Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Theater auf dem Theater

cavcavalle

„Viva Bajazzo“, „Evviva“ rufen die Zuschauer in den vorderen Reihen der Nederlandse Opera, springen zu den Trompetenklängen von ihren Sitzen auf und eilen mit den Kindern auf die Bühne. Es handelt sich um den Chor der Dutch National Opera, der aus der Mitte des Publikums ins Geschehen eingreift und den Eindruck vermittelt als seinen alle Zuschauer als Dörfler unmittelbar an den folgenden Ereignissen beteiligt. Zur Aufführung der Harlekinade der Pagliacci haben sie sich wieder auf ihren Plätzen eingefunden. Ein netter, vielfach praktizierter Kunstgriff zur Durchbrechung der vierten Wand und einer vorgeblichen Interaktion zwischen Bühne und Publikum, um das Theater als eigentlichen Handlungsort zu definieren. Robert Carsen hat das vielfach praktiziert, bereits in seinem Mefistofele 1988 in Genf, am elegantesten vielleicht in Les contes d’ Hoffmann 2000 an der Pariser Opéra, deren Kantine, Orchestergraben und Zuschauerraum als Stationen auf der Bühne detailliert nachgebildet waren, und vier Jahre später in Capriccio als Spiegelung des Palais Garnier. Der Effekt mit dem „Theater auf dem Theater“, dem sich am Ende in einer Spiegelrückwand wiedererkennenden Publikum usw., wirkte in Carsens Tosca und Die Sache Makropoulos bereits etwas abgegriffenNun also verband der Kanadier zum Spielzeitbeginn 2019/20 an der Dutch National Opera neuerlich Theaterräume und -Träume und -Metaphern zu einem aparten, gleichwohl vorhersehbaren und routiniert abgespulten und nach den Pagliacci nicht wirklich bündigen Abend. Das klappt wunderbar im Backstage-Bereich zwischen schwarzen Hängern und Boxen, Kulissen, Kleiderstangen und Schminktischen (Bühne: Radu Boruzescu), wo sich Nedda und Bühnenarbeiter Tonio, der anfangs im schwarzen Spielleiteroutfit mit Käppi à la Serebrennikov den Prolog sang, auf ihren Auftritt vorbereiten und Silvio als Fan mit Blumenstrauß hinzukommt, recht gut. Das klappt auch gut mit der Commedia, in der sich Schein und Realität durchdringen. Getragen wird das von Ailyn Perez, die mit schön durchgebildetem Sopran für die Nedda mit breiter Mittellage die ansonsten oft vermisste Dramatik und Stärke mitbringt, und für die lyrischen Momente ein duftiges Legato besitzt und süße Pianissimi verströmt. Hocherotisch ihr Duett mit dem smarten Mattia Olivieri als Silvio. Hier zeigen sich auch die Vorzüge des Marc Albrecht 2021/22 als Chefdirigent nachfolgenden Lorenzo Viotti, der bei seinem vorgezogenen Hausdebüt in solchen Momenten eine zauberisch innige Atmosphäre und leise Melancholie verströmt und ansonsten mit dem Netherlands Philharmonic Orchestra auf vitale Dramatik setzt. Der hinreichend zerrissen und leidenschaftlich agierende Brandon Jovanovich hatte am 18. und 28. September 2019 zwei nicht so gute Abende. Er klingt heißer, der Ton wie abgeschnürt, „Ridi, Pagliaccio“ in wüster Manier gepresst; auch an besseren Abenden ist er nicht für dieses Repertoire bestimmt. Marco Ciaponi wertet die Partie des Peppe mit gutem lyrischem Tenor auf.

In Cavalleria Rusticana geht des hinter der Bühne weiter: Der schreckensstarre Chor löst sich bei Turiddus Romanze langsam auf, die blutbesudelten Nedda und Silvio erheben sich, Canio geht ab. Die Chorist*innen platzieren sich hinter ihren beweglichen Schminktischen, zum Duft der Orangenblüten werfen sie sich ihre Alltagskleidung über die mehrheitlich schwarze Unterwäsche (Kostüme: Annemarie Woods). Nach dem Intermezzo darf man ihnen dann neuerlich beim Umziehen zuschauen, bevor Turiddu die Flaschen kreisen lässt. Elena Zilio, die seit zwanzig Jahren als starke Comprimaria die Ernte einer irgendwann um 1970 begonnenen Karriere einfährt, übernimmt als Mamma Lucia die Aufgaben einer Stage Managerin, erteilt Anweisungen und verteilt die Noten für die von Ching-Lien Wu geleiteten Chorprobe. Turiddu, Alfio und Lola sind Mitglieder des Chores. Santuzza ist offenbar die Diva der Truppe. Anita Rachvelishvili singt als ginge es um ihr Leben. Mit ihrem glockengleich gewaltigen, bruchlos bis zum hohen C geführten Mezzosopran von großer Schönheit und zarter Eleganz, ihrer raumgreifender Bühnenpräsenz und sich steigernden Intensität ist sie die Santuzza unserer Tage. Allein ihretwegen lohnt die DVD (Naxos 2.110670). Brian Jagde hat einen schönen, dunkel grundierten Tenor mit freier Höhe, der gut mit der Übergangslage des Turiddu zurechtkommt. Die Figur bleibt schwammig wie die des Alfio, den Roman Burdenko, wie zuvor auch den Tonio, mit wirkungsvoll robustem Bariton singt, Rihab Chaieb ist die Lola. Rolf Fath

Horoskope können lügen

 

Der Sternenhimmel, den Chantal Thomas für Chabriers Komödie L´ètoile bereits während der spritzigen Introduction auf den Zwischenvorhang der Dutch National Opera wirft, macht deutlich, um was es geht. Um die schicksalshafte Beziehung der Gestirne. Denn das Schicksal des Königs Ouf I. ist eng verknüpft mit dem des Hausierers Lazuli, den der Herrscher des „Königreichs der 23 Königreiche“ gerne als Nebenbuhler ausschalten und als Lustbarkeit für die Bevölkerung anlässlich eines Geburtstages hinrichten lassen möchte. Lazuli hat sich nämlich in Laoula verliebt, die Prinzessin des Nachbarreiches, die Ouf selbst heiraten möchte. Was er nicht ahnt ist, dass sich Laoula samt Botschafter, dessen Frau und dem Sekretär bereits in seinem Land befindet. Nachdem der Hofastrologe Siroco den König auf die von den Sternen beglaubigte Verbindung zwischen ihm und Lazuli hingewiesen hat, werden Folter und Hinrichtung gestoppt, denn die Lebenszeit des Königs ist unmittelbar mit der Lazulis verbunden. Am Ende erkennt Ouf, dass auch Horoskope irren können, gibt aber seine Einwilligung zur Hochzeit von Lazuli und Laoula. Eugène Leterie und Albert Vanloo haben im Libretto des 1877 am Théatre des Bouffes-Parisiens uraufgeführten L’étoile von Emmanuel Chabrier ein burleskes, wortgeschliffenes Durcheinander voll ungebührlichen Verhaltens und frecher Anspielungen im Reich des diktatorischen Ouf angerichtet. Der 36jährige Emmanuel Chabrier erzielte mit seinem Opernerstling einen angenehmen Erfolg und wurde als neuer Offenbach gefeiert, dennoch hat sich das Werk nicht gehalten. Gardiner hat es 1984 in Lyon wiederentdeckt und mit Colette Alliot-Lugaz als Lazuli, Ghyslaine Raphanel als Laoula und Georges Gautier als König Ouf aufgenommen (Erato DVD und CD). Zürich und die Berliner Staatsoper spielten 2010 L’étoile, der erst in unserem Jahrhundert wieder richtig an Strahlkraft aufnimmt. Frankfurt zog im Jahr darauf nach. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Laurent Pelly nach seinen Offenbach-Exkursionen auf den Stern von Chabrier stoßen würde, dessen zehn Jahre jüngeren Roi malgré lui er bereits 2005 in Lyon herausgebracht hatte.

Nun also 2014 in Amsterdam (Naxos 2.110595), wo Pelly das bizarre Königreich im Grau einer osteuropäischen Diktatur verortete, in dem einzig der Laden des Lazuli für Buntheit sorgt und in der das über unzählige Lautsprecher verkündete Wort des Königs mit durchgehendem Kopfnicken der Bevölkerung und seiner hundsköpfigen Schwergen akzeptiert wird. Mit süßen Schmeichelworten lädt der König beispielsweise Lazuli ein, auf dem Hinrichtungsstuhl Platz zu nehmen als handele es sich um eine Einladung zu Diner. Erst im zweiten Akt lichtet sich das Grau, wenn sich die Hofdamen als rosafarbene Schneeflocken mit Lazuli im Schloss vergnügen. Über einem Irrgarten aus Treppchen und Türen entwirft Pelly das höfische Leben dieser surrealen Farce als Gegenentwurf zur Trenchcoat-Tristesse und dem bedrohlichen Räderwerk des Staatsapparates des Anfangs mit augenzwinkernden Details, Slapstick-Nummern, anzüglichen Drolerien und inszenatorischen Apercus und verlässt sich vor allem auf den Esprit und Raffinesse der Musik und die schauspielerischen Qualitäten seiner Darsteller.

Patrick Fournillier bringt mit dem Residentie Orkest The Hague sowohl die elegante Feingliedrigkeit und Anmut von Chabriers Musik mit ihren elegant gespickten kurzen Terzetten, Quartetten, Rondos, Couplets und Romanzen zum Klingen als auch die alerte Rage und den Schwung der Ensembles, die bei Chabrier nie reißerische Kraft entfalten, sondern sublim bleiben. Die Equipe ist gut aufgestellt: Stéphanie d’Oustrac ist in der Hosenrolle des Lazuli ganz niedlich, vor allem im Couplet „Quand in aime“, nur in der Tiefe, manchmal auch in der stark geforderten Mittellage der vielen Sprechtexte, wird ihr höhenstarker Mezzosopran etwas fahl. Die in diesem Repertoire versierte Hélène Guilmette gibt mit feiner Artikulation, kluger Diktion und angenehmen Höhe eine reizende Laoula. Roi Ouf, der bei Pelly wie eine Reminiszenz an Felsensteins Bobèche wirkt, ist bei dem schmalstimmigen Charaktertenor und eminenten Darsteller Christophe Mortagne gut aufgehoben, der zusammen mit dem recht profunden Bass Jérome Varnier als Siroco aus dem Duo de la Chartreuse verte ein Kabinettstückchen macht. Der kanadische Bariton Elljot Madore  als Botschafter Hérisson de Porc-Épic (=Stachelschwein) ist treffsicher besetzt. Dazu die rund klingende Mezzosopranistin Julie Boulianne als Botschaftergattin Aloés, der Tenor Francois Piolino als Sekretär Tapioca, die im Quatuor mit Lazuli und Laoula „Quand on veut ranimer sa belle“ von zuckriger Zartheit sind, und vor allem der minutiös instruierte Chorus of Dutch National Opera. Ein Teil der Amsterdamer Besetzung traf sich übrigens zwei Jahre später in London wieder zu Mariame Cléments L’étoile am Königlichen Opernhaus Covent Garden. Pellys Inszenierung kam bislang allerdings nicht über Amsterdam hinaus. Rolf Fath

Opulente Scala-Eröffnung

 

Umberto Giordanos Verismo-Drama Andrea Chénier zählt an der Mailänder Scala nicht zum gängigen Repertoire – die Chronik nach dem 2. Weltkrieg verzeichnet bis heute erst drei Produktionen. Legendär ist die von 1955 mit Maria Callas und Mario Del Monaco unter Antonio Votto, 1982 folgte eine Neuinszenierung mit Anna Tomowa-Sintow und José Carreras unter Riccardo Chailly. Ihren großen Vorgängerinnen folgt nun Anna Netrebko als Maddalena, welche zwei Jahre vor der Adriana Lecouvreur 2019 an der Met ihre erste Verismo-Partie markiert. Cmajor hat die Aufführung an der Scala vom 7. Dezember 2017, also die Inaugurazione della stagione, bei der traditionell zu Beginn die  Nationalhymne ertönt, auf DVD veröffentlicht (757308). Nach 1982 steht Riccardo Chailly erneut am Pult des Orchesters des Teatro alla Scala und bestätigt seine reichen Erfahrungen mit diesem Werk. Den fiebrigen Atem der Musik, ihren dramatischen Puls erfasst er in jedem Moment und bietet eine fesselnde  Interpretation. Das durchgängig straffe Tempo erlaubt auch keinen Zwischenapplaus, erst am Ende kann das Premierenpublikum ausgiebig seine Begeisterung zum Ausdruck bringen.

Die lebendige Inszenierung des Theater- und Filmregisseurs Mario Martone, welche beim Fest im Schloss auch mit stehenden Bildern arbeitet, profitiert von Margherita Pallis Bühne. Sie ist eine Ikone unter den italienischen Ausstatterinnen. Für das erste Bild montierte sie kostbar verzierte barocke Bilderrahmen zu einer Wand, durch die das profane Leben der Außenwelt sichtbar wird. Lüster und Statuen ergänzen die luxuriöse Atmosphäre. Im 2. Akt baute sie auf die Drehbühne eine imposante Brücken-Architektur. Der 3. Akt zeigt Gérards Krankenlager vor einem Zerrspiegel. Effektvoll werden im letzten Bild Kerkerzellen und die Guillotine mit dem Henker ausgestellt. Ursula Patzaks prächtige historische Kostüme fügen sich perfekt in den opulenten Rahmen. Das Ballett der Scala (Choreografie: Daniela Schiavone)) steuert höfische Tänze bei.

Die Tessitura der Auftrittsszene und des ersten Duetts mit Chénier liegt Netrebko nicht ideal, die Stimme klingt kehlig und nasal. Erst in der Auseinandersetzung mit Gérard im 3. Akt findet sie zu ihrer Form und formt „La mamma morta“ zu einem eindringlichen Psychogramm. Auch das im 1. Bild affektierte Spiel weicht hier glaubhaftem dramatischem Ausdruck. Alle Reserven sammelt sie für das passionierte Schlussduett, was dann auch seine überwältigende Wirkung nicht verfehlt.

Yusif Eyvazov, in letzter Zeit  häufig an der Seite seiner Gattin anzutreffen, führt sich mit Chéniers „Un dì all’azzurro spazio“ verhalten ein. Dem spröde aufgerauten Tenor mangelt es an Glanz, doch erfährt die Arie im Ausdruck eine starke Steigerung. Bei seinem Solo und im Duett mit Maddalena im 2. Akt gewinnt die Stimme an Rundung.„Sì, fui soldato“ im 3. Akt überzeugt durch die Emphase des Vortrags und bei „Come un bel dì di maggio“ sowie im Schlussduett findet er sogar zu strahlenden Spitzentönen.

Luca Salsi, momentan Italiens Bariton Nr. 1, was angesichts der vielen illustren Vorgänger verwundert, beginnt als Gérard recht grobschlächtig und dröhnend. Differenzierter und mit mehr Zwischentönen singt er im 3. Akt. Wenn er Maddalena begehrt, lässt er brutale Ausbrüche in Scarpia-Nähe hören.

Eine bäuerlich derbe Contessa di Coigny ist Mariana Pentcheva, Annalisa Stroppa eine rassige Bersi, Judit Kutasi eine eindrucksvolle Madelon mit üppigem Mezzo. Der Coro del Teatro alla Scala (Bruno Casoni) hat vor allem in der Eingangsszene im Schloss und beim Tribunal Gelegenheit für delikaten wie leidenschaftlichen Gesang. Bernd Hoppe

Nicht nur für Lokalpatrioten

 

Von dem liebenswert aus der Zeit gefallenen Kaffeehaus, an dem Anna Viebrock ihre Freude hätte, blickte man auf das notdürftig aufrecht erhaltene und zum Verkauf stehende neoromantische Postgebäude. Gegenüber auf das schmucke, ab 1993 generalsanierte Landestheater Altenburg, dessen Hauptportal Richtung Schloss weist. „Stolz, klein, und vom Sozialismus verwunschen war die Stadt“, beschreibt Michael Schindhelm, der als Generalintendant der Bühnen der Stadt Gera 1994-96 für die Fusion mit dem Theater Altenburg zuständig war, Altenburg. Der Zusammenschluss der Bühnen der Stadt Gera und des Landestheaters Altenburg war nicht die erste Fusionierung der einstigen Hoftheater, doch trotz schmerzhafter Einschnitte wie Personalabbau und Haustarifverträgen offenbar die dauerhafteste. Das mit dem Verwunschensein galt auch noch um 2012. Abends gab’s Carmen. Nicht unbedingt das Werk, dessentwegen man nach Altenburg reist. Dann schon eher die schräge Operettenrarität von Moïses Simons Toi c’es moi (Du bist ich) in der gleichen Spielzeit; die meisten Wiederentdeckungen von Werken aus dem frühen 20. Jahrhundert habe ich allerdings in Gera gesehen, Weinbergers Wallenstein, den Ulenspiegel von Braunfels, den Scharlatan von Haas.

Die von Felix Eckerle und Harald Müller herausgegebene Festschrift 150 Jahre Theater Altenburg (Verlag Theater der Zeit, 256 Seiten, Subskriptionspreis bis zum 18. April 2021 € 19,-, ab dem 19. April 2021 € 24,-) mit den knapp zwei Dutzend Beiträgen habe ich mit Ausnahme der Grußworte von Anfang bis Ende mit Interesse gelesen, zeigt sie doch geradezu beispielhaft den Reichtum des Theaterschaffens in den einstigen Residenzstädten und die Verankerung der Theater in der heutigen Stadtgesellschaft auf, die im Falle Altenburg bis zu einem Stück über die Widerstandsgruppe Altenburg und den beachteten Antiken-Zyklus reicht. Sie lässt einstige und heutige Mitglieder des Theaters zu Wort kommen, beschreibt eine Theater-Ehe, am Beispiel der beiden Städte Gera und Altenburg und der Ehe zweier Altenburger Publikumslieblinge, weist mit Wieland Wagners propagandistisch aufgeladenen Altenburg-Lehrjahr mit dem Ring und An allem ist Hütchen schuld seines Vaters Siegfried im Herbst 1943 und Frühjahr 1944 (Anno Mungen „Das Landestheater Altenburg und Wieland Wagner“), von dem leider nur wenige Dokumente überliefert sind, – der Band zeigt Rheingold– und Götterdämmerungs-Fotos im Preetorius-Stil und einen Rheingold-Besetzungszettel – auf ein nicht unbedeutendes Kapitel in der Entwicklung der Opernregie hin und lässt  in der Erinnerung des damaligen Schauspieldramaturgen Ingo Schulze („Bleiben oder gehen. Gedanken zur Wendezeit“) die Wendezeit lebendig werden. „Das Altenburger Theater schrieb bis in die jüngste Vergangenheit Geschichte und spiegelte die historischen Umwälzungen über anderthalb Jahrhunderte wider“.

1871 zählte Altenburg etwa 20.000 Einwohner. „Danach aber steigen die Zahlen rapide. 1890 lebten ca. 32.000 Menschen in Altenburg, also ungefähr so viele wie heute“. Nach heutigen Begriffen war das Haus bei seiner Eröffnung also reichlich großzügig bemessen. Die feierliche Eröffnung des von Baurat Julius Robert Enger unter Mitwirkung des Leipziger Architekten Otto Brückwald in Anlehnung an die Semperoper entworfenen Herzoglichen Hoftheaters Altenburg fand am 16. April 1871 statt. Die Wiedereröffnung des Fürstlichen Hoftheaters in Gera als ständiges Hoftheater mit einem eigenen Ensemble fand nach umfangreicher Erweiterung und Sanierung ein Jahr später im Januar 1872 statt (Annegret Werner: „149 Jahre Theater Gera“). Der seit 1853 in dem 1826 gegründeten Herzogtum amtierende Herzog Ernst I. von Sachsen-Altenburg hatte den Prachtbau zu Füßen des Residenzschlosses errichten lassen. Gespielt wurde Webers Der Freischütz, der als feste Säule des Altenburger Musiktheaters u.a. von Peter Konwitschny neuinszeniert (1983) und in adaptierter Form 1999 in Hamburg übernommen wurde und auch die Vereinigung beider Bühnen besiegelte. Die Chronik sämtlicher Premieren der unterschiedlichen Sparten hält indes von Anfang an neben einer zeittypischen Begeisterung für die französischen opéra comiques die mit Tannhäuser, der 15 Premieren erlebte, 1873 einsetzende Wagner-Pflege fest. Schwerpunkte nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten Werke osteuropäischer Komponisten und neuere Werke von Wagner-Régeny, Gerster, Kunad und Schwaen. Interessant sind Christoph Meixners Ausführungen zum Notenbestand des Altenburger Theaters, der „einen wichtigen Baustein für die authentische Überlieferung der großen Theatertradition Thüringens“ darstellt, „Zusammen mit den Beständen in Weimar, Meiningen, Sondershausen und Rudolstadt ergibt sich in der Gesamtschau ein Thüringer Quellenfundus, der in diesem Reichtum wohl weltweit einzigartig sein dürfte.“ Wichtig sind die Ausführungen zu zentralen Kapellmeistern, darunter Georg Göhler, der, nebst Zwischenstationen in Karlsruhe, Leipzig und Hamburg, wo er mit La forza del destino in eigener Übersetzung einen Auftakt zur sogenannten Verdi-Renaissance leistete, die er in Altenburg u.a. mit einem im Auftrag von Ricordi übersetzten Macbeth sowie Luisa Miller fortsetzte, von 1899 bis 1932 in Altenburg wirkte (Lutz Mahnke „Georg Göhler – Hofkapellmeister und Generalmusikdirektor“). Oder der 26jährige Eugen Szenkar, der 1917 nach Altenburg kam und nach 1920 in Frankfurt und als GMD in Köln mit zahlreichen Erst- und Uraufführungen, darunter der Wunderbare Mandarin, zu einem Wegbereiter der Moderne wurde (Elisabeth Bauchhenß „Der Hofkapellmeister Eugen Szenkar“). Nach seinem Einstand mit Rienzi dirigierte Szenkar an dem 1918 in Landestheater Altenburg unbenannten Haus u.a. den Tristan und Isolde, den Ring sowie Werke von d’Albert, Puccini und Graener. Auch der 23jährige Maurice de Abravanel stand am Anfang einer internationalen Karriere, als er 1926 in Altenburg als Kapellmeister antrat und in den kommenden drei Jahren von den Operetten über die Novitäten der Zeit von Krenek, Weill, Reznicek und Zemlinsky bis zur Ägyptischen Helena und Meistersingern ein gewaltiges Pensum bewältigte. Später dann Peter Sommer, der 1969 mit Fidelio als Musikdirektor begann, u.a. Tannhäuser mit Spas Wenkoff machte, und nach einem Ausreiseantrag ab 1982 als Kapellmeister in Saarbrücken, Karlsruhe und Mannheim wirkte. Mitten in der Pandemie wurde 2020 Ruben Gazarian als GMD berufen, der vermutlich irgendwann eine nachgeholte Jubiläumsfeier in einem neu hergerichteten Haus leiten wird, denn seit 2019 läuft eine neuerliche Sanierung, die das schmucke Haus vor allem technisch auf Vordermann bringen soll, weshalb das Landestheater vorübergehend in ein Zelt ausquartiert wurde (René Prautsch, Thomas Stolze „Nach der Sanierung ist vor der Sanierung“). Nicht nur etwas für Lokalpatrioten.  Rolf Fath

Schöne Retro

 

Es gibt Stimmen, die im Verlaufe der Jahre und einer Sängerkarriere reifen und solche die welken oder sich zumindest nicht weiter entwickeln. Natalie Dessay, zudem nicht von Stimmkrisen verschont, musste sich in ihren Vierzigern eingestehen, dass ihr feiner,  zarter, extrem höhensicherer  Sopran nicht Schritt hielt mit ihrer sonstigen Entwicklung, dass sie fürchten musste, auf der Bühne in einen Widerspruch zwischen akustischem und optischem Eindruck zu geraten. Sie zog daraus die Schlussfolgerung, ihre Bühnenlaufbahn zu beenden und tritt seitdem nur noch als Konzertsängerin auf. Erato hat auf drei CDs Höhepunkte ihres Könnens aus den Neunzigern und frühen Zweitausendern vereint mit Ausschnitten aus französischen, italienischen und deutschen Opern, dazu auch Strawinsky und Bernstein.

Es beginnt mit dem französischen Repertoire, der ersten Arie der Gounod-Juliette, die mehr noch als die Lebensfreude die Kindlichkeit der Veroneserin betont. Es folgt eine kapriziöse, charmante Massenet-Manon voller  Übermut und funkelndem Charme. Der höchste Ton aller Zeiten und Aufnahmen dürfte mit der Arie der Dinorah aus Meyerbeers Oper bewältigt werden, dazu ein virtuoses Zwiegespräch mit dem Soloinstrument und reihenweise glitzernde Acuti. Sanfte Melancholie kennzeichnet Thomas‘ Ophélie, gläsern klingende Töne sprechen von Zerbrechlichkeit und Gefährdung. Mit funkelnden Spitzentönen bezaubert seine Philine und lässt den Hörer allmählich ermüden nicht angesichts, sondern angehörts dieser  Pracht. Da sind die sanft wogenden Beiträge aus Lakmé eine willkommene Abwechslung, ehe es mit Offenbach und seiner Olympia wieder ins Virtuose zurückgeht und die Sängerin auch ihren Sinn für Komik beweisen kann.

Bellini, Donizetti und Verdi machen die zweite CD aus, von Verdi natürlich nur die beiden „leichten“ Partien der Gilda und der Violetta. Letztere ist mit der großen Arie aus dem 1. Akt vertreten, wobei „Sempre libera“ mit Abstand am besten gelingt, für „È strano“ die leichte Melancholie, die wie ein Schatten über der Stimme liegt, überzeugt, dazu die Exaktheit, mit der die Anweisungen des Komponisten befolgt werden. Andere Sängerinnen lassen die Stimme effektreicherer aufblühen, die Dessay bleibt stets zart, manchmal bis zum Verhuschten hin. Gilda bezaubert durch hingetupfte Koloraturen, ihr steht noch ein langer Weg bevor bis zum selbstbewussten Opfertod für den ungetreuen Duca. Ein lustvoll klingendes Spiel mit dem virtuosen Vermögen kennzeichnet die Amina der Dessay, ein ganz leichter Tonansatz, manchmal scheint sich das Streben nach dem Ätherischen zu verselbständigen, bis ein siegreicher Spitzenton das Ensemble überstrahlt. Einem sanften canto elegiaco gibt sich die zweite Bellini-Heldin, Elvira (außerdem auch Giulietta), hin und lässt virtuosen Ziergesang als das Müheloseste auf der Welt erscheinen. Lucia ist natürlich mit der Wahnsinnsszene vertreten, in der Lieblich und Erschreckend eine kunstvolle Einheit eingehen, die Sängerin bzw. ihre Schöpfung schon nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint.

Die dritte CD ist dem deutschen Repertoire und anderem gewidmet und beginnt mit Mozart. Die erste Arie der Königin der Nach klingt angestrengt, viele Töne werden nur angetippt, ehe es mit den Koloraturen losgeht. So ist es auch mit der zweiten Arie, die man nachdrücklicher gesungen gewohnt ist, aber auch hier betört natürlich die Virtuosität. Für Pamina wüncht man sich eine substanzreichere Stimme, auch Konstanzes  zarte „Traurigkeit“ wirft die Frage auf, wie die Sängerin mit anderen Teilen der Partie fertig werden konnte. Das gilt natürlich weder für Strauss‘ Sophie noch für seine Zerbinetta, für die das Silbrige, das den Sopran auszeichnet, ideal ist und wo die Stimme funkeln und leuchten und mit einem Superspitzenton verblüffen kann. Händel, der mit Giulio Cesare und Alcina vertreten ist, kann Geschmäcklerisches vertragen und fragil Verführerisches, Bitter-Süßes, was alles Dessay diesen Damen zuteil werden lässt (d.h. nicht Alcina, sondern Morgana). „Glitter and be gay“ beginnt etwas verhuscht, aber dann dreht die Sängerin doch noch mächtig auf und verhilft den drei CDs zu einem triumphalen Abschluss (Erato 3 CD 0190295057787)Ingrid Wanja

Rudolf Kelterborn

 

Am 24. März 2020, wenige Monate vor seinem 90. Geburtstag, ist Rudolf Kelterborn in Basel gestorben. Am 3. September 2021 hätte der Schweizer Komponist, Musikvermittler, Lehrer und Mentor der neuen Musik seinen runden Geburtstag gefeiert.

„Der ‚Inhalt‘ meiner Musik“, sagte Rudolf Kelterborn, „wird bestimmt durch die oft schier unerträgliche Spannung zwischen den Schönheiten dieser Welt, den unerhörten Möglichkeiten des Lebens einerseits und den Ängsten, Schrecken und Nöten unserer Zeit andrerseits.“ Ein unermüdliches Fortschreiten, eine unbändige Neugier, ein Reflektieren und leidenschaftliches Neuschaffen bestimmten die Werke des Schweizer Doyens.

Sein Schaffen umfasst alle Genres – vom Solostück bis zur abendfüllenden Oper. Sein Lebenslauf dokumentiert sein Wirken in vielen Bereichen des Musiklebens und seine Berufung im umfassenden Vermitteln von Musik. Kelterborn wurde 1931 in Basel geboren und war neben seiner schon früh erfolgreichen kompositorischen Arbeit auch als Lehrer und Professor in Detmold, Karlsruhe, Zürich und Basel tätig, unterrichtete in der ganzen Welt von USA bis Fernost. Später wurde er Leiter der Abteilung Musik beim Schweizer Radio DRS, Chefredakteur der Schweizerischen Musikzeitung, Direktor der Musik-Akademie Basel und Mitbegründer der originellen Konzertreihe des Basler Musik Forums. Mit diesen vielfältigen Aktivitäten hat Kelterborn das Schweizer Musikleben maßgeblich mitgeprägt, nicht zuletzt als Lehrer des Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini.

Ein stetes Neu-Denken von musikalischen Strukturen bestimmt sein ungebrochen kreatives Schaffen als Komponist. Eine kontrastreiche, vielschichtige, energiegeladene Musiksprache, die unmittelbar packend wirkt und den Hörer mitnimmt, kennzeichnet seine Kompositionen.

Anlässlich seines Geburtstages sind zahlreiche Konzerte bedeutender Werke, unter anderem mit dem Sinfonieorchester Basel und der Basel Sinfonietta geplant. Sie werden nun zu klingenden Nachrufen.

Der Bärenreiter-Verlag trauert um einen der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler seiner Generation und einen bis zu seinem Tod ungebrochen kreativen Komponisten. (Quelle/ Foto Bärenreiter)

Rollentausch

 

Was Bayreuth für Richard Wagner und Pesaro für Giacchino Rossini ist, das bedeutet Bergamo für Gaetano Donizetti, dessen Werke jedes Jahr im September im Rahmen eines Festivals aufgeführt werden. Angesichts des umfangreichen Oeuvres  des Komponisten kommt es immer wieder zur Wiederentdeckung fast nie oder äußerst selten gespielter Werke, zu denen auch Torquato Tasso gehört, der der oberitalienischen Stadt auch deshalb besonders nahe steht, weil er zwar in Sorrent geboren wurde, seine Familie aber  aus Bergamo stammt. Die Geschichte des wahrscheinlich von Wahnvorstellungen geplagten Dichters von La Gerusalemme liberata, der an vielen italienischen Fürstenhöfen, darunter auch an dem von Ferrara und sieben Jahre lang in einem Gefängnis lebte, hat viele Dichter inspiriert, darunter auch Goldoni und Goethe, mit deren Werken sich Donizetti beschäftigte. In Goethes gleichnamigem Drama kommen auch die beiden Eleonoren vor, die eine die Schwester des regierenden Fürsten, die andere ihre Hofdame. Ungewöhnlich ist die Besetzung des Helden mit einem Bariton und darauf zurückzuführen, dass Donizetti begeistert von den Talenten und der Physis des Baritons Giorgio Ronconi war und ihm vor dem Tasso bereits die führende Partie im Vorläufer Il Furioso all’isola di San Domingo anvertraut hatte. Weiterhin auffällig ist die Verbindung der eigentlich tragischen Handlung: Torquato Tasso wird zwar nach sieben Jahren Kerker befreit und als Künstler hoch geehrt, muss aber erfahren, dass die geliebte Eleonora seit Jahren tot ist, mit einer Figur der Buffa, dem intriganten Don Gherardo,  die aberwitzig virtuose Prestissimi wie ein Don Bartolo oder Don Pasquale zu singen hat.

Die DVD von Torquato Tasso stammt aus dem Jahre 2014, die Regie führte Federico Bertolani, der die Sänger nicht unnötig durch inszenatorische Geniestückchen beansprucht, sondern einen würdigen Rahmen für ihre Auftritte schafft, sie  in den sparsamen, aber die unterschiedlichen Schauplätze stilisiert verdeutlichenden Bühnenbildern von Angelo Sala agieren lässt. Die historisch korrekten Kostüme stammen von Alfredo Corno. Bemerkenswert sind die unzähligen Blättern offensichtlich vom Dichter Tasso beschrieben und von roter Farbe, wenn der Geliebten zugedacht, die den Boden aller Schauplätze bedecken, sogar an den Säulen kleben und die der plötzlich zu Ruhm und Ansehen Gelangte am Schluss zusammenrafft so gut es geht, um sein neues Leben als Dichterfürst zu beginnen.

Waren es die ungewöhnlichen Fähigkeiten als Sänger wie Schauspieler des Baritons, die diesem einst zur Titelpartie verhalfen, so ist die Optik des Koreaners Leo An nicht die eines immerhin auch  noch jugendlichen Helden und die Stimme, die sich bereits an Kalibern wie Scarpia erprobt hat, zwar eine furchtlos alle Tücken der Partie meisternde, die mezza voce  farbig und er kann durchaus ein schönes Piano singen, doch bevorzugt  er zu oft ein donnerndes Forte und singt damit die anderen Beteiligten an die Wand. Das andere Extrem vertritt der Tenor Giorgio Misseri als Roberto Geraldini, eine zarte, leicht meckernde Rossinistimme mit guter Technik, die sich den irrwitzigen Schwierigkeiten des „Quel tuo sorriso“ und den häufigen Intervallsprüngen furchtlos stellt. So wie dieser ist auch der zweite Tenor Alessandro Viola, der die kleine Partie des Ambrogio schüchtern angeht, ein attraktiver Mann, was der Optik des Tasso zusätzlich schadet. Alle Register eines erfahrenen, unerschütterlichen Buffo zieht Marzio Giossi als Don Gherardo. Gabriele Sagona stützt mit reifem Bass als Alfonso II. Eine sehr schöne, farbige, geschmeidig eingesetzte Sopranstimme setzt Gilda Fiume für die Eleonora d’Este ein, ihre Klage ist wunderschön gesungen und damit sehr berührend. Annunziata Vestri ist die „andere“ Eleonora di Scandiano mit angenehmem Mezzosopran. Orchester und Herrenchor des Bergamo Musica Festival kennen natürlich ihren Donizetti und erstere begleiten unter Sebastiano Rolli einfühlsam (Bongiovanni AB 20040)Ingrid Wanja

„Eifersucht, du Kind der Höllen“

 

Nach Philippe Jaroussky und seinem Album „La vanità del mondo“ mit italienischen Oratorien-Arien stellt nun auch Valer Sabadus auf seiner neuen CD bei SONY Auszüge aus geistlichen und weltlichen  Vokalwerken vor (19439803302). Diese stammen großteils aus dem reichen Schaffen von Johann Sebastian Bach und werden ergänzt um einige Arien aus Singspielen sowie einer Oper von Georg Philipp Telemann. Das Kammerorchester Basel begleitet den Countertenor unter Leitung von Julia Schröder. Die prominente Geigerin bereichert das Programm noch um das Konzert für Violine, Streicher und Basso continuo, BWV 1042. Mit energischem Zugriff, aber auch hoher Virtuosität in den Solopassagen gibt sie ihrer Interpretation das Prädikat des Besonderen.

Die Arie „Ich habe genug“, welche Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 82:a von den Titel gab, eröffnet die Programmfolge. Sie erklingt hier in der Fassung für Sopran, was für den Sänger eine Herausforderung darstellt. In der exponierten Tessitura klingt die Stimme ungewohnt und gespannt. Besser liegen ihm die Alt-Arien „Laudamus te“ aus der Messe in h-Moll, BWV 232 und „Et exsultavit“ aus dem Magnificat D-Dur, BWV 243. Sie bringen die Schönheit und Reinheit des Organs zu gebührender Wirkung. Das betrifft auch die Arien Vergnügte Ruh’“ aus der gleichnamigen Kantate, BWV 170, und „Schlafe, mein Liebster“ aus der Kantate Lasst uns sorgen, BWV 213. Letztere ist ein Beispiel für das von Bach mehrfach praktizierte Parodie-Verfahren. Die Arie verwendete der Komponist später in einem seiner populärsten Werke, dem Weihnachtsoratorium.

Die Beispiele aus dem Schaffen Telemanns beginnen mit zwei Szenen aus dem Singspiel Sieg der Schönheit – Rezitativ und Arie des Honoricus „Wo ist das Ende meiner Plagen/Zeige dich, geliebter Schatten“ sowie „Ich fliehe Dich/Lass in Augen Feuer blitzen“. Hier kann der Sänger in den Affekt betonten Rezitativen und den ausdrucksstarken Arien durch sein großes Einfühlungsvermögen für sich einnehmen. Aus der Oper Flavius Bertaridus singt Sabadus die stürmische Arie des Titelhelden „Hò disarmato il fianco“. Sie belegt das virtuose Vermögen des Sängers und seine Fähigkeit zur Aplomb reichen Attacke. Das Programm endet mit Rezitativ und Arie des Zemir „Mein Feind frohlockt/Eifersucht, du Kind der Höllen“ aus dem Singspiel Miriways als weiteres Beispiel für die Kombination aus Bravour und heroischem Zugriff. Bernd Hoppe

 

Der „Fall Frida Leider“

 

Wie geht man mit Geschichte um? Wie lässt man historischen Persönlichkeiten Gerechtigkeit widerfahren? Die Frage stellt sich für uns und mich selbst als unabhängiger Journalist, Chefredakteur und privat erinnernder Zeitzeuge einmal mehr, weil der alte Streit, die alte Müh‘, um Frida Leider und das Buch über sie von Eva Rieger neu entbrannt ist (wir berichteten davon in der Rezension zur Publikation von Rüdiger Winter, meine eigenen Erinnerungen an Frida Leiders Lebensgefährtin Hilde Bahl sind in einem getrennten Artikel als meine eigenen Gedanken erkennbar). Ganz abgesehen von den vielen, vielen Ungenauigkeiten und Sach-Fehlern in der Biographie (die ein Lektor hätte beseitigen können und die in einer geplanten englischen Ausgabe hoffentlich korrigiert werden) alarmierten mich die Zeilen, die Frau Professor Rieger an mich und die Redaktion am 1. 4. 2021 schrieb – ganz offensichtlich nicht als ein Aprilscherz: „Sie haben wieder gegen mich gehetzt …Ich soll absichtlich Frida Leiders lesbische Beziehung vertuscht haben. Und das, obwohl ich mich schon mehrfach gegen Ihre erfundenen Wunschvorstellungen gewehrt habe.  Wenn Sie noch weiter solche Lügen verbreiten, werde ich zu meinem Anwalt gehen und mich gegen eine solche Schädigung meines Rufs wehren.  Eine solche Verleumdung, wie Sie sie unablässig verbreiten, habe ich lange genug hingenommen. Ich habe längst aufgegeben, die vielen Unwahrheiten, die in der damaligen Kritik meines Buches in Ihrem Portal standen, zu korrigieren…. wenn Sie wieder wagen, Ihren Wahn überall zu verbreiten, werde ich mich dieses Mal wehren. … Ich warne Sie noch einmal ausdrücklich davor, mich bei anderen Menschen, die selbst publizieren und in der Öffentlichkeit tätig sind, mit Unwahrheiten und fantasievollen Wunschvorstellungen zu diffamieren.“ Und so weiter.

 

Das ist schon heftig und zeigt, wie wenig eine Autorin, anerkannte Frauenforscherin und Verfasserin vieler Publikationen, mit berechtigter Kritik umgehen kann, zumal sie eine fundierte Rezension meines Kollegen und meinen eigenen  Erinnerungsbericht vermischt. Was vielleicht ein von dieser Person Leider abgelöstes Problem aufzeigt. Wie weit will jemand zulassen, dass das Objekt seiner Darstellung anders gesehen wird als vom Autor selber? Wieweit wird eine geschichtliche Persönlichkeit – wie in diesem Falle jemand, der vor rund 80 Jahren zu singen aufgehört hat! – zu einer Art Heiligenfigur verklärt, wo anderslautendende Erinnerungen ausgeblendet und diskriminiert werden? Wo in der Publikation die musikalische Wertung (im Falle einer Sängerin) beklagenswert dürftig ausfällt, wo Fakten nicht erwähnt, Lebensumstände verbissen einseitig dargestellt und Gegenstimmen unterdrückt werden. Wo viele Ungenauigkeiten und vermeidbare Fehler herrschen.

Darstellungen geschichtlicher Persönlichkeiten sind stets problematisch, weil zumeist zu subjektiv. Im Falle der Leider fällt zudem die Dürftigkeit der gesicherten Fakten auf. Ihre eigene Autobiographie (für die Zweitausgabe nochmals gekürzt) gibt außer Anekdoten nicht viel her. Die Beziehung zu dem Dirigenten und Ehemann Deman bleibt obskur, viele Details aus dem Leben sind nicht mehr zu rekonstruieren. Auf die Nachkriegsperiode wird kaum eingegangen.

Was bleibt, sind Zeitzeugen. Und Zeitzeugen sind eben auch subjektiv in ihren Erinnerungen. Dennoch müssen sie gehört und nicht nach Kommodität aussortiert werden. Nicht hören zu lassen, was sich nicht in diesen schwärmerischen Heroenkult fügt, ist unwissenschaftlich, nimmt jedoch die Autorin dies für sich in Anspruch. Wie so oft darf die Erinnerung an eine große Persönlichkeit nicht „beschmutzt“ werden, soll das Objekt der Verehrung „rein“ bleiben, keine Abseiten haben, keine „düsteren“ Geheimnisse. Huhhh, wie kleinbürgerlich, wie unhistorisch.

Ich sehe diese Entwicklung überall. Unhistorisches Denken greift um sich, ob nun die idiotische Umbenennungssucht von belasteten Straßen-Namen oder leichtfertige Reportagen im Fernsehen, wo Gegendarstellungen nicht auftauchen und schlampig recherchierte Berichte für Falschmeldungen sorgen. Oder die Verleugnung von Meinungen.

Eva Rieger/ Wikipedia

Umso erschreckender sind die Drohgebärden von Autoren, die ihre Bücher kritisiert sehen und sich gegen Richtigstellungen oder abweichende Meinungen mit juristischen Andeutungen zur Wehr setzen. Wie gehen diese Menschen eben mit Kritik um? Muss man als Journalist immer die Adresse seiner  Rechtsschutzversicherung unter einen Artikel setzen? Zumal wenn die Autoren nicht zwischen einer seriösen Rezension und einem sehr persönlichen Beitrag der Erinnerungen (mit namentlicher Kennzeichnung als privat) unterscheiden können? Wie weit können sie überhaupt mit Kritik umgehen? Ist es nicht ein beklagenswertes Zeichen der Zeit, dass abweichende Meinungen unterdrückt werden und die political correctness als „Keule“ niedergeht (um Herrn Walser zu zitieren).

Insofern reiht sich die „Affäre Leider“ in das allgemeine Tagesgeschehen ein. Was nicht sein darf auch nicht sein kann. Schöne glatte Welt. Dabei wurde im Falle der Leider eine große Chance versäumt, sie beispielhaft als das Model einer selbstbestimmten, emanzipierten Frau in schwierigen Zeiten  darzustellen. Wie lebte sie wirklich, wie war ihre Überlebensstrategie, wie ging sie mit ihrem Privatleben um, wie weit war ein öffentliches mit einem privaten Leben zu vereinbaren. War ihre Heirat eine freundschaftliche Sachlösung aus gegenseitigem Schutz wie bei Lorenz oder Gründgens (der Fall Rudolf Deman/1880–1960 ist ja unerforscht). Das sind doch wichtige Fragen, zumal von großem, sozialpolitischem Interesse für uns Heutige. Mehr noch als die langweilige Aufzählung allseits bekannter dürftiger Fakten und zweifelhafter Ausflüge in musikalische Gefilde.

Hilde: Der Gedenkstein ist in das Ehrengabe von Frida Leider und Rudolf Deman eingelassen. Foto: Winter

Die musikalischen Aspekte der Leider werden im Buch nicht wirklich diskutiert, wobei man ja nachhören kann, wie schnell der Abbau der Stimme vor sich ging. Das ist natürlich eine partielle Erklärung, warum sie nicht in London mehr sang, auch nicht an der Met. Und nicht mehr in Bayreuth, um von der Fuchs  ersetzt zu werden.  Auch, warum die Stimme nicht die letzten Kriegsjahre überdauert hat, um neu danach noch einmal anzufangen: Die instabile Gesangstechnik gab’s nicht her. Und als Unterrichtende/ Regisseurin gelang der Leider der Anschluss auch nicht mehr. Da war nicht die Lemnitz an allem schuld. Wie also lebte die Leider nach dem Krieg? Was war das mit dem Fond für junge Sänger, in den ihre restliches Vermögen ging. Was erbte die Bahl?

Und kein anerkennendes Wort über eben diese, die langjährige Gefährtin Hilde Bahl, die bei Rieger infamer Weise als Hausdame deklassiert wird. In einer kleinen Alt-Neubau-Wohnung! Nein, Hilde Bahl war eine gebildete Frau, von ihrem industriellen Vater in Japan gut ausgebildet, sprach mehrere Sprachen, war eine großbürgerliche Tochter (im Gegensatz zur Leider, die aus schlichten Verhältnissen kam). Sie war – wie ich selber in manchen Begegnungen bei ihrem köstlichen Streuselkuchen erleben konnte – ebenfalls eine bemerkenswerte, wenngleich sehr zurückhaltende, Frau und eben Partnerin der Leider. Die mir viel Privates erzählte. Aber was nicht sein kann, das nicht sein darf.

Wie also geht man mit historischen Persönlichkeiten um? Ich denke mit mit Empathie und Forschungssinn für die Wahrheit, soweit sie zu ermitteln ist. Nicht mit Weglassen oder Nicht-Wahrhaben wollen. Und sicher nicht mit juristischer Keule gegen Zeitzeugen, die nicht gehört werden sollen. Oder gegen Journalisten, die offensichtliche Fehler nachweisen. Geerd Heinsen

Zwischenbericht

 

Spaziergänge durch das musikalische Leipzig hat der Henschel Verlag inzwischen in vierter Auflage herausgebracht, nach dem Raum wird nun die Zeit erforscht mit Hagen Kunzes Gesang vom Leben-Biografie der Musikmetropole Leipzig. Der zunächst befremdlich erscheinende Titel erklärt sich mit dem Cover, das Teile von Sighard Gille gleichnamigem, sich über vier Etagen erstreckendem Gemälde im Gewandhaus zeigt, leider die einzige Bebilderung, obwohl sich eine besonders reichhaltige eigentlich anbieten würde.

Das Buch ist geschickt gegliedert, indem es einerseits chronologisch vorgeht, zugleich aber auch thematisch, so bestimmten Persönlichkeiten oder Institutionen ein Kapitel widmend, was dazu führt, dass sich manche Kapitel zeitlich  überlappen. Jedes Kapitel, und alle umfassen nur jeweils einige Seiten, ist untergliedert in Schwerpunkte, was erstens das gesamte Buch trotz seines beachtlichen Umfangs übersichtlich erscheinen lässt und zweitens dem Leser die Möglichkeit lässt, auch einmal , zeigt er sich nicht besonders interessiert, den einen oder anderen Abschnitt zu überspringen.

Es beginnt mit der Gründung des Klosters Sankt Thomas und damit mit einer der berühmtesten Institutionen, dem Thomanerchor. Er und seine Chorleiter begegnen dem Leser natürlich immer wieder, ebenso wie die Betonung, dass Leipzig nicht Residenzstadt wie Dresden, sondern eine Stadt freier Bürger war, die seit 1190 das Messeprivileg besaßen und die nach der Reformation den Chor zu einem städtischen werden ließen. Hand in Hand geht mit der Entwicklung der Stadt, der Thomaner und der „Stadtpfeifer“ die Entwicklung der Musik von der Gregorianik zur Mehrstimmigkeit, und ein Chorbuch beweist, dass schon früh der Sopran zur führenden Stimme wurde. Neben der geistlichen Chormusik, Heinrich Schütz widmet der Stadt in schwerster Zeit, dem 30jährigen Krieg, eine solche, wird die Entwicklung auch der weltlichen Musik detailliert beschrieben, so die Opern von Johann Kuhnau,  unsterblich  aber sind Lieder wie Vom Himmel hoch oder  Lobet den Herrn .

Viel erfährt der Leser über die Komponisten, die in Leipzig wirkten, als Thomaskantor oder Gewandhausorchesterdirigent, so über Telemann, Melchior Hoffmann mit seiner 15stündigen Oper und natürlich Johann Sebastian Bach, der seinen Einstieg in Leipzig als Orgelbegutachter hat.

Nicht nur Künstler machen Leipzig zur Musikstadt, sondern auch Orgelbauer wie Silbermann, Verleger wie Breitkopf, zu dem später Härtel stößt oder Peters oder Klavierbauer wie Blüthner. Einige dieser Namen tauchen auch in den Kapiteln über die Nazizeit und die DDR-Geschichte auf, wenn glücklich, dann mit einer Neugründung oder Wiedergründung endend.

Natürlich nimmt Bachs Wirken einen breiten Raum im Buch ein, seine Johannespassion und danach die Matthäuspassion, das Musikalische Opfer, das nicht der Stadt, sondern dem Erzfeind Friedrich von Preußen gewidmet ist. Zur Posse wird das Schicksal des Toten, endend mit dem lakonischen „Tach, ich bring Bach.“

Die Geschichte des Musklebens der Stadt Leipzig ist auch eine der Gebäude, in denen musiziert wird, sei es die Thomanerkirche oder sei es das Gewandhaus.  Nicht vergessen werden das Musikinstrumentenmuseum oder die Singakademie, die Völkerschlacht von 1813, dem Jahr, in dem auch Richard Wagner in Leipzig geboren wurde.

Immer wieder wird Leipzig von berühmten Künstlern besucht, sei es Mozart mit einem Orgelkonzert, Paganini oder Clara Wieck, deren leidvolle Liebesgeschichte mit Robert Schumann nicht ausgespart wird. Nicht nur damals ist Albert Lortzing „der verkannte Komponist“, heute ist es viel schlimmer, denn er ist der vergessene Komponist. Das alles wird in einem romanhaft flüssigen wie sachlich korrekt wirkenden Stil beschrieben, so dass die Lektüre zugleich unterhaltsam wie kenntniserweiternd ist.

Natürlich darf Mendelssohn-Bartholdy nicht fehlen, noch darf es der Streit um sein Denkmal, dass während des Urlaubs des Oberbürgermeisters Carl Goerdeler von den Nazis abgerissen wurde, der später zum engsten Kreis um Stauffenberg gehörte. Mendelssohn seinerseits hatte ein Bachdenkmal gestiftet, das in Beisein des letzten Urenkels Bachs eingeweiht wurde.

In manchen Institutionen oder vielmehr ihren wechselnden Namen spiegelt sich deutsche Geschichte, so im Musikerverein Euterpe von 1824, der 1948 zum Orchester der DeutschSowjetischen Freundschaft mutieren musste, um nach dem Mauerfall zum Sinfonischen Musikverein zu werden.

Auch Gustav Mahler ist Teil der Musikgeschichte Leipzigs und vollendet Webers Die drei Pintos,  nicht nur neue Dirigenten kommen, es werden auch neue Gebäude für alte Institutionen gebaut und die Interpreten mit der Zeit wichtiger als die Komponisten.

Bereits 1924 wird der Mitteldeutsche Rundfunk aus der Taufe gehoben, die Nazis kommen an die Macht und vertreiben Gustav Brecher wie Bruno Walter, Nachfolger Hermann Abendroth ist Parteimitglied wie SU-Freund und deshalb Abgeordneter für die NDPD in der Volkskammer. Die Thomaner werden der Hitlerjugend eingegliedert, aber ihre Bindung an die Kirche bleibt, nach den ersten Bombenangriffen werden sie nach Grimma evakuiert, ihre Schule bleibt auch nach 1945 humanistisches Gymnasium.

Bereits 1943 wird Leipzig durch Bomben zerstört, die Oper geht ins Varieté Dreilinden, das Gewandhausorchester ins Capitol und spielt weiterhin im Rundfunk, was vielen Mitgliedern das Leben rettet.

Nach 1945 bleibt Leipzig Musikstadt, mit der die Namen Joachim Herz, Uwe Wand, Herbert Kegel, Udo Zimmermann, Henri Maier, Ulf Schirmer verbunden sind, und natürlich ist dem Wirken von Kurt Masur, sei es künstlerisch oder politisch, ein Kapitel gewidmet.

Dem Jazz, Swing, der Tanz- und Straßenmusik sind eigene Kapitel zugedacht,  aus den Montagsgebeten werden Montagsdemonstrationen, aus Wir sind das Volk wird Wir sind ein Volk.  In die klassische Musik bringen das Triumvirat Luisi, Viotti, Honneck neue Impulse, ebenso Herbert Blomstedt, Riccardo Chailly und Andris Nelson.  Aber auch die U-Musik mit Rammstein, Prinzen oder Kulturfabrik Werk 2 prägt das Leipziger Musikleben. Schließlich lugt sogar schon Corona um die Ecke und lässt den Veranstalter des Bachfestes weinen. Endnoten, Literaturverzeichnis und Register vervollständigen den Band.

Der Verfasser nennt sein Buch eine Biographie, die normalerweise mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Die Geburt der Musikstadt Leipzig liegt im Dunkeln, ihren Tod wird sie hoffentlich nie erleiden müssen, so dass das Buch mit der Hoffnung schließen kann, dass noch viele Kapitel über sie geschrieben werden können (338 Seiten, Henschel Verlag 2021; ISBN 978 3 89487 811 5). Ingrid Wanja

 

Schöne Stimme, schöner Kitsch

 

Seien wir optimistisch und glauben wir der frohen Botschaft, die Sonya Yoncheva im Booklet zu ihrer jüngsten CD mit dem frohgemuten Titel Rebirth zu verkünden hat und die „aus der fruchtbaren Stille, die der Geburt einer neuen Schöpfung vorausgeht“ geboren sein soll. Und voller Sendungsbewusstsein fährt sie fort:“ Die Welt braucht heute einen Weckruf zur Wiedergeburt“, und der Sänger offensichtlich auch „den plötzlichen Impuls, …zu sprechen statt zu singen“, womit die frohe Verkündigung noch nicht ihr Ende gefunden hat, sondern noch  eins draufgesetzt wird mit : „Durch die Musik wird der Künstler aus seiner Asche wiedergeboren, wie der Phönix“. So ein Erlebnis möchte man doch gern mit anderen teilen, und so weiß auch Dirigent Leonardo Garcia Alarcón, Chef der Capella Mediterranea, zu berichten: „Alle Musiker verfielen am Ende in eine Art karthartischer Trance“. Nicht jedem Hörer werden solche Höhenflüge vergönnt ein, ein hohes musikalisches Vergnügen allerdings ist ihm mit dem Genuss der CD garantiert, hängt allerdings kaum mit einem titelkonformen Inhalt der einzelnen Tracks zusammen.

In denen ist je nach Sprache kaum von rebirth, vielmehr von morte, muerte, to dy, la tomba die Rede, und selbst das bulgarische Lämmchen weint der wohl geschlachteten Mutter nach, wenn auch gebunden an eine angenehm beruhigende, das Gemüt besänftigende Musik, die adäquat von Sängerin und Orchester zu Gehör gebracht wird.

Die längst mit den großen Verdi-Partie in der ganzen Welt gastierende Sopranistin kehrt mit dieser CD zu ihren Anfängen zurück, auch wenn sie anstelle der Poppea nun deren Amme mit dem fermatenreich bis hin zu Manierstischem gesungenen Oblivion soave  singt, davor ebenfalls von Monteverdi Voglia di vita uscir, nicht gerade das Gemüt erheiternd, aber sehr schön gesungen, der Sopran dunkel getönt und äußerst geschmeidig. Überhaupt ist es erstaunlich, wie fein die doch inzwischen große Stimme sich dem Stil der frühen Meister anzupassen weiß, wie sehr sie als Stradellas Salome mit Queste lagrime e sospiri (auch nicht besonders zukunftsorientiert) die Stimme instrumental zu führen und erstaunlich schlank zu halten weiß. Das Bemühen um ein ätherisches Hörbild geht allerdings auf Kosten der Textverständlichkeit. Eine ausgeklügelte Gratwanderung zwischen Raffinesse und Semplizität mit hingetupften Höhen vollzieht der Sopran in Cavallis Lucie mie, vom Italienischen geht man zum Englischen und Spanischen über, fast ausschließlich aber in der einmal gewählten Zeitspanne verbleibend.

In Gibbons The Silver Swan gehen Stimme und Begleitung ein inniges Verhältnis ein und überzeugen durch betonte Schlichtheit. Schöne Bögen und eine ebensolche Linie kennzeichnen Alarcóns Y a tus plantas Nisea, das ebenfalls aus unserer Zeit stammende Orchesterstück  von Simon Diaz könnte sich prompt unter die Renaissancemusik schmuggeln. Bewegter als die anderen Tracks ist Barbara Strozzis L’Eraclito amoroso, in dem das den im Booklet hervorgehobenen Intentionen widersprechende „m’uccida“ besonders hervorgehoben wird. Von Alfonso Ferrabosco stammt Hear me O God, das seinen Höhepunkt mit dem Einsatz der Sprechstimme findet. Von schöner Zartheit und auch so gesungen ist Dowlands Come again, noch einmal nach dem Tode verlangt, aber nun auf Spanisch, wird mit Velazcos No hay que decir, ehe sechs den Ohren schmeichelnde Minuten mit Like an Angel von ABBA verbracht werden dürfen und noch einmal die Schönheit der Sopranstimme dokumentieren, weniger dem im Booklet dokumentierten Anliegen dienlich sind (Sony  19439824022). Ingrid Wanja

Sandor Konya

 

Diese Folge unserer Serie Meine geliebte Stimme hat der Bremer Musikliebhaber Wolfgang Denker dem Tenor  Sándor Kónya gewidmet. Sie ist sehr persönlich gehalten, und sie berichtet nicht nur von seiner Bewunderung für diesen  großen Sänger, sondern auch von seiner  Freundschaft mit einem wunderbaren Menschen.

Meine allererste Opernschallplatte überhaupt war ein Querschnitt durch Verdis Troubadour bei der Deutschen Grammophon. Gloria Davy sang die Leonora, Cvetka Ahlin die Azucena, Raymond Wolansky den Luna und Sándor Kónya den Manrico – alles in deutscher Sprache wie damals üblich.  Kónyas Stimme hat mich sofort mitten ins Herz getroffen. Es heißt ja, dass man seiner ersten Liebe treu bleibt. In diesem Fall trifft das uneingeschränkt zu. Dabei gab es in den 60er Jahren durchaus auch andere Tenorstimmen, die mich begeisterten: Fritz Wunderlich,  Rudolf Schock oder Giuseppe di Stefano und Franco Corelli gehörten dazu. Aber von keiner war ich so berührt wie bei der von Sándor Kónya. Kein Wunder, dass bei der Anschaffung neuer Opernplatten immer Kónya für mich die erste Wahl war.

Sándor Kónya/Foto Denker privat

Sándor Kónya/Foto Denker privat

Kónya war damals Exklusivkünstler bei der Deutschen Grammophon Gesellschaft. Die produzierte zu der Zeit hauptsächlich für den deutschen Markt. So sind viele Querschnitte wie Aida und Cavalleria rusticana (beide ebenfalls mit Gloria Davy), Der Bajazzo (mit Anny Schlemm), Hoffmanns Erzählungen (mit Gladys Kuchta) und Nabucco (mit Thomas Stewart) in deutscher Sprache aufgenommen. Das gilt auch für die drei Puccini-Gesamtaufnahmen: Tosca (nut Stefania Woytowicz), Madame Butterfly (mit einer eindrucksvollen Anny Schlemm in der Titelpartie) und La Boheme. Gerade die Boheme ist für mich bis heute eine der schönsten Aufnahmen dieser Oper geblieben – nicht nur wegen Sándor Kónya, sondern auch wegen der unvergessenen Pilar Lorengar, die als Mimi wie kaum eine andere bezaubert. Und auch die weitere Besetzung mit Dietrich Fischer-Dieskau und Rita Streich ist erstrangig. Überhaupt Puccini! Geradezu sensationell ist das Puccini-Recital, das Sándor Kónya 1962 in Florenz mit dem Maggio Musicale unter Altmeister An­tonino Votto für die Deutsche Grammophon aufgenommen hat. Was Kónya in diesen Aufnahmen an Farbenreich­tum, lyrischem Schmelz, dramatischer Wucht und einfach berückendem Wohlklang zeigt, dürfte wohl von keinem Tenor überboten werden. Kónyas Stimme klingt in allen Lagen rund und voll, da gibt es auch in der extremen Höhe keine Verengung oder Verfärbung. Er singt mit Gefühl und Herz; kleine Schluch­zer, wohldosiert und geschmackvoll eingesetzt, verstärken die emo­tionale Kraft dieser Aufnahmen. Sie sind erst kürzlich bei DGG/Eloquence (2 CD DGG 4807096) als „The Art of Sándor Kónya“ zusammen mit weiteren Arien von Donizetti, Verdi, Wagner und anderen sowie Liedern von Verdi und Wagner wieder auf den Markt gekommen.

Sándor Kónya im "Troubadour"-Querschnitt bei DG

Als ich Kónya Anfang der 60er Jahre für mich entdeckte (bei einer ZDF-Verfilmung von Lehars Paganini, bei der Kónya aber nur zu hören war. Den Paganini spielte Walter Reyer.), steckte er bereits mitten in seiner internationalen Karriere, die seit seinem sensationellen Bayreuther Debüt als Lohengrin (1958) ordentlich an Fahrt aufgenommen hatte. Ich selbst konnte ihn zweimal auf der Bühne erleben: 1971 in Bayreuth als Parsifal und 1972 bei einem Gastspiel in Hannover als Cavaradossi. Es waren unvergessliche Eindrücke. Wie sein großartiger Aufschrei „Amfortas! Die Wunde“ in den Raum brach, habe ich noch heute im Ohr.

Ein Sängerleben und Etappen – von Sarkad nach Steinhude: Sándor Kónya wurde am 23. September 1923 in Sarkad, einem kleinen ungarischen Städtchen, geboren, wo er auch seine Kindheit und Jugend verlebte. Ein berühmter ungarischer Gesangslehrer hörte damals den Schüler Kónya und empfahl ihn an die Franz-Liszt-Akademie in Budapest. 1944 wurde er jedoch zum Militär eingezogen und kam Ende des Krieges in Deutschland in englische Kriegsgefangenschaft. Dort blieben seine gesanglichen Fähigkeiten nicht lange unentdeckt; und so wurde er von den Engländern zur Truppenbetreuung in Bunten Abenden eingesetzt. Mit Hilfe von Freunden konnte er aus dem Gefangenenlager fliehen und kam schließlich 1946 zu Frederick Husler in Steinhude, einem der anerkanntesten Gesangspädagogen seiner Zeit. Im Jahr 1949 heiratete Kónya die Steinhuderin Anneliese Block, die ihn während der gesamten Karriere immer begleitet hat.

Sándor Kónya und Ehefrau Anneliese/Foto Denker

Sándor Kónya und Ehefrau Anneliese/Foto Denker

Die sängerische Karriere Kónyas begann 1951in Bielefeld und währte gut 25 Jahre.  Er hat dabei mit den bedeutendsten Sängerinnen und Dirigenten der damaligen Zeit zusammengearbeitet. Kónyas Partnerinnen waren u.a. Licia Albanese, Lucine Amara, Victoria de los Angeles, Martina Arroyo, Inge Borkh, Grace Bumbry, Fiorenza Cossotto, Regine Crespin, Eileen Farrell, Mirella Freni, Elisabeth Grümmer, Marilyn Horne, Gwyneth Jones, Dorothy Kirsten, Gladys Kuchta, Pilar Lorengar, Christa Ludwig, Eva Marton, Martha Mödl, Anna Moffo, Melitta Muszely, Birgit Nilsson, Roberta Peters, Leontyne Price, Regina Resnik, Anneliese Rothenberger, Leonie Rysanek, Elisabeth Schwarzkopf, Renata Scotto, Anja Silja, Rita Streich, Joan Sutherland, Renata Tebaldi, Gabriella Tucci, Astrid Varnay, Felicia Weathers u.v.a. Kónya sang u.a. unter den Dirigenten Karl Böhm, Richard Bonynge, Pierre Boulez, Andre Cluytens, Oliviero de Fabritiis, Carlo Maria Giulini, Eugen Jochum, Herbert von Karajan, Rudolf Kempe, Otto Klemperer, Hans Knappertsbusch, Erich Leinsdorf, Ferdinand Leitner, Alain Lombard, Lorin Maazel, Kurt Masur, Zubin Mehta, Francesco Molinari-Pradelli, Georges Pretre, Nello Santi, Wolfgang Sawallisch, Hermann Scherchen, Horst Stein, Silvio Varviso, Antonino Votto, Heinz Wallberg u.v.a. Ihre Stationen und Höhepunkte seiner Karriere sollen hier chronologisch nachgezeichnet werden.

Sándor Kónya: die letzte Autogrammkarte/Foto Denker

Sándor Kónya: die letzte Autogrammkarte/Foto Denker

Von Bielefeld bis Edinburg: Ein Vorsingen in Bielefeld fiel so überzeugend aus, dass der damalige Intendant Herrmann Schaffner und der Generalmusikdirektor Bernhard Conz ihn sofort engagierten. Er debütierte 1951 als Turiddu in Cavalleria rusticana, damals noch unter dem Namen Alexander Kónya. Bis zu 200 Abende stand er in großen und kleineren Partien damals auf der Bühne. Schon im zweiten Jahr wurde Kónya häufig zu Gastspielen eingeladen. Bonn, Köln und Hamburg holten ihn; in Kassel sang er sogar neben dem berühmten Willi Domgraf-Fassbaender in Rigoletto. Schon 1953 nahm Herbert von Karajan Kontakt zu Kónya auf und wollte ihn als Manrico an die Mailänder Scala verpflichten. Doch Kónya entschied sich, noch ein weiteres Jahr in Bielefeld zu bleiben und weiter Repertoire zu erarbeiten. Später sang er unter Karajan Mahlers „Lied von der Erde“ in Berlin und die 9. Symphonie von Beethoven in New York.Gustav Rudolf Sellner holte ihn für die Spielzeit 1954/55 fest nach Darmstadt. Umfangreiche Gastverträge banden ihn da schon an die Opernhäuser in Stuttgart und Hamburg. Mit der Hamburgischen Staatsoper gastierte er 1956 auch als Nureddin zusammen mit Melitta Muszely und Arnold van Mill im Barbier von Bagdad bei den Edinburgher Festspielen. Auch dem NDR war Kónya aufgefallen: 1957 nahm er dort, wieder neben Muszely und dem großartigen van Mill, den Max im Freischütz auf. Die Aufnahme ist beim Hamburger Archiv für Gesangskunst (hafg 30057) und bei Cantus erschienen. Dirigent war Willhelm Brückner-Rüggeberg

Carl Ebert holte Kónya 1955 an die Städtische Oper Berlin, wo er hauptsächlich das italienische und französische Fach sang, aber auch den Hüon in Webers Oberon.Ein sensationeller Erfolg war die Premiere von Un ballo in maschera mit Leonie Rysanek und Dietrich Fischer-Dieskau unter Wolfgang Sawallisch. Kónya trat auch in moderneren Werken auf: So war er etwa der Boris in Katja Kabanowa von Janácek oder der Michele in der deutschen Erstaufführung der Oper Die Heilige der Bleeckerstreet von Gian-Carlo Menotti.  Auch moderneren Partien näherte sich Kónyadabei immer mit den Mitteln des Belcanto. Ein besonderes Ereignis war die Uraufführung der Oper König Hirsch von Henze am 23. September 1956, also an Kónyas 33. Geburtstag – damals ein großer Theaterskandal.

Sándor Kónya als Dick Johnson/Met Opera Archive/Mélancon/Foto Denker

Sándor Kónya als Dick Johnson/Met Opera Archive/Mélancon/Foto Denker

Von Bayreuth nach Amerika: Sándor Kónyas Bayreuther Debüt als Lohengrin 1958 ist legendäre Operngeschichte. Wieland Wagners blau-silberne Inszenierung erwies sich als Sensation. Sie ist bis heute ein Markstein in der Geschichte der Bayreuther Festspiele geblieben. Und Sándor Kónya wurde als der neue Wagner-Tenor gefeiert, dem nun eine Weltkarriere offenstand. Bei den Festspielen 1959, 1960 und 1967 sang Kónya wieder den Lohengrin. Der Bayreuther Lohengrin aus dem Jahr 1959 gilt als die perfekteste, homogenste Einspielung des Werkes, die von Orfeo im Rahmen ihrer Bayreuth-Edition in hervorragender Mono-Qualität veröffentlich wurde (Orfeo C691063D). Elisabeth Grümmer ist hier als die ideale Elsa zu hören – zusammen mit Kónyas Lohengrin einfach traumhaft. Zudem Franz Crass als König, Rita Gorr als Ortrud und Ernest Blanc als Telramund. Dirigent ist Lovro von Matacic.Lohengrin gibt es auch in der Studio-Aufnahme von 1965. Sie ist bei RCA mit dem Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Erich Leinsdorf erschienen und zeichnet sich durch hervorragende Klangqualiät aus. Ursprünglich war Leontyne Price als Elsa vorgesehen; nach ihrer Absage übernahm Lucine Amara die Partie. Kónya singt hier die Gralserzählung in der vollständigen Fassung.  Weitere Mitwirkende sind Rita Gorr, William Dooley und Jerome Hines.1958 war Kónya in Bayreuth auch als Froh („Rheingold“) und junger Seemann („Tristan“) zu hören. 1964 kam der Stolzing unter Karl Böhm und 1966 der Parsifal unter Pierre Boulez hinzu. Den Parsifal sang er unter Eugen Jochum auch 1971, seinem letzten Bayreuther Jahr.Kónyas Lohengrin-Darstellung war in ganz Europa begehrt und führte ihn u. a. an die Grand Operá Paris (unter Knappertsbusch), an die Covent Garden Opera (unter Klemperer), nach Lyon, Barcelona, Lissabon, Catania, Palermo und Rom. In Italien sang er den Lohengrin in italienischer Sprache –  so auch  in der 1959 unter Ferdinand Leitner entstandenen Rundfunkaufnahme mit Marcella Pobbe und Aldo Protti. Sie ist bei Myto  erschienen und offenbart, wie viel Belcanto besonders im Lohengrin enthalten ist. Sándor Kónya genoss nun auch in Italien den Ruf, der weltbeste Lohengrin zu sein. Und so holte man ihn 1963 in dieser Partie in die Arena di Verona.

Sándor Kónya: Don José an der Deutschen Oper Berlin/Foto Buhs/Denker

Sándor Kónya: Don José an der Deutschen Oper Berlin/Foto Buhs/Denker

Aber vor allem sang Kónya weiter an den großen Opernhäusern in Deutschland. Berlin und Hamburg waren Schwerpunkte, aber auch in Stuttgart und München trat er regelmäßig auf. Nicht nur in der Oper, auch im Konzertsaal war Kónya zu erleben, etwa mit dem Verdi-Requiem oder bei den Münchner Sonntagskonzerten. Am 18. September sang er (wieder einmal mit Gloria Davy) in Bonn die Missa solemnis zur Wiedereröffnung der Beethovenhalle. An der Mailänder Scala, wo Kónya später auch Calaf, Radames und Stolzing (auch dies ein Rollendebüt) sang, sollte er 1960 as Parsifal debütieren. Was niemand an der Scala wusste: Den Parsifal hatte Kónya noch nie gesungen, und den 3. Akt musste er auf der nächtlichen Autofahrt nach Mailand studieren. Aber es ging alles gut und wurde ein Riesenerfolg. Von der Premiere am 2. Mai 1960 gab es einen Schallplatten-Mitschnitt; Geerd Heinsen schrieb in der damalitgen Opernfachzeitschrift „Orpheus“ darüber: „Unter den Neuveröffentlichungen nimmt eine wichtige Stelle der Parsifal von Sándor Kónya aus der Scala di Milano von 1960 ein, wo der strahlende Tenor mit der betörenden, italienisch geschulten Stimme dem Parsifal eine beinahe belcantistische Glut und Süße verleiht, ohne den heldischen Aspekt des dritten Aktes zu vernach­lässigen. Diese Aufnahme steht in würdiger Nachbarschaft zu Kónyas Lohengrin aus Bayreuth.“ Die Besetzung dieses Parsifal war in­ternational: Rita Gorr war die Kundry, der große bulgarische Bas­sist Boris Christoff sang den Gurnemanz, Gustav Neidlinger den Amfortas; der Dirigent war André Cluytens. Und eine der Soloblumen war eine damals noch völlig unbekannte Sängerin, die sich später zum Weltstar entwickeln sollte: Montserrat Caballé. Die Aufnahme ist inzwischen bei Andromeda in bester Rundfunkqualität auch auf CD erschienen.

Sándor Kónya: Parsifal an der Mailänder Scala/Foto Denker

Sándor Kónya: Parsifal an der Mailänder Scala/Foto Denker

Nun wurde es Zeit für den Sprung über den großen Teich. 1960 sang Kónya den Lohengrin in Barcelona. Kurt Herbert Adler, der musikalische Leiter der San Francisco Opera, war ebenfalls dort und packte die Gelegenheit beim Schopf: Auf einem Briefbogen des Hotel Oriente schloß er am 13. Januar 1960 mit Kónya einen Vertrag für die San Francisco Opera ab. Dort debütierte Kónya am 23. September 1960 – wieder ein bedeutender Auftritt genau an sei­nem Geburtstag – als Dick Johnson in Puccinis La Fanciulla del West. Die war der Beginn einer intensiven, vierzehn Jahre andau­ernden Karriere in Amerika. In San Francisco ist Kónya über viele Jahre immer wieder gastweise aufgetreten. Auch an den Tourneen der Oper, nach Los Angeles, San Diego und San Jose, nahm Kónya teil. Hier, wie auch später an der Metropolitan Opera, war er im italienischen, deut­schen und französischen Fach zu Hause. La Bohème, Tosca und Madama Butterfly, Mefistofele, Pagliacci und Carmen sowie Lohengrin und Parsifal waren seine wichtigsten Opern in San Francisco. Auch den Siegmund in der Walküre hat Kónya hier kon­zertant gesungen. Was die Attraktivität der Besetzungen angeht, konnte San Francisco durchaus mit der Metropolitan Opera mithal­ten. Wenn man eine Bohème mit Victoria de los Angeles, Marilyn Horne (als Musetta!), Sándor Kónya, Ettore Bastianini, Geraint Evans und Giorgio Tozzi besetzen kann, dann spricht das für sich…

Sándor Kónya: Calaf an der Met/Foto Met Opera Arcive/Foto Denker

Sándor Kónya: Calaf an der Met/Foto Met Opera Archive/Mélancon/Foto Denker

New York: Wenn es für Sándor Kónya so etwas wie ein Stammhaus gab, dann war es die Metropolitan Opera New York.  Ein Streit zwischen dem Orchester und der Direktion der Met gefährdete die gesamte Spielzeit 1961/62 und damit auch Kónyas Debüt. In dieser Situation schloss Kónya einen Vertrag für sechs Aufführungen von Cherubinis Medea an der Mailänder Scala ab; seine Partnerin sollte Maria Callas sein. Inzwischen konnte aber in New York eine Einigung erzielt werden, und die Met war Kónya in diesem Moment wichtiger als die Medea an der Scala, wo Jon Vickers für ihn einsprang.Sándor Kónyas Debüt an der Metropolitan Opera erfolgte am 28. Oktober 1961 als Lohengrin. Gleich in seiner ersten Spielzeit sang er so verschiedene Rollen wie Lohengrin, Dick Johnson, Radames und Calaf. Seine Partnerinnen waren Ingrid Bjoner, Leontyne Price, Galina Vishnevskaya, Birgit Nilsson und Dorothy Kirsten. Von den vielen Höheponkten seiner New Yorker Zeit seien stellvertretend Die Meistersinger von Nürnberg und Lucia di Lammermoor genannt. Für Sándor Kónya war der Stolzing ein besonders großer persönlicher Erfolg. Die Ehre der „Opening Night“ sollte ihm in der Saison 1964/65 als Edgardo in Lucia di Lammermoor mit Joan Sutherland zuteil werden.  Allerdings hatte er bereits für die Bayreuther Festspiele 1964 einen Vertrag als Tannhäuser. Das wäre stimmlich mit dem Edgardo unvereinbar gewesen. Doch Wieland Wagner zeigte viel Verständnis – und Kónya sang dafür an Stelle des Tannhäuser 1964 in Bayreuth den Stolzing.Die Metropolitan Opera sollte für Sándor Kónya das zentrale Opernhaus seines künstlerischen Wirkens werden. Mitte der sechziger Jahre war er dort der höchstbezahlte Tenor. Als Stewa in Janáceks Jenufa, gesungen in englischer Sprache, hatte er am 12. Dezember 1974 seinen letzen Auftritt an der Met; Astrid Varnay sang die Küsterin.

In vierzehn Spielzeiten hat er dort 22 verschiedene Partien gesungen. In chronologischer Reihenfolge waren das: Lohengrin / Lohengrin (31)/ La Fanciulla del West / Dick Johnson (10)/ Aida / Radamés (17)/ Turandot / Calaf (13)/ Madama Butterfly / Pinkerton (35)/ La Forza del Destino / Alvaro (1)/ Die Meistersinger von Nürnberg / Stolzing (37) / Der Rosenkavalier / Sänger (7)/ Der fliegende Holländer / Erik (18)/ Ariadne auf Naxos / Bacchus (8)/ La Traviata / Alfredo (3)/ La Bohème / Rodolfo (11)/ Lucia di Lammermoor / Edgardo (26)/ Tosca / Cavaradossi (27)/ Carmen / Don José (7)/ Parsifal / Parsifal (7)/ Martha / Lionel (4)/ Un Ballo in Maschera / Riccardo (3)/ Don Carlo / Don Carlo (2)/ Cavalleria rusticana / Turiddu (3)/ Der Freischütz / Max (9)/ Jenufa / Stewa (2)

Sándor Kónya als Don Carlo mit Gwyneth Jones/Elisabetta in Tokyo/Foto Denker

Sándor Kónya als Don Carlo mit Gwyneth Jones/Elisabetta in Tokyo/Foto Denker

Von Budapest nach Tokyo und Buenos Aires: Bereits 1955 bekam Kónya eine Einladung an die Ungarische Staatsoper in Budapest. Doch er zögerte. Ein Gastspiel in seiner Heimat Ungarn war etwas Besonderes, was gut vorbereitet sein wollte.  Aber 1964 – Kónya sang gerade in Turandot an der Wiener Staatsoper – war es dann endlich soweit. Kónya sang bei diesem ersten Besuch in Budapest den Lohengrin und den Calaf. Aber er hatte bei keinem Auftritt, weder in Bayreuth noch an der Scala oder der Metropolitan Opera, soviel Lampenfieber wie hier in Budapest. Er sagte: „In der Budapester Oper, wo ich als Student immer von den Stehplätzen aus zugehört habe, jetzt selber vor den eigenen Landsleuten zu singen, war schon eine besondere Situation.“  Sogar die New York Times berichtete über Kónyas ersten Auftritt in Ungarn: „Als Kónya in Budapest sang, mußte die Polizei Menschenmengen von Kartensuchenden unter Kontrolle bringen. Im Publikum waren Kónyas Mutter, seine neunzigjährige Großmutter und Verwandte aus ganz Ungarn.“ Im Herbst 1967 kam eine Einladung der Römischen Oper  zur Teilnahme an einem Gesamtgastspiel in Tokyo mit Verdis Don Carlo. Es war die japanische Erstaufführung dieser Oper – ein großer Erfolg, der auch im japanischen Fernsehen übertragen wurde. Sándor Kónyas Partnerin war sie damals dreißigjährige Gwyneth Jones. Die musikalische Leitung hatte Oliviero de Fabritiis. Kónya hat besonders gern unter ihm gesungen, weil er ein typischer Sängerdirigent war. Ein Mitschnitt dieses Don Carlo (angereichert mit Otello-Ausschnitten) ist bei On Stage erschienen (3 CD OS 4714/3).In zwei ganz unterschiedlichen Rollen seines Repertoires ist Sándor Kónya in Buenos Aires am Teatro Colon aufgetreten: 1968 war es der Stolzing unter Ferdinand Leitner, ein Jahr später der Hoffmann unter Peter Maag. Auch hier gibt es Mitschnitte: Die Meistersinger sind bei Living Stage erschienen und bieten zudem die seltene Gelegenheit, Gustav Neidlinger als Sachs zu hören. Les contes d’Hoffmann gibt es bei Opera d’Oro..In seinen letzen Karrierejahren hatte sich Kónya eine neue Rolle erarbeitet: Verdis Otello, der als eine der schwie­rigsten Partie im italienischen Fach gilt. Der Dirigent Alain Lom­bard war von Kónyas Fähigkeit, mit heldenteno­raler Kraft bei gleichzeitiger Beherrschung eines lyrischen Pianos und einer perfekten Mezzavoce zu singen. Er drängte Kónya, diese Partie zu studieren. Er sang ihn erstmalig 1973 in Straßburg unter Lombard und später in Budapest. Und in Budapest stand er auch 1976 als Don Carlo und Otello letztmalig auf der Bühne.

Sándor Kónya/Pressefoto/Foto Denker

Sándor Kónya/Pressefoto/Foto Denker

Ausklang – von Stuttgart nach Ibiza: Nach dem Ende seiner aktiven Karriere hatte Kónya schnell ein neues Aufgabengebiet gefunden. Wolfgang Gönnenwein holte ihn als Gesangsprofessor an die Musikhochschule in Stuttgart. Dort unterrichtete Kónya bis 1988, bis zu seinem 65. Geburtstag.Danach siedelte Kónya mit seiner Frau nach Ibiza über. Ich habe ihn dort als liebevollen Katzenfreund, als reizenden Gastgeber und faszinierenden Gesprächspartner erlebt, wenn er mit vielen Anekdoten aus seinem Sängerleben erzählte. Er war auch in seinen letzten Lebensjahren noch voller Aktivitäten: So hat er nicht nur immer wieder junge Gesangsschüler unterrichtet, es kam auch oft vor, dass etablierte Kollegen bei ihm Rat suchten.Unvergesslich ist mir unser Besuch in seinem Geburtsort Sarkad, wo er 1996 mit diversen Empfängen im Rathaus, einem Ehrenkonzert mit Sängern der Ungarischen Staatsoper und der Verleihung der Ehrenbürgerwürde geehrt wurde. Zudem hat ihm die Stadt eine kleines „Museum“ mit vielen Fotos, Programmheften,  Originalkostümen und Partituren eingerichtet.Im Jahr 2001 war er in New York einer der Gäste eines großen Treffens vieler ehemaliger Stars der Metropolitan Opera, dass zum 100. Todestag von Giuseppe Verdi veranstaltet wurde. Und er hatte noch viele Pläne, zog u. a. die Gründung eines Gesangswettbewerbs in Erwägung und wollte gern noch mal eine ausgedehnte Reise in seine Heimat Ungarn unternehmen, Mit großer Freude verfolgte er, wenn alte Aufnahmen von ihm wieder- oder erstmalig veröffentlicht wurden, etwa die grandiose und mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnete Meistersinger-Aufnahme unter Rafael Kubelik, die ursprünglich für die Deutsche Grammophon geplant war und 1997 zuerst bei Calig (50971/74) und dann bei Arts (Arts Archives 43020-2) erschien.1999 starb seine Frau, am 20. Mai 2002 verstarb Sándor Kónya auf Ibiza. Aber seine Stimme, meine „Geliebte Stimme“,  lebt in vielen Aufnahmen und Erinnerungen weiter (Foto oben: DG/ Cover/ Ausschnitt). Wolfgang Denker.

Momentaufnahmen

 

Bei der Verbreitung der Werke Gustav Mahlers haben die Berliner Philharmoniker von Anfang an eine entscheidende Rolle ge­spielt. Es begann mit der Aufführung von Liedern aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn mit Amalie Joachim unter Leitung von Raphael Maszkowski am 12. De­zember 1892. Am 4. März 1895 stellte Mahler in einem ansonsten von Richard Strauss dirigierten Konzert der Philharmoniker die drei Instrumental­sätze (1, 2, 3) seiner zweiten Sym­phonie vor. Am 13. Dezember 1895 leitete er die Uraufführung der vollständigen Zweiten. Seine Musik fand allerdings beim Publikum und bei großen Teilen der Kritik eine gemischte, eher negative Aufnahme. So sehr man Mahler als Dirigent bewunderte, so wenig hielt man von seinem Komponieren.

Arthur Nikisch, der zweite philharmonische Chefdirigent, setzte sich stark für Mahler ein. Wichtige Mahler-Interpreten von 1911 bis 1932 waren Oskar Fried, Bruno Walter, Klaus Pringsheim, Otto Klemperer und Jascha Horenstein. Einer wichtigsten Mahler-Dirigenten seiner Zeit, Willem Mengelberg, leitete am 17. Mai 1912 im Zirkus Schumann die Berliner Erstaufführung der Achten Symphonie. – Wilhelm Furtwängler, dritter künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker, hatte kein genuines Interesse am Oeuvre Gustav Mahlers. Seine Dirigate der Ersten, Dritten und Vierten Symphonie hinterliessen keine große Wirkung. Allerdings gewann er große Anerkennung mit Dirigaten und Aufnahmen der „Lieder eines fahrenden Gesellen“ und der „Kindertotenlieder“.

In den Jahren der NS-Diktatur war Mahlers Musik wie die aller jüdischen Komponisten verboten. Am 13. Oktober 1932 war zum letzten Mal eine seiner Kompositionen in einem philharmonischen Konzert zu hören. Erst 16 Jahre, am 2. Mai 1948, stand mit der Vierten Symphonie, dirigiert von Otto Klemperer, zum ersten Mal wieder ein Werk von Mahler auf dem Programm.

Die beiden ersten Chefdirigenten nach dem Krieg, Leo Borchardt und Sergiu Celibidache, spielten keine Rolle als Mahler Dirigenten. Überhaupt waren es nach 1945 eher Gastdirigenten, die sich Mahlers Musik annahmen – genannt seien Hans Rosbaud, Hermann Scherchen, Joseph Keilberth und die folgenden wichtigsten Mahler-Interpreten wie Rafael Kubelik, Georg Solti, Bernard Haitink und vor allem Sir John Barbirolli, der Brite italienischer Herkunft. Barbirolli, der selbst erst relativ spät zu Mahler fand, hat die Mahler-Tradition der Philharmoniker entscheidend geprägt. Er war es, der den Philharmonikern, unter denen es viele Mahler-Skeptiker gab, diese Musik nahebrachte. Er dirigierte in der Philharmonie fast alle Symphonien mit Ausnahme der Siebten und Achten. Seine Interpretation der Neunten Symphonie, veröffentlicht von EMI, gilt immer noch als exemplarisch. Fast alle Aufführungen wurden seinerzeit vom SFB mitgeschnitten und erschienen über die Jahre bei Testament Records. Mahlers Neunte dirigierte auch Leonard Bernstein bei seiner einzigen Begegnung 1979 mit den Berliner Philharmonikern.

Herbert von Karajan fand erst spät und nur begrenzt zu Mahler. Ihm lagen vor allem die Fünfte, Sechste und Neunte Symphonie sowie das „Lied von der Erde“. Karajan feilte, wie so oft, wieder und wieder an den Interpretationen. So entstanden exemplarischen Einspielungen der Fünften, Sechsten und vor allem der Neunten Symphonie. Mit seinem Nachfolger Claudio Abbado, kam ein Dirigent zu den Philharmonikern, dessen Karriere und Erfolg mit Mahlers Musik verbunden war. Abbado dirigierte in seinem Berliner Antrittskonzert kurz nach der Wahl zum Chefdirigenten eine aufregende und mittreissende Erste Symphonie. Mahler-Symphonien zählten zum festen Repertoire seiner Konzerte in Berlin und auf zahlreichen Reisen. Seine Aufnahme der Neunten Symphonie ist ein kongeniales Vermächtnis Abbados.

Kyril Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Simon Rattle, der im November 1987 mit Mahlers Sechster sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern hatte, brachte in seiner Amtszeit als Chefdirigent sämtliche Symphonien Mahlers zur Aufführung, dabei hat er immer wieder neu über die Interpretationen nachgedacht. – Kirill Petrenko, Rattles Nachfolger, ging schon vor seinem Amtsantritt der Ruf eines interessanten Mahler-Dirigenten voraus. Mit einer Aufführung der Dritten Symphonie hatte er bereits Aufsehen in München erregt. In Berlin dirigierte er (einstweilen) die Sechste Symphonie und (in Zeiten der Corona-Pandemie passend) die Vierte in einer Kammermusikfassung in der Philharmonie – mit großem Erfolg.

Die Mahler-Tradition der Berliner Philharmoniker ist lebendig und kann jeden Vergleich mit derjenigen der Wiener Philharmoniker oder des Concertgebouw Orchesters bestehen. Die Mahler-Edition legt Zeugnis von der Vertrautheit des Orchesters mit Mahlers Oeuvre ab. Gleichwohl ist sie eher eine Momentaufnahme denn ein großer, gar ultimativer Wurf. Wenn man nun nur die neueren, zwischen 2011 und 2020 entstandenen Interpretationen präsentiert, so ist zu fragen: Repräsentieren diese Aufnahmen den Stand der Mahler-Interpretationen der Berliner Philharmoniker? Da drängen sich immer wieder auch Vergleiche mit früheren Aufnahmen auf.

Claudio Abbado dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Deutlich wird zunächst, dass es einige ernstzunehmende noch jüngere Mahler-Dirigenten gibt. Kirill Petrenko, Yannick Nézet-Seguin, Daniel Harding, Andris Nelsons und Gustavo Dudamel, zwischen 1972 und 1981 geboren, sind mit sechs Symphonien vertreten. Ihnen stehen der Mittsechziger Simon Rattle mit zwei Symphonien und die „Altmeister“ Bernard Haitink (Jahrgang 1929) und Claudio Abbado (1933-2014) mit jeweils einer Symphonie gegenüber.

Daniel Harding liefert eine insgesamt nur ordentliche Erste Symphonie ab. Im ersten Satz fehlt es an der geheimnisvollen Stimmung, an Naturlaut-Idylle, an Charme und überhaupt an Überraschungen. Seine Interpretation bleibt insgesamt nüchtern und unter- statt überzeichnend. Im Finale lässt Harding das Orchester nicht mit der von Mahler geforderten „großen Wildheit“ auftrumpfen, dem Scherzo fehlt das Wienerische, die „Lindenbaum“-Episode geht nicht ans Herz.

Andris Nelsons überrascht angenehm mit einer fast restlos überzeugenden, klar disponierten, immer spannenden Inszenierung der Zweiten Symphonie. Er lässt nicht seiner manchmal zu beobachtenden Neigung zum Überhitzen von großorchestralen Partituren freien Lauf, lässt viele Nuancen und Stimmungen herausarbeiten. Gemessen der Kopfsatz, mit sehr langsamen Schlußtakten; das Andante moderato fließend, das Scherzo nicht knallig, aber sehr markant; zart das „Urlicht“, der Schlußsatz mit seinen gewaltigen Steigerungen voller Spannung, Kontraste, ohne pathetisch zu enden. Und wie deutlich sind die Haupt- und Nebenstimmen zu hören, wie stark wirken Nelsons rubati!

Gustavo Dudamel dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Gustavo Dudamel hat längst das Image des „Hitzkopfs“ überwunden. Seine Interpretation der Dritten Symphonie liess schon im Konzert aufhorchen; sie hat nichts an Wirkung verloren. Schon im gewaltigen Kopfsatz mit dem Nebeneinander von lyrischen und Marschcharakteren wird das ganze Panorama, ein eigener musikalischer Kosmos entfaltet. Das geschieht in einem einzigen großen Bogen, ohne nachlassende Spannung Die Philharmoniker musizieren vom „entschieden“ des Hauptthemas am Beginn bis zum ausschwingenden Schluss perfekt, brillant, klangsatt, subtil, kein Detail wird ausgelassen.

Mit der Fünften Symphonie hat Dudamel eine weniger glückliche Hand, hier erreicht er nicht die Tiefe, Intensität, klangliche Auslotung und Empfindung wie bei der Dritten. Die Inszenierung istvirtuos, spannend, führt die hervorragenden Musiker:innen des Orchesters im Ensemble und in Soli vor. Es gibt viele eindrucksvolle Stellen, die sich indes nicht zu einem kohärenten Ganzen fügen. Beispielhaft zu beobachten am zweiten Satz: Hier ist wenig vom Grimm, von der Zerrissenheit, von der Wehmut, die in dem Satz stecken, zu vernehmen (man höre nur einmal zum Vergleich John Barbirollis Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra oder die Berliner Philharmoniker mit den Dirigenten Jascha Horenstein, Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Simon Rattle).

Yannick Nézet-Seguin rückt die Vierte Symphonie ins rechte Licht, gibt ihr den klassischen Charakter, den sie am stärksten unter den Mahlerschen Symphonien hat. Das Orchester spielt subtil, abwechslungsreich in Tempi und Dynamik, die Partitur wird sehr gründlich strukturell durchleuchtet; manche Passage hört man neu. Manchmal wirkt die Detailarbeit aber auch leicht maniriert. Im Finale allerdings ist man, auch mit dem nicht optimal besetzten Vokalsolo von Christiane Karg weit vom „behaglich“ der „himmlischen Freuden“ entfernt.

Gustav Mahler Foto: Sammlung Manskopf

Die neueste Aufnahme der Edition ist der Mahler-Einstand des neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko. Er tritt gegen markante Vorgänger – Barbirolli, Karajan, Abbado und Rattle an – auf seine Weise. Zunächst setzt Petrenko in der Sechsten Symphonie auf zügige Tempi, im Kopfsatz, im Scherzo, im Finale, sogar auch im Andante. Das wirkt drängend, manchmal aber auch hastig. Die große Spannung, der große Kontrast zwischen dem typischen Drängen und Innehalten, zwischen Überwältigung und Nachdenken und auch pianissimo und fortissimo fehlen dabei zum Teil noch. Manchmal scheint die Dynamik weniger subtil als in der Partitur notiert. Wie schon Abbado, Rattle und Barbirolli entschied sich Petrenko für die Satzfolge, bei der das Andante an zweiter und das Scherzo an dritter Stelle steht. Dafür gibt es gute Gründe, die teils von Mahler selbst, teils von den Mahler-Forschern und –Herausgebern angeführt werden. Dennoch kann (sollte?!) man dieser Reihung die „alte“ entgegensetzen. Bernard Haitink hat in einem Interview seinerzeit starke Argumente dafür ins Feld geführt: Das Scherzo solle unmittelbar auf den ersten Satz folgen: „Kurz vor dem Finale braucht man eine Pause. Wenn Sie das Scherzo dorthin setzen, werden sich diese beiden Sätze gegenseitig umbringen. Aber wenn Sie das Scherzo direkt nach dem Eröffnungssatz setzen, schaffen Sie einen Atem für das Finale.“ Zum Glück kann man sich zuhause die passende Reihenfolge mit wenigen Handgriffen einstellen.

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Simon Rattle dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

imon Rattle hat über die Jahre an seiner Lesart der Siebten Symphonie gefeilt und im Konzert seinen (vorläufigen, endgültigen?) Stand dokumentiert. Die Interpretation überzeugt jedoch nur zum Teil. Sie hat eine gewisse Glätte, es wird zu wenig hinterfragt, es fehlt an Leidenschaft. Das Scherzo könnte abgründiger sein. Andererseits kommt die Zweite Nachtmusik dem Charakter des „amoroso“ sehr nahe. Das Finale ist teils furios, drängend, aber nie wie zu oft brutal oder vulgär.

Die Achte Symphonie führten die Berliner Philharmoniker in 45 Jahren immerhin fünf Mal auf: 1975 mit Seiji Ozawa, 1982 mit Moshe Atzmon, 1994 mit Claudio Abbado, 1999 mit Bernard Haitink und 2011 mit Simon Rattle. Der Mitschnitt des Konzertes 2011 zeigt eine große Annäherung an das Werk, das in seiner teils irrwitzigen Komplexität vermutlich gar nicht optimal aufführbar ist. Schwierig ist es dazu aufgrund seines Charakters als Zwitter zwischen Chorsymphonie und Oratorium und das Gegenüber von zwei nicht recht zusammen passenden Teilen – dem christlichen Pfingsthymnus „Veni creator spiritus“ und dem Schlußteil von Goethes „Faust“. Die enorme Leistung aller Beteiligten ist von einer exzellenten Aufnahmetechnik eingefangen worden. Rattle zügelt sein Temperament, er balanciert geschickt zwischen den schier überwältigenden klangrauschenden und den subtileren Passagen. Die vielen Feinheiten der Partitur werden nicht unterschlagen. Neben den glänzend disponierten Philharmonikern geben die solistischen und chorischen vokalen Kräfte ihr Bestes. Bei aller Anerkennung für diese Leistung bleibt freilich Skepsis. Mahlers Achte ist, wenn überhaupt, nur im Konzertsaal einigermaßen adäquat zu hören (und zu genießen). Sie überfordert jede häusliche Musikanlage.

Bernard Haitink zieht mit seiner Lesart der Neunten Symphonie die Summe seiner langjährigen Erfahrungen mit Mahlers Symphonik, eines langen Dirigentenlebens und natürlich der Zusammenarbeit und Vertrautheit mit dem Orchester. Man spürt, wie die Berliner Philharmoniker ihn auf sehr suggestive Weise unterstützen ihm viel zurückgeben. Es ist, aufs Ganze gesehen, ein „Abgesang“ der starken Art – ohne Ermatten oder Schwäche, hoch konzentriert, mit elegischen, vielleicht melancholischen, aber nie sentimentalen Zügen. Beim Hören dieser Aufnahme meint man noch die Ergriffenheit des Publikums im und nach dem Konzert zu spüren. Es war eine Sternstunde.

Bernard Haitink dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Buchbeilage zur Mahler-Edition

Dass der große Mahler-Interpret Claudio Abbado hier ausgerechnet (nur) mit Mahlers Zehnter Symphonie d. h. mit deren Kopfsatz, Adagio, Berücksichtigung findet, mutet merkwürdig, ja befremdend an. Das Ergebnis ist allerdings eine Glanzleistung an Spannung, Versenkung, Intensität. – Die Präsentation der Symphonie Nr. 10 bleibt aus anderen Gründen halbherzig. Natürlich gibt es eine nicht enden wollende Diskussion darüber, wie fragmentarisch oder fertig diese Symphonie ist. Puristen wie Claudio Abbado, Pierre Boulez, Bernard Haitink stehen „Entdecker“ wie Simon Rattle, Riccardo Chailly, Berthold Goldschmidt und Kurt Sanderling stehen sich gegenüber. Revolutionär, und für manche direkt frevlerisch, war das Unternehmen des englischen Musikforschers Deryck Cooke, aus der von Mahler hinterlassenen Partitur, dem Particell oder den Skizzen einzelner Sätze eine „Aufführungsfassung“ zu erstellen. Wer sich über die Seriosität und Ernsthaftigkeit dieser Arbeit informieren will, der höre nur einmal Cookes „illustrated BBC talk“ aus dem Jahr 1960 sowie zwei von Berthold Goldschmidt dirigierte Aufführungen der Zehnten aus den Jahren 1960 und 1964 an (Testament, 3 CD, SBT3 1457)! Auch nach Cooke gab es weitere Versuche, diese fragmentarische Symphonie in eine Aufführungsform zu bringen: genannt seien nur die Fassungen von Clinton Carpenter, Remo Mazzetti oder Rudolf Barschai – allesamt diskussionswürdige und gewichtige Versionen. Wenn die Berliner Philharmoniker sämtliche Symphonien Mahlers im Jahre 2020 herausgeben, dann hätten sie neben dem Adagio doch die komplette Symphonie wenigstens „zur Diskussion stellen“ sollen. Immerhin plädierte ihr Ex-Chef Rattle immer wieder für die Zehnte, wobei er nicht bei einem einmal gefundenen Resultat stehen blieb. Selbst wenn Zweifel bleiben, ist die Cooke-Fassung allemal hörenswert.

Die Mahler-Edition der Berliner Philharmonikka/Buchbeilage

Zu fragen ist am Ende, warum in dieser glänzend aufgemachten Edition – Fertigung, Begleitbuch, Illustration sind wie immer von höchster Qualität, die Aufnahmtechnik ist größtenteils sehr gut – „Das Lied von Erde“ fehlt, immerhin doch ein symphonischer Liederzyklus, ein Werk zwischen Liedzyklus und Symphonie (Mahler-Edition der Berliner Philharmoniker, 10 CDs, 8 Dirigenten, 10 Jahre, hier klicken)Peter Heissler

 

P.S. Meine persönliche Bestenliste der Aufnahmen Mahlerscher Symphonien mit den Berliner Philharmonikern (Mitschnitte, die zum Teil später veröffentlicht wurden, und Studioproduktionen): Symphonie Nr. 1 – Claudio Abbado (1989, DG) Mariss Jansons (2007, RBB-Mitschnitt); Symphonie Nr. 2 – John Barbirolli (1965, Testament), Simon Rattle (2010, EMI);; Symphonie Nr. 3 – John Barbirolli (1969, Testament), Bernard Haitink (1990, Philips), Claudio Abbado (1999, DG);; Symphonie Nr. 4 – Simon Rattle (Sopransolo Christine Schäfer, 1998, RBB – Mitschnitt);; Symphonie Nr. 5 – Claudio Abbado (1993, DG);; Symphonie Nr. 6 – John Barbirolli (1966, Testament), Claudio Abbado (2004, DG), Simon Rattle (1987 und 2018, Berliner Philharmoniker Recordings);; Symphonie Nr. 7 – Claudio Abbado (2002, DG), Michael Gielen (1994, Testament);; Symphonie Nr. 8 – Claudio Abbado (1994, DG), Simon Rattle (2011, BPHR);; Symphonie Nr. 9 – John Barbirolli (1964, EMI), Claudio Abbado (1999, DG);; Symphonie Nr. 10 : Adagio – Claudio Abbado (2011), fünfsätzige Aufführungsfassung – Simon Rattle (1999, EMI). P. H.

„Echt japanisch“

 

Wer möchte schon eine Oper sehen, in der eine naive Kindfrau entführt, als Ausstellungstück für ein Bordell missbraucht, vom eigenen Vater verflucht wird, sich in die Gosse stürzt und hier elendiglich verendet?! Den Erfolg eines solchen Librettos bezweifelten wohl auch Luigi Illica und Piero Mascagni,  und so stellten sie an Anfang und Schluss ihrer Oper Iris einen mit seiner Klangfülle überwältigenden Inno del Sole, der der Elendsgeschichte einen beinahe versöhnlichen Rahmen verleiht, wenn die Nicht-Heldin einzugehen scheint in eine Welt der duftenden Blumen und wärmenden Sonnenstrahlen. Dem Publikum von heute ist wohl noch weniger Misere  zuzumuten, so dass die Regie sich in der Geburtsstadt des Komponisten Livorno  entschloss, Iris, der eigentlich Lumpensammler auch noch die kostbaren Kleider vom sterbenden Leib hätten reißen müssen, in Glanz und Gloria und unversehrt  in vollem Luxus-Geisha-Ornat in eine sonnige Zukunft schreiten zu lassen, umgeben von einem Teil des Chors, jungen Mädchen, die zuvor leblos auf der Bühne gelegen hatten. Das Bordell scheint offensichtlich generell kranke und sterbende Prostituierte in der Gosse zu entsorgen, die zum Totenlager der Iris wird.

In japanische Hände hatte man die Optik der Produktion gelegt, und Regisseur  Hiroki Ihara hatte offensichtlich das Hauptaugenmerk auf die tadellose Beherrschung der Trippelschritte gelegt, die der Europäer für das Kennzeichen asiatischer Frauen hält, die angemessen wohl für das Personal des Bordells, weniger für die arbeitsamen Wäscherinnen schienen. Auch windradartiges Armeschwenken für die Erscheinung des Blinden im letzten Akt und anderer Figuren  sind kein besonders guter Einfall. Für die Szene war 2017 Sumiko Masuda verantwortlich, sorgte für phantastische Hintergrundprospekte, so im 2. Akt für riesige Irisblüten oder bedrohliche Krakenarme. Der spärliche Blütenregen zum Schluss wäre allerdings besser unterblieben. Prachtvoll sind die Kostüme von Tamao Asuka für die Geishas und besonders natürlich für die Protagonistin.

Mit Paoletta Marrocu hatte man eigentlich einen guten Namen für die Titelpartie verpflichtet, für die sie zunächst einen kindlichen Ton hat, deren Sopran in der mezza voce angenehm klingt und die mit reicher Agogik singt. Anrührend wirkt ein zartes „di lacrime ho gli occhi pieni“.  Wird es dramatischer, kann die Stimme auch unangenehm schrill werden. Paolo Antognetti kann sich zu Recht seiner voce acuta rühmen, aber damit ist schon alles Positive über seinen Tenor gesagt, der eher zu einem Goro oder einer  ähnlichen den Charaktertenor erfordernden Partie, nicht aber zum Osaka passt.  Wie der Prototyp eines Stehtenors bleibt er unbeweglich, singt scharf und durchdringend, aber auch die berühmte Serenade ohne tenoralen Schmelz. Einen strapazierfähigen Bariton setzt Carmine Monaco d’Ambrosia für den Bordellbesitzer Kyoto ein und zeigt auch darstellerisches Engagement. Rollendeckend ist Il Cieco mit dem Bass Manrico Signorini besetzt. Eine hübsche, zarte Sopranstimme hat Alessandra Rossi für die Dhia. Recht verhangen klingt der Tenor von Didier Pieri für den Cenciaiuolo. Eher durch Masse als durch Klasse können die vereinigten Chöre Coro Ars Lyrica plus ein nicht näher bezeichneter Chor unter Marco Bargagna überzeugen, das Orchestra Filarmonica Pucciniana unter Daniele Agiman zaubert feine Stimmungsbilder, so mit dem verhaltenen Vorspiel zum dritten Akt (Bongiovanni AB 20039). Ingrid Wanja    

Jevgenij Nesterenko

 

Nach kurzer, schwerer Krankheit ist der russische Bassist Jewgenij Nesterenko, den viele Kritiker als einen neuen Schaljapin feierten, am 20. März im Alter von 83 Jahren in seiner Wahlheimat Wien gestorben.

Am 8. Januar 1938 in Moskau geboren, absolvierte Nesterenko ein Ingenieur-Studium (Schiffbau) in Leningrad und erhielt daneben Gesangsunterricht bei Vasily Lukanin am dortigen Konservatorium. Noch während der Ausbildung debütierte er 1963 am Malij-Theater als Gremin und war in den folgenden Jahren Ensemble-Mitglied des Kirov-Theaters. 1970 gewann er den 1. Preis im Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb und wurde daraufhin ans Bolschoj-Theater berufen, dem er für mehr als drei Jahrzehnte als aktiver Sänger angehörte. Durch Gesamtgastspiele dieses Hauses wurde er auch im Westen bekannt. An der Wiener Staatsoper, an der er 1975 als Filippo II seinen Einstand gab, fand er ein zweites Stammhaus. Bis 1993 sang er hier 56 Vorstellungen mit überwiegend italienischem Repertoire und wurde danach zum Kammersänger ernannt. Durch die Fernsehübertragung des fünfaktigen (italienisch gesungenen) „Don Carlo“ aus der Mailänder Scala (Januar 1978 unter Claudio Abbado) wurde er auch international bekannt und gehörte in den 80er Jahren zu den  Spitzenstars in seinem Stimmfach. Er trat in der Arena von Verona und auf anderen italienischen Bühnen auf wie am Teatre Liceu in Barcelona und an der Covent Garden Opera in London. Bei den Bregenzer Festspielen 1986 war er Enrico in „Anna Bolena“.

Nesterenko unterhielt gute Beziehungen zum Sowjet-Regime, das ihn mit mehreren Orden auszeichnete. Das tat seiner Beliebtheit beim westeuropäischen Publikum aber, selbst in Zeiten des Kalten Krieges, keinen Abbruch. An den großen deutschen Bühnen war er ein regelmäßiger und gern gesehener Gast. An der Bayerischen Staatsoper erlebte man ihn neben anderen auch in deutschen Partien wie Sarastro und Daland, an der Hamburgischen Staatsoper sang er neben Gremin italienische Partien wie Filippo, Fiesco, Basilio und Don Pasquale. Daneben war er als Konzertsänger sehr aktiv, brachte Schostakowitschs Michelangelo-Suite op. 145 in beiden Fassungen (mit Klavier und mit Orchester) zur Uraufführung (1974) und war ein gefragter Gesangsprofessor, erst am Moskauer, später auch am Wiener Konservatorium. Über seine pädagogische Arbeit hat er zwei Bücher geschrieben.

Sein diskographischer Nachlaß, darunter etwa 20 komplette Opernaufnahmen (die Live-Mitschnitte noch nicht mitgerechnet), ist stattlich und dokumentiert die wichtigsten seiner etwa 50 Bühnenpartien. Neben dem Boris waren dies vor allem Khan Kontchak („Fürst Igor“), Gremin, Kotschubej („Mazeppa“), Ivan Susanin („Das Leben für den Zaren“), Dosifey („Chowanschtchina“) und Rachmaninows „Aleko“. Die meisten russischen Aufnahmen aus dem Bolschoj-Theater erschienen auch auf dem deutschen Markt und machten das hiesige Publikum mit vorher nicht beachteten Werken wie Glinkas „Ruslan und Ludmilla“ und Rimsky-Korsakovs „Die Zarenbraut“ bekannt. Nesterenkos internationale Stellung dokumentieren Gesamteinspielungen von „Nabucco“ (unter Giuseppe Sinopoli, DG) und „Faust“ (unter Colin Davis, Decca). Beim Bayerischen Rundfunk zeigte er sich in kompletten Aufnahmen von Donizettis „L’elisir d’amore“ und „Don Pasquale“ an der Seite von Lucia Popp von seiner humoristischen Seite (Eurodisc).

Meine Eindrücke von seinen Aufnahmen sind gemischt. In seinen Glanzrollen als Boris Godunow und Filippo II, die in kompletten Videos dokumentiert sind, brillierte er mehr durch üppigen Klang als durch psychologische Innensicht. Auch in Verdi-Partien wie Attila, Zaccaria und Fiesco tritt voluminöses Auftrumpfen an die Stelle geschmeidiger Kantilene. In den Mephisto-Rollen von Gounod und Boito (davon findet sich ein kompletter Konzert-Mitschnitt aus Moskau von 1983 im Netz) fehlt es seinem Vortrag an Hintergründigkeit. Da würde ich Boris Christoff und Nicolai Ghiaurov in beiden Fällen den Vorzug geben. Dagegen ist der Khan Kontchak, mit dessen Arie Nesterenko schon beim Wettbewerb 1970 „abräumen“ konnte, in seiner Interpretation ein Kabinettstück: Mit zahlreichen mimischen und textlich-musikalischen Nuancen bringt er die Verschlagenheit des Charakters auf den Punkt. Und dass er weit mehr als ein stolzer Stimmbesitzer sein konnte, erkennt man auch bei einigen seiner Lied-Recitals, die ihn als subtilen Gestalter ausweisen und von denen mich ein Konzert mit dem Pianisten Vladimir Krainev (Moskau 1986) besonders beeindruckt (Foto Moskau News). Ekkehard Pluta