufführungen zwischen Elektra und Intermezzo. Das Cover zeigt einen Ausschnitt aus einem Foto von 1911 anlässlich der Aufführung des Rosenkavalier in Dresden, herausgeschnitten sind die weiteren Mitwirkenden, unter ihnen Max Reinhardt, dies aber nur, weil er an dem im Buch veröffentlichten Briefwechsel nicht beteiligt war.

Die beiden Herausgeberinnen Christiane Mühlegger-Henhapel und Ursula Renner berichten in der Einleitung zum von ihnen betreuten Buch über den Werdegang Rollers, der in Wien ausgebildet , mit Makart und Klimt verglichen wurde, Präsident der Wiener Sezession war, über „die Ablösung der Kulissenbühne durch den Bedeutungsraum“  referierte und der Meinung war: „Jedes Kunstwerk trägt das Gesetz seiner Inszenierung in sich.“  Zunächst arbeitet Roller mit Gustav Mahler zusammen, nach dessen Übersiedlung nach New York begann das Gemeinschaftswerk mit Hofmannsthal und Strauss, sorgte er für die Optik u. von Elektra in Wien 1909, Rosenkavalier 1911, Frosch Wien 1919, Josephs Legende Wien 1922, Ruinen von Athen Wien 1924, Die ägyptische Helena 1928 und 1925 für den Stummfilm Der Rosenkavalier. Die Zusammenarbeit mit Hofmannsthal beschränkte sich nicht auf dessen Libretti, sondern umfasste auch Werke wie Ödipus und die Sphinx. Die Salzburger Festspiele sehen ihn als Mitbegründer, und vielleicht hätte die Weltgeschichte einen glücklicheren Verlauf genommen, wäre der junge Adolf Hitler einer Einladung Rollers gefolgt, ihm seine künstlerischen Werke vorzustellen.

Ein Drittel von Rollers Briefen sind an Strauss gerichtet, zwei Drittel an Hofmannsthal, zu dem sich im Verlauf der Zeit eine aufrichtige Freundschaft entwickelte, die die Gattinnen beider Künstler mit einschloss.

An die 300 Seiten Briefe lassen den erwartungsvollen Leser erst einmal in Ehrfurcht erstarren, die der Erleichterung weicht, wenn er feststellen kann, dass zu jedem der Schriftstücke umfassende Erklärungen mitgeliefert werden, die die Form der Überlieferung, die dazu gehörenden Abbildungen und schließlich überaus aufschlussreiche  und teilweise sehr umfangreiche Erläuterungen betreffen. Erstaunt ist der heutige Leser, wie trotz zunehmender Vertraulichkeit die Anreden über die Jahre hinweg Distanz ausdrücken, wenn ein Herr Hofrat, ein Herr Professor ganz allmählich erst durch die jeweiligen Namen abgelöst werden, das Duzen wohl außerhalb alles Denkbaren lag. Natürlich unterscheiden sich die Briefe, was sprachliche Kompetenz angeht, voneinander, ist unverkennbar trotz der im Brief des Lord Chandos geäußerten Zweifel, dass  Vermögen Hofmannsthals ein emanzipierteres als das des stets sachlich und gelassen bleibenden Rollers ist, während der Dichter, abhängig vom jeweiligen Zustand des Nervenkostüms, sich eher seinen Gefühlen hingibt.

Bis in die kleinsten Einzelheiten werden Dekorationen und Kostüme erörtert bis hin zum weißen Turban für Adele Sandrock, die partout keine weißen Haare tragen wollte. Interessant sind die Erörterungen bei der Titelsuche nach der Komödie, die eigentlich Ochs von Lerchenau heißen sollte, ehe sie zum Rosenkavalier wurde- und auch vor dem Ersten Weltkrieg speisten Künstler bereits bei Borchardt und gab es wohl auch schon den „Merker“.

Viel Raum wird er Zusammenarbeit am Jedermann und am Großen Welttheater gewidmet, ebenso dem 5000-Mann-Zelt für den Berliner Ödipus, und wenn auch nicht immer Harmonie herrscht, so doch durchgehend gegenseitiger Respekt und eine sprachlich gepflegte Auseinandersetzung über strittige Themen, selbst wenn Hofmannsthal mal ein „der ganze öffentliche Dreck“ herausrutscht oder Roller sich lustig macht über sein fehlendes Glück mit Primadonnenkostümen. Dem Leser wird zunehmend bewusst, wie viel sich in der Welt des Theaters geändert hat und wie viel sich wohl immer gleich bleiben wird.

Der Erste Weltkrieg hinterlässt seine Spuren, was dem damals recht spärlichen Briefwechsel zu entnehmen ist, der Hofmannsthal Kriegspropaganda betreiben, Strauss sein gesamtes Vermögen in England konfisziert sehen und Roller fast verhungern lässt.

Mit welcher Akribie man damals arbeitete zeigt der umfangreiche Briefwechsel über die unterschiedlichen Arten des Färbens anlässlich der Uraufführung der Frau ohne Schatten, speziell über die sogenannte Krappfärberei. Dass man sich nicht dem Naturalismus nähern will, zeigt Hofmannsthals Warnung vor zu viel Realität auf der Bühne.

Erstaunlich ist es, dass die Auflösung des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarns nach dem verlorenen Krieg keine Rolle spielt, man macht auf den Bühnen dort weiter, wo man im Krieg aufgehört hatte. Das betrifft auch die allgegenwärtigen Querelen wie die notwendige Diplomatie gegenüber „einheimischen“ Bühnenbildnern, die Gegnerschaft Korngolds, weitere Theaterintrigen.  Und man schreibt sich Aussagen wie diese von Strauss hinter die Ohren:“Die Bühne soll sich einordnen ins Gesamtkonzept des Dichters“, so wie das Bekenntnis zum Theater, ohne das Oper zum Konzert mutiere.

Vieles ist Alltägliches, Vergängliches, sich Wiederholendes, aber es gibt viele Perlen, die sich als neu in das Gedächtnis des Lesers einprägen, so das Zugeständnis an Kokoschka, er sei genial, mit dem Zusatz, aber „unfähig zur Teamarbeit“, die scharfsinnigen Betrachtungen der politischen  und künstlerischen Situation durch Roller, dem seinerseits Hofmannsthal anlastet, ihm fehle „ein freies und leicht auffassendes Verhältnis zum Dichterischen“. Zu den markantesten Äußerungen von Strauss wiederum gehört wohl: „Nichts ist gräulicher als eine mittelmäßige Meyerbeeraufführung.“

Mit den seetüchtigen Ozeanriesen beginnt auch für die drei Briefeschreiber das Problem der reisenden Sänger und Dirigenten, was u.a. Roller feststellen lässt: „Die Oper stirbt. Das ist keine Frage.“ Und dann wird es immer trauriger, folgen die Kondolenzbriefe an die Witwe Hofmannsthals, der zwei Tage nach dem Freitod seines Sohnes stirbt,  die Würdigung Rollers 1942, der 1935 sich zum Komponisten bekannte und das „Rechts und Linksgeschrei“ um seine Person kritisierte. Tragisch ist auch das Ende des hochbegabten Sohnes Rollers, der, auch weil sein Vater Parsifal in Bayreuth ausgestattet hatte, auf die Liste  der „Gottbegnadeten“ aufgenommen worden war, als SS-Mann in einem KZ Dienst tat, sich von der Liste streichen ließ und an der Ostfront fiel.

Einen großen Teil des umfangreichen Bandes macht der Anhang aus, bestehend aus Danksagung, editorischem Bericht, Abkürzungen, Bilddokumentation, Chronik, Bibliographie zu Alfred Roller, Literatur und Register.

Eine große Lücke in der Aufarbeitung eines der wichtigsten Kapitel der Geschichte der Oper ist damit geschlossen, und den Leser erwartet eine hochinteressante Lektüre (465 Seiten, Benevento Verlag München-Salzburg; ISBN 978 3 7109 0127 0). Ingrid Wanja      

Biblisches

 

Bereits im August 2000 erfolgte in Amsterdam die Einspielung von Willem de Feschs Oratorium in drei Akten Joseph, das BRILLIANT erst jetzt als eine veritable Rarität auf drei CDs herausbringt (96 107). Es musiziert das Ensemble Musica ad Rhenum unter Leitung von Jed Wentz; es singen der Nationaal Kinderkoor (Einstudierung: Wilma ten Wolde) und der Viri Cantores (Frank Hemeleers). Die Solisten werden angeführt von Claron McFadden in der Titelpartie. Ihr Sopran ist schlank und klar, gelegentlich etwas larmoyant im Klang. Tadellos absolviert sie die Koloraturpassagen, wie in der AriaTremble Shudder“, in welcher zudem der energische Ausdruck auffällt. Noch überzeugender ist Roberta Alexander als Potiphars Weib. Die Spannweite ihres Repertoires reichte bis zu Puccinis Mimì, woraus sich die Fülle ihrer Stimme erklärt. Sie tritt erst im 2. Akt auf mit der AriaSuch a Lovely prudent Love“  und dem Duetto mit Joseph „See what I dare not Say“. Der Sopran klingt hinreißend in seiner Süße, seinem Leuchten und dem Fluss. Von all diesen Qualitäten profitieren auch die AriaDark and Dismal thoughts“ und das jubilierende Duetto mit Potiphar „ Revenge inspires me“.  Josephs Bruder Reuben wird von der Altistin Susanna Moncayo von Hase wahrgenommen. Die Stimme ist weich und warm, überzeugt schon in der  ersten Aria „Underneath this plantae Shade“ mit schöner Fülle und innigem Ausdruck. Ein anderer Bruder ist Simeon, den Hans Vonk mit charaktervollem Tenor gibt. Josephs jüngster Bruder ist Benjamin, mit dem die Sopranistin Susanna ten Wolde besetzt wurde. Mit ihrer schmalen Stimme von kläglichem Klang ist sie keine gute Wahl. Im Barockfach ist auch der Tenor Nico van der Meel namhaft, der den Potiphar und einen Israeliten singt. Als Letzterer hat er in der bravourösen Aria am Ende des 1. Aktes, „O’er the Desarts“, Gelegenheit, auftrumpfende Koloraturen zu bieten, doch hat der Sänger seinen Zenit überschritten, klingt bei aller technischen Versiertheit bemüht. Tiefe und resolute Töne bringt der Bassist Tom Sol als Jacob und ein General ein. Mit dem Arioso „Happy Youth“ fällt ihm das erste Solo des Werkes zu, welches der Chor prägnant begleitet. Im 3. Akt kann er in der AriaHonour, wealth“ mit energischem Aplomb aufwarten.

Der holländische Komponist lebte von 1687 bis 1761, war also ein Zeitgenosse von Bach und Händel. Besonders zum Hallenser Meister ist eine musikalische Verwandtschaft hörbar. Diese teilt sich schon in der feierlichen Overture mit, die vom Orchester lebhaft und affektreich musiziert wird. Der Klangkörper erweist sich mit seinem farbenreichen Spiel auch als inspirierend für die Sänger. Bernd Hoppe

Franco Corelli zum 100.

 

Corelli zum Hundertsten: am 8. April 2021 hätte Franco Corelli (Ancona, 8. April 1921 – Mailand, 29. Oktober 2003) dieses Alter erreicht. Noch immer ist er  (der 1976 mit nur 55 Jahren zu singen aufhörte) in der Einschätzung seiner Fans und  – fast möchte man sagen – jedes Stimmenliebhabers ungeschlagen der beste, der wunderbarste, der unerreichte Tenor der Operngeschichte (und da zählt man seinen Pollione, Calaf, Cavaradossi, Rodolfo und viele andere im Geiste auf), zumindest solange die eigene Erinnerung reicht (als ganz junger Student sah ich Noma in Paris 1964 mit der eingeschränkten Callas und ihm, dies Erlebnis tief in der Seele eingebrannt). Die vielen Dokumente (besonders live und auch wie die zweite Callas-Norma im Studio) geben dem ja Recht. Diese Fanfarenstimme mit dem dunklen Gold darin (da werde ich jetzt ganz lyrisch), dieses unvergleichliche Timbre der typischen Italo-Männlichkeit, diese gewisse Nasalität der klingenden Konsonanten (eine vergessene Kunst!, was für eine Diktion!) und natürlich dieser Herzattacke-Appeal der Caesaren-Erscheinung mit dem markanten Profil und den langen Beinen machten und machen ihn zum Sex-Idol, einem Hollywood-Star gleich. Man merkt, auch ich schwärme.

Also fragten wir uns bei operalounge.de, wie erinnern wir – wo wie bei der Callas alles über ihn gesagt ist – an diesen Ausnahmetenor des heroischen italienischen Fachs? Und fanden ein historisches Interview, das unsere Freundin Cetty Amenta Gentile mit dem charmanten Sänger gemacht hat, als sie mit ihm 1993 anlässlich seines und nach ihm benannten Concorso für junge Sänger durch die Straßen von Ancona (wo eben dieser Wettbewerb stattfand und bis heute ausgeschrieben wird) bummelte. Gelegenheit zu einem langen, interessanten Schwatz. Danke Cetty. G. H.

 

Franco Corelli: Poliuto an der Scala/ Archivio storico dell Teatro alla Scala

In seiner Heimatstadt, wo er sich wegen des Wettbewerbes, der seinen Namen trägt, aufhielt, antwortet mir der Sänger auf Fragen auch außerhalb der üblichen Schemata von Erinnerungen und Anekdoten: die Oper als universelles, von Leidenschaft erfülltes Theater, die Ziele des Wettbewerbes, seine Pläne, den jungen Sängern zu helfen und dieser Kunstform ein neues Leben einzuhauchen.

Einerseits ist sich Corelli dessen bewusst, welch schwierige Zeit die Kunstform Oper gerade durchmacht, andererseits ist ihm klar, dass gerade jemand mit einer so glänzenden Karriere wie der seinen, mit Erfahrungen aus Amerika, die so wenig mit der italienischen Realität zu tun haben, sich darauf einlassen muss, einem Gesangswettbewerb seinen Namen zu geben und ihm vorzusitzen. „Wettbewerbe gibt es jede Menge, ihnen noch einen hinzufügen zu müssen, hat mich zunächst nicht überzeugt. Dann ist mir die Idee gekommen, dass ich aus diesem ‚meinen‘ Wettbewerb etwas Besonderes machen und den jungen Sängern etwas Besonderes bieten könnte, indem ich in die Jury Kollegen geholt habe, die sonst nicht so leicht für diese Art Tätigkeit zu gewinnen sind, zu denen ich aber noch sehr solide freundschaftliche Beziehungen unterhalte. So waren im vergangenen Jahr Anita Cerquetti und Rolando Panerai Jurymitglieder und in diesem Antonietta Stella und Giangiacomo Guelfi. Das sind alles Kollegen, die mit mir einer Meinung darüber sind, welche Qualitäten man von jungen Sängern erwarten sollte.“

Verbunden mit den Aktivitäten für den Wettbewerb ist der Wunsch, in seiner Heimatstadt Ancona wieder ein musikalisches Leben erwecken zu können, das mit der Zerstörung des Opernhauses im Zweiten Weltkrieg fast erloschen war. Die Marken sind in diesem Jahrhundert eine der Regionen gewesen, die Italien eine Vielzahl berühmter Sänger geschenkt haben: Beniamino Gigli, Renata Tebaldi, Anita Cerquetti, Sesto Bruscatini und natürlich Franco Corelli selbst. Corelli hat einen Traum – gleichzeitig Ancona wieder zu einer Stadt der Oper zu machen und jungen Sängern von Talent den Weg in eine Karriere zu ebnen. „Aus diesem Grund ist der ‚Concorso Corelli‘ geboren, um in den unterschiedlichen Stimmtypen jeweils ‚die Stimme‘ zu finden, schön, begabt, und dieser Stimme zu ermöglichen, das Bestmögliche aus sich zu machen. Die Gaben, die ein Sänger besitzen muss, sind vielfältiger Natur, und darüber hinaus muss er die besitzen, im Publikum die Begeisterung zu wecken, die bis vor kurzer Zeit noch selbstverständlich war und die zu den Fundamenten dieser Kunstgattung gehört, die so einzigartig ist, weil sie die menschlichen Leidenschaften widerspiegelt und von den ewigen und universellen Gefühlen erzählt.

Der ganz junge Franco Corelli als Enea in Guerrinis Oper/401DutchOperas.com, dazu auch unser Artikel zur Oper selbst

Die Oper lebt für und entsteht aus den Menschen, die diese Melodien als Ausdruck des eigenen Gefühls erfahren. Aber um die Herzen schneller schlagen zu lassen und diese Gefühle ausdrücken zu können, braucht man schöne Stimmen, die zum Legatosingen erzogen wurden und über eine korrekte Technik verfügen. Ein warmes, verführerisches Timbre reicht nicht, sowie auch die Beherrschung der Technik allein nicht ausreichend ist. Beides muss in gleichem Maße vorhanden sein, dazu noch schauspielerisches Temperament und absolute Disziplin. Kopf, Herz und Stimme müssen beim Künstler eine sich ergänzende Einheit bilden. Vom Gehirn hängt die notwendige Kontrolle ab und die Herrschaft über das eigene Gefühlsleben. Dieses wieder muss reich entwickelt sein, damit der Künstler sich in die Personen einfühlen kann, die er darstellt, ja zu denen er werden muss. Sich in eine fremde Person gleichsam ‚fallen‘ zu lassen, ist eine der wichtigsten Gaben, auch weil das Publikum nur dann das Gefühl hat, die Geschichte, die auf der Bühne erzählt wird, selbst zu erleben. Erst so entsteht das galvanische Feld, das Bühne und Parkett miteinander vereint. Ich habe es meiner Stimme abverlangt, mit dem Orchester zu singen, d. h., mir die Melodie aus den Klängen der Instrumente zu holen und sie zu der meiner Stimme zu machen. Ich glaube, dass man dann einen magischen Punkt erreicht, an dem man sich mit sich selbst völlig in Einklang befindet, weil man weiß, das Äußerste von dem, was möglich ist, erreicht zu haben. Die Oper kann nur dann das Publikum erreichen, wenn sie auf höchstem Niveau aufgeführt wird. Dazu braucht man große Stimmen und gute Dirigenten, die das Orchester mit dem Sänger atmen lassen und diesen auf die Farbe hinweisen, in der er singen muss. Karajan zum Beispiel sagte mir bei den Proben zur Blumenarie aus Carmen: ‚Hör dir die Takte vor deinem Einsatz an und versuche die Farben des Orchesters aufzunehmen.‘ Wenn du einen guten Dirigenten hast, wird deine Stimme schön, weil du mit dem Herzen singst. Caruso hatte eine schöne Stimme, aber seine wahre Größe lag darin, dass er mit dem Herzen sang, das noch größer als seine Stimme war, dass er die Stimme mit einer Wärme erfüllten konnte, die dich erschauern macht. Einen anderen Weg gibt es nicht: Die Stimme muss aus dem Herzen kommen. Das ist logisch, denn die Oper drückt Leidenschaften aus. Es gibt keine Oper, in der nicht die starken Gefühle vorherrschen: Liebe, Hass, Schuld, Vergeben oder Rache. Wenn du das Herz nicht sprechen lässt, das der Stimme ihre Farbe gibt, wenn du nicht mit Gefühl singst, dann kannst du nicht ausdrücken, was du singst. Und dann geht der Zauber verloren, der das Gefühl des Publikums anspricht.“

Es gab Rollen, die Corelli vor allem deswegen sang, weil sie ihn von ihrem Charakter her ansprachen, zum Beispiel Roméo, dessen romantischer Welt er sich nahe fühlte. Andere haben ihn wegen der vokalen Schwierigkeiten gereizt, aber alle wurden gesungen „mit viel Gefühl. Ständiges Lernen und die Technik helfen nur, die schwierigen Stellen zu beherrschen, aber der Instinkt sagt dir, wie du die Partie gestalten musst. Der Instinkt, das Temperament bewirkt es, dass keine Vorstellung wie die andere ist, auch wenn natürlich die Emotion nicht so stark sein darf, dass du die Kontrolle verlierst. Kontrolle muss sein, denn sonst verschließt dir das Gefühl die Kehle. Wenn du dich in schönem Einklang mit dem Orchester befindest, kann dich eine schöne Phrase zu Tränen rühren, und wenn du dieses Gefühl dem Publikum vermitteln kannst, sind das die schönsten Momente, die man sich denken kann.“ Wir kommen gerade am Dom vorbei, und das bringt mich auf die sehr persönliche Frage nach seinem Glauben. „Ich bin gläubig und habe daraus nie ein Geheimnis gemacht. Während der Karriere habe ich immer das Kreuzeszeichen gemacht, ehe ich die Bühne betreten habe, und oft habe ich Gott gebeten, mir in den schwierigen Momenten beizustehen und habe seine Gegenwart gefühlt. Meine Frau ist noch gläubiger und geht jeden Sonntag in die Kirche. Ich bin da etwas weniger konstant, aber ich wende mich oft an Gott und gehe gern in eine Kirche, auch ohne dass dort gerade ein Gottesdienst stattfindet. In den schönen Kirchen umfängt mich eine ganz besondere Atmosphäre. Ich empfinde auch geistliche Musik in einer besonderen Weise. Wenn ich in der Kirche eine Orgel höre, bin aufrichtig bewegt, ich will mich nicht dazu versteigen zu behaupten, dass ich mich Gott näher fühle, aber ein bisschen ist es schon so. Manchmal denke ich, dass meine Stimme für religiöse Musik besonders geeignet war, nachdem ich sie nach den ersten Karrierejahren zu einer dolcezza gebildet hatte, die sie am Anfang meiner Karriere noch nicht hatte. Ich habe den richtigen Klang zum Beispiel für das ‚Ingemisco‘ in Verdis Requiem gesucht, ein Werk, das für mich eine besondere Bedeutung hat. Ich habe es zum ersten Mal kurz nach dem Tod meiner Mutter gesungen, mit der ich durch ein tiefes Gefühl verbunden war, und habe das Gelübde abgelegt, so lange eine schwarze Krawatte zu tragen, bis ich Verdis Requiem gesungen und ihr diesen Abend gewidmet hätte. Bei den beiden Gelegenheiten, zu denen ich Verdis Werk gesungen habe, ist mir dies nicht gelungen, und so trage ich noch heute eine schwarze Krawatte, weil ich mein Gelöbnis nicht erfüllen konnte.“

Franco Corelli als Pollione in Paris 1964/ Fotp Opéra de Paris/Emi/Warnber

Ich bringe das Gespräch auf ein weniger persönliches Thema, nämlich die unterschiedliche Einschätzung der populären Werke durch Publikum und Kritik. „Ja, nicht alle Kritiker mögen die Werke, die das Publikum besonders liebt. Ich denke, dass Publikum und Kritik auf unterschiedliche Weise an die Oper herangehen. Die Leute gehen in die Bohème, weil sie ihr Gefühl anspricht. Ich glaube nicht, dass man eine Oper oberflächlich nennen kann, die die Menschen berührt. Anders ist es mit Wagner, der sehr tiefgründige Musik geschrieben hat, um deren Verstehen man sich bemühen muss, die aber zugleich unermesslich sensibel ist und die mich sehr ergreift. Wagner trägt dich wirklich in den Himmel, er hat die himmlische Liebe besungen, aber man lebt nicht nur von Geist. Außerdem kann man Wagners Musik nur genießen, wenn man eine gute musikalische Schulung durchgemacht hat. Und man braucht viel Geduld, um fünf Stunden lang im Theater auszuharren. Wir brauchen Bohème und Butterfly, so herrlich auch das Liebesduett aus Tristan sein mag, die uns mit Tränen in den Augen aus dem Theater kommen lassen, weil sie den direkten Weg zu unserem Herzen finden. Über die moderne Oper möchte ich nicht sprechen, weil ich zu wenig davon kenne. Was ich gehört habe, hat nicht den Eindruck auf mich gemacht, den die Musik, die bis zum Anfang unseres Jahrhunderts geschrieben wurde, auf mich ausübt. Mir scheint die moderne Musik nur für einen kleinen Kreis von Insidern bestimmt zu sein, nicht für das große Publikum. Letztendlich glaube ich, dass man nicht mehr und nicht weniger von der Oper erwarten kann, als dass die Leute glücklich und und bewegt aus dem Theater kommen. Gar nicht einverstanden bin ich mit der Übertragung von Opernhandlungen in eine andere Zeit oder ein anderes Ambiente. Wenn man das Publikum damit beeindrucken will, erzielt man eher den entgegengesetzten Effekt, indem man dem Werk einen Teil seiner Substanz nimmt, denn es ist die Poesie der Geschichte, die die Phantasie des Publikums weckt. Ganz bestimmt lassen diese Regieeinfälle nicht das Publikum, auch nicht das jüngere, in die Opernhäuser strömen. Heute scheinen die Stimmen etwas weniger hoch im Kurs zu stehen, aber meiner Meinung nach kommen die Menschen in erster Linie in die Oper, um schöne Stimmen zu hören und Interpreten zu sehen, die sich natürlich und angemessen auf der Bühne zu bewegen vermögen. Was aber hat es für einen Sinn, König Artus und seine Ritter in Straßenanzügen in der Bronx agieren zu lassen? Außerdem erfordert eine bestimmte Musiksprache auch die entsprechende Optik, beides dem Kontext verhaftet, in dem es geschaffen wurde. Ich glaube, die Oper wird dann den meisten Erfolg haben, wenn sie sich selbst treu bleibt. Man kann sie mit einer schönen Frau vergleichen: ein schönes, elegantes Kleid, das sich ihren Formen anschmiegt, lässt sie noch bewundernswerter erscheinen, ein Kleidchen wie für einen Teenager aber lächerlich.“

Franco Corelli mit Franca Duval im RAI-Film der „Tosca“/ COD

Wir sprechen über die Zukunft der Oper, über die erdrückenden Begleiterscheinungen wie Organisation, über Betriebskosten, über andere Wege, die Oper angesichts der schwindenden finaziellen Mittel und Einsparungen zu retten. Auch eine Reiseoper wäre eine gute Sache. Das würde das Repertoiretheater in die italienische Provinz zurückbringen. Aber natürlich müsste es sich um wirklich gute Produktionen handeln. Schließlich haben in der Vergangenheit ganz große Künstler wie Gigli oder die Caniglia in diesen Theatern gewirkt. Aber man muss auch den Opernzirkeln eine große Aufmerksamkeit widmen, denn sie gaben einmal jungen Sängern die Möglichkeit für Auftritte und zum anderen brachten sie die jungen Leute in die Vorstellungen.

Widmen sich Ihrer Meinung nach Schulen und die Medien genügend der Musik, insbesondere der Oper? „In Italien sicherlich nicht. Einzig das Radio tut dies wirklich kontinuierlich. Wenig Platz findet die Oper in der Presse, in den Tageszeitungen und Zeitschriften. Wenigstens gibt es Fachzeitschriften, aber die werden vor allem von denen gekauft, die sowieso die Oper als Teil ihres Lebens ansehen. Das Fernsehen ignoriert die Oper fast. Die Traviata, die gerade übertragen wurde, macht da eine Ausnahme. Die Ausrede ist, dass es zu wenig Zuschauer geben würde und die Plattenfirmen keine Werbung während der Opernübertragung wünschen. Im Satellitenfernsehen hat man das Problem damit gelöst, dass man immer wieder dieselben Programme wiederholt. Ich glaube aber, dass man der Kultur einen viel größeren Raum zugestehen müsste, und ich bin überzeugt, dass man mit etwas mehr Wissen darüber auch das heute so beklagte Fehlen überwinden könnte. Würde man mehr Kultur in Fernsehen und Radio verbreiten, würden auch andere Medien, beginnend mit der CD, davon profitieren.“

Franco Corelli mit Anita Cerquetti und Giulio Neri beim Applaus nach der berühmten römischen Normna 1958/ Archivio storico del L´Opera di Roma

Ich komme noch einmal auf die Traviata im Fernsehen, die ja als historisches Ereignis angekündigt wurde, zurück. Welches Urteil fällen Sie darüber? „Das, was ich davon gesehen habe, hat mich sehr erstaunt. Vor allem glaube ich nicht, dass die akustische Seite direkt übertragen wurde. Aber das ist nicht das Problem, vieles an der Produktion hat mich einfach kaltgelassen und hat mir nicht gefallen. Darüber hinaus glaube ich, dass es ein überaus teures Unternehmen war, von dem man bald überhaupt nicht mehr sprechen wird. Sehen Sie, die Oper wird für das Theater gemacht, und hier wird sie geboren. Diese Ansiedlungen im Freien mögen als Bilder faszinierend sein, aber sie leugnen die Einbildungskraft, aus der die Oper sich nährt. Ganz zu schweigen vom Klang, der so nie optimal sein kann, weil er nie die richtige pastosità erreicht und auch weil die Mikrofone, die man zwangsläufig braucht, wegen ihrer Nähe den Ton verändern und verfälschen. Da ist es dann besser, eine Theaterproduktion mit der Kamera aufzunehmend und anschließend zu senden.“

Am Beginn Ihrer Karriere haben Sie ein sehr ungewöhnliches Repertoire für einen italienischen Tenor gesungen, nämlich Händel, Prokofjew, Guerrini. Waren das Zufälle? „Wenn ein Theater einem Sänger drei oder vier Titel anbietet und darunter befindet sich auch einer außerhalb seines Repertoires, dann erfordert es einfach die Höflichkeit zu akzeptieren. Andere, bekanntere Opern habe ich deshalb nicht öfter gesungen, weil ich zur selben Zeit Rollen sang, die mit ihnen nicht vereinbar waren. Es ist immer klug, nicht gleichzeitig Rollen zu singen, die ganz unterschiedliche Anforderungen an die Stimme stellen.“

Franco Corelli und Leontyne Price mit Intendant Rudolf Bing nach dem Debüt Corellis im „Trovatore“/Foto Louis Melancon/Met Opera Archives

Haben Sie nach dem Ende Ihrer Karriere jemals den Wunsch gehabt, wieder auf die Bühne zurückzukehren? Man hörte von einigen Versuchen. „Singen ist eine wunderbare Sache, auf der Bühne zu stehen, geschminkt, in die Rolle einer bedeutenden Persönlichkeit geschlüpft zu sein. Es ist wie in einem Traum. Eine wunderbare Sache. Und man stelle sich vor, wie herrlich es ist, Musik zu machen, wunderbare Melodien, Töne an die Menschen zu vermitteln, wenn schon Musikhören so viel bedeutet. Für mich ist nicht der hohe Ton die wichtigste Sache – er ist eine Art Heldentat, wenn er gelingt, bist du glücklich –, sondern die Melodie. Die Liebe, die du in dir trägst, zu den Menschen zu bringen, ist wie eine allumfassende spirituelle Umarmung, und du fühlst dich aufs Schönste belohnt. Die Augenblicke zu finden, in denen die Stimme pure Melodie wird und sie zum Publikum gelangen lassen, ist das Höchste. Vibrieren und das Publikum vibrieren lassen, dass sich mit dir in einem Akt sublimer Liebe vereint, ist die schönste und erregendste Sache des Lebens. Du kannst dir selbst sagen: Der Komponist hat diese Süße geschaffen, und dir ist es gelungen, sie an das Publikum zu vermitteln. Es bedeutet, dass man die Fülle des Lebens spürt. Aber man singt auch für sich selbst, und das auch, wenn man sich noch mitten in der Karriere befindet. Es ist nicht so, dass ich heute nicht mehr singe, aber ich tue es nur für mich selbst. Ich will nicht verbergen, dass ich mich manchmal dabei überrasche, eine schöne Phrase aufnehmen zu wollen – aber wie würde sich das im Vergleich mit zwanzig Jahren zuvor wohl anhören? Ich glaube nicht, dass ich noch jemals vor Publikum singen werde, ich habe nicht einmal darüber nachgedacht, und deshalb halte ich die Stimme auch nicht fit. Aber einmal aufnehmen, was ich jetzt singe – wer weiß?“

Franco Corelli mit Maria Callas nach der „Tosca“ an der Met 1965/ Foto Melanco/Met Opera Archives

Eine letzte Frage: Welche nichtveröffentlichten Einspielungen können wir noch erhoffen? „Ja, einiges gibt es noch. Plattenfirmen, die etwas mit mir aufgenommen haben, habe ich nach dem Verbleib der Bänder gefragt und bekam die lakonische Antwort, sie seien verlorengegangen. Meine privaten Aufnahmen wurden leider nur gemacht, um die Stimme zu überprüfen. Ich habe auch Teile von schweren Parteien aufgenommen, um auszuprobieren, ob ich die Rollen würde singen können. Oft sind die Phrasen auch einen Ton höher gesungen. Wissen Sie, das Einstudieren ist wie die Vorbereitung zu einem Wettkampf. Wenn du ruhig in den Kampf gehen willst, musst du während des Trainings mehr erreicht haben, als für den Ernstfall notwendig ist. Das heißt aber auch, dass diese Aufnahmen keinen Versuch einer Interpretation enthalten (und dass das von mir überlebt, ist mir das Wichtigste). Es handelt sich bei diesen Versuchen um Rollen, die ich nie im Theater singen wollte. Sie zeigten mir nur, wie weit ich gehen konnte. Das sind Bände, die seit Jahren herumliegen. Man müsste erst einmal prüfen, ob sie überhaupt noch intakt sind. Vielleicht hat die Zeit sie schon für immer unbrauchbar gemacht. Einiges könnte man vielleicht herausziehen, aber es wäre eine große Gefühlsanstrengung, diese Bänder wiederzuhören und eventuell etwas auszuwählen.“ (Übers.: Ingrid Wanja; Transcript Daniel Hauser – Dank an beide!)

 

 Foto oben Corelli als Rodolfo an der Met/Foto Davidson; und für alles, was Corelli betrifft, auch die umfangreiche Discographie an Studio- und Live-Aufnahmen,  empfehle ich das ultimative Buch von René Seghers: „Franco Corelli – Prince of tenors“. In: Opera Biography. Nr. 17. Amadeus Press, New York 2008, ISBN 978-1-61774-684-0. und die Beiträge in operanostalgia.be; unbedingt habenswert wie auch die beiden Bücher, die wir woanders vorstellten. Dank auch an Jan Neckers, einem we<iteren Corelkli-Spezialisten, der bei operanostalgia.be einen bewegenden Artikel über seine Begegnungen mit Corelli schrieb.

Alles über Engelbert

 

Jeder kennt die Oper Hänsel und Gretel.  Sie machte Engelbert Humperdinck weltbekannt und zum musikalischen Märchenerzähler der Nation. Aber ihr Komponist, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum hundertsten Male jährt, ist noch immer weithin wenig bekannt. Der Musikwissenschaftler Matthias Corvin schließt diese Lücke, er dokumentiert das Leben Humperdincks, seine Jugend im rheinischen Siegburg und Paderborn, seine Stipendiatenzeit in Italien, seine Wagner-Assistenz in Bayreuth, seine Reisen durch Frankreich und Spanien, seine beruflichen Stationen in Köln, Essen, Barcelona und Mainz, die Höhepunkte seiner Karriere in Frankfurt und Boppard (wo er seine imposante Komponistenresidenz erbaute), das Kapitel seines späten Ruhms (als Professor an der Akademie der Künste) und seinen Abgesang in Berlin. Dort zählten so diverse Komponisten wie Manfred Gurlitt, Kurt Weill, Friedrich Hollaender, Robert Stolz und viele andere zu seinen Schülern.

Der 1854 im rheinischen Siegburg geborene, stets bescheidene und freundliche Fin-de-siècle-Komponist war gefeierter Dirigent, Pädagoge, Komponist, Musikkritiker, -schriftsteller und Volksliedsammler. Eine imposante Erscheinung im Musikleben seiner Zeit, weit mehr als nur „Repräsentant der Gründerzeit“. Neben Hänsel und Gretel, schrieb er weitere 14 Opern, Chor- und Orchesterwerke, Lieder und Kammermusik. Neun Schauspielmusiken komponierte er, darunter für den Berliner Regisseur Max Reinhardt zu dessen Inszenierungen von Shakespeares Wintermärchen Der Sturm, Was ihr wollt und Der Kaufmann von Venedig. Alles wird kenntnisreich und präzise beschrieben und eingeordnet bei Corvin.

Nicht zu vergessen die Pantomime Das Mirakel, die 1911 in London ihre Premiere erlebte, um später in Berlin, New York und bei den Salzburger Festspielen Triumphe zu feiern. Zurecht bezeichnet der Autor das Werk als einen „Wegbereiter der Filmmusik.“

Humperdinck hatte Kontakt mit vielen berühmten Komponisten seiner Zeit, u.a. mit Richard Strauss, Giacomo Puccini und Hugo Wolf, Max von Schillings, Ermanno Wolf-Ferrari, aber auch mit Dirigenten wie Arthur Nikisch, Hermann Levi und Felix Mottl. Er blickte stets über seinen Tellerrand, war neugierig, aufgeschlossen für Neues und diskussionsfreudig, kurz: Er war auf der Höhe seiner Zeit.

Thomas Mann zum Trotz, der in Humperdinck „den deutsch-bürgerlichen Teil des Wagner-Erbes erblickte, mit „Käppchen-Meistertum und Treufleiß“ behauptete der Kulturkritiker und Opernkenner Oskar Bie schon 1923, Humperdinck und Strauss seien „die zwei Pole der modernen Musik“.

Natürlich war Humperdinck Wagnerianer, aber er fand doch seinen eigenen musikalischen Tonfall. Bereits als junger Mann assistiert er Richard Wagner bei der Parsifal-Uraufführung in Bayreuth. Dort kopierte er die Parsifal-Partitur, schrieb diverse Arrangements für Wagner, bewährte sich als Solorepetitor und verlängerte auf Wagners Wunsch hin die Verwandlungsmusik im ersten Akt des Parsifal (Die Klavierfassung des Parsifal giubts es u. a. auch bei youtube) Corvin hat alle Wagner-Aktivitäten und -Bearbeitungen Humperdincks gewissenhaft dokumentiert.

Sein Melodram Die Königskinder (1897) inspirierte die Moderne und wurde 1910 für die Metropolitan Opera New York zur Märchenoper umgearbeitet. Humperdinck war – wie Corvin klar macht, einer der bedeutendsten Künstler im Deutschen Kaiserreich. Zu seinen bedeutendsten Schülern gehören der Dreigroschenopern-Komponist Kurt Weill und der Wagner-Sohn Siegfried. Humperdinck starb im September 1921.

Die Biografie Matthias Corvins bietet eine längst überfällige Neubewertung des unterschätzten Komponisten, der alles andere als der „gemütliche Märchenonkel“ war, als der er oft bezeichnet wurde. Zuletzt hat nach Otto Boschs Humperdinck-Biografie von 1914 der (nationalsozialistisch schwer belastete) Humperdinck-Sohn Wolfram 1965 die letzte deutschsprachige Biografie des Komponisten vorgelegt. Dass er im Dritten Reich seinen Vater „als Vorreiter rechter Ideologien“ feierte, unterschlägt Corvin wie manches andere Heikle nicht. Sein sachliches, gut lesbares Buch enthält neben einer luziden, detailreichen Biographie (auf dem neusten Stand der Humperdinck-Forschung) auch ein vorzügliches Werkverzeichnis, eine umfassende Biblio­graphie, eine vollständige Diskografie/Videografie und ein nützliches Register. Es ist die lange erwünschte Monografie dieses weithin unterschätzen, von „Hänsel und Gretel“ einmal abgesehen, wenig bekannten Komponisten, sie dürfte schon jetzt als Standardwerk in Sachen Humperdinck gelten. Dieter David Scholz

Und noch einmal: Rund die Hälfte des Buches (mit Abbildungen!) besteht aus einer erschöpfenden und so noch nicht dagewesenen Discographie und einem fabelhaften kritischen Apparat.  Nach Ommer und Steiger ist dies eine ungleich umfassendere und wahrscheinlich komplette  Auflistung. Und die querverweisende Auflistung von Titeln und Namen sind ungemein hilfreich, also auch vom Akademischen her ist dies ein unverzichtbares Buch für den Musikfreund und Forscher.  G. H.

Zum Tode von Giorgio Gatti

 

Am ersten April 2021 starb Giorgio Gatti und wer sein nach vierzig Karrierejahren erschienenes Buch Giorgio Gatti si racconta, „mille grazie, miei signori gelesen und sich  nun daran erinnert hat, den stimmt es traurig, dass sich augenscheinlich sein größter Wunsch, seine beiden Enkelkinder in das Musikleben einführen zu können, nicht mehr erfüllt hat.

Der Bariton war in seinen früheren Karrierejahren ein angesehener Buffo, in seinen späteren einer der wichtigsten Comprimarii, wovon nicht nur seine Mitwirkung in allen drei Filmen der Reihe Tosca nei luoghi e nelle ore di Tosca, La Traviata à Paris und Rigoletto a Mantova unter Zubin Mehta Zeugnis ablegt. Das Buch, das bei Zecchino Editore erschienen ist, stellt die exakt 27 Personen vor, die für Leben und Karriere von Giorgio Gatti wichtig waren, es ist chronologisch gegliedert und reicht von der Geburt des späteren Sängers im toskanischen Poggio a Caiano bis zu seinem Rückzug von der Bühne. Eingeführt wird der Leser von Stephen Hastings, der ein Menottizitat, das dieser dem Sänger widmete, dem von Emanuela Dolci betreuten Buch voranstellt.

Zwar sang Gatti niemals den Rigoletto, obwohl sein Vater diesen schicksalsträchtigen Namen trug, es reichte im gleichnamigen Film nur zum Conte di Ceprano, aber die vielen Fotos mit Widmungen der großen Stars, seien es Dirigenten oder Kollegen, beweisen, wie angesehen nicht nur der Bariton war, sondern wie sehr auch seine Gattin, eine Pianistin, geschätzt wurde, die sogar durch ihre Bereitschaft zum Einspringen eine Aufführung von Alfredo Kraus als Hoffmann rettete und mit der er eine Tournee unter dem Motto „L’Arte del Buffo“ unternahm.

Der Weg zum Ruhm führte durch die damals üblichen Stationen Kirchenchor, sehr bald alldort als Solist, die Opfer, die die Familie für die Ausbildung bringt, das Stipendium, für Gatti am Conservatorio Santa Cecilia in Rom, die Begegnung mit Vincenzo Guerrieri, der als erster von der Tenorlaufbahn ab- und zur Baritonlaufbahn rät. Im immer noch wundergläubigen Italien darf eine Begegnung mit Padre Pio und die damit verbundene Heilung nicht fehlen, und auch bei Gatti taucht Mario Del Monaco als Wohltäter und damit  Engagementsverschaffer auf. Gatti gewinnt die üblichen Concorsi, lernt durch Luciano Bettarini die italienische Buffa kennen und lieben, nimmt gemeinsam mit Magda Olivero Canzonen von Nino Porto auf und ist der Enrico im Lucia-di-Lammermoor-Film von Franca Valeri. Lange und intensiv ist die Zusammenarbeit mit Gian Carlo Menotti, die über Il telefono, zu Il console zu L’ultimo selvaggio und La santa di Bleecker Street führte, ja sogar zu einer kleinen Rolle im Parsifal von 1987. Mit Carmelo Bene in der Titelpartie führt er Schumanns Manfred auf, an der Seite von Giuseppe Taddei ist er in Lucca Belcore, in Israel ist er in der „Bohéme“ von Zubin Mehta mit Andrea Bocelli als Rodolfo sowohl Benoit als Alcindoro.

Neid scheint nie eine Eigenschaft von Giorgio Gaatti gewesen zu sein, denn die ganz Großen werden von ihm nur mit den schmeichelhaftesten Attributen bedacht, so Domingo, dem er professionalità, umiltà und serietà bescheinigt. Auch an der ganz leichten Muse geht Gatti nicht vorbei, und Paolo Ferrari wertet seine Partie in Victor Victoria mit einem Auftrittslied auf. Bis zuletzt ist der Bariton bereit dazu zu lernen, so von Marco Bellocchio, der  von ihm verlangt, auch dann in der Rolle zu bleiben, wenn er gerade nicht singt.

Die beiden letzten Kapitel widmete Gatti seinen beiden Enkelkindern, in denen er eine Sängerin und einen Dirigenten heranwachsen sah. Das ist ihm nun, da er nur 72 Jahre alt wurde, nicht vergönnt gewesen. (ISBN 978 88 6540 128 6). Ingrid Wanja

 

„Cassandra“: Der Fall Gnecchi

 

Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen, dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper eine sozialpolitische Funktion zeigt und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist ausübt steht ja außer Zweifel. Zwar schlagen sich zwar wichtige politische Ereignisse meist nur mit Verzögerung in den Opernplots nieder, aber auch aktuelle Bestrebungen nach nationaler Einheit und Identität ((und dem Verlust derselben) finden sich in vielen Werken ganz aktuell, oft auch durch Reaktivierung glorioser Siege in der ferneren Geschichte des jeweiligen Landes (so zum Beispiel bei Gounod oder Saint-Saens um die Schmach des deutsch-französischen Krieges vergessen zu machen.

 

Ein inzwischen fast vergessener Skandal vom Beginn des 20. Jahrhunderts kam spätestens mit der Aufführung der Cassandra Vittorio Gnecchis beim Radio-Festival von Montpellier 2000 wieder ins Bewusstsein: Hat Richard Strauss (um es umgangssprachlich zu sagen) „geklaut“? Denn seine Elektra von 1909 und Gnecchis bereits 1903 fertiggestellte Cassandra weisen überraschende Ähnlichkeiten in den musikalischen Strukturen, Motiven und auch in der Textverwendung auf. Vittorio Gnecchi (1876-1954) ist ein inzwischen völlig vergessener italienischer Komponist des spätromantischen Idioms (etwa vergleichbar Catalani und Respighi). Er stammte aus wohlhabendem Hause, was ihm Zeit seines Lebens den „Makel“ des Dilettanten, des sich alles leisten Könnenden, eintrug. Ein Vorurteil, unter dem Gnecchi litt. Er studierte bei bekannten musikalischen Größen wie Michele Saladino (dem Lehrer Mascagnis und de Sabatas) und Ernesto Gatti. Und er begann seine Laufbahn mit einer Pastorale, Virtu damore, 1896 nur privat im Familiensitz Verderio bei Como aufgeführt. 1905 folgte Cassandra in Bologna, in deren Folge sich der bereits erwähnte Streit um seine und Strauss‘ Oper entwickelte. Die langanhaltende Schaffenspause resultierte auch daher. Erst 1927 gab es eine neue Oper, La Rosiera, darauf Giuditta 1953, die in ihrer zeitverhafteten post-wagnerianischen Musiksprache sich beide nicht mehr durchsetzen konnten.

Vittorio Gnecchi auf dem Gemälde von Arturo Rieti 1937/ Ricordi

Die Geschehen um die Cassandra hören sich heute wie ein Wirtschaftskrimi an. Toscanini, der stets die jungen Komponisten Italiens protegierte (so auch Catalani), war ein begeisterter Champion für Gnecchis interessante Musiksprache und verhalf nicht zuletzt durch sein Mitwirken der Oper in Bologna zu einem gewissen Erfolg, der eher im Kompositorischen lag denn im Bühneneffekt. Bereits Gnecchis erstes Werk, Virtu d’amore (1896), weist interessante Parallelen zu Richard Strauss‘ Ariadne (1911) auf, wie schon die zeitgenössische Kritik der weitgereisten Fachleute in England oder Italien anmerkte. Jedenfalls führten diese Stimmen dazu, dass sich der Musikzar Giulio Ricordi für Gnecchi interessierte.

In den folgenden Jahren nach dem Erstling beschäftigten sich Gnecchi und sein Librettist lllica mit der griechischen Literatur als Stoff für eine neue Oper. Aischylos ‚ Atriden-Tragödie Die Orestie bot sich an. Und 1903 erblickte Cassandra das Licht der Welt. Nach Beendigung spielte Gnecchi sie Ricordi vor, der nicht sehr enthusiastisch darüber war und einen Bühnenerfolg bezweifelte.

Gnecchis „Cassandra“: Szene Rom 1942/Archivio storico dell Teatro dell´ Opera di Roma

Dennoch interessierte sich Toscanini durch Vermittlung von Gnecchis Lehrer Tullio Serafin dafür, hielt sie für sehr spielbar und brachte sie 1905 in Bologna zur Aufführung. Elisa Bruno war Cassandra, immerhin Salomea Kruszelnicka die Clitennestra (und spätere Salome in Strauss‘ gleichnamiger Oper anlässlich ihrer italienischen Erstaufführung in Turin), dazu die renommierten Baritone Quercia und Federici. Die Proben verliefen nicht besonders glücklich, und Toscanini war gereizt. Die Premiere selbst jedoch geriet zu einem schönen, überregionalen Erfolg, wenngleich sich Widersacher gegen den „Dilettanten“ Gnecchi regten, die seine Musik zu „deutsch“ und zu „schwer“ fanden, zu exhibitionistisch, in der Darstellung der Charaktere zu überzogen, die Verwendung archaischer Motive und Melodiken (vor allem in der Schluss-Szene) zu hellenistisch-bemüht und zu sehr im polyphonen Stile verharrend (das klingt bekannt, wenn man sich die Reaktionen auf Strauss‘ Elektra ansieht). Auch der stets übersensible Toscanini blieb von dem vehementen Streit um die Qualitäten der Musik Gnecchis nicht unberührt und wollte damit und mit dem Werk nichts mehr zu tun haben, zumal sich die Gerüchte hielten, Gnecchi habe Toscanini bezahlt, das Werk aufzuführen. Daran war nichts Wahres, aber der Schaden war da. Toscanini rührte hinfort keine Note Gnecchis mehr an.

Die Partiturlage ist interessant. Gnecchi hatte einen Vertrag mit Ricordi, dass die Rechte daran in sein Eigentum zurückfielen, wenn die Oper eine bestimmte Zeit nicht aufgeführt würde. Ein wohlhabender Freund der Familie Gnecchi hatte ohnehin nur „als Geschenk“ den Druck bei Ricordi bewirkt. Fünf Jahre lang schlief Cassandra vor sich hin, ohne wieder aufgeführt zu werden.

Gnecchis „Cassandra“: Salomea Kruszelnicka war die erste Clitennestra/ Foto Isoldes Liebestod

Eine revidierte Fassung kam dann in Ferrara zur Aufführung, in bescheidenerer Qualität und ohne großes Echo und mit der nun anhaltenden Feindseligkeit der Kritik. Jedoch blieb Cassandra nicht ohne Partisanen. Willem Mengelberg führte 1911 das Werk in Wien mit Maria Jeritza als Clitennestra auf (eine der Lieblingssängerinnen Strauss‘), in Anwesenheit des Komponisten, der gefeiert wurde. 1913 gab es die Oper am Teatro Dal Verme in Mailand. 1914 dirigierte Cleofonte Campanini sie in Philadelphia mit Rosa Raisa – also durchaus kein „erfolgloses“ Werk.

 

Und nun zu Strauss: Ein Zeitsprung führt uns zurück ins Jahr 1906, wo am 22. Dezember die Salome von Strauss ihre italienische Erstaufführung am Teatro Regio in Turin erlebte. Gnecchi war anwesend und überreichte dem deutschen Kollegen anschließend die Partitur (Original oder Kopie?) seiner Cassandra als Geschenk. Strauss zeigte sich begeistert und versprach, sich die Musik kritisch anzusehen und sie zu kommentieren. Gnecchi hatte ihn um seine Meinung gebeten. Aber er wartete vergebens. Er schickte nach einem Jahr erneut eine Kopie der Partitur nach Deutschland, deren Erhalt ihm Strauss dankend bestätigte (erhalten in einem datierten Brief vom August 1905). Nichts. 1908 trug sich der Intendant der Dresdner Oper, Ernst von Schuch, mit dem Vorhaben, Cassandra in der folgenden Saison aufzuführen (wie einem Brief an Gnecchi zu entnehmen ist). Und auch die Elektra von Strauss kam im folgenden Jahr, am 25. Januar 1909, in Dresden und unter Schuchs Leitung, zur Aufführung. Viele Stimmen bemerkten die frappierende Ähnlichkeit der beiden Opern in diverser Hinsicht, nicht nur in der Musik, sondern auch im Libretto. Und wenige Wochen nach der Premiere schrieb der renommierte italienische Musikwissenschaftler Giovanni Tebaldini in der Fachzeitschrift „Rivista Musicale ltaliana“ von einer bemerkenswerten „Telepatia musicale“ zwischen Strauss und Gnecchi und stellte dazu eine Tabelle mit mehr als 50 gleichen Themen in Cassandra und Elektra auf!

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Gnecchis „Cassandra“:; Auch Rosa Raisa zählt zu den illustren Vertreterinnen der Clitennestra/ Wikiwand

Das war der Anfang vom Ende Gnecchis. Natürlich hatte Tebaldini nie wörtlich von einem Plagiat seitens Strauss gesprochen, sondern nur von einer auffälligen „Telepathie“ der Inspiration. Und er hatte auch keine Anklagen erhoben, sondern nur sachlich berichtet. Strauss jedoch reagierte nervös und erklärte öffentlich im krassen Gegensatz zu seinem eigenen Brief. vom August 1905, dass er Gnecchis Oper und keine einzige Note davon je gesehen oder gehört habe. Das war nicht klug. Er hätte angesichts des Riesenerfolges der Elektra ganz einfach die Vergleiche im fernen Italien ignorieren können, aber er fühlte sich (aus schlechtem Gewissen?) angegriffen und aktivierte infamerweise seinen Beziehungs-Apparat gegen Gnecchi selbst, nicht etwa gegen die Musikwissenschaft. Der Kritiker Rudolf Hartmann, gleichzeitig auch Übersetzer des Cassandra-Librettos für Schuch, fühlte sich aufgerufen, Strauss in einem eventuellen Rechtsstreit zu entlasten. Auch Ernst von Schuch bot sich – gleichfalls persönlich beleidigt – als Zeuge für Strauss an. Und im Endeffekt wendete sich die Geschichte gegen den armen Gnecchi. Denn man war eifrig bemüht, die Chronologie der Vorgänge zu verdrehen. Zum Schluss hieß es, Gnecchi habe bei Strauss abgeschrieben, wie in amerikanischen Journalen anlässlich der Aufführungen in Philadelphia nachzulesen war. Der Schaden reichte bis nach Italien. Als 1909 die Programmkommission der Scala dem künstlerischen Direktor Vittorio Mingardi die Cassandra zur Aufführung vorschlug, schrieb dieser einen privaten Brief an den Vorsitzenden, den Grafen Visconti, er wolle davon absehen, „pour ne pas deplaire a Strauss“ (dieser Brief ist erhalten), also um Strauss nicht zu verärgern, und das noch in Französisch. Man hielt eben auf oberer Ebene zusammen.

 

Gnecchis „Cassandra“ Denia Mazzola-Gavazzeni als Clitennestra beim Konzert unter Enrique Diemecke in Montpellier 2000/ Radiofestival Montpellier

Was ist nun dran an dem Vorwurf eines Plagiats (durch Strauss!)? Es gibt viele und frappierende Ähnlichkeiten zwischen beiden Opern. Die Ausführungen des Musikwissenschaftlers Tebaldini sind unanfechtbar und belegen erstaunliche Parallelen der Text- und Musikbehandlung. Das betrifft die gleichlaufenden Tessituren der Partien im Fahrwasser der post-wagnerianischen Ära, das betrifft die Themenverwendung in der Cassandra im motivischen und semantischen Gebrauch sowohl im Prolog wie auch im Verlauf der Oper. Quirino Principe (in seinem Artikel „Vittorio Gnecchi e Richard Strauss: storia di un presunto plagio“, in der „Rivista illustrata del Museo Teatrale alla Scala“, Herbst 1990) unterstützt diese Anmerkungen und weist vor allem auf einen beispielhaften Moment in beiden Opern hin. Im Epilog der Cassandra weissagt die Seherin das blutige Ende der Atriden, worauf Clitemnestra brutal antwortet: „Und das Deine, oh Teucra“ („II tuo, o Teucra“) und die trojanische Prinzessin niederstreckt, die mit dem Ruf ihrer letzten Prophezeiung „Oreste!“ stirbt. Eine ganz ähnliche und im letzten Wort identische Situation ergibt sich bei Strauss. Chrysothemis ruft, als Elektra nach orgiastischem Tanz tot zusammenbricht, „Orest! Orest!“, und der Vorhang fällt. Principe weist auch im sehr viel delikateren musikalischen Bereich Ähnlichkeiten nach, etwa die gemeinsame Stimmung des Orchesters, die brutale Musik­sprache, die Harmonik der Tonarten (Ausruf der Elektra, „Agamemnon“, auf ein Intervall absteigender Quinten), die beide Komponisten mit der Charakterisierung der Personen verbinden.

Dieser Vorwurf nimmt Strauss nichts von seiner Größe, macht aber doch nachdenklich und lässt Zweifel aufkommen … Vielleicht kann man nicht von einem bewussten Plagiat sprechen. Und Strauss war ungeschickt zu behaupten, dass er Gnecchis Oper und keine einzige Note davon je gesehen oder gehört habe.

Dieser hatte angesichts des Strauss’schen Riesenerfolges der Elektra ganz zweifellos auch eine wichtige Positionen unter den zeitgenössischen Komponisten. In diesem Sinne gehört er in die wagemutige Generation der Post-Jahrhundertwende Italiens, wie die Wertschätzungen solcher Dirigenten wie Mengelberg, Bruno Walter, Oliviero De Fabritiis oder George Szell bekunden.

 

Gnecchis „Cassandra“: Giovanna Casolla war die Clitennestra in Catania, hier mit John Treleaven als Agamenone 2011/ TMC

Verbreitung: Gnecchi wurde in Amerika, aber auch in Deutschland und Österreich mehr geschätzt als zu Hause, wo ihm nun der absurde Ruf des Plagiators anhaftete. Walter Gieseking, Sergeij Prokofjew und andere kamen zu privaten Konzerten zu ihm nach Verderio, während Cassandra immerhin in Zürich, Prag, Paris, Philadelphia (von 1925-1929) und schließlich noch einmal, 1942, in Rom unter De Fabritiis gespielt wurde (Gabriella Gatti, Giuseppina Cobelli, Tito Gobbi unter Oliviero De Fabritiis). In Salzburg erlebte Gnecchi späte Anerkennung 1934 mit seiner Cantata bliblica, darauf mit einer Missa Salisburgensis unter Karl Koch und als szenische Umsetzung von Joseph Meßner im Mozarteum mit einem abschließenden Ballett Atalanta. Wenige Monate vor seinem Tod in trister Einsamkeit am 5. Februar 1954 in Mailand gab es noch einmal diese Missa in der Jacobskirche von Innsbruck, und die deutsche Version seiner Oper (Libretto von lllica) Giuditta (als Judith) in konzertanter Form am Salzburger Mozarteum.

Cassandras Prolog wurde schließlich am 16. 10. 1969 konzertant bei den lnnsbrucker Philharmonikern aufgeführt, während die ganze Oper am Theater von Lübeck im Februar 1975 unter der Leitung von Matthias Kuntsch das letzte Bühnenlicht erblickte. Dann rettet noch einmal Montpellier 2000 diesen „skandalumwitterten“ Komponisten vor der Vergessenheit mit der konzertanten Aufführung. Die Deutsche Oper Berlin spielte 2007/2008 auf Betreiben des damaligen Chefdramaturgen Andreas Meyer (heute Operndirektor in Bonn) einen Hotchpotch daraus als Warm-Up für die staubige und alberne Elektra-Produktion der ehemaligen Prinzipalin Kirsten Harms, in schönem Gold und gut besetzt, nur eben barbarisch zusammengestrichen (aber immerhin hörte man zumindest erstmals in Berlin einiges aus dem Werk: es sangen Gustavo Porta, Susan B. Anthony, Piero Terranova unter Donald Runnicles/Leopold Hager, 2010 wiederaufgenommen). 2011 spielte das Teatro Massimo Catania die Cassandra in einer überzeugenden Produktion unter Donato Renzetti mit Giovanna Casolla (alternierend Alessandra Rezza), Mariana Pentcheva und anderen (ich saß damals in der Vorstellung und war schwer beeindruckt, zumal Giovanna Casolla als Clitennestra einen das Gruseln lehrte; bei YouTube gibt’s das Ganze zum Hören, und das ist sehr viel erfreulicher als der Mitschnitt aus Montpellier, weil die Casolle ihrer dortigen Kollegin in fast allem überlegen ist …). 2016 schließlich gab die Enterprising-Operngesellschaft Grattacielo in New York eine Vorstellung unter Israel Gursky.

Und eine CD-Aufnahme gibt es auch (immer noch bei jpc und Amazon): Im Mitschnitt aus Montpellier 2007 singt Denia Mazzola-Gavazzeni die Clitennestra (dazu die Kollegen Tea Demurishvilli, Arnold Kocharyan, Nikola Miljakovic et al), und die Firma Agora, Mailand, hat das Ganze als CD herausgebracht, wo der Prinzipal des Hauses,  Nikos  Velissiotis,  der  Urheber dieser  modernen  Wiederbelebung  ist (das ist auch der Herr, der den Schluss des 1. Aktes des Macbeth mit der Callas mit einem Finale mit der Gencer flickte, weil auf dem Vorlageband der Ton abfiel und man die nationalen Nachrichten hören konnte; so gelangte die montierte Aufnahme zur EMI/Warner und liegt noch immer so vor, ohne Kennzeichnung der Insertion …). Velissiotis fand 1980 auf dem Pariser Flohmarkt unter vielem Ramsch ein Blatt der Zeitschrift „L’ltalie et la France“ mit dem vielversprechenden Titel: „Richard Straus – plagiaire?“ mit einem Kommentar zum Artikel von Tebaldini. Und das setzte alles weitere in Bewegung. Geerd Heinsen

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(Außer den bereits zitierten beiden Quellen von Tebaldini und Principe verweise ich auch auf den Text zur Oper von Marco lanelli  der  Assoziaione  Musicale Vittorio Gnecchi Roscone, Mailand 1999. Die Fotos stellte Nikos Velissiotis zur Verfügung. Ich danke auch dem Theater der Stadt Lübeck für seine Unterstützung sowie der Deutschen Oper/ Andreas Meyer für sein fabelhaftes Programmheft zur Berliner Teil-Erstaufführung 2007. Foto Winter)

Theater auf dem Theater

cavcavalle

„Viva Bajazzo“, „Evviva“ rufen die Zuschauer in den vorderen Reihen der Nederlandse Opera, springen zu den Trompetenklängen von ihren Sitzen auf und eilen mit den Kindern auf die Bühne. Es handelt sich um den Chor der Dutch National Opera, der aus der Mitte des Publikums ins Geschehen eingreift und den Eindruck vermittelt als seinen alle Zuschauer als Dörfler unmittelbar an den folgenden Ereignissen beteiligt. Zur Aufführung der Harlekinade der Pagliacci haben sie sich wieder auf ihren Plätzen eingefunden. Ein netter, vielfach praktizierter Kunstgriff zur Durchbrechung der vierten Wand und einer vorgeblichen Interaktion zwischen Bühne und Publikum, um das Theater als eigentlichen Handlungsort zu definieren. Robert Carsen hat das vielfach praktiziert, bereits in seinem Mefistofele 1988 in Genf, am elegantesten vielleicht in Les contes d’ Hoffmann 2000 an der Pariser Opéra, deren Kantine, Orchestergraben und Zuschauerraum als Stationen auf der Bühne detailliert nachgebildet waren, und vier Jahre später in Capriccio als Spiegelung des Palais Garnier. Der Effekt mit dem „Theater auf dem Theater“, dem sich am Ende in einer Spiegelrückwand wiedererkennenden Publikum usw., wirkte in Carsens Tosca und Die Sache Makropoulos bereits etwas abgegriffenNun also verband der Kanadier zum Spielzeitbeginn 2019/20 an der Dutch National Opera neuerlich Theaterräume und -Träume und -Metaphern zu einem aparten, gleichwohl vorhersehbaren und routiniert abgespulten und nach den Pagliacci nicht wirklich bündigen Abend. Das klappt wunderbar im Backstage-Bereich zwischen schwarzen Hängern und Boxen, Kulissen, Kleiderstangen und Schminktischen (Bühne: Radu Boruzescu), wo sich Nedda und Bühnenarbeiter Tonio, der anfangs im schwarzen Spielleiteroutfit mit Käppi à la Serebrennikov den Prolog sang, auf ihren Auftritt vorbereiten und Silvio als Fan mit Blumenstrauß hinzukommt, recht gut. Das klappt auch gut mit der Commedia, in der sich Schein und Realität durchdringen. Getragen wird das von Ailyn Perez, die mit schön durchgebildetem Sopran für die Nedda mit breiter Mittellage die ansonsten oft vermisste Dramatik und Stärke mitbringt, und für die lyrischen Momente ein duftiges Legato besitzt und süße Pianissimi verströmt. Hocherotisch ihr Duett mit dem smarten Mattia Olivieri als Silvio. Hier zeigen sich auch die Vorzüge des Marc Albrecht 2021/22 als Chefdirigent nachfolgenden Lorenzo Viotti, der bei seinem vorgezogenen Hausdebüt in solchen Momenten eine zauberisch innige Atmosphäre und leise Melancholie verströmt und ansonsten mit dem Netherlands Philharmonic Orchestra auf vitale Dramatik setzt. Der hinreichend zerrissen und leidenschaftlich agierende Brandon Jovanovich hatte am 18. und 28. September 2019 zwei nicht so gute Abende. Er klingt heißer, der Ton wie abgeschnürt, „Ridi, Pagliaccio“ in wüster Manier gepresst; auch an besseren Abenden ist er nicht für dieses Repertoire bestimmt. Marco Ciaponi wertet die Partie des Peppe mit gutem lyrischem Tenor auf.

In Cavalleria Rusticana geht des hinter der Bühne weiter: Der schreckensstarre Chor löst sich bei Turiddus Romanze langsam auf, die blutbesudelten Nedda und Silvio erheben sich, Canio geht ab. Die Chorist*innen platzieren sich hinter ihren beweglichen Schminktischen, zum Duft der Orangenblüten werfen sie sich ihre Alltagskleidung über die mehrheitlich schwarze Unterwäsche (Kostüme: Annemarie Woods). Nach dem Intermezzo darf man ihnen dann neuerlich beim Umziehen zuschauen, bevor Turiddu die Flaschen kreisen lässt. Elena Zilio, die seit zwanzig Jahren als starke Comprimaria die Ernte einer irgendwann um 1970 begonnenen Karriere einfährt, übernimmt als Mamma Lucia die Aufgaben einer Stage Managerin, erteilt Anweisungen und verteilt die Noten für die von Ching-Lien Wu geleiteten Chorprobe. Turiddu, Alfio und Lola sind Mitglieder des Chores. Santuzza ist offenbar die Diva der Truppe. Anita Rachvelishvili singt als ginge es um ihr Leben. Mit ihrem glockengleich gewaltigen, bruchlos bis zum hohen C geführten Mezzosopran von großer Schönheit und zarter Eleganz, ihrer raumgreifender Bühnenpräsenz und sich steigernden Intensität ist sie die Santuzza unserer Tage. Allein ihretwegen lohnt die DVD (Naxos 2.110670). Brian Jagde hat einen schönen, dunkel grundierten Tenor mit freier Höhe, der gut mit der Übergangslage des Turiddu zurechtkommt. Die Figur bleibt schwammig wie die des Alfio, den Roman Burdenko, wie zuvor auch den Tonio, mit wirkungsvoll robustem Bariton singt, Rihab Chaieb ist die Lola. Rolf Fath

Horoskope können lügen

 

Der Sternenhimmel, den Chantal Thomas für Chabriers Komödie L´ètoile bereits während der spritzigen Introduction auf den Zwischenvorhang der Dutch National Opera wirft, macht deutlich, um was es geht. Um die schicksalshafte Beziehung der Gestirne. Denn das Schicksal des Königs Ouf I. ist eng verknüpft mit dem des Hausierers Lazuli, den der Herrscher des „Königreichs der 23 Königreiche“ gerne als Nebenbuhler ausschalten und als Lustbarkeit für die Bevölkerung anlässlich eines Geburtstages hinrichten lassen möchte. Lazuli hat sich nämlich in Laoula verliebt, die Prinzessin des Nachbarreiches, die Ouf selbst heiraten möchte. Was er nicht ahnt ist, dass sich Laoula samt Botschafter, dessen Frau und dem Sekretär bereits in seinem Land befindet. Nachdem der Hofastrologe Siroco den König auf die von den Sternen beglaubigte Verbindung zwischen ihm und Lazuli hingewiesen hat, werden Folter und Hinrichtung gestoppt, denn die Lebenszeit des Königs ist unmittelbar mit der Lazulis verbunden. Am Ende erkennt Ouf, dass auch Horoskope irren können, gibt aber seine Einwilligung zur Hochzeit von Lazuli und Laoula. Eugène Leterie und Albert Vanloo haben im Libretto des 1877 am Théatre des Bouffes-Parisiens uraufgeführten L’étoile von Emmanuel Chabrier ein burleskes, wortgeschliffenes Durcheinander voll ungebührlichen Verhaltens und frecher Anspielungen im Reich des diktatorischen Ouf angerichtet. Der 36jährige Emmanuel Chabrier erzielte mit seinem Opernerstling einen angenehmen Erfolg und wurde als neuer Offenbach gefeiert, dennoch hat sich das Werk nicht gehalten. Gardiner hat es 1984 in Lyon wiederentdeckt und mit Colette Alliot-Lugaz als Lazuli, Ghyslaine Raphanel als Laoula und Georges Gautier als König Ouf aufgenommen (Erato DVD und CD). Zürich und die Berliner Staatsoper spielten 2010 L’étoile, der erst in unserem Jahrhundert wieder richtig an Strahlkraft aufnimmt. Frankfurt zog im Jahr darauf nach. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Laurent Pelly nach seinen Offenbach-Exkursionen auf den Stern von Chabrier stoßen würde, dessen zehn Jahre jüngeren Roi malgré lui er bereits 2005 in Lyon herausgebracht hatte.

Nun also 2014 in Amsterdam (Naxos 2.110595), wo Pelly das bizarre Königreich im Grau einer osteuropäischen Diktatur verortete, in dem einzig der Laden des Lazuli für Buntheit sorgt und in der das über unzählige Lautsprecher verkündete Wort des Königs mit durchgehendem Kopfnicken der Bevölkerung und seiner hundsköpfigen Schwergen akzeptiert wird. Mit süßen Schmeichelworten lädt der König beispielsweise Lazuli ein, auf dem Hinrichtungsstuhl Platz zu nehmen als handele es sich um eine Einladung zu Diner. Erst im zweiten Akt lichtet sich das Grau, wenn sich die Hofdamen als rosafarbene Schneeflocken mit Lazuli im Schloss vergnügen. Über einem Irrgarten aus Treppchen und Türen entwirft Pelly das höfische Leben dieser surrealen Farce als Gegenentwurf zur Trenchcoat-Tristesse und dem bedrohlichen Räderwerk des Staatsapparates des Anfangs mit augenzwinkernden Details, Slapstick-Nummern, anzüglichen Drolerien und inszenatorischen Apercus und verlässt sich vor allem auf den Esprit und Raffinesse der Musik und die schauspielerischen Qualitäten seiner Darsteller.

Patrick Fournillier bringt mit dem Residentie Orkest The Hague sowohl die elegante Feingliedrigkeit und Anmut von Chabriers Musik mit ihren elegant gespickten kurzen Terzetten, Quartetten, Rondos, Couplets und Romanzen zum Klingen als auch die alerte Rage und den Schwung der Ensembles, die bei Chabrier nie reißerische Kraft entfalten, sondern sublim bleiben. Die Equipe ist gut aufgestellt: Stéphanie d’Oustrac ist in der Hosenrolle des Lazuli ganz niedlich, vor allem im Couplet „Quand in aime“, nur in der Tiefe, manchmal auch in der stark geforderten Mittellage der vielen Sprechtexte, wird ihr höhenstarker Mezzosopran etwas fahl. Die in diesem Repertoire versierte Hélène Guilmette gibt mit feiner Artikulation, kluger Diktion und angenehmen Höhe eine reizende Laoula. Roi Ouf, der bei Pelly wie eine Reminiszenz an Felsensteins Bobèche wirkt, ist bei dem schmalstimmigen Charaktertenor und eminenten Darsteller Christophe Mortagne gut aufgehoben, der zusammen mit dem recht profunden Bass Jérome Varnier als Siroco aus dem Duo de la Chartreuse verte ein Kabinettstückchen macht. Der kanadische Bariton Elljot Madore  als Botschafter Hérisson de Porc-Épic (=Stachelschwein) ist treffsicher besetzt. Dazu die rund klingende Mezzosopranistin Julie Boulianne als Botschaftergattin Aloés, der Tenor Francois Piolino als Sekretär Tapioca, die im Quatuor mit Lazuli und Laoula „Quand on veut ranimer sa belle“ von zuckriger Zartheit sind, und vor allem der minutiös instruierte Chorus of Dutch National Opera. Ein Teil der Amsterdamer Besetzung traf sich übrigens zwei Jahre später in London wieder zu Mariame Cléments L’étoile am Königlichen Opernhaus Covent Garden. Pellys Inszenierung kam bislang allerdings nicht über Amsterdam hinaus. Rolf Fath

Opulente Scala-Eröffnung

 

Umberto Giordanos Verismo-Drama Andrea Chénier zählt an der Mailänder Scala nicht zum gängigen Repertoire – die Chronik nach dem 2. Weltkrieg verzeichnet bis heute erst drei Produktionen. Legendär ist die von 1955 mit Maria Callas und Mario Del Monaco unter Antonio Votto, 1982 folgte eine Neuinszenierung mit Anna Tomowa-Sintow und José Carreras unter Riccardo Chailly. Ihren großen Vorgängerinnen folgt nun Anna Netrebko als Maddalena, welche zwei Jahre vor der Adriana Lecouvreur 2019 an der Met ihre erste Verismo-Partie markiert. Cmajor hat die Aufführung an der Scala vom 7. Dezember 2017, also die Inaugurazione della stagione, bei der traditionell zu Beginn die  Nationalhymne ertönt, auf DVD veröffentlicht (757308). Nach 1982 steht Riccardo Chailly erneut am Pult des Orchesters des Teatro alla Scala und bestätigt seine reichen Erfahrungen mit diesem Werk. Den fiebrigen Atem der Musik, ihren dramatischen Puls erfasst er in jedem Moment und bietet eine fesselnde  Interpretation. Das durchgängig straffe Tempo erlaubt auch keinen Zwischenapplaus, erst am Ende kann das Premierenpublikum ausgiebig seine Begeisterung zum Ausdruck bringen.

Die lebendige Inszenierung des Theater- und Filmregisseurs Mario Martone, welche beim Fest im Schloss auch mit stehenden Bildern arbeitet, profitiert von Margherita Pallis Bühne. Sie ist eine Ikone unter den italienischen Ausstatterinnen. Für das erste Bild montierte sie kostbar verzierte barocke Bilderrahmen zu einer Wand, durch die das profane Leben der Außenwelt sichtbar wird. Lüster und Statuen ergänzen die luxuriöse Atmosphäre. Im 2. Akt baute sie auf die Drehbühne eine imposante Brücken-Architektur. Der 3. Akt zeigt Gérards Krankenlager vor einem Zerrspiegel. Effektvoll werden im letzten Bild Kerkerzellen und die Guillotine mit dem Henker ausgestellt. Ursula Patzaks prächtige historische Kostüme fügen sich perfekt in den opulenten Rahmen. Das Ballett der Scala (Choreografie: Daniela Schiavone)) steuert höfische Tänze bei.

Die Tessitura der Auftrittsszene und des ersten Duetts mit Chénier liegt Netrebko nicht ideal, die Stimme klingt kehlig und nasal. Erst in der Auseinandersetzung mit Gérard im 3. Akt findet sie zu ihrer Form und formt „La mamma morta“ zu einem eindringlichen Psychogramm. Auch das im 1. Bild affektierte Spiel weicht hier glaubhaftem dramatischem Ausdruck. Alle Reserven sammelt sie für das passionierte Schlussduett, was dann auch seine überwältigende Wirkung nicht verfehlt.

Yusif Eyvazov, in letzter Zeit  häufig an der Seite seiner Gattin anzutreffen, führt sich mit Chéniers „Un dì all’azzurro spazio“ verhalten ein. Dem spröde aufgerauten Tenor mangelt es an Glanz, doch erfährt die Arie im Ausdruck eine starke Steigerung. Bei seinem Solo und im Duett mit Maddalena im 2. Akt gewinnt die Stimme an Rundung.„Sì, fui soldato“ im 3. Akt überzeugt durch die Emphase des Vortrags und bei „Come un bel dì di maggio“ sowie im Schlussduett findet er sogar zu strahlenden Spitzentönen.

Luca Salsi, momentan Italiens Bariton Nr. 1, was angesichts der vielen illustren Vorgänger verwundert, beginnt als Gérard recht grobschlächtig und dröhnend. Differenzierter und mit mehr Zwischentönen singt er im 3. Akt. Wenn er Maddalena begehrt, lässt er brutale Ausbrüche in Scarpia-Nähe hören.

Eine bäuerlich derbe Contessa di Coigny ist Mariana Pentcheva, Annalisa Stroppa eine rassige Bersi, Judit Kutasi eine eindrucksvolle Madelon mit üppigem Mezzo. Der Coro del Teatro alla Scala (Bruno Casoni) hat vor allem in der Eingangsszene im Schloss und beim Tribunal Gelegenheit für delikaten wie leidenschaftlichen Gesang. Bernd Hoppe

Nicht nur für Lokalpatrioten

 

Von dem liebenswert aus der Zeit gefallenen Kaffeehaus, an dem Anna Viebrock ihre Freude hätte, blickte man auf das notdürftig aufrecht erhaltene und zum Verkauf stehende neoromantische Postgebäude. Gegenüber auf das schmucke, ab 1993 generalsanierte Landestheater Altenburg, dessen Hauptportal Richtung Schloss weist. „Stolz, klein, und vom Sozialismus verwunschen war die Stadt“, beschreibt Michael Schindhelm, der als Generalintendant der Bühnen der Stadt Gera 1994-96 für die Fusion mit dem Theater Altenburg zuständig war, Altenburg. Der Zusammenschluss der Bühnen der Stadt Gera und des Landestheaters Altenburg war nicht die erste Fusionierung der einstigen Hoftheater, doch trotz schmerzhafter Einschnitte wie Personalabbau und Haustarifverträgen offenbar die dauerhafteste. Das mit dem Verwunschensein galt auch noch um 2012. Abends gab’s Carmen. Nicht unbedingt das Werk, dessentwegen man nach Altenburg reist. Dann schon eher die schräge Operettenrarität von Moïses Simons Toi c’es moi (Du bist ich) in der gleichen Spielzeit; die meisten Wiederentdeckungen von Werken aus dem frühen 20. Jahrhundert habe ich allerdings in Gera gesehen, Weinbergers Wallenstein, den Ulenspiegel von Braunfels, den Scharlatan von Haas.

Die von Felix Eckerle und Harald Müller herausgegebene Festschrift 150 Jahre Theater Altenburg (Verlag Theater der Zeit, 256 Seiten, Subskriptionspreis bis zum 18. April 2021 € 19,-, ab dem 19. April 2021 € 24,-) mit den knapp zwei Dutzend Beiträgen habe ich mit Ausnahme der Grußworte von Anfang bis Ende mit Interesse gelesen, zeigt sie doch geradezu beispielhaft den Reichtum des Theaterschaffens in den einstigen Residenzstädten und die Verankerung der Theater in der heutigen Stadtgesellschaft auf, die im Falle Altenburg bis zu einem Stück über die Widerstandsgruppe Altenburg und den beachteten Antiken-Zyklus reicht. Sie lässt einstige und heutige Mitglieder des Theaters zu Wort kommen, beschreibt eine Theater-Ehe, am Beispiel der beiden Städte Gera und Altenburg und der Ehe zweier Altenburger Publikumslieblinge, weist mit Wieland Wagners propagandistisch aufgeladenen Altenburg-Lehrjahr mit dem Ring und An allem ist Hütchen schuld seines Vaters Siegfried im Herbst 1943 und Frühjahr 1944 (Anno Mungen „Das Landestheater Altenburg und Wieland Wagner“), von dem leider nur wenige Dokumente überliefert sind, – der Band zeigt Rheingold– und Götterdämmerungs-Fotos im Preetorius-Stil und einen Rheingold-Besetzungszettel – auf ein nicht unbedeutendes Kapitel in der Entwicklung der Opernregie hin und lässt  in der Erinnerung des damaligen Schauspieldramaturgen Ingo Schulze („Bleiben oder gehen. Gedanken zur Wendezeit“) die Wendezeit lebendig werden. „Das Altenburger Theater schrieb bis in die jüngste Vergangenheit Geschichte und spiegelte die historischen Umwälzungen über anderthalb Jahrhunderte wider“.

1871 zählte Altenburg etwa 20.000 Einwohner. „Danach aber steigen die Zahlen rapide. 1890 lebten ca. 32.000 Menschen in Altenburg, also ungefähr so viele wie heute“. Nach heutigen Begriffen war das Haus bei seiner Eröffnung also reichlich großzügig bemessen. Die feierliche Eröffnung des von Baurat Julius Robert Enger unter Mitwirkung des Leipziger Architekten Otto Brückwald in Anlehnung an die Semperoper entworfenen Herzoglichen Hoftheaters Altenburg fand am 16. April 1871 statt. Die Wiedereröffnung des Fürstlichen Hoftheaters in Gera als ständiges Hoftheater mit einem eigenen Ensemble fand nach umfangreicher Erweiterung und Sanierung ein Jahr später im Januar 1872 statt (Annegret Werner: „149 Jahre Theater Gera“). Der seit 1853 in dem 1826 gegründeten Herzogtum amtierende Herzog Ernst I. von Sachsen-Altenburg hatte den Prachtbau zu Füßen des Residenzschlosses errichten lassen. Gespielt wurde Webers Der Freischütz, der als feste Säule des Altenburger Musiktheaters u.a. von Peter Konwitschny neuinszeniert (1983) und in adaptierter Form 1999 in Hamburg übernommen wurde und auch die Vereinigung beider Bühnen besiegelte. Die Chronik sämtlicher Premieren der unterschiedlichen Sparten hält indes von Anfang an neben einer zeittypischen Begeisterung für die französischen opéra comiques die mit Tannhäuser, der 15 Premieren erlebte, 1873 einsetzende Wagner-Pflege fest. Schwerpunkte nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten Werke osteuropäischer Komponisten und neuere Werke von Wagner-Régeny, Gerster, Kunad und Schwaen. Interessant sind Christoph Meixners Ausführungen zum Notenbestand des Altenburger Theaters, der „einen wichtigen Baustein für die authentische Überlieferung der großen Theatertradition Thüringens“ darstellt, „Zusammen mit den Beständen in Weimar, Meiningen, Sondershausen und Rudolstadt ergibt sich in der Gesamtschau ein Thüringer Quellenfundus, der in diesem Reichtum wohl weltweit einzigartig sein dürfte.“ Wichtig sind die Ausführungen zu zentralen Kapellmeistern, darunter Georg Göhler, der, nebst Zwischenstationen in Karlsruhe, Leipzig und Hamburg, wo er mit La forza del destino in eigener Übersetzung einen Auftakt zur sogenannten Verdi-Renaissance leistete, die er in Altenburg u.a. mit einem im Auftrag von Ricordi übersetzten Macbeth sowie Luisa Miller fortsetzte, von 1899 bis 1932 in Altenburg wirkte (Lutz Mahnke „Georg Göhler – Hofkapellmeister und Generalmusikdirektor“). Oder der 26jährige Eugen Szenkar, der 1917 nach Altenburg kam und nach 1920 in Frankfurt und als GMD in Köln mit zahlreichen Erst- und Uraufführungen, darunter der Wunderbare Mandarin, zu einem Wegbereiter der Moderne wurde (Elisabeth Bauchhenß „Der Hofkapellmeister Eugen Szenkar“). Nach seinem Einstand mit Rienzi dirigierte Szenkar an dem 1918 in Landestheater Altenburg unbenannten Haus u.a. den Tristan und Isolde, den Ring sowie Werke von d’Albert, Puccini und Graener. Auch der 23jährige Maurice de Abravanel stand am Anfang einer internationalen Karriere, als er 1926 in Altenburg als Kapellmeister antrat und in den kommenden drei Jahren von den Operetten über die Novitäten der Zeit von Krenek, Weill, Reznicek und Zemlinsky bis zur Ägyptischen Helena und Meistersingern ein gewaltiges Pensum bewältigte. Später dann Peter Sommer, der 1969 mit Fidelio als Musikdirektor begann, u.a. Tannhäuser mit Spas Wenkoff machte, und nach einem Ausreiseantrag ab 1982 als Kapellmeister in Saarbrücken, Karlsruhe und Mannheim wirkte. Mitten in der Pandemie wurde 2020 Ruben Gazarian als GMD berufen, der vermutlich irgendwann eine nachgeholte Jubiläumsfeier in einem neu hergerichteten Haus leiten wird, denn seit 2019 läuft eine neuerliche Sanierung, die das schmucke Haus vor allem technisch auf Vordermann bringen soll, weshalb das Landestheater vorübergehend in ein Zelt ausquartiert wurde (René Prautsch, Thomas Stolze „Nach der Sanierung ist vor der Sanierung“). Nicht nur etwas für Lokalpatrioten.  Rolf Fath

Schöne Retro

 

Es gibt Stimmen, die im Verlaufe der Jahre und einer Sängerkarriere reifen und solche die welken oder sich zumindest nicht weiter entwickeln. Natalie Dessay, zudem nicht von Stimmkrisen verschont, musste sich in ihren Vierzigern eingestehen, dass ihr feiner,  zarter, extrem höhensicherer  Sopran nicht Schritt hielt mit ihrer sonstigen Entwicklung, dass sie fürchten musste, auf der Bühne in einen Widerspruch zwischen akustischem und optischem Eindruck zu geraten. Sie zog daraus die Schlussfolgerung, ihre Bühnenlaufbahn zu beenden und tritt seitdem nur noch als Konzertsängerin auf. Erato hat auf drei CDs Höhepunkte ihres Könnens aus den Neunzigern und frühen Zweitausendern vereint mit Ausschnitten aus französischen, italienischen und deutschen Opern, dazu auch Strawinsky und Bernstein.

Es beginnt mit dem französischen Repertoire, der ersten Arie der Gounod-Juliette, die mehr noch als die Lebensfreude die Kindlichkeit der Veroneserin betont. Es folgt eine kapriziöse, charmante Massenet-Manon voller  Übermut und funkelndem Charme. Der höchste Ton aller Zeiten und Aufnahmen dürfte mit der Arie der Dinorah aus Meyerbeers Oper bewältigt werden, dazu ein virtuoses Zwiegespräch mit dem Soloinstrument und reihenweise glitzernde Acuti. Sanfte Melancholie kennzeichnet Thomas‘ Ophélie, gläsern klingende Töne sprechen von Zerbrechlichkeit und Gefährdung. Mit funkelnden Spitzentönen bezaubert seine Philine und lässt den Hörer allmählich ermüden nicht angesichts, sondern angehörts dieser  Pracht. Da sind die sanft wogenden Beiträge aus Lakmé eine willkommene Abwechslung, ehe es mit Offenbach und seiner Olympia wieder ins Virtuose zurückgeht und die Sängerin auch ihren Sinn für Komik beweisen kann.

Bellini, Donizetti und Verdi machen die zweite CD aus, von Verdi natürlich nur die beiden „leichten“ Partien der Gilda und der Violetta. Letztere ist mit der großen Arie aus dem 1. Akt vertreten, wobei „Sempre libera“ mit Abstand am besten gelingt, für „È strano“ die leichte Melancholie, die wie ein Schatten über der Stimme liegt, überzeugt, dazu die Exaktheit, mit der die Anweisungen des Komponisten befolgt werden. Andere Sängerinnen lassen die Stimme effektreicherer aufblühen, die Dessay bleibt stets zart, manchmal bis zum Verhuschten hin. Gilda bezaubert durch hingetupfte Koloraturen, ihr steht noch ein langer Weg bevor bis zum selbstbewussten Opfertod für den ungetreuen Duca. Ein lustvoll klingendes Spiel mit dem virtuosen Vermögen kennzeichnet die Amina der Dessay, ein ganz leichter Tonansatz, manchmal scheint sich das Streben nach dem Ätherischen zu verselbständigen, bis ein siegreicher Spitzenton das Ensemble überstrahlt. Einem sanften canto elegiaco gibt sich die zweite Bellini-Heldin, Elvira (außerdem auch Giulietta), hin und lässt virtuosen Ziergesang als das Müheloseste auf der Welt erscheinen. Lucia ist natürlich mit der Wahnsinnsszene vertreten, in der Lieblich und Erschreckend eine kunstvolle Einheit eingehen, die Sängerin bzw. ihre Schöpfung schon nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint.

Die dritte CD ist dem deutschen Repertoire und anderem gewidmet und beginnt mit Mozart. Die erste Arie der Königin der Nach klingt angestrengt, viele Töne werden nur angetippt, ehe es mit den Koloraturen losgeht. So ist es auch mit der zweiten Arie, die man nachdrücklicher gesungen gewohnt ist, aber auch hier betört natürlich die Virtuosität. Für Pamina wüncht man sich eine substanzreichere Stimme, auch Konstanzes  zarte „Traurigkeit“ wirft die Frage auf, wie die Sängerin mit anderen Teilen der Partie fertig werden konnte. Das gilt natürlich weder für Strauss‘ Sophie noch für seine Zerbinetta, für die das Silbrige, das den Sopran auszeichnet, ideal ist und wo die Stimme funkeln und leuchten und mit einem Superspitzenton verblüffen kann. Händel, der mit Giulio Cesare und Alcina vertreten ist, kann Geschmäcklerisches vertragen und fragil Verführerisches, Bitter-Süßes, was alles Dessay diesen Damen zuteil werden lässt (d.h. nicht Alcina, sondern Morgana). „Glitter and be gay“ beginnt etwas verhuscht, aber dann dreht die Sängerin doch noch mächtig auf und verhilft den drei CDs zu einem triumphalen Abschluss (Erato 3 CD 0190295057787)Ingrid Wanja