Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Messagers „Passionement“

.

Die Normandie während der Années folles. Romantische Begegnungen, Identitätswechsel und unerwartete komische Wendungen: André Messager verortet sich in Passionnément an der Schnittstelle von Café-Konzert, amerikanischer Popmusik und französischer Operette. Die Musik  wird von Véronique Gens, Étienne Dupuis, Nicole Car und weiteren enthusiastischen Solisten, begleitet vom Münchner Rundfunkorchesters unter Stefan Blunier, mit großem Esprit dargeboten. So witzig wie Messagers Musik, bietet das Libretto mit seinem Flair des Boulevardtheaters ein echtes Manifest des französischen Geistes in den 1920er Jahren. Dazu ein Artikel vom Operettenfachmann Kurt Gänzl mit Dank.

.

1925 erklärte sich Messager bereit, Passionnément zu vertonen, ein dreiaktiges Libretto von Hervé Hennequin mit einem Text von Albert Willemetz, der das Projekt initiierte. Bei seiner Premiere am 15. Januar 1926 im Théâtre de la Michodière war das Werk ein triumphaler Erfolg, und das Walzerlied im zweiten Akt, das ihm seinen Titel verlieh, fand sofort Anklang. Hier wird Messagers unwiderstehlicher melodischer Charme in einer Moral- und Charakterstudie exerziert, in der Auftreten und Vorurteile entlarvt werden. Der amerikanische Millionär William Stevenson, ein Abstinenzler, erliegt schließlich den Freuden des Champagners und verwandelt sich von einem Schwindler in einen Mann der Freundlichkeit und Rücksichtnahme. Er gibt den Versuch auf, den jungen Franzosen Robert Perceval zu betrügen, und lässt sich scheiden, nachdem er herausgefunden hat, dass dieser und seine eigene Frau Ketty (ein ehemaliger Star des Varieté) verliebt sind, und lässt sich scheiden, damit sie heiraten können. Er selbst setzt seine Lebensreise mit Kettys jungem kanadischen Dienstmädchen Julia fort, die davon träumt, ein angenehmes bürgerliches Leben zu führen. Die Rolle von Hélène (Roberts eifersüchtige Geliebte) trägt zusätzlich zur starken weiblichen Präsenz in einer Handlung voller Vitalität bei, in der die Lieder vor allem introspektive Momente sind. Henry Malherbe behauptete in Le Temps, dass Messager „in einer verzauberten Welt zu leben scheint, aus der Traurigkeit und Müdigkeit verbannt werden“; aber in Kettys „Ah! pourquoi les bons Momente passent-ils si vite“ und dem Trio „Dès que l’âge“ drücke das Werk auch Nostalgie und Bedauern über den raschen Lauf der Zeit aus.

André Messager (1853-1929)/ Wiki

Eines der erfolgreichsten Werke von Messager aus seiner Spätzeit, die comédie musicale Passionnément, wurde zu einem zeitgenössischen Libretto komponiert, an dem der eigentliche Erfinder der Musical-Komödie des Jazz-Zeitalters, Albert Willemetz, zur Hälfte Anteil hatte. Es erzählt, wie der machiavellistische amerikanische Millionär William Stevenson (René Koval) seinen Weg über den Atlantik findet, um den entschlossenen jungen Spieler Robert Perceval (Géo Bury) zu finden, um ihn davon zu überzeugen, von einem Land zu profitieren, das er in Colorado geerbt hat. Stevenson weiß, dass das Land voller Öl ist. Er bringt seine hübsche junge Frau Ketty (Jeanne Saint-Bonnet), eine ehemalige Schauspielerin, mit, besteht aber, misstrauisch gegenüber dem Ruf französischer Männer, darauf, dass sie sich mit einer dunklen Brille und einer grauen Perücke verkleidet. Sein Misstrauen ist angebracht, denn als Perceval Ketty ohne ihre Verkleidung ausspioniert, verliebt er sich in sie. Sie behält die Doppelrolle der betagten Ehefrau und ihrer eigenen jungen Nichte bei, bis sie ihrerseits umschwenkt und den jungen Mann vor den Absichten ihres Mannes warnt. Auf diese Weise erhält Perceval in bester Tradition sowohl das Geld als auch das Mädchen. Renée Duler war Hélène Le Barrois, Percevals ausgemusterte (zwischen Akt I und II) Geliebte, während Denise Gray als Julia, Kettys sexbesessenes Dienstmädchen, den Abend mit dem Kapitän der Yacht (Lucien Baroux) verbrachte, bevor sie mit dem letztendlichen Ex ihrer Arbeitgeberin endgültig zufrieden ist. Hélènes Ehemann (der sie zurückbekommt, einen Verzicht und drei Soli später) und zwei Diener vervollständigen die Besetzung.

Messagers 21-teilige Partitur wurde gekrönt von Solo-Nummern für Perceval (der Titelwalzer „Passionnement“), Hélène (das Versöhnungsrondeau „N’imaginez pas“, mit dem sie zu etwas wie verheirateter Glückseligkeit zurückkehrt), Julia (drei, einschließlich des komischen Gebets für einen Mann „Vous avez comblé ma patronne“) und Ketty, die in „Ah! pourquoi les bons moments“ wissen will, warum der Gipfel des Genusses so kurz sein muss.

Stevenson hatte ein komisches Stück, das den Erfolg in Amerika „le régime sec“ (Abstinenz) zuschreibt, aber nachdem er „le bon vin français“ und eine neue Persönlichkeit zwischen dem zweiten und dritten Akt entdeckte, hatte er ein viel amouröseres Solo für den letzten Akt.

Duette, Trios und Ensembles spielten ihre Rolle in einer modernen Partitur, die dem 73-jährigen Komponisten hervorragende Kritiken und einen großen Erfolg einbrachte. Die Originalproduktion der Show, die von Quinson eingefädelt und von Edmond Roze inszeniert wurde – dem erfahrensten Regisseur, den die Stadt zu bieten hatte –, war ein großer Erfolg.

Nach seiner ersten Pariser Saison ging es auf Tour, wobei Bury seine ursprüngliche Rolle spielte, und 1932 konnte man es in Paris im Trianon-Lyrique wiedersehen. In der Zwischenzeit hatte es einen kleinen Ausflug ins Ausland gemacht. In Ungarn, das der französischen Musikkomödie der 1920er Jahre gegenüber den größten Enthusiasmus zeigte, war Jenö Molnárs Version von Nászéhszaka (Hochzeitsnacht) ein großer Erfolg im Belvárosi Színház mit mehr als 100 Aufführungen in der ersten Produktion.

Eine andere Version, A legszebb éjszaká (die schönste Nacht), die neue Musik von Béla Csanak und eine von Andor Pünkösti überarbeitete Textfassung besaß, wurde 1943 im Márkus Park Színház gespielt. Das Stück reiste sonst wenig, obwohl es kurz in New York gesehen wurde, als es von einer französischen Repertoirekompanie gespielt wurde, in der Sonia Alny und Georges Foix vertreten waren. Ein Film von René Guissart mit Fernand Graavey als Hauptdarsteller und Koval, der seine Bühnenrolle wiederholte, wurde 1932 produziert, und Passionnement hat bis heute regelmäßig regionale Aufführungen in Frankreich. Kurt Gänzl

Wie der Titel schon ahnen lässt, handelt Messagers Operette von einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte, die nach einigen Irrungen und Wirrungen zu einem Happy End kommt: William Stevenson, ein skrupelloser Geschäftsmann und Abstinenzler, bessert sich schließlich – geläutert durch die Liebe – von einem Betrüger zu einem freundlichen Mann, entdeckt die Freuden des französischen Weins und der wahren Liebe. Die amüsante Handlung wird getragen von schwungvollen Melodien im Stil der Goldenen Zwanziger. Daneben finden sich aber auch anrührende nostalgische Momente, wenn Stevensons zukünftige Ex-Frau Ketty in „Ah! Pourquoi les bons moments passent-ils si vite den raschen Lauf der Zeit beklagt.

Es ist erfrischend, wieder die bewährten „Hauskräfte“ des Palazetto zu erleben, die den in dieser Serie Auftretenden Gesicht verleihen und die den nötigen SAtil des Vortrags garantieren. In der Rolle der Ketty ist die französische Sopranistin Véronique Gens zu erleben, die u.a. 2016 beim Münchner Rundfunkorchester zu Gast war und Saint-Saëns‘ Opernheldin Proserpine und die mancher anderer mit ihrer facettenreichen Stimme bei den Palazzetto-Einspielungen zum Leben erweckt hat. Ihr zur Seite steht der französische Bariton Etienne Dupuis als Robert Perceval. Für die Partie der kanadischen Magd Julia, Stevensons künftiger Frau, konnte die australische Sopranistin Nicole Car gewonnen werden. Kurt Gänzl

 

.

.Passionnément – Musikalische Komödie in drei Akten (konzertant) von André Messager. Mitwirkende Véronique Gens, Nicole Car, Chantal Santon Jeffery, Etienne Dupuis, Éric Huchet, Armando Noguera, Katja Schild/ Münchner Rundfunkorchester, Stefan Blunier/1 CD mit englisch-französischen Artikeln u,nd Libretto in bewährter Buchform/ Palazetto Bru Zane/ Note 1.

.

Dank an Kurt Gänzl, dem bedeutenden Fachmann für Operette und historische Sänger, aus dessen Artikel wir Teile zitierten (https://kurtofgerolstein.blogspot.com/), ebenso an den Palazzetto Bru Zane, bei dem der Mitschnitt des Konzertes Dezember in München 2020 erschien. Übersetzung der englischen Originaltexte war wieder Daniel Hauser, Redaktion G. H

.

Die Liste der Beiträge in dieser Serie finden sie hier.

Fragwürdiger Anspruch

 

„Bescheidenheit ist eine Zier“, doch singt man besser ohne ihr? Mit einigem Anspruch an die Sängerin scheint ein Recitaltitel wie „Assoluta“ verbunden zu sein, den man vielleicht einer Callas, einer Sutherland oder Caballé zubilligen wird, weniger einer Mezzosopranistin, nämlich Béatrice Uria-Monzon,  die als Carmen & Co. einen guten Ruf, aber nur wenige Jahre Sopranerfahrung hat und nun an Ohrwürmern von der „Umile ancella“ über „Vissi d’arte“ bis zum „Suicidio“, ja zur „Casta Diva“ alles, was den Assolute zusteht, aufgenommen hat, nur „Un bel di“ und die Wahnsinnsszene der Lucia fehlen noch. Zwar teilt uns das Booklet mit, dass den Titel Primadonna assoluta in der Geschichte der Oper die Sängerin der wichtigsten Partie tragen durfte, heute aber verbindet man damit einen weit höheren Anspruch, dem die vorliegende CD nicht gerecht werden kann.

Es beginnt mit der Adriana, deren erste Töne, dunkel und recht verrucht klingend, an die unselige Fürstin von Bouillon aus der Cilea-Oper denken lassen, die sich pathetisch wie jene vokal aufführt, die zwar die Attitüde einer Assoluta, aber keine Sopranstimme hat, denn in der Höhe verliert die in der Mittellage reiche Stimme an Qualität. Auch Tosca profitiert zwar in der Mittellage von der Mezzovergangenheit der Sängerin, die Stimme nimmt allerdings streckenweise einen weinerlichen Klang an und leidet im Acuto an Qualitätsverlust, kann nicht aufblühen, wie es sich für einen Sopran gehört. Santuzza schlägt sich da wesentlich besser, wenn auch mit mauscheliger Diktion, die Tessitura der Partie passt, der düstere Charakter wird hörbar, erst am Schluss mit einem schwachen „io piango“ lässt die Spannung nach. Auch für die Maddalena aus Andrea Chénier lässt sich feststellen, dass die Uria-Monzon punkten kann, wo Soprane oft Schwächen zeigen, die mezza voce ist farbig, wenn die Mittellage nicht verlassen wird, ansonsten klingt die Stimm zu flach. Die Schlussszene von Manon Lescaut ist eines der schwächsten Stücke auf der CD, die Stimme scheint einfach nicht jung genug zu sein, klingt wie unter einem Tuch hervor, gedämpft, dumpf und „Non voglio morir“ einfach zu dünn. Letzteres trifft auch für die Gioconda zu, die Interallsprünge nach oben wirken gefährdet, einen Lichtblick stell das schöne Piano in der Höhe der Suor-Angelica-Arie dar, einen Tiefpunkt die „Casta Diva“ mit schriller Höhe und insgesamt trübe klingend. Im abschließenden „Pace, pace“ stört einmal mehr, dass die Sängerin mit zwei Stimmen zu singen scheint, deren oberer Teil ältlich klingt und die mit Maledizione kaum jemanden beeindrucken kann.

Einen Sonderfall stellt die Lady Macbeth dar, über deren Stimmqualitäten nach Verdi sich nicht noch einmal geäußert werden soll.  Mit übertrieben hexenhafter  Stimme verliest diese Lady den Brief des Gatten, in der folgenden Arie wie der Wahnsinnsszene drängt sich wieder der Eindruck auf, dass hier eine Mezzostimme, die ihre spezifischen Farben nicht bis in die Höhe tragen kann, am Werk ist.

Das in diesem Repertoire erfahrene Orchestra della Fondazione Teatro Lirico Giuseppe Verdi di Trieste unter Fabrizio Maria Carminati begleitet zuverlässig (Aparté music 221). Ingrid Wanja    

Tosti ohne Ende

 

Wer kennt nicht Ideale, Marechiare, A Vucchella oder Malia und kann sich, gesungen von Giuseppe Di Stefano oder José Carreras oder einer anderen schönen Tenorstimme, ihrem Zauber entziehen?! Aber wer weiß schon, dass es daneben noch weitere 350 Canzonen von eben diesem Francesco Paolo Tosti gibt, nicht weniger den Ohren schmeichelnd, wenn nur von der richtigen Stimme dargeboten? Sie alle sind auf 18 (achtzehn!) CDs veröffentlicht, jetzt allesamt in einer Kassette zugänglich und zu einem großen Teil nicht in italienischer, sondern in englischer und französischer Sprache.Song of a Life nennt sich das Unternehmen, das alle Romanzen des Komponisten für Gesang und Pianoforte in chronologischer Reihenfolge und mit unterschiedlichen Interpreten vereint und sich davon verspricht,  Tosti zum ihm gebührenden Ansehen zu verhelfen, frei von einem gönnerhaften, es handle sich bei ihm zwar um angenehme, aber zu angenehme, zu „leichte“, allzu gefällige zwar Salonmusik, aber durchaus nicht ernst zu nehmende Kunst. Salonneapolitaner in Anlehnung an den Salontiroler nannte man ihn oft abwertend, als wenn das Gefallenkönnen eins sei mit dem zu gefällig sein. Das Istituto Nazionale Tostiano di Ottona  ist verantwortlich für die Wieder- und Neuentdeckung des Komponisten, der zu Lebzeiten eine bedeutende Rolle auf europäischer Ebene spielte, denn er war nicht nur in Italien hoch angesehen undFreund aller bedeutender Komponisten seiner Zeit, sondern auch in England, wo er Musikerzieher im Königshaus war, so wie er in Rom die Prinzessin Margherita di Savoia unterrichtet hatte.

Die Lieder wurden im Rahmen einer Konzertreihe von zwanzig Sitzungen in Foligno und Ortona in den Jahren 2014 bis 2018 aufgeführt,  die Interpreten sind Teilnehmer  eines internationalen Concorso  della Romanza da Salotto, einige von ihnen haben eine bedeutende Karriere als Opernsänger gemacht. Die Aufnahmen zu den CDs fanden im Teatro Clitunno in Trevi statt.

Die beiden ersten CDs zeigen wie in er Folge auch fast alle anderen junge, frische Stimmen, einmal die des Tenors Nunzio Frazzini, in der Höhe begrenzt, aber mit schöner Mittellage, und den Sopran Romina Casucci , zart und melancholieumflort und damit sehr passen für das Repertoire. Auf CD 3 erfreut Maura Menghini mit einer dunkel getönten, geschmeidigen Stimme, während der Tenor David Sorgiu weich bis verhuscht klingt. Auf CD 4 kann Valentina Mastrangelo spröde bis frisch neue Akzente setzen, Bariton Denver Martin-Smith ist empfindsam in „Non t’amo più“, kann aber auch dröge und dumpf in den französischen Liedern sein. Prominent wird es auf CD 5 mit Monica Bacelli und Mark Milhofer, deren Stimmen sich auch im Duett vereinen, sie süß flötend und er charmant, nicht umsonst mit einer bedeutenden Karriere als Rossinisänger alle spalle. Obwohl englischer Herkunft, klingt MIlhofer wie ein italienischer Tenor, sie verkörpert mädchenhafte Anmut aufs schönste. Dies alles gilt auch für CD 6, die beide gestalten. Auf dieser CD befindet sich auch Marechiare, gesungen mit extremer Leichtigkeit, wie dahingetupft.

Der Sopran Benedetta Torre und der Bariton Eugene Villanueva gestalten CD 7, sie dunkel getönt bis weinerlich, er  leider auch bei Malia dumpf und mit verwaschener Diktion. Dieses ist eine der schwächeren CDs der Reihe. Wie eine Opernarie singt der Sopran Ridonami la calma. Ein Star ist inzwischen Desirée Rancatore, die fast ausschließlich die CD 8 gestaltet, mit schöner Melancholie in der Stimme leichter Emission, manchmal nur angenehm dahinplätschernd, aber in Dimmi fanciulla sich an Empfindsamkeit mit dem Tenor David Sotgui überbietend. Weiter geht es mit CD 9 und damit zum ersten Mal mit einer Bassstimme, der von Piotr Lempa, ungewohnt, aber von schöner Farbe und angemessen schlank geführt. Gut ergänzt er sich mit dem sanften Mezzosopran von Jurgita Adamonyté. CD 10 vereint den Sopran von Valentina Coladonato mit dem Tenor von Aldo Di Toro, er mit feinem Falsettone, ihre Stimme leicht  und biegsam. An Farbigkeit der Stimme ist der Sopran überlegen, während der Tenor in seinen Ausdrucksmöglichkeiten doch recht beschränkt bleibt.  Delphine Da Pontello ist der Sopran auf CS 11, schmal und spitz in der Höhe, aus Strana ein einfühlsames Drama machend, während Bariton Marco Severin sich zu sanfter Klage fähig zeigt. Wer in Italien Operette besuchte, kam kaum an dem Triester Dauer-.Buffopaar Daniela Mazzucato und dem Tenor Max René Cossotto vorbei. Seine Stimme klingt grell und durchdringend, in der Höhe offen und sehr hell, sie hat ein feines Soubrettenstimmchen, das Munterkeit und Eleganz verkörpert. CD 13 schließlich vereint den Sopran Marika Spadafino mit dem Tenor Alessandro Luciano, sie besticht surch delikate Geschmeidigkeit, er durch hörbare Schulung an Belcantopartien.  Es wechselnde, aber stets hilfreiche Partner am Pianoforte. Die restlichen fünf CDs wurden bereits besprochen, was unter dem Stichwort Tosti zu finden ist (Brilliant CDs 95530). Ingrid Wanja

 

Und damit nicht genug! Dem strengen Opernfreund gilt er als zu verachtender Salon-Neapolitaner, und doch kann man sich dem Zauber einer seiner Romanzen oder Canzonen, sei es „‘A Vucchella“ oder „Ideale“,  gar gesungen von einem Giuseppe Di Stefano oder José Carreras, kaum entziehen. Die Rede ist von Francesco Paolo Tosti, zu dessen hundertstem Todestag ein riesiges Projekt, nämlich die Aufzeichnung seiner sämtlichen rund 4000 Werke für Stimme und Klavier gestartet wurde. Inzwischen liegt die vierte der jeweils fünf CDs umfassenden Ausgabe vor, jede von renommierten italienischen Sängern interpretiert, wie die früheren drei meistens chronologisch geordnet und  vor allem die Jahre 1903 bis 1917 umfassend. Dabei handelt es sich nicht nur um italienische, wenn Bearbeitung von Volksliedern neben neapolitanischen solche aus den Abruzzen betreffend, sondern auch um englische und französische Texte, denn Tosti war nicht nur Musiklehrer der italienischen Königin Margherita, sondern lebte auch lange Zeit in London und erfreute sich der Gunst des dortigen Königshofes unter Königin Victoria.

Seine hier bei Brilliant versammelten italienischen Lieder dieser Epoche fußen zu einem großen Teil auf Gedichten von Gabriele d’Annunzio, ganz gewiss politisch eine fragwürdige Figur der italienischen Geschichte mit seinem Flug über Wien, dem Abenteuer von Fiume, heute Rijeka, und der Hass-Liebe gegenüber Mussolini. Dass er in Italien heute als Dichter weitgehend unumstritten ist, hat er wohl auch seinem frühen Todesdatum, 1938, zu verdanken. Jedenfalls ist sein Anwesen Vittoriale mit riesigem Grabmal am westlichen Gardasee-Ufer in Gardone ein beliebtes Ausflugsziel.

Der Zusammenklang von hocherotischen bis schwülstigen, aber oft auch erstaunlich sensiblen Texten mit der gefälligen, eingängigen Musik passt besonders gut zur Stimme des Mezzosoprans Monica Bacelli, die die letzte der fünf CDs besungen hat. Zwischen zärtlicher Mütterlichkeit und vokaler Raffinesse schwankt ihr „Ninna nanna“, ein raffinierstes Farbenspiel wird für „A Tale oft he Twilight“ eingesetzt, durch Interpretationen wie die ihren werden die Stärken der Kompositionen betont, eventuelle Schwächen eliminiert. Raffinierte Rubati kennzeichnen die Interpretation von „Tormento“, viele einander widersprechende Gefühle werden in „Non basta più“ ausgedrückt. Zarte Melancholie ist die Stärke von „Parole del ricordo mio“, deliziös verhauchend. Jedem Titel wird seine ganz eigene Farbe verliehen, dabei bleibt die Stimme jedoch immer schön gerundet. Mit dem Poemetto „La Sera“, sehr männlich, da ebenfalls von d’Annunzio stammend, macht sie die Tragödie eines durch und durch weiblichen Wesens hörbar, als wolle sie der zeitweiligen Geliebten des Dichters, der Schauspielerin Eleonora Duse, eine Stimme verleihen. Die Begleitung durch Isabella Crisante ist der Kunst der Sängerin ebenbürtig.

Die erste CD lässt uns die frische, mädchenhafte Sopranstimme von Maria Bagalà hören, die durch ihre Leichtigkeit und die, wenn angemessen, elegische Zartheit erfreut. Die Sängerin kann aber auch dramatisch ausholen, wie ihr Einsatz in „Amate!“ beweist.

Der Bariton John Viscardi erfreut den Hörer durch eine perfekte Diktion, durch eine kernig-markante Stimme, die nicht zuletzt durch ihre Unmittelbarkeit, die Fähigkeit zur Kommunikation überzeugt. Dass sie auch geschmeidig und schmeichelnd wirken kann, beweist sie mit  „Si je ne t’aimais pas“, die populäre  „Ultima Canzone“ lässt mit einem beschwörenden „Nina, rammenta“ aufhorchen. Eine raffinierte Crescendo-Fermate ist bemerkenswert im „Voi dormite Signora“. Glenn Morton ist der Pianist dieser CD.

Donata D’Annunzio Lombardi bestreitet gemeinsam mit der Pianistin Isabella Crisante die zweite CD. Sie hat eine ausgesprochene Puccini-Stimme, singt die weitgehend auf Texte von Riccardo Mazzola komponierten Canzonen agogikreich, mit raffinierten Pianissimi, aber auch altmodischen Portamenti werkgerecht, würde nicht das Verschlucken der Konsonanten den Gesamteindruck stören. Das Prätenziöse des Vortrags passt zu vielem auf der CD, weniger zum populären „A Vucchella“. „Canta la serenata“ erfreut sich eines frischeren Klangs, einiges andere leidet unter der verhuschten Tongebung.

Fast ausschließlich aus dem Jahr 1911 stammen die Stücke, die vom Mezzosopran Giuseppina Piunti und dem Tenor Riccardo Della Sciucca vorgetragen werden. Eine reife, füllige, substanzreiche Stimme wie die ihre passt sehr gut zur Musik, auch das geschmeidige, raffinierte Spiel mit den Tönen, der tragische Unterton für „Non mentire“ oder „Se tu canti“. Eine sehr empfindsame Seite zeigt die Sängerin in den „Due piccoli notturni“, am Schluss der CD hört man ein zauberhaftes Duett mit „Passing Shadow“.

Eigentlich wie ein Bariton mit guter Höhe hört sich Riccardo Della Sciucca an, der eine gut tragende, mit einem warmen Timbre ausgestattete Stimme besitzt. Er singt auch in Französisch und Englisch perfekt idiomatisch, vermag in „Luna d’Estate“ Beschwingtheit und Lebensfreude zu vermitteln und zeigt in „Baciami“ auch tenorales Strahlen, ohne dass die Dunkelheit des Timbres verloren geht.  Hier nimmt die Stimme im letzten „Baciami“ auch mal opernhafte Ausmaße an.

Fest etabliert im Operngeschäft wie Monica Bacellii st auch Cinzia Forte. Sie teilt sich mit dem Bariton  Giovanni Meoni die vierte CD, begleitet von Marco Scolastra. Die Stücke wurden zwischen  1890 und 1916 komponiert, die chronologische Anordnung also durchbrochen. Der Sopran scheint in den letzten Jahren an Fülle und Süße gewonnen zu haben, hat einen schönen Glockenton und wird manchmal, so in „More and more“, recht vibratoreich eingesetzt. Anmutig leicht klingt hingegen  „Maggio è ritornato“, eine schöne Klage  ist „Charitas!“. Deliziös schließlich wird  „While we are young“ gesungen. Im Duett  „Napoli“ überbieten die beiden Sänger einander an der Verbreitung guter Laune.

Einen urgesunden Bariton setzt Giovanni Meoni für  „O dolce meraviglia!“ ein, klingt volkstümlich, entschlossen und temperamentvoll. Die sehr gute Diktion kommt beiden Sprachen zugute, echte Empfindung lässt sich im „piangi“ von  „Perdutamente!“ vernehmen.

Wer diese CDs hört, wird sich schnell von dem Vorurteil verabschieden, dass leicht gleich leichtgewichtig, einfach schön zwangsläufig kitschig sein muss. Eine Fortsetzung des Unternehmens „The Song of a Life“ kann man sich nur wünschen (Brilliant Classics 95499). Ingrid Wanja

Berühmt ja, aber legendär?

 

Legendary Conductors nennt sich die DVD-Reihe, mit der Arthaus berühmte Dirigenten vorstellt, jeweils mit einer Darstellung ihres Werdegangs und in einem zweiten Teil mit zumindest einem Teil eines Konzerts. Im Fall von Zubin Mehta (Good thoughts, good words, good deeds)sind das die Kindertotenlieder von Gustav Mahler mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden und mit Thomas Quasthoff, dessen letztes Konzert mit klassischer Musik vor der Hinwendung zum Jazz dies war.

Die gesamten 120 Minuten lang ist man als Zuschauer berührt von der großen Menschlichkeit, die der indische Dirigent ausstrahlt und die neben seinem großen Können den Untertitel der DVD, Good Thoughts, good Words, good Deeds, glaubhaft werden lässt. Schauplätze sind natürlich das Heimatland Indien, sein Wirken in Israel, aber auch Wien oder die Berliner Philharmonie gehören zu den bevorzugten Schauplätzen. Unzählig viele Fotos und Filmausschnitte machen den Reichtum des Films aus, und auch der Humor kommt nicht zu kurz, wenn der Maestro im Frack inmitten einer großen Schar von Pinguinen posiert. Mehrfach sind Proben zum und die Aufführung vom berühmten Konzert der drei Tenöre in den Thermen des Caracalla in Rom während der Fußballweltmeisterschaft 1990 zu sehen, Filmausschnitte von einer einer Saalschlacht gleichkommenden Auseinandersetzung des israelischen Publikums über Für und Wider einer Aufführung des Vorspiels zu Tristan und Isolde. Auch ganz frühe Auftritte wie die in Gemeinschaft mit Daniel Barenboim und anderen jüdischen Musikern, eine Oberon-Ouvertüre oder das Mozartkonzert für Flöte und Harfe gewähren interessante Einblicke in das Wirken Mehtas. Fast immer wünscht man sich, die musikalischen Teile würden nicht so schnell wieder aufhören, aber das Erfüllen dieses Wunsches würde nicht der Zielsetzung des Films gerecht werden, mit dem vielseitigen Schaffen des Maestro bekannt zu machen. So gibt es schnelle Orts- und Themenwechsel, von der Bekümmernis über den israelisch-palästinensischen Konflikt und ein Konzert mit Gasmasken für das Publikum über den vergeblichen Versuch, als Friedensbote mit dem Orchester in Ägypten zu musizieren und das erste Gastspiel des Israelischen Nationalorchesters in Deutschland, dem sich nur zwei Musiker verweigerten. Eine Würdigung Wagners als Baum, dem die Früchte Mahler,Grieg, Schostakowitsch usw. zu verdanken sind, fehlt eben so wenig wie Berichte vom Rigoletto beim Maggio Fiorentino oder der ersten Aufführung von Turandot in Peking, wo ein Wettlauf mit dem Regen stattfand. Anteilnahme erweckend sind auch die Ausschnitte von einem Konzert in Sarajewo während des Jugoslawienkonflikts. Und immer wieder berührt es den Betrachter der DVD sympathisch, wie bescheiden, freundlich und ausgeglichen sich Zubin Mehta nicht nur gibt, sondern wie er zu sein scheint.

Sollten in Zukunft nicht nur viele Japaner in europäischen Konzertsälen zu finden sein, sondern auch zunehmend junge Inder, dann wird das ein Verdienst Mehtas sein, der sich um die musikalische Erziehung der Jugend seines Heimatlandes kümmert. Die Gefährten seiner Kindheit und Jugend kommen ausführlich zu Wort und vervollständigen das Bild eines nicht zuletzt wegen seiner Liebe zum Kricketspiel heimattreuen wie weltoffenen Dirigenten. Dank seiner Freundschaft mit Daniel Barenboim hat man in Berlin oft das Vergnügen, ihn zu erleben. Aus München ist ein Ausschnitt aus den Gurreliedern mit Klaus Maria Brandauer zu sehen und zu hören, bei der Wiedergabe der Kindertotenlieder aus Dresden interessierte die Kamera natürlich besonders der Sänger.

Thomas Quasthoff fasst sie als einen Klagegesang ohne Anspruch auf Schöngesang auf, lässt seinen Bariton mal hohl, mal grell erklingen, einzelne Worte treten als Bedeutungsträger hervor, aber die Stimme kann auch strahlen wie auf „Sterne“. Ohnmacht und Zynismus werden ebenso zu Gehör gebracht wie das Tröstende des Schlusses, das nicht nur lange nachhallt, sondern sich auch im Gesicht des Sängers widerspiegelt. Kongenial zeigen sich die dunkel leuchtenden Farben des Orchesters. Die Aufnahme entstand 2010. Die nächste Folge der Reihe Legendary Conductors ist Daniel Barenboim gewidmet (Arthaus 109439). Ingrid Wanja

Hommagen

 

Passione war eine von Luciano Pavarottis erfolgreichsten Platten – nun bringt DECCA unter eben diesem Titel eine neue CD mit dem britisch-italienischen  Tenor Freddie De Tommaso heraus, die dem großen italienischen Sänger  Franco Corelli anlässlich seines 100. Geburtstages huldigt (485 1509). Aber der Sänger gedenkt mit dieser Veröffentlichung („A Franco“) auch seines Vaters Franco De Tommaso, der 2011 mit nur 56 Jahren starb. Das Programm umfasst vor allem die bekannten italienischen und neapolitanischen Kanzonen, die von allen großen italienischen Tenören (Mario Del Monaco, Giuseppe Di Stefano, Carlo Bergonzi, Franco Corelli, Luciano Pavarotti) interpretiert wurden. Auch Sänger anderer Nationen (Alfredo Kraus, Plácido Domingo, Marcelo Álvarez, Jonas Kaufmann) haben sich erfolgreich diesem Genre gewidmet. So ist die Konkurrenz auf dem Musikmarkt groß und Freddie De Tommaso muss sich dieser stellen. Er macht dabei durchaus gute Figur, wenn seine Stimme im Timbre auch nicht so einzigartig und unverwechselbar ist wie die seiner illustren Vorgänger. 2018 gewann der Tenor den renommierten Francisco Viñas Gesangswettbewerb in Barcelona und etablierte sich auf Anhieb als einer der vielversprechenden neuen Interpreten im lirico-spinto-Fach. Die Stimme ist baritonal timbriert, im Ausdruck emphatisch und passioniert, was sie für dieses Genre natürlich prädestiniert.

Als Auftakt erklingt ein weniger bekannter Titel von Carlo Innocenzi, „Addio, sogni di gloria!“, in einem rauschhaften Arrangement von Henry Mancini. Sogleich hier kann der Interpret mit seinem schwärmerischen Vortrag für sich einnehmen. Die zweite und dritte Nummer, Tostis „Marechiare“ und „L’alba separa dalle luce l’ombre“, sind dagegen allseits beliebter Schlager und werden mit virilem Schwung und generösen Spitzentönen serviert. Später folgt von diesem Komponisten noch „Ideale“ – ein gleichfalls sehr populäres Lied. In diese Kategorie fallen auch „Mattinata“ von Ruggero Leoncavallo,„Core ‚ngrato“ von Salvatore Cardillo und „Musica proibita“ von Stanislao Gastaldon, mit dem De Tommaso ein hinreißender Schlusstitel gelingt. Selten zu hören sind der Bolero „Lolita“ von Arturo Buzzi-Peccia, welcher mit spanischem Temperament erklingt, „Dicitencello vuje“ von Rodolfo Falvo und das schwelgerische „Fenesta che lucive“ von Guglielmo  Cottrau, das lange Zeit Bellini zugeschrieben wurde, aber nach einem traditionellen neapolitanischen Volkslied komponiert wurde. Renato Balsadonna, der diese Aufnahme mit dem London Philharmonic Orchestra dirigiert (entstanden im November 2020 in Watford), hat dafür das Arrangement erstellt, das Anklänge an Norma hören lässt.

Ungewöhnliche Beiträge in einer solchen Anthologie sind zwei Lieder von Puccini, welche Domingo schon in seinem Album Unknown Puccini vorgestellt hatte („Sole e amore“, dessen Motiv der Komponist später im 3. Akt seiner Bohème verarbeitete, und „Mentia l’avviso“, in dem schon die Manon Lescaut anklingt) sowie das schmerzliche „Nebbie“ aus Respighis Tre liriche. De Tommaso beweist hier eindrucksvoll seine Kompetenz für die Gestaltung der großen italienischen Tenorpartien. Natürlich darf auch der Titel gebende Song nicht fehlen. „Passione“ stammt von den beiden neapolitanischen Komponisten Ernesto Tagliaferri und Nicola Valente. Der Tenor singt sie mit Verve und Eleganz. Bernd Hoppe

Am Originalschauplatz

 

Endlich sind die Geister nach Hause gekommen. Die Geister von Marie-Antoinette und Louis XIV. trafen sich im Dezember 2019 in der Opéra Royal im Château de Versailles, wo die Geschichte der Ghosts of Versailles, die John Corigliano und William M. Hoffmann in ihrer zweiaktigen Grand Opera Buffa erzählen, ihren Anfang nahm. Begleitet werden der französische König und seine Gattin vom Grafenpaar Almaviva, Figaro und seiner Susanna, samt den unehelichen Kindern der Almavivas, Florestine und Léon. Mit dabei auch Beaumarchais, der die Geschichte von Rosina und ihrem Grafen zwischen 1775 und 1797 genüsslich in seiner Figaro-Trilogie ausgebreitet hatte. Möglich machte dieses Stelldichein in Versailles eine gemeinsame Produktion der Opéra Royale mit dem Glimmerglass Festival, bei dem die von Joseph Colaneri dirigierte Produktion von Jay Lesenger im Juli 2019 am Vorabend des französischen Nationalfeiertags und 230 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille ihre Premiere hatte. Später reiste nahezu das gesamte Team über den Atlantik, wo es sich in Versailles mit dem Orchestre de l’ Opéra Royal zusammenschloss.

Das Ergebnis präsentiert das Château de Versailles in einer umfangreichen Ausgabe, die neben den beiden CDs, die Coriglianos zweieinhalbstündige Oper beansprucht, zusätzlich die gesamte Aufführung auf DVD und Blu-Ray bereithält (CVS036, dreisprachiges Beiheft, aber ohne Libretto), wobei DVD und Blu-Ray darüber hinaus eine 38minütige Dokumentation über Coriglianos auf dem Höhepunkt der Aida-Krise 1988 entstandene erste Sinfonie Of Rage and Remembrance (Von Zorn und Erinnerung) bieten. Wenige Jahre nach John Conlons ausgezeichneter Los Angeles-Aufnahme aus dem Frühjahr 2015 (bei Pentatone) steht bereits eine weitere Einspielung der 1991 unter James Levine an der Metropolitan Opera uraufgeführten und damit üppig dokumentierten zeitgenössischen amerikanischen Oper zur Verfügung, die zusätzlich mit dem Siegel des historischen Rahmens versehen ist.

Quasi historisch, wie altmodische Molière- oder Beaumarchais-Aufführungen einst an der Comédie Française, mutet Lesengers zurückhaltende Inszenierung an, die das vom Librettisten überkonstruierte und das Verständnis wenig befördernde Stück über eine Liebe zwischen Marie Antoinette und Beaumarchais mit der Halsbandaffaire, einer Theater-auf-dem-Theater-Aufführung von La mére coupable, dem letzten und am wenigsten bekannten Teil der Figaro-Trilogie, und dem Versuch verknüpft, das Schicksal der Königin umzulenken, in fassliche Bilder (Bühnenbild von James Noone und opulente Kostüme von Nancy Leary) quetscht. Ort der in der Gegenwart und im Herbst 1793 spielenden Handlung, die die Geister folgendermaßen kommentieren, „He’s in love, he’s in love, he’s in Love! Beaumarchais is in love with Marie Antoinette! The Queen is sad! She longs for death! She’s been dead fort two hundred years!“, ist das Theater im Petit Trianon.

An der Met sorgte 1979 die Einlage der vielseitigen Marilyn Horne für Stimmung in Coriglianos Oper, die auch als DVD bei DG herauskam/Met Opera Archive/ Operaonvideo/ Rolf Fath besprach zudem die frühere Aufnahme der Oper bei Pentatone für operalounge.de

Man muss sich erst an Coriglianos Musiksprache mit ihrem müden Geister-Gewisper und hurtigen Konversations-Plapperei und der Melange aus Zitat und Gefälligkeit gewöhnen. Bald aber nehmen die gekonnte Ausformung der Arien und Szenen gefangen, darunter die virtuose, orientalisch umkleidete Cabaletta der arabischen Diva Samira, die post-barbersche Süße der Duette, etwa das elegische „Look at the green here in the glade“ zwischen Cherubino und Rosina, welches Beaumarchais und Marie Antoinette zum Quartett erweitern, die nach dem Vorbild der Italiana gezauberten rossinischen Ensembles und die Ironie – „This is no opera!“ behauptet eine Dame im ersten Finale „Wagner is opera!“

Ein Star-Ensemble, wie es der Met mit Stratas, Fleming, Horne, Gino Quilico, Graham Clark und Hagegård oder Conlon in Los Angeles mit Patricia Racette, Lucy Schaufer, Lucas Meachem, Robert Brubaker, Christopher Maltman und Patti LuPone zu Gebote stand, darf in Versailles nicht erwartet werden. Corigliano hat aber so wirkungssicher für die Stimmen geschrieben, dass sich die meisten Sänger, nicht nur Gretchen Krupp, die als pralle Samira naturgemäß abräumt, recht gewinnend präsentieren: Teresa Perrotta singt die beiden großen Szenen der Marie Antoinette, vor allem ihren Abschied („Once there was a golden bird“), mit exquisiter Melancholie und fülligem Sopran, für den Beaumarchais setzte Jonathan Bryan seinen ansprechenden lyrischen Bariton vorteilhaft ein („I risk my soul for you, Antonia“). Ben Schaefer traut man nach seinem Corigliano-Figaro auch die Gegenstücke von Mozart und Rossini zu, Kayla Siembieda ist mit rundweichem Mezzosopran, der sich im Duett mit Rosina reich entfaltet („As summer brings a wistful breezel“) und sprühender Diktion als Susanna ein wahres Bühnentalent, Joanna Latini, deren Rosina im Duett mit Cherubino (Katherine Maysek) von zarter Eleganz ist, und der Tenor Brian Wallin verblassen als Grafenpaar daneben fast ein wenig; ebenso Peter Morgan als König. Als Bösewicht Bégearss setzt Christian Sanders seinen Charaktertenor in der Wurm-Arie „Long live the Worm“ und im Revolutionsgeschehen mit schleuderndem Effekt ein. Joseph Colaneri und das Orchestre de l’ Opéra Royale unterstützen die Sänger durch ein pointiertes, kammermusikalisches Spiel, das auch in den Revolutionsszenen durchsichtig bleibt. Nun soll den Geistern aber auch wieder für eine Weile Ruhe gegönnt sein. Rolf Fath

Vielvertont

 

Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein gen. Wallenstein (1583-1634) war eine der letzten Heldengestalten der Weltgeschichte. Immer wieder stand er auch im Fokus des Interesses von Komponisten, denkt man Bedřich Smetanas Tondichtung Wallensteins Lager von 1859 oder auch Vincent d’Indys sinfonisches Triptychon Wallenstein von 1871, beides nach Friedrich von Schiller, auch die Oper von Jaromir Weinberger (die Aufnahme bei cpo unter Cornelius Meister wurde in operalounge.de besprochen). Ein weiterer Komponist, der sich des legendären Feldherrn des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) annahm, war Josef Gabriel Rheinberger (1839-1901). Dieser wird aufgrund seiner langen Wirkungszeit in München, wo er ab 1851 lebte, heute häufig fälschlicherweise als deutscher Komponist angesehen, war jedoch tatsächlich ein in Vaduz gebürtiger Liechtensteiner. Zu Lebzeiten hochgeschätzt und dekoriert (Nobilitierung zum Ritter von Rheinberger 1895 durch den bayerischen Prinzregenten Luitpold), steht er mittlerweile im Schatten anderer. In praktisch allen musikalischen Genres tätig, erlangte er besonders auf dem Gebiet der geistlichen Musik Bedeutung (viele Messen, Kantaten und Motetten, drei Requiems und zahllose Orgelwerke), schrieb aber auch zwei Opern und drei Singspiele.

Den 300. Jahrestag der Gründung des Fürstentums Liechtenstein, das in dieser Form seit 1719 besteht, nahm das Label Ars zum Anlass, das Sinfonische Tongemälde d-Moll op. 10 Wallenstein erstmals einzuspielen (ARS38284). Es agiert das Sinfonieorchester Liechtenstein unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Florian Krumpöck. Idiomatischer geht es nicht. Der erst 1988 ins Leben gerufene und einzige professionelle liechtensteinische Klangkörper braucht keine Vergleiche zu scheuen, was auch für die zwischen 28. und 30. Jänner 2019 im SAL (Saal am Lindaplatz) in Schaan entstandene Aufnahme gilt, die als hybride SACD im DSD-Verfahren vorgelegt wird und höchsten klanglichen Ansprüchen genügt.

Wie bei Smetana und d’Indy war es für Rheinberger weniger der historische Wallenstein als Schillers literarische Verarbeitung des Stoffes, die seiner Komposition von 1866 zugrunde lag. Dafür spricht bereits die Bezeichnung der vier Sätze, welche sich gliedern in Vorspiel (gut 14 Minuten), Thekla (gut 10 Minuten), Wallensteins Lager (10 Minuten) und Wallensteins Tod (15 Minuten), zusammen also ein etwa 50-minütiges Werk ergeben. Rheinberger gelang das Kunststück, sowohl die Verfechter der absoluten Musik als auch die Anhänger der seinerzeit in Mode gekommenen Tondichtungen für sich einzunehmen. So firmierte das Stück in seinen ersten Aufführungen als „eine Sinfonie in vier Sätzen“, um in der Druckausgabe doch noch als „Sinfonisches Tongemälde“ durchzugehen. Der Kopfsatz gibt ein farbiges Portrait der Titelfigur, während sich der langsame, sehr verinnerlichte zweite Satz Wallensteins Tochter Thekla (historisch: Maria Elisabeth) widmet. Der durchaus als Scherzo zu bezeichnende dritte Satz kommt marschartig-deftig daher und schildert in seiner lebensbejahenden Leichtigkeit das turbulente Lagerleben im Felde. Im düsteren Finale schließlich deutet sich das unausweichliche Schicksal des Helden bereits früh an, der alle Warnungen in den Wind schlägt und schließlich der berühmten Verschwörung zum Opfer fällt.

Eine wirklich hörenswerte Ausgrabung im weniger bekannten sinfonischen Repertoire der Romantik, die gerade auch aufgrund des historischen Hintergrundes für den Musikfreund von Interesse ist, selbst wenn der ganz große Aha-Effekt ausbleibt. Das beiliegende ausführliche deutsch-englische Booklet ist tadellos und macht Lust auf mehr. Es darf auf eine Fortsetzung aus Liechtenstein gehofft werden. Daniel Hauser

Ruggiero Orofino

 

Das Leben, die Laufbahn und die künstlerischen Verdienste des italienischen Tenors Ruggiero Orofino (28.09.1922 – 20.05.2021) waren in vielerlei Hinsicht außerordentlich: als erstes Mitglied des Chors der Mailänder Scala kehrte er in Hauptrollen an das bedeutendste Haus Italiens zurück – und dies für nicht weniger als 10 aufeinander folgende Spielzeiten. Vom Automechaniker, Elektriker und Marinesoldaten aus dem apulischen Barletta wurde er zu einem der ersten Tenöre weltweit und zum Star im Ensemble der Berliner Staatsoper Unter den Linden. 1976 wurde er zum Kammersänger ernannt, und als einziger Tenor sang er an allen drei Berliner Opernhäusern, als die Stadt durch die Mauer geteilt war. Sein Radamès, sein Pinkerton und sein Rodolfo, die er in allen großen Häusern der Welt gesungen hat, sind unvergessen und halten jeden Vergleich mit wesentlich prominenteren Kollegen aus.

Ungewöhnlich breit war auch Orofinos stilistisches Spektrum: sowohl in Berlin und Hamburg, in München und an der Scala war er ein hervorragender falscher Zarewitsch Dimitri in Boris Godunov. Mussorgskys Meisterwerk sang er zunächst in deutscher und italienischer Sprach, schließlich 1979 unter der Leitung von Claudio Abbado auch im russischen Original. Im Belcanto der italienischen Frühromantik war er als Pollione der Norma der Caballé ein ebenbürtiger Partner an der Scala. Und nicht hoch genug kann seine Interpretation der heiklen Titelpartie von Verdis Ernani geschätzt werden, mit dem er 1970 als Protagonist an der Scala debütierte. Anders als viele Sänger aus dem romanischen Sprachraum bewies Orofino zudem, dass das deutsche Repertoire auch in Originalsprache wie Belcanto gesungen werden kann. Zum einen ist hier sein Lohengrin zu nennen – eine Partie, die er erstmals 1971 innerhalb von wenigen Tagen sowohl in Dublin auf Deutsch wie beim Maggio Musicale Fiorentino auf Italienisch sang, später dann auch an der Berliner Staatsoper und in Madrid. Sensationell ist allerdings, dass er keinerlei Berührungsängste gegenüber der zweiten Wiener Schule hatte. An der Scala sang er den Jungen Mann in Schönbergs Moses und Aron und – wiederum unter der Leitung von Abbado – den Tambourmajor in Bergs Wozzeck, ebenfalls in Mailand und beim Gastspiel der Scala in Paris.

Eine solche stilistische Bandbreite setzt natürlich nicht nur eine außergewöhnliche Stimme sondern auch eine ebenso hervorragende Technik voraus. Der erste Beleg dafür ist zunächst Orfinos außergewöhnliche stimmliche Langlebigkeit. Mit über sechzig Jahren sang er manch jüngeren Cavaradossi oder Radamès an die Wand, und meisterte die Tessitura der kurzen aber extrem hoch liegenden Partie des italienischen Sängers mit Bravour – viele Kollegen verabschieden sich in diesem Alter von der Bühne oder sind zu regelmäßigen Transpositionen gezwungen. Seine Technik erarbeitete sich Orofino im intensiven Studium mit den Repetitoren und Dirigenten der Scala und vor allem bei der großen Mercedes Llopart. Selbst eine bedeutende Sopranistin, ging sie vor allem als Lehrerin von Alfredo Kraus, Renata Scotto, Elena Souliotis, Fiorenza Cossotto und eben Ruggiero Orofino in die Geschichte des Belcanto ein.

Diese technische Souveränität und ein Vortragsstil, der keinerlei veristische Exzesse kennt, machen Orofino zu einem herausragenden Sänger, selbst für das goldene Zeitalter, in dem er seine Karriere begann. Denn trotz seiner dunklen, genuinen lirico-spinto Stimme und seines feurigen Bühnentemperaments war er ein Klassizist unter den dramatischen Tenören seiner Generation. Auf seinen Aufnahmen hören wir eine substanzreiche und vibrante Stimme, die jederzeit perfekt fokussiert sitzt und sich souverän im Passaggio bewegt. Dies zeigen exemplarisch die – in dieser Hinsicht äußerst anspruchsvollen – Arien aus Mascagnis Cavalleria und Iris. Darüber entfaltet sich eine brillante, vollkommen mühelose Höhe bis zum C bzw. Des’’ (im Duett des Herzogs mit Gilda aus Rigoletto). Dramatische Attacken singt Orofino mit Verve, doch niemals wird die Gesangslinie deklamatorischen Akzenten oder veristischen Schluchzern geopfert. Immer bleibt sie klar, liegt die Stimme konsequent auf dem Atem, so dass jederzeit Diminuendi und Smorzandi in die Mezza voce möglich sind. All diese Qualitäten – zusammen mit einer glasklaren Diktion, die den Sinn jeder Phrase und des einzelnen Wortes herausarbeitet – sind auch in den Aufnahmen in deutscher Sprache zu bewundern.

Eine „voce parallela“ (Lauri-Volpi), die dem Gesang und der Stimme Orofinos vergleichbar wäre, wird man unter seinen Zeitgenossen schwer finden. Am ehesten kommt einer der größten Tenöre der Vorkriegszeit dafür in Frage: Giovanni Martinelli, der nach Carusos Tod an der Metropolitan Opera dessen dramatisches Repertoire übernahm. Denn wie Martinelli exzellierte Orofino in Partien wie Radamès, Manrico, Don Carlos, Cavaradossi, Chénier und Calaf. Anders als Martinelli aber erhielt er sich bis in die letzten Jahre seiner Karriere die Fähigkeit, zwischen seinem Spinto-Repertoire und lyrischen Partien wie Duca, Rodolfo oder Pinkerton zu alternieren.

Ganz offensichtlich sind die Parallelen zu Martinelli in den Arien des Calaf, die Orofino mit großzügiger Tongebung und Leidenschaft, dabei mit souveräner Linienbildung singt. Noch enger schließt er mit Verdis Ernani an seinen großen Vorgänger an. Sein Erfolg in der Partie beim Debüt an der Scala in der Eröffnungsserie der Spielzeit 1969/70 reichte an den von Domingo mühelos heran, von dem er die Partie im zweiten Teil der Vorstellungsserie übernahm. Nach Martinelli gehört Orofino zu den ganz wenigen Tenören, die souverän die hohe Tessitura der Auftrittsarie bewältigen, die gruppetti der Cavatina wirklich con eleganza phrasieren und in der Cabaletta Dramatik und Agilität vereinen. Zudem krönt Orofino nicht nur diese mit einem langen hohen B sondern interpoliert in der Kadenz der Cavatina ein stupendes hohes H, das das Publikum der Scala zu  Recht mit einem Beifallssturm beantwortet.

Zwei Jahrzehnte lang war Orofino der unumstrittene Star im italienischen Repertoire an der Berliner Staatsoper, und zahllose Fans in Europa und Übersee (wo er u.a. an der Met und am Teatro Colon mit seinem äußerst anspruchsvollen Publikum sang) erinnern sich noch heute mit Begeisterung an seinen Gesang und seine Interpretationen (wie auf vielen seiner Dokumente bei youtube nachzuerleben ist)/ Foto oben Archivio storico del Teatro alla Scala)Angelo Raciti

Ungewöhnlich

 

Wieder einmal an ihre Geburtsstätte, die Opéra Comique von Paris, zurückgekehrt war Bizets Carmen im Jahre 2009, wovon es jetzt eine DVD bei Naxos gibt. Die recht kleine Bühne wird von Mark Thompson optimal genutzt, indem auf drei Ebenen agiert wird, so im ersten Akt aus der Tiefe kommend die Arbeiterinnen, Auge in Auge mit dem Publikum die Wachsoldaten und auf einer Empore Spaziergänger und der Fluchtweg Carmens. Im dritten Akt ragen dann viele Leitern aus der Schlucht hinaus himmelwärts, und im vierten Akt schließlich lässt sich die Regie von Adrian Noble die Chance entgehen, die drei Ebenen für einen glanzvollen Aufzug der am Stierkampf Beteiligten zu nutzen, stattdessen wird wie wild ins Publikum hinein gewinkt. Insgesamt wirkt die Szene bräunlich vergilbt wie ein altes Bild, es wird duster, wenn es schicksalsträchtig wie beim Blumenwurf wird, Rotlicht herrscht bei Lillas Pastia vor, Blau in der Schlucht, im vierten Akt sollen viele Fahnen für eine angemessene Atmosphäre sorgen. Personenregie findet in bescheidenem Maße statt, nur die Auseinandersetzung zwischen Don José und Escamillo lässt den Zuschauer ahnen, dass er sich im Land der Mantel- und Degenfilme befindet.

John Eliot Gardiner, nach der Pause hemdsärmelig auftretend, setzt mit  dem Orchestre Révolutionnaire et Romatique auf das Filigrane, beiläufig, aber straff Wirkende der Partitur, versucht nie zu überwältigen, selbst der rasante Beginn besticht eher durch Klar- als durch Grellheit. Eine ungetrübte akustische Freude sind die Chöre (Monteverdi Choir und Maitrise des Hauts-de-Seine).

Allround-Sängerin Anna Caterina Antonacci, die sich nie eindeutig zwischen Sopran- und Mezzopartien entscheiden mochte, ist eine beeindruckende Carmen, nicht aufs Exotische oder Verruchte setzend, es gibt weder Hüfteschwenken  noch sinnliches Gurren, aber wenn sie sich ein Zigarillo am nackten Oberschenkel rollt oder stoisch im Kartenterzett ihren nahen Tod voraussieht,  dann ist sie eine Carmen, eine herbe, persönlichkeitsstarke und von jedem Klischee weit entfernte. Vokal ist sie sopranlastig, singt die Habanera wie beiläufig, die Seguidilla dunkel getönt, aber nicht mit Mezzofülle, das Chanson des 2. Akts ohne Rücksicht auf Schöngesang.

Micaela ist Anne-Catherine Gillet mit frischem, klarem Sopran, der in der Höhe aufblühen kann und dies in der großen Arie auch berührend tut. Ihr inniger langer Kuss hätte eigentlich wirksamere Abwehrkräfte gegen die Verführungskünste Carmens aufbauen müssen, als es der Verlauf der Handlung vorsieht.

Einen nicht mehr und nicht weniger als soliden Don José singt Andrew Richards mit wenig einprägsamem Timbre, verdienstvollerweise auch mit feinen Pianissimi, von denen aber übergangslos ins Forte gewechselt wird, insgesamt recht dumpf klingend und die Blumenarie zwar wie von Bizet notiert, aber in der Höhe flach und ohne Glanz singend. Ein schmucker Escamillo ist Nicolas Cavallier, dessen Probleme beim Auftrittslied in der Tiefe liegen, der insgesamt aber gefallen kann. Die neben Carmen vier anderen Komponenten des Schmugglerquintetts bleiben vokal und darstellerisch unscheinbar, dort und im Kartenterzett hätte man sich mehr Prägnanz gewünscht. Ohne die das Ganze mehr noch als rollengerecht dominierende Carmen der Antonacci wäre die Aufnahme eine doch recht trübe Angelegenheit (Naxos 2.110685-86/ Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja

Alfred Kalnins‘ „Banuta“

Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen. Und dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper sozialpolitische Funktion hat und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist steht ja außer Zweifel. Zwar schlagen sich wichtige politische Ereignisse meist nur mit Verzögerung in den Opernplots nieder, aber vor allem Bestrebungen nach nationaler Identität ((und dem Verlust derselben) finden sich in vielen Werken zeitnah. Oft in Form der Verwendung von Folklore und/oder nationalem Liedgut, oft auch durch Reaktivierung glorioser Siege in der ferneren Geschichte des jeweiligen Landes (so zum Beispiel bei Gounod oder Saint-Saens um die Schmach des deutsch-französischen Krieges vergessen zu machen, auch in Ivan Zajcs Nicola Subic Zrinski, in dem zwar die Türken besiegt werden aber die Österreicher gemeint sind; gleiches gilt für Pavlo Carrers Marcos Botsaris oder Naumanns Gustav Wasa und natürlich auch Verdis Nabucco).

Anders als in z. B. Carl Maria von Webers Freischütz, der nicht bekanntes Volksgut verwendet, sondern Eigenes in der Nähe des Volkstümlichen erfindet und es wie Langbekanntes klingen lässt, sind viele Opern aus vor allem Süd- und Osteuropa angefüllt mit direkten Zitaten aus der musikalischen Folklore. Jede osteuropäische ethnische Minderheit beherbergt mindestens eine Oper, die als Banner des Nationalstolzes dient.

Alfreds Kalnins um 1920, Fotograf Mārtiņš Lapiņš./ Museum für Literatur und Musik.

Für die Letten ist es Alfreds Kalnins BanutaBanuta ist eine dreistündige Mischung aus Fakten und Mythen aus dem 13. Jahrhundert in vier Akten. Die Protagonisten sind mutig und blutrünstig, die Liebenden aus ihrer Welt entrückt. Und das kriegerische Volk reckt die Fäuste gegen die Unterdrücker – das kennt man aus vielen osteuropäischen Opern der Übergangszeit ins Eigene, von Zajc zu Parma oder Fibich. Banuta wurde 1920 uraufgeführt, und Kalnins lebte bis 1951. Das Quelle der Musik liegt jedoch bei Smetana, Dvorak und Wagner; und nach Kalnins klarem Sinn für Orchestertextur zu urteilen, war es eine slawische Welt, in der er sehr zu Hause war.

Die Musik ist in der Tat trittsicher und stets angenehm, aber man sehnt sich nach einfallsreichen Wendungen und herausfordernden Überraschungen, um die langen Strecken milden Plätscherns zu unterbrechen. Aber es gibt einige – zum Beispiel am Ende der Bestattungsszene oder in den kirchenritualen Feierlichkeiten der Mittsommernacht.

Während Italien und Frankreich sich einer Opern­tradition von fast 400 Jahren erfreuen können, ist Lettlands musikalische Erbschaft hauptsächlich der an die 2000 Jahre alten mündlichen Volkslied­-Tradition verbunden, die nur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Hauptstrom west­europäischer Musikentwicklung verfloss. Kein Wunder, dass im Jahr 1920, als die Unabhängig­keit des jungen Staats kaum gewonnen war, Lett­land noch nicht für eine Originaloper bereit war. und Banuta, die nicht der damals allgemein üblichen Verismo-Tradition entsprach, mit einiger Zurückhaltung empfing.

Heute hat sie einen bedeutenden Platz im Repertoire der Lettischen Nationaloper Riga. So war 2020 eine bislang letzte Aufführung in Riga geplant, der die Pandemie dazwischenkam, auch vorher finden sind immer wieder Aufführungen im Heimatland, während auswärtige eher schwer zu finden sind. Daher war die von mir 1984 in Münster erlebte und konzertante Version für ein Kennenlernen im europäischen Raum so bedeutend. Letten aus allen Teilen des westlichen Europas kamen in Scharen.

Uraufführung der „Banuta“ 1920 in Riga, Solisten und Mitwirkende nach der Premiere/Lettische Nationaloper. 28.05.1920 Fotograf Aleksandrs Mednis. Quelle Museum für Literatur und Musik

Kalnins war In Lettland vornehmst als Organist und Kom­ponist lyrischer Lieder bekannt und hatte bisher keine Neigung zur dramatischen Bühne kund­gegeben. Darum ist seine Banuta von 1920 – mehr noch als sein späterer Hamlet – umso mehr bedeutend für ihren dramatischen Inhalt, für ihren Schwung und ihr vollkommenes Beherrschen der Kompositionstechniken. Obwohl Kalnins Volksmelodien benutzt, beson­ders um im 3. Akt das heidnische Mittsommernachts-Ritual hervorzuheben, ist Banuta keine Volksoper im Sinne des Freischütz oder der Verkauften Braut. Sie ist eher dem Genre des romantischen Musikdramas zuzuordnen. Kal­nins verwendet eine gemäßigte Leitmotivtechnik, aber nicht im gleichen Maß wie Wagner. Er verlässt sich auf seine musikalische Erfindungskraft, um Frag­mente des Dramas durch lebhafte symphonische Episoden und mehrere Motive, die in verschiede­nen thematischen Modifizierungen die Oper durch­ziehen, miteinander zu verbinden. Rezitative ahmen weder die italienische „seccco“-Formel nach, noch spiegeln sie Wagners Methode wider, bei der die Stimme eine untergeordnete Stelle zum Orchester einnimmt. In Banuta hat die Stimmenführung einen lyrisch deklamatorischen Charakter. Es gibt nur wenige abgeschlossene Arien, und die Musik fließt sozusagen in einem ungebrochenen, durchkomponierten Atem dahin. Nicht ungewöhnlich im Vergleich zu anderen Nationalkopern wirkt in Banuta das sehr häufige Auftreten des Chors durch das ganze Werk hindurch. Wie im griechischen Drama erläutert er die Handlung und kommentiert die Protagonisten. Abgesehen von den heldenhaften bzw. leidenschaftlichen Passagen zwischen den Protagonisten ist dies eine Oper, die – wie bereits gesagt – den Chor ausgiebig nutzt, ähnlich wie Boughtons  Queen of Cornwall und Alkestis. Hier liefert der Chor die Volks-Szenen und Kommentare – so wie Mussorgskys Chöre in Kovantschina für das unterdrückte russische Volk sprechen.

„Banuta“/ Uraufführung 1920 an der Nationalen Oper Riga/ Nationale Enzyklopädie

In Lettland hat Banuta viele Regierungen über­lebt, und wie bei Verdis Ballo in maschera hat die die jeweilige Zensur (namentlich in Sowjet-Zeiten) Textveränderungen angeordnet, um den derzeitigen Wünschen jeder Regierung zu entsrechen. Für eine Aufführung im Jahr 1937 musste Kalnins einen Teil der Musik um­schreiben und die ersten zwei Akte umorchestrieren. Zu Beginn der Sowjetbesetzung von Lett­land im Jahr 1940 wurde ein neues, der Sowjetideologie entsprechendes Finale verlangt. Diese Version, mit einem „happy end“ durch die barock­artige Einbeziehung eines „deus ex machina“, wurde bis 1979 verwendet. Spätere Aufführungen in Riga kehrten zum originalen tragischen Finale zurück, aber das Libretto enthält noch immer viele zensurbedingte Änderungen. Für die Konzert­aufführung des Lettischen Chores von New York und der Philharmonia Hungarica in Münster 1984 wurde der Originaltext vom Manuskript des Kom­ponisten verwendet.

Die Erstaufführung der Banuta in den USA fand am 5. 6. 1982 in der Carnegie Hall in New York statt, wieder mit dem Lettischen Chor von New York und dem Bronx Arts Orchestra unter dem Dirigent Andrejs Jansons.

Die Handlung folgt einer tragischen Vorlage, die Romeo und Julia aufgreift. Banuta ist eine gefangene Prinzessin und wird von Prinz Daumants nach Lettland zurückgebracht. Sie soll mit ihm gegen ihren Willen verheiratet werden. Daumants wird von Vizuts, dem Bruder von Yargala, getötet, die von Daumants vergewaltigt worden war, als sie sein Heiratsangebot ablehnte. Banuta verliebt sich in Vizuts und erst als die beiden in Akt 4 ihre gegenseitige Liebe erklären, gesteht Vizuts, Daumants getötet zu haben. Von Schuld und Trauer verfolgt, begehen die beiden Selbstmord, indem sie sich gegenseitig erstechen.

„Banuta“: Maralin Niska sang 1982 in New York und 1984 in Münster die Titelpartie/ oberon´s grove

Es ist dies eine eindrucksvolle große Oper, die die ganze Bandbreite der dramatischen Ereignisse abdeckt und die üblichen Anstrengungen des Zuschauers in puncto Logik der Handlung erfordert. Dafür erlebt man das ganze Arsenal an bewährten Opernelementen:  eine glückliche Heimkehr, Triumphszenen (besonders in Akt 1), natürlich auch den bühnenwirksamen Mord, einen Liebesverbots-Eid, Mittsommer-Capricen à la Smetana, Liebesduette, ein in letzter Minute abgewendetes Menschenopfer – komplett mit Druiden, Wald-Intermezzi, Morgengrauen nebst Vogelgezwitscher (in Akt 4) – und einem gut vorbereiteten, effektvollen Liebestod der beiden Protagonisten.

Es gibt auch atmosphärische Ähnlichkeiten zu Bantocks Omar Khayyam. Die meditative Orchestestimmung nähert sich durchaus an oft Mussorgskys Morgendämmerung an der Newa und Dvoraks Neuer Welt in deren langsamen Passagen an. Der letzte Akt enthält extrem lyrische Musik, die an Fibich erinnert. Tatsächlich könnte diese Oper leicht ein modernes Gegenstück zur Braut von Messina und Sarka von Fibich sein oder zu Madetojas Juha oder Peterson-Bergers Arnljot sein. In Akt 3 greift Kalnins Volkstanz-Traditionen auf, wie sie von Dvorak und Smetana in der Tschechei und Ludolf Nielsen in Dänemark verwendet wurde (und in Erinnerung bleibt auch die Kompositionstechnik des Slowenen Viktor Parma von 1917) – Folklore als Medium der Erweckung eines nationalen Erbes. Oper als Instrument der nationalen Selbstfindung junger Staaten während und nach der Fremdherrschaft: ein bekanntes Phänomen, wie man es in den anderen ehemaligen Sowjet-Trabanten-Staaten findet.  Jörg Graepel/ aktualisiert Geerd Heinsen

„Banuta“: Peteris Gravelis singt auf der CD-Aufnahme den Prinzen Daumants/ Wikipedia

Verbreitung: Nach der Uraufführung auf ein Libretto von Artūrs Krūmiņš am 29. Mai 1920 in Riga wurde Banuta  in Lettland in verschiedenen Bearbeitungen immer wieder gegeben, während das Ausland sie kaum erlebte. 1984 wurde sie im Konzert in Münster gespielt, vorher, 1982, gab es die amerikanische Erstaufführung in der Cargenie Hall von New York, beide unter Andrejs Jansons, mit der amerikanisch-lettischen Sopranistin Maralin Niska in der Titelpartie (mit der wir bereits 2016 ein Interview anlässlich ihres Todes veröffentlichten). Bis heute sind nicht viele Aufführungen bekannt, ein Konzert zum 100 Geburtstag der Oper  2020 in Riga fand nicht statt („In einer Zeit, in der die lettische Kultur und das öffentliche Leben von der durch Covid-19 verursachten Krise überwältigt sind, dem 100. Jahrestag der Oper Baņuta zum 152. Jahrestag der Rigaer Lettischen Gesellschaft und dem 102. Jahrestag der Proklamation der Republik Lettland im November 18, 2020 ist sowohl eine Bestätigung als auch die Kontinuität der ältesten lettischen Organisation – der Rigaer Lettischen Gesellschaft – auch eine moderne Erinnerung an ihre turbulente Zeit vor 100 Jahren – das Frühjahr 1920, als der lettische Staat wuchs und Schwierigkeiten überwand, wenn seine eigenen Das lettische nationale Original wurde zum ersten Mal inszeniert „, äußerten Vertreter der Rigaer Lettischen Gesellschaft“)

Es gibt eine Aufnahme aus Lettland  als CDs 1996 erschienen ist: Aleksandrs Vilumanmis dirigiert den Chor und das Orchester des Lettischen Rundfunks mit Regina Frinberge, Aleksanbdrs Daskovs, Peteris Gravelis und Karlis Zarins in den Hauptrollen (RIGAS SKANU RS010 [CD1 75.06; CD2 75.41]); bei youtube gibt es eine Art von Querschnitt der Uraufführungsbesetzung; bei Sammlern findet man den Mitschnitt des Münsteraner Konzertes von 1984. Geerd Heinsen

.

.

„Banuta“: Regina Frinberga singt die Titelrolle auf der CD-Aufnahme/ Wikipedia

Zum New Yorker Konzert schrieb die New York Times: In dieser Konzertfassung wurde keine visuelle Dramatik angestrebt, abgesehen vielleicht von den ethnischen Kostümen der Frauen. Algis Grigas, Bassbariton, sang mit einer gewissen Souveränität, hatte aber den Nachteil, sowohl den Vater als auch den Sohn zu spielen – und beschränkte sich oft auf musikalische Konversation. Maralin Niska marschierte unerbittlich durch die kämpferische Titelrolle, schwankte etwas in ihrem unteren Register und attackierte Kalnins‘ manchmal übermäßig anspruchsvolle hohe Töne mit einem durchdringend weißen Ton. Frau Niska überwältigte ihren romantischen Partner William Hall, dessen Tenor blutleer und kaum hörbar war, geradezu. Ilga Zenta Paups, Visvaldis Gedulis, Karlis Grinbergs und Peteris Lielzuika teilten sich die anderen Männerrollen. (8. Juni 1982, Abschnitt C, Seite 12 der nationalen Ausgabe mit der Schlagzeile: OPERA: LETTISCHE ‚BANUTA‘)/DeepL

.

Noch ein Wort zum Komponisten: Alfrēds Kalniņš (* 11. August 1879 in Cēsis; † 23. Dezember 1951 in Riga). Alfrēds Kalniņš studierte am Sankt Petersburger Konservatorium. Von 1903 bis 1911 war er Organist und Musiklehrer in Pärnu, danach bis 1915 in Liepāja, bis 1918 in Tartu und schließlich in Riga. Zwischen 1927 und 1933 lebte er in New York. Nach seiner Rückkehr wurde er Dom-Organist in Riga.[1] Von 1944 bis 1948 leitete er das Konservatorium der Stadt. Er komponierte zwei Opern, ein Ballett, eine Orchestersuite, sechs Kantaten, Chormusik, Orgel- und Klavierstücke. Am bekanntesten wurde seine Oper in vier Akten, Baņuta (1920), die als erste national-lettische Oper gilt. Auch sein Sohn Jānis Kalniņš wurde als Komponist bekannt (Hamlet ist eine Oper von ihm).

Obwohl die Familie Deutsch sprach, lernte A. Kalniņš als Kind auch Lettisch im Kontakt mit seiner Umgebung. Er wurde jedoch an deutsche Schulen geschickt. (…)  1894 zog die Familie nach Sigulda und A. Kalniņš trat in die private Rigaer Schule für Klangkunst ein, wo er bei dem schwedischen Pianisten Bror Mellersten Klavier studierte und Opernaufführungen besuchte. Noch wichtiger war der Privatunterricht im Orgelspiel beim Komponisten Oskars Šepskis, einem Sammler von Volksliedern in Kurzeme, dessen Heimatbibliothek auch zeitgenössische Orgelmusik aufführte.

„Banuta“: Karelis Miesniks als Krivukriva in einer Produktion aus den 70ern/ Wikipedia

Die Freundschaft mit lettischen Kunststudenten wurde während des vierjährigen Orgelspiels am St. Petersburger Konservatorium fortgesetzt, wo A. Kalniņš nach seinen eigenen Worten die Malausstellungen noch stärker beeinflusst hat als die Eindrücke von Oper und Konzerten.  Nachdem A. Kalniņš die Orgelspielprüfung bestanden hatte, verließ er nach dem vierten Studienjahr (1901) das Konservatorium ohne Abschluss.

  1. Kalniņš fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine dauerhafte Arbeit im Musikleben von Riga, schrieb jedoch das erste Dutzend Sololieder. Diese und andere wurden bei Konzerten lettischer Solisten mit A. Kalniņš am Klavier populär. Auf der Suche nach Arbeit ließ er sich acht Jahre lang (1903–1911) in Pärnu (Estland) nieder, wo er Gesangslehrer in Turnhallen, Chorleiter, Kirchen- und Konzertorganist war und dauerhafte Kompositionen seiner Jugend. Er erhielt positive Rezensionen in deutschen Musikzeitschriften, die die nationale Originalität der Musik, malerische Texte mit einer reichen und engen Skala von Emotionen, aber reich an Nuancen, feststellten.

Er übernahm die Organistenposition der St. Anna-Kirche und ging (1911) nach Liepāja. Dort dirigierte er die Chöre der Liepāja Musik- und Gesangsvereinigung, organisierte thematische Konzerte und brachte die Musik beider Teile der lettischen und deutschsprachigen Gesellschaft näher zusammen. Außerdem schrieb er den ersten Akt der Oper Indulis und Aria, aber wegen des den Ersten Weltkriegs wurde die Oper nicht abgeschlossen.

Der Krieg erzwang die Flucht im Frühjahr 1915 zunächst nach Sigulda, im Herbst nach Tartu (heute Tartu). Von dort aus unternahm A. Kalniņš viele Konzertreisen mit lettischen Solisten, auch zu Flüchtlingszentren in Russland. Das Thema der Liebe zur Heimat, das sich bisher in den Darstellungen von Natur und Epos manifestiert hat, hatte sich nun auf die Leidens- und Protesttexte kriegsgeschädigter Menschen konzentriert. Nach der Februarrevolution, erschien das bislang dramatischste Werk von A. Kalniņš – die Vokalsinfonie Pastardiena (Rainis) sowie die „Lettische Hymne – 1917“ mit den Worten von V. Plūdonis („Wer möchte Herren in unserer Heimat sein “).

„Banuta“: Besetzungszettel für die Uraufführung 1920/ Nationale Enzyklopädie

Als Tērbata im Frühjahr 1918 ebenfalls unter deutsche Besatzung geriet, kehrten A. Kalniņš und seine Familie in das zuvor besetzte Liepāja zurück. Dort erschien in den Herbstmonaten 1918 ein Entwurf der ersten lettischen Oper Baņuta. Im Juni 1919. Das symphonische Gedicht „Lettland“ wurde ebenfalls fertiggestellt – mit einer Widmung an das erste Kabinett des unabhängigen Staates. Im Herbst 1919 ging A. Kalniņš mit seiner Familie nach Riga, nachdem er eine Einladung erhalten hatte, Leiter der Musikabteilung in der Kunstabteilung des Bildungsministeriums zu werden. Zu Beginn des deutschen Angriffs blieben die Notenbündel der einzigen Kopie von Baņuta mehrere Wochen lang unbeaufsichtigt auf einem Schiff, das auf See Patrouille fuhr. Die Uraufführung dieser Oper am 20. Mai 1920. gilt als Geburtstag der lettischen Oper.

Kalniņš verließ bald die Position eines Beamten (1921), weil er viele negative Verwerfungen in der Kultur- und Wirtschaftspolitik des neuen Staates. Andererseits gab er regelmäßig Orgelkonzerte und organisierte jährliche sogenannte Neuheitsabende, an denen in wenigen Jahren (1921–1924) erstmals rund 100 neue Sololieder aufgeführt wurden. Seine Oper Salinieki (Uraufführung an der Nationaloper im Jahr 1926) stammt aus dieser Zeit.

Andrejs Jansons dirigiert „Banuta“ 1982 in der New Yorker Carnegie Hall/ jauagaita.net

Als die Arbeitsbedingungen in Riga für A. Kalniņš zu eng wurden, wanderte er aus und verbrachte sechs Jahre in New York (1927–1933), wo er als Chorleiter, Organist, Lehrer und Komponist. Allerdings fühlte er sich auch dort nicht kreativ zufrieden, nahm die Einladung an, Organist in der Kathedrale von Riga zu werden und wöchentliche Orgelmusikkonzerte im lettischen Radio zu geben (bis 1945). Nach seiner Rückkehr nach Riga erhielt A. Kalnins unerwartete Auszeichnungen. Er führte neue Produktionen seiner überarbeiteten Oper Salinieki (1933 mit dem Titel „Erneuerung des Vaterlandes“) sowie Baņuta (1937) auf. Während der sowjetischen Besatzung musste A. Kalniņš das vom Moskau geforderte Happy-end neu gestalten, als die Oper für das – für 1941 – geplante „Jahrzehnt der lettischen Kunst“ in Moskau vorbereitet wurde. Während des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung durch die Nazis arbeitete A. Kalniņš als Musikinspektor in der Abteilung für Kunsterziehung der Generaldirektion Bildung und Kultur und komponierte das Ballett Staburadze (Uraufführung 1943).

Nach der zweiten sowjetischen Besetzung von Riga (1944) übernahm A. Kalniņš bis 1948 die Aufgaben des Rektors des Lettischen Staatlichen Konservatoriums, und verließ diesen Posten aus Protest gegen die Auflagen der sowjetischen Kulturpolitik.

Die Kreativität von A. Kalniņš umspannt fast das gesamte 20. Jahrhundert. Die erste Hälfte war eine der vielfältigsten und mit fast 900 Kompositionen eine der reichsten. Ein wesentlicher Teil davon befindet sich noch im heute im lettischen Musikleben. Die Oper Banuta hat seit ihrer Uraufführung 1920 acht Aufführungen in Riga und zwei Konzertauftritte im Ausland erlebt. Fast alle 270 Sololieder wurden in mehreren Konzertzyklen und bis heute gespielt.

In Bezug auf Ästhetik und Stil zeigte A. Kalniņšs Werk eine nationale Besonderheit der Musik, die nicht mehr auf dem Epos der Antike und dem Bewusstsein der patriarchalischen Gemeinschaft beruhte, sondern zum ersten Mal in der lettischen Musik so lebendig war wie ein individuell gefundenes Subjekt lyrisches Gefühl. Stilistisch wurde dies nicht durch das Zitieren von Volksliedern sichergestellt, sondern durch die Auswahl bestimmter Elemente der Volksmusik, der Einflüsse der lettischen Poesiepoetik und exquisiter Harmonien der Spätromantik.

Der zweitwichtigste Beitrag von A. Kalniņš ist die Synthese des musikalischen Ausdrucks mit einer malerischen, wie szenischen Musikzeichnung, die den Eindruck von Musik als Poesie des Klangs erweckt. Das Gleichgewicht zwischen Ausdruck und Darstellung in seiner Musik ähnelt der Verschmelzung von Sinnlichkeit und Dekorativismus in flexiblen Jugendstillinien.

Diese bemerkenswert malerisch orientierte Klangpoesie waren die Merkmale, die A. Kalniņš bereits bei seinen großen Vorgängern und Zeitgenossen Andrejs Jurjāns , Jāzeps Vītols und Emīls Melngailis als eine andere Individualität auszeichnetenMitten in E. Dārziņš in der lettischen Musik gefunden hatte. Diese Merkmale, die in seiner Jugend besonders aktuell waren, wurden im Laufe der Zeit durch dramatische Ausdrucksformen, breitere Musikformen und in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ergänzt – mit Merkmalen des expressionistischen Stils, der A. Kalniņš zu einem hellen Innovator der lettischen Musik von machte die Ära. Die bewusste Intellektualisierung und der Konstruktivismus der Musik sind auch in der Kreativität der Jahre der Auswanderung zu spüren, die am Abend des Lebens erneut durch die Dominanz malerischer Texte ersetzt wurde.  (G. H:/ Quelle https://enciklopedija.lv/skirklis/32645/ Übersetzung google/ zur wechselhaften politischen Geschichte Lettlands s. auch https://de.wikipedia.org/wiki/Lettland)

.

„Banuta“: das Nationale Opernhaus Riga vom Architelten L. Bonstets, nach der Renovierung 1995/ Wikipedia

Alfred Kalnins: Banuta; Uraufführung am 29. Mai 1 920 in Riga.; Banuta — Sopran, Daumants – Baß-Bariton, Val- gudis — Bass-Bariton, Vizuts – Tenor, Maiga – Mezzosopran, Zvantevaitis Bariton, Zauberer Tenor, A Iter Mann — Tenor; Zeit, Ort: 14. Jahrhundert, Lettland

Inhalt: 1. Akt: Auf dem Schloß von König Valgudis wird der Königssohn Daumants begrüßt, der von seiner langen Reise eine Braut mitgebracht hat, Banuta, von der sich Valgudis eine Fortsetzung seines Geschlechts erhofft. Banuta erzählt, wie Daumants ihr Leben und ihre Ehre gerettet hat, als ihre Heimat von fremden Eindringlingen über­fallen wurde. Die Hochzeitsfeier wird von bösen Omen überschattet, die Tod verkünden und Daumants daran erinnern, dass er sich einst an der schönen Jargala vergangen hat, nachdem sie sei­nen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Verstört schickt er Banuta und die Gäste fort und bleibt allein mit seinen quälenden Erinnerungen. Jargalas Bruder Vizuts ist es gelungen, heimlich in das Schloss einzudringen, um seine Schwester zu rächen. Die beiden Männer geraten aneinander: Im Zweikampf unterliegt Daumants und wird von Vizuts getötet.

2. Akt: Banuta und Daumants Schwester Maiga trauern an Daumants Sarg. Das Volk versammelt sich, um Abschied von dem Königssohn zu neh­men. Zvantcvaitis macht den Zauberer, der die Omen gedeutet hatte, für Daumants Tod verant­wortlich und will ihn zusammen mit Daumants Leichnam den Flammen übergeben. Um sich zu retten, gibt der Zauberer aber vor, den Geist des Verstorbenen zu beschwören, der Banuta schuldig spräche; auch der verbitterte König Valgudis wirft Banu­ta vor, Tod in sein Haus gebracht zu haben. An­stelle des Zauberers soll nun Banuta in die Flam­men gehen. Als sich jedoch der Trauerzug in Be­wegung setzt, fällt das Schild Daumants Banuta so vor die Füße, daß ihr der Weg zum Scheiter­haufen versperrt wird: ein Zeichen, dass Dau­mants sie nicht beschuldigt. Der König läßt daraufhin Banuta feierlich schwören, solange nieman­den zu lieben, bis Daumants Tod gerächt sei.

„Banuta“: Sonderbriefmarke zum 100. Gedenktag der Uraufführung 1920

3. Akt: Mittsommernacht. Alle feiern – bis auf Banuta. In der Menge bemerkt sie einen jungen Mann, der eine rote Rose auf den Opferaltar legt. Der Glaube besagt, dass das Mäd­chen, das die Blume dort aufhebt, seine Braut werden wird. Banuta nimmt die Rose und klagt darüber, dass es ihr Eid verbiete, erneut zu lieben. Ein Priester hört die Klage und erlöst sie von dem Eid. Schließlich ruft der Hohepriester alle auf, dem Gott des Donners Opfer darzubringen. Vizuts erkennt seine Rose in Banutas Haar und gesteht ihr seine leidenschaftliche Liebe, die sie erwidert.

4. Akt: Später am Abend erscheinen Banuta und Vizuts auf einer Lichtung im Heiligen Hain; sie versichern sich ihre Liebe. Bald erklingen die Trompeten, die Mitternacht ankündigen. Banuta vertraut nun Vizuts ihr Geheimnis an. Erst jetzt erkennt er, dass sie Daumants Braut war, und Vizuts ge­steht, dass er derjenige sei, der Daumants getötet habe. Beide ziehen es vor, gemeinsam in den Tod zu gehen, um nicht getrennt weiterleben zu müs­sen; sie erstechen sich mit Banutas Dolch. Das Volk, das auf die Lichtung strebt, um die auf­gehende Sonne zu begrüßen, findet die toten Lie­benden und bittet die Götter, ihnen ewigen Frie­den zu gewähren. (Quelle Programmheft zur Aufführung in Münster 1984)

Auch für diesen Artikel gibt es – ähnlich wie bei dem über Viktor Parmas Oper Zlatarog – viele Väter, namentlich die Nacionala enciklopedija Lettland, die lettische Wikipedia und zahlreiche andere wie Zeitschriften-Archive etc., die alle waren naturgemäß in lettischer Sprache, daher der google-Übersetzer, der für europäische Sprachen erstaunlich gut funktioniert. Foto oben Sonderbriefmarke zum 100. Jubiläum der Erstaufführung von Banuta in Lettland.G. H.

Aus Wiener Schatztruhen

 

Die Opern des österreichischen Barockkomponisten Johann Joseph Fux (1660 – 1741) sind heute nahezu vergessen. Einzig als Schöpfer sakraler und instrumentaler Werke ist der Musiker, der ab 1698 bis zu seinem Tod als Wiener Hofkomponist tätig war, noch bekannt. Umso verdienstvoller ist die Initiative von PAN CASSICS, mit einem Recital (aufgenommen im September 2020 im österreichischen Stift St. Florian) an das musikdramatische Schaffen des Tonsetzers zu erinnern. Am Wiener Hof dominierte er neben Bononcini, Ariosti und Caldara das Musikleben, seine Arien wurden von legendären Primadonnen (wie Maria Landini-Conti, Kunigunda Sutter, Regina Schoonians, Faustina Bordoni, Ursula Theresia Holzhauser) gesungen. Neun Sopranarien aus Opern und Oratorien sind auf dem neuen Album, das mit  Arias for the Emperor betitelt ist, versammelt (PC 10425). Interpretiert werden sie von Maria Ladurner, einer auf Alte Musik spezialisierten Sängerin. die das Biber Consort begleitet. Das neunköpfige Ensemble hat in der einleitenden Sinfonia aus Giunone placata (1725) Gelegenheit für differenziertes Musizieren zwischen Lyrismen und Affekten. In der Arie der Emilia, „Sì, vendetta io voglio far“, aus Julo Ascanio, der ersten erhaltenen Oper von Fux (1708), kann es mit dramatisch erregten Figuren aufwarten, welche die Gefühle der zwischen Hass und Liebe gespaltenen Heldin widerspiegeln. Und die Solistin der CD vermag mit expressiver Gestaltung und fast veristischen Einwürfen ein plastisches Profil der Figur zu umreißen. Die historische Interpretin dieser Partie, Kunigunda Sutter von Rosenfeldt, war 17 Jahre am Wiener Hof tätig und wirkte im Uraufführungsjahr von Julo Ascanio in sieben weiteren Fux-Produktionen mit, darunter in der Pastorale Eroico von 1710 La decima Fatica d’Ercole, aus dem die wehmütige Arie der Clori „Qual’ il sol in prato“ erklingt. Bemerkenswert ist, dass der Komponist dafür erstmals eine Besetzung für die Instrumente Chalumeau und Theorbe vorschrieb. In einem Primadonnenwettstreit traf die Sutter hier auf Maria Landini-Conti, die in allen Opern von Fux auftrat. Sie wiederum musste sich in Dafne in Lauro (1714) mit Regina Schoonians messen, die von 1717 bis 1740 am Wiener Hof angestellt war und in insgesamt zehn Bühnenwerken von Fux  mitwirkte. Daraus ist die Arie der Diana, „Il voler vincer Amore“, zu hören, die im französischen Stil komponiert ist und Dianas Botschaft an Apollo enthält, sich von seiner Liebe zu Dafne zu befreien. Mit klarer, obertonreicher Stimme vermittelt die Solistin eindringlich diese Botschaft. Eine von der Landini kreierte Partie ist die Titelheldin in Orfeo ed Euridice (1715), aus der „Rondinella, che tal volta“ ertönt – eine Gleichnisarie, die den flatternden Flug der Schwalben nachahmt. Die Sängerin kann hier mit brillanten Koloraturen ihr virtuoses Vermögen beweisen. Die legendäre, 1725 noch junge Faustina Bordoni brachte die Titelfigur in Giunone placata zum Leben. Deren Arie „Io non potea soffrir“ verzichtet gänzlich auf virtuose Koloraturen, setzt dagegen auf inniges Gefühl. Mit entsprechend starker Empfindung und reicher Farbigkeit singt Ladurner dieses Stück.

Drei Beispiele aus Oratorien ergänzen die Auswahl. Das früheste stammt aus dem Jahre 1716 und trägt den malerischen Titel Il Fonte della Salute aperto dalla Grazia nel Calvario. Die allegorische Figur in diesem Stück, La Grazia, war wiederum der Schoonians anvertraut. Zu hören ist die Arie „Vedi, che il Redentor“, mit Chalumeau und Altposaune erneut ungewöhnlich besetzt. Die expressiven Ausrufe sind an den Sünder gerichtet, der seine Schuld bereuen soll. Das späteste Werk (von 1728) nennt sich La Deposizione dalla Croce di Gesù Cristo Salvator Nostro und wird hier mit der Arie der Maria Maddalena, „Caro mio Dio“, vorgestellt. Deren Seufzerfiguren symbolisieren die impulsive Hinwendung zu Gott, die Begleitung der Stimme nur mit Oberstimmen ohne Bass verleiht ihr eine überirdische Leichtigkeit. Ladurner findet in ihrem Vortrag zu Keuschheit und Entsagung. Als letzter Titel erklingt eine Arie der Santissima Vergine („Sì tempra il mio martir“) aus Il Testamento di nostro Signor Gesù Cristo sul Calvario. Auch hier finden sich flehende Ausrufe, die Begleitung für Solovioline und Basso continuo ist von asketischer Strenge. Ladurners Stimme in berührender Innigkeit und mit leuchtenden Obertönen setzt damit einen stimmungsvollen Schlussakkord.

Die Musikauswahl bietet ein eindrucksvolles Zeugnis von der Pracht des Wiener Musiklebens am Hofe der Kaiser Leopold I., Joseph I. und Karl VI. Letzterer wurde 1723 auch zum Kaiser von Böhmen gekrönt. Die aus diesem Anlass in Prag aufgeführte Festoper Costanza e Fortezza fehlt hier leider – sie wäre in ihrer Monumentalität ein interessanter Kontrast zu den vorgestellten Werken gewesen. Bernd Hoppe

 

Aktuell

 

Eher Kurze Geschichten von Opern als eine Kurze Geschichte der Oper in 35 BIldern sind die zweite Auflage von Hans-Klaus Jungheinrichs Opernführer, die der Autor nicht mehr selbst vollenden konnte. Vor zehn Jahren erschien das Werk unter dem Titel „Hohes C und tiefe Liebe“, hatte nicht den gewünschten und erhofften Erfolg und erscheint nun immerhin neu bearbeitet, mit zusätzlichen Kapiteln zu Henze und Rihm und einem aufschlussreichen Nachwort von Wolfgang Molkow.

Jeweils eine Oper wird in den einzelnen Kapiteln vorgestellt, wobei der Belcanto keine Rolle spielt, das 19.Jahrhundert  recht schnell verlasen wird mit nur einer Verdi- und einer Wagneroper, Slawisches mehr vertreten ist als Italienisches, Unbekanntes genauso häufig wie übermäßig Bekanntes.

Einleitend stellt der Verfasser fest, dass moderne Regie wie die von Neuenfels die Oper von dem Vorwurf befreit habe, sie beschäftige den Geist nicht angemessen, dass die Händelrenaissance erst im zweiten Anlauf glückte und durch Übertitel ein erheblicher Fortschritt erzielt worden sei.  Offensichtlich ist seine Position eine zwischen Profilneurotikern und Werktreue-Orthodoxen, er streift das Thema Homosexuelle als Opernpublikum oder die Optik als Hinwegtäuscher über stimmliche Mängel anhand von Felsensteininszenierungen und den vokalen Leistungen der Sopranistin Anja Silja. Seine 35 Lieblingsopern hat der Autor in das Buch aufgenommen, der sich in jeder Zeile seines Buchs als der Gattung leidenschaftlich zugetan erweist und der zu Recht betont, dass sein Buch keinen Opernführer ersetzen kann und nichts für unvorbereitete Leser ist. Und keinesfalls sollten diese darauf hoffen, sie könnten die Geschichte der Oper durch das Betrachten von Fotos erfahren. Davon gibt es kein einziges.

Über den einzelnen Kapiteln steht neben dem Titel der jeweiligen Oper entweder eine kurze Meinungsäußerung, ein Hinweis auf einen aktuellen Anlass oder ein bestimmtes Ereignis, das mit ihm zusammenhängt, als Einstimmung.

Nach dem Lesen der ersten Kapitel wird klar, dass im Mittelpunkt der Betrachtungen weniger die Musik als das Libretto, die Entstehungs- oder Rezeptionsgeschichte stehen, im Fall von Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“  sogar die Entstehung der Gattung als solcher. Besetzungsfragen wie die Untersuchung der Formelemente, die Rolle der Götter in den frühen Werken werden anschaulich und unterhaltsam dargestellt.  Bei Glucks Orphée stehen generell der Orpheus-Mythos, der Begriff „Reformoper“ und Fragen der Tonartencharakterisierung im Vordergrund. Persönliche Kindheitserfahrungen fließen in die Ausführungen zur Zauberflöte ein, heutige Steine des Anstoßes wie Frauenfeindlichkeit- und das N-Wort war beim Erscheinen der Erstauflage wohl noch nicht der Verdammung anheimgefallen. Unterschiedliche Regieansätze  spielen eine Rolle und Hinweise wie der auf Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag. Wird das Kapitel über Fidelio zur Lobpreisung des schlichten Librettos, so das über die Meistersinger  zur Feststellung der Fatalität der C-Dur-Tonart.  Eher vage ist die Stellungnahme zum Schlussmonolog des Sachs, da versagt sich der Autor immerhin nicht dem allgemeinen Bedenkenäußern, ohne dass es heute mehr denn vor zehn Jahren nicht geht.

Kritisch wird es mit dem Übergang zu italienischen Opern, die der Verfasser nicht so gut kennt wie das sonstige Repertoire, denn sonst könnten folgende Irrtümer nicht Eingang in das Buch gefunden haben: Gilda im Rigoletto geht keinen „passiven Schmerzensweg“, sondern opfert sich sehr aktiv für den treulosen Duca, der Messner in Tosca wiegelt die Ministranten nicht gegen Cavaradossi auf, Musetta ist nicht damenhaft, Anna in Le Villi ist nicht Heilige und Hure, Liù lässt sich nicht abschlachten, sondern tötet sich selbst, Butterfly hat Pinkerton nicht viele „glühende Liebesbriefe“ geschrieben, Sharpless ist nicht „schwammig wie sein Name“, sondern nimmt mehrmals gegen Pinkerton Stellung, nicht die Ehe wurde für 99 Jahre geschlossen, sondern der Mietvertrag, Pinkerton hat durchaus Vornamen, nämlich Benjamin Franklin, das Kind tritt nicht nur einmal, sondern zweimal auf. Und dass Kate Pinkerton  unfruchtbar ist, dürfte nach so kurzer Ehe auch nicht erwiesen sein. Das alles mögen kleine Ungenauigkeiten sein, die aber doch das Vertrauen des Lesers in den Text, soweit er dessen Wahrheitsgehalt nicht überprüfen kann, etwas mindern.

Besonders im Kapitel über Carmen wird deutlich, dass der Autor durchaus zu Recht den Anspruch erheben kann, als Wissenschaftler ernst genommen zu werden, dass aber auch zum Vorteil des auf Unterhaltung bedachten Lesers starke essayistische Tendenzen in seinem Text enthalten sind. An Nietzsches Seite stellt er sich, wenn er in der französischen Oper einen Gegensatz zum Tristan und zu den Meistersingern, „mühevoll und handwerksfleißig“ entstanden, sieht. Und stammen Don José und Micaela aus dem Baskenland? Das wäre eine lange Reise für das junge Mädchen gewesen, dessen Tracht unmissverständlich im Libretto Navarra zugeordnet wird.

Interessant sind die Ausführungen zum Thema, warum gerade die Dialoge der Karmeliterinnen einen Platz im Repertoire gefunden haben, inwieweit Opern aus anderen Schreckenszeiten eine besondere Art der „Bewältigung des Ausschwitzsyndroms“ sein könnten, welche Vergleichsmöglichkeiten es zwischen Poulenc und Julien Green  geben könnte, beide katholisch und homosexuell. Auch in diesem Kapitel geht es weniger um die Musik als um die Werkstruktur.

Weit mehr Raum als auf den Spielplänen wird der zeitgenössischen Oper im Buch eingeräumt, was Henze betrifft nicht nur einem, sondern dem Gesamtwerk. Vom Jungen Lord bis zum L’Upupa reichen die Ausführungen, die in Henze einen Komponisten sehen, der „jungen Wein in alten Schläuchen“ hervorbrachte. Des Komponisten Dichterlibrettisten  stehen auch hier eher im Mittelpunkt als die Musik, die Spiegelung zeitgenössischer Probleme im Spiel von Verkleidung und Entlarvung.

„Hineingewachsen in das Altern der neuen Musik“ ist für den Autor der Komponist Lachmann, dem „Wiederholungsverbot der Moderne“ unterworden. In diesem Kapitel geht es sehr viel um die Musik, um das Andersen-Märchen als Metapher für Gudrun Ensslin, und der Verfasser meint, solange es „Theater gibt, die Werke wie diese sich und ihrem Publikum zum Prüfstein machen, ist die Opernkultur noch am Leben.“

Sehr interessant ist das Nachwort, auch weil es gleichermaßen zur Zustimmung (lieber Cornelius‘  Barbier  als zum 100.Mal der Rossinis) wie zum Zweifel (Lohengrin und Tannhäuser kitschverdächtig) anregt und weil der vielgescholtene Richard Strauss gegenüber Adorno in Schutz genommen wird. Im Buch ist er übrigens mit drei Werken vertreten (Wolke Verlag 2021, 295 Seiten, 2. erweiterte Auflage; ISBN 978 3 95593 254 1). Ingrid Wanja  

Verfluchtes Pack

 

„Ständig saufen, fressen, Karten kloppen. Ja, das können sie, während wir schuften.“ Mit der Klage der Köchin Bejlja gibt Ulrike Patows deutsche Übersetzung den Ton der Palastrevolution im Haus der reichen Madame vor. Wir da unten, die da oben. Schon Nestroy hatte in seiner Lokalposse Zu ebener Erde und erster Stock arme Schlucker und Millionär während der Vorbereitung zu einem Ball einander gegenübergestellt. Scholem Alejchems jiddischer Einakter Mazel Tov! von 1889, der Eingang in die Spielpläne jiddischer Theater in Moskau und Warschau fand, konzentriert sich auf die Dienstbotenperspektive, die Mieczyslaw Weinberg in seinem gleichnamigen, auf Deutsch mit Wir gratulieren! übersetzten Kurz-Zweiakter genüsslich und mit viel jiddischen Musikeinsprengseln und Klezmerklängen ausmalt. Im Gegensatz zu seinen bekanntesten Opern, der posthum uraufgeführten Die Passagierin und dem erst 2013 in Mannheim komplett gegebene Idiot, gelangte die 1975 entstandene Kammeroper Wir gratulieren! noch zu Lebzeiten Weinbergs 1983 an der Moskauer Kammeroper zur Uraufführung. Großzügig auf zwei CDs verteilt präsentiert Oehms Classics jetzt den 80minütigen Zweiakter als Mitschnitt der deutschen Erstaufführung in Henry Kochs Fassung für Kammerensemble aus dem Berliner Konzerthaus von 2012 (2 CDs OC 990).

Bejlja (die Altistin Olivia Saragosa) also klagt über die verflossenen Jahre und darüber, dass sie keinen Mann hat. Der Tonfall nobler Prosodie und die ausgepicht instrumental geschickte und kunstvolle Umkleidung sind bekannt. Dann erscheinen der arme Buchhändler Reb Alter (der Tenor Jeff Martin), anschließend treffen Chaim, der Diener aus dem Nachbarhaus (der Bariton Robert Elibay-Hartog), und Fradl, das von ihm angebetete Dienstmädchen der Madame (die Sopranistin Anna Gütter), ein. Die Verteilung der Paare ist klar: während die Madame das Personal an die Verlobung ihrer Tochter erinnert, inszenieren die Dienstboten ihre Doppelhochzeit, „Ob wir arm sind oder reich, Ehr‘ gebühret allen gleich!“ Die im liedhaften Konversationston und locker geflochtenen Parlando gehaltenen Gespräche um Essen und Wein, Reichtum und Literatur sind ein wenig betulich und im ersten Akt weitschweifend, dabei völlig undramatisch, und werden nur durch Weinbergs pointierte und immer wieder überraschende Instrumentation und die Walzer-, Polka- und Hüpftanzmosaike aufgefangen. Die Partitur hat er Schostakowitsch gewidmet. Den zugespitzten Witz und die grotesken Dimensionen seines Lehrers erreicht er, beispielsweise mit dem Zitat von Chatschaturjans Säbeltanz, erst im zweiten Akt, der mit dem pfiffigen Vaudeville „Geld regiert nicht mehr die Welt“ endet. Vladimir Stoupel und die Kammerakademie Potsdam halten das seiner Zeit musikalisch hinterherhinkende Stück in einem dursichtigen Schwebeton, der hohe Textdeutlichkeit sichert, und stellen die Soloinstrumente, die Flöte der Ouvertüre, das Reb Alter zugeordnete Fagott oder ein Violinsolo, vorteilhaft aus. Das Ensemble ist ausreichend gut aufgestellt, voran Jeff Martin, der mit trefflicher Diktion und geschliffenem Tenor im Grabgesang auf Scholem Alejchem oder dem Bänkelgesang „Zu Hause waren wir zehn Jungen“ ins Zentrum der Aufführung rückt; nur Katia Guedes besitzt als Madame nicht genügend Format, um durch deftige Ausfälle, „Die Pest über dich!“ oder „Verfluchtes Pack! Elende! Alles Unglück über euch!“, die Wendung der Handlung glaubhaft zu machen.  Rolf Fath.

Vermitteln, was wichtig ist

 

Der englische Bariton Benjamin Hewat-Craw, gerade mal 28 Jahre jung (er kam mit 22 nach Deutschland), machte nicht nur mit seiner jüngsten CD mit Schuberts Winterreise und deren ungewöhnlchem Cover bei ARS einen interessanten splash. Auch im Gespräch mit Ruth Wiedwald hat man es mit einem interessanten, denkenden Künstler und Menschen zu tun, der zudem gerade Deutschland als seinen festen Wohnsitz gewählt hat – ein willkommener Post-Brexit-Import.

 

Im vergangenen Herbst (2020) kam Ihre Debüt-CD heraus: Schuberts Winterreise im Duo mit dem Pianisten Yuhao Guo. Wie haben Sie nach diesem Kraftakt der Aufnahme (und während des Lockdowns) die vergangenen Monate verbracht? Wir haben in der letzten Woche vor dem ersten Lockdown aufgenommen. Es war eine knappe Sache, aber wir waren natürlich sehr froh, die Aufnahme damals schon fertig gemacht zu haben. Danach sind wir ins Gespräch mit unterschiedlichen Labels gekommen, und wir sind sehr glücklich, dass wir uns für ARS Produktion entschieden haben. Wir fühlen uns dort sehr unterstützt und planen schon unsere nächste CD mit dem Label. Yuhao und ich hatten Konzerte in der Zeit, als der Lockdown nicht so extrem war. Wir sind damals im Theater Mönchengladbach und im DA Kunsthaus Kloster Gravenhorst aufgetreten, was sehr besonders war, da wir die CD in eben jenem Kloster aufgenommen hatten. Wir haben uns auch auf Wettbewerbe vorbereitet – den Hugo Wolf Wettbewerb in Stuttgart und Das Lied in Heidelberg. Trotz des Lockdowns hatten wir also immer etwas zu tun!

Benjamin Hewat Craw und Begleiter Yuhao Guo/ Foto BHC

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie für Ihr Debüt ausgerechnet Schuberts Winterreise gewählt haben? Wir wollten unsere Ankunft in der internationalen Liedszene mit einem Knall ankündigen. Deshalb haben wir uns für die Winterreise entschieden. Einerseits glaube ich nicht, dass es einen ikonischeren Liederzyklus gibt als die Winterreise. Anderseits wollten wir unsere jugendliche Energie in die Interpretation des Stücks einbringen. Wir fanden es sehr spannend zu zeigen, wie anders unser Blickwinkel auf das Werk vielleicht ist.

Yuhao Guo und ich hatten schon seit drei Jahren zusammen als Lied-Duo musiziert und uns besonders intensiv mit der Winterreise beschäftigt. Wir haben uns schon relativ früh vorgenommen, davon eine Aufnahme zu machen.

Was bewegt Sie als jungen Menschen und Sänger an den Stücken besonders? Ich glaube, in ihrer Jugend sind Menschen eher extremer in allem was sie tun. Das Leben ist weniger bequem und man entdeckt die Grenzen vom Leben in diesen Lebenszeiten. In diesem Stück entdeckt der Protagonist seine psychischen und körperlichen Grenzen.

Sinn für Spass: Benjamin Hewat-Craw und Yuhao Guo/ Foto BHC

Ich kann zwar nur für mich sprechen, aber ich konnte mich mit diesem Zyklus immer stark identifizieren. Die musikalische Ergründung der dunkleren Seiten des Menschen haben mich fasziniert, seit ich die Winterreise vor zehn Jahren zum ersten Mal gehört habe.

Warum würden Sie heute jungen Leuten empfehlen die Winterreise zu hören? Ich empfehle jungen Leute den Zyklus zu hören, weil er sehr gut zu unserem Zeitalter mit seinen Herausforderungen passt. Wir leben in einer Zeit, in der wir sehr viel Zeit allein verbringen, nicht nur wegen der Coronakrise, sondern auch wegen der sozialen Medien. In dem Zyklus erleben wir, wie der Protagonist mit seiner Einsamkeit umgeht. Ich glaube, das kann sehr vielen jungen Menschen Mut geben und zeigen, dass sie eben nicht allein sind, sondern dass wir alle gemeinsam allein sind. Jeder, der sich auf das Werk einlässt, wird erleben: Es gibt den Menschen das, was sie wirklich brauchen. Diese Musik und diese Dichtkunst können etwas vermitteln, was wirklich wichtig ist. Das wollen wir ganz direkt zu den Menschen bringen.

Für das Cover Ihrer Debüt-CD haben Sie und Yuhao Guo sich in ein Fuchsfell gehüllt und außergewöhnlich gestyled. Eigentlich sehr entgegengesetzt dem romantischen Anspruch der Lieder. Lieben Sie das Unkonventionelle im Konventionellen? Wir möchten junge Leute in unserem Alter ansprechen, die Facebook und Instragram nutzen. Das gesamte Paket muss stimmen. Viele Leute kaufen nach Aussehen – um dann etwas Schönes darin zu entdecken! Wir denken, wir können etwas Neues und Interessantes dazu beitragen. Es ist so wichtig, den Reichtum der klassischen Musik an die nächsten Generationen zu vermitteln. Auch deswegen haben wir uns für ein etwas schrilles Cover-Design entschieden. Die Optik macht erst einmal neugierig – aber dann folgt die echte Überraschung: Hinter der hippen Verpackung steht absolut seriöse Kunst, die höchsten Ansprüchen gerecht wird, die emotional und intensiv ist.

Genauso ungewöhnlich ist es sicherlich, dass Sie im Alter von 22 Jahren entschieden haben, Ihre Heimat Großbritannien zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Was hat Sie dazu bewegt? Ich habe zu dieser Zeit von einem Bariton Unterricht bekommen, der in Deutschland gelebt hat. Ich kam nach Deutschland, um mehr von ihm zu lernen und intensiver mit ihm zu arbeiten. Im Nachhinein war es schon schwierig, hier ein neues Leben aufzubauen, aber ich war zu einem gewissen Punkt blauäugig und das hat interessanterweise geholfen. Es war leichter damals, mit so einem Umzug mehr zu riskieren.

Was schätzen Sie an Deutschland? Ich liebe allgemein die Wertschätzung der Kulturszene. Ich weiß, in diesen Coronazeiten hat die Regierung zurecht viel Kritik bekommen. Opernhäuser und Konzertsäle sind zu, und das ist sehr schade. Ich verstehe die Ernsthaftigkeit der Situation, aber immerhin werden die Arbeitnehmer in den Theatern weiter finanziell unterstützt und es gibt großzügige Zuschüsse für die freie Kulturszene von der Regierung. International gesehen ist Deutschland immerhin ein Paradies für die Kunst im Vergleich zu anderen Ländern in Europa. Ich versuche das Gesamte hier positiv zu bewerten, weil allgemein die Situation hier vergleichsweise sehr gut ist.

Und nun mal seriös: Benjamin Hewat-Craw/ BHC

Wie sind Ihre weiteren Pläne? Geht es mit der Winterreise auf Tour (sofern es wieder möglich sein sollte) oder haben Sie bereits neue Projekte, über die Sie uns etwas verraten können?  Eine Winterreise-Tour haben wir auf jeden Fall vor. Auftritte in Berlin und Hamburg sind in der Planung. Unsere nächste CD wird eine mit englischen Liedern. Sie wird drei Zyklen von Vaughan Williams, Butterworth und Gurney enthalten, die alle in den zehn Jahren vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben wurden. Der Titel der CD wird Never such innocence again sein, was auf Deutsch soviel heißt wie Niemals wieder eine solche Unschuld. Erscheinen wird sie im März 2022. Das Gespräch führte für operalounge.de Ruth Wiedwald  (alle Fotos @Benjamin Hewat-Craw; https://www.benjaminhewatcraw.com/).

Immer wieder Brahms

 

Nach Eins kommt bekanntlich Zwei. Zur höchst erfreulichen Einspielung der ersten Sinfonie von Johannes Brahms mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter seinem Ehrendirigenten Herbert Blomstedt gesellt sich nun die Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73 (Pentatone PTC 5186 851). Geplant ist ein kompletter Zyklus.

Tatsächlich legte das Label Querstand bereits einen Mitschnitt dieses Werkes in derselben Kombination aus dem Jahre 2000 vor. 19 Jahre später (die Neuaufnahme entstand im Oktober 2019 im Gewandhaus zu Leipzig) wurden die Tempi des damals sage und schreibe bereits 92-jährigen Dirigenten gar noch ein klein wenig flotter, freilich nie übereilt (21:04 – 9:37 – 5:04 – 9:06). Die Klangqualität übertrifft die bereits sehr gut klingende Vorläuferin; störende Nebengeräusche gibt es trotz des explizit erwähnten Live-Charakters mitnichten.

Diese D-Dur-Sinfonie ging aufgrund ihrer lebensbejahenden Heiterkeit als „Brahmsens Pastorale“ in die Musikgeschichte ein. Anders als die Vorgängerin in c-Moll, von der sie sich insgesamt stark unterscheidet, entstand sie in einem kurzen Zeitraum im Jahre 1877. Ihre Uraufführung in Wien unter Hans Richter geriet zum Triumph für den Komponisten. Eduard Hanslick sah das Werk als Beweis dafür, „daß man (freilich nicht jedermann) nach Beethoven noch Symphonien schreiben kann“.

 Ungemein süffig und natürlich im besten Wortsinne gelingt Blomstedt der große Kopfsatz, sowohl in den lyrischen wie auch in den dramatischen Passagen schlechterdings idealtypisch. Eine Rückbesinnung auf die Grundstimmung „Zurück zur Natur“ der Beethoven’schen Pastorale lässt sich kaum leugnen. Das darauffolgende Adagio, eine Mischung aus Lied- und Sonatensatz, darf als einer der bezwingendsten langsamen Sätze im Schaffen von Brahms gelten. Man kann sich Jörg Peter Urbachs Auffassung im Beiheft anschließen, dass hier eine ungewohnt starke Nähe zum Antipoden Anton Bruckner nachweisbar ist. Schön rein von den Dimensionen her hat der tänzerische dritte Satz das geringste Gewicht. Ein wirkliches Scherzo hat Brahms hier jedenfalls nicht intendiert. Im Schlusssatz wird neuerlich das Hauptthema des ersten Satzes aufgegriffen. Dieses Finale mit all seinen kunstvollen Variationen kann als ein absoluter Höhepunkt in der spätromantischen Sinfonik gelten, Applaus gleichsam mit komponiert.

Abgerundet wird die Neuerscheinung durch eine feurige Darbietung der zehnminütigen Akademischen Festouvertüre c-Moll op. 80, die trotz ihrer nominellen Grundtonart zum Inbegriff einer feierlichen Jubelstimmung wurde und die zweite Sinfonie adäquat ergänzt. Anders als ihre Schwester, die Tragische Ouvertüre, genießt sie bis zum heutigen Tage hohe Wertschätzung beim Publikum. Besonders das populäre Studentenlied Gaudeamus igitur als theatralischer Maestoso-Abschluss trägt dazu sicherlich einen ganz erheblichen Teil bei. Entstanden ist sie im Sommer 1880, anderthalb Jahre nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Breslau an Brahms am 11. März 1879.

Eine hochwillkommene Fortsetzung dieses brandaktuellen Zyklus, der damit bereits die halbe Wegstrecke zurückgelegt hat. Künstlerisch und klanglich ausgezeichnet. Man freut sich auf die noch ausstehenden Sinfonien Nr. 3 und 4. Daniel Hauser

 

Herbert Blomstedt, der bescheidende Amerikaner mit schwedischen Wurzeln, der mittlerweile im sage und schreibe 94. Lebensjahr steht, ist ein Phänomen. Zurecht der Nestor unter den heutigen Dirigenten, erlebt er im hohen Alter, nicht ganz unähnlich weiland Otto Klemperer, seinen Indian Summer, obwohl er freilich seit den 1950er Jahren irgendwie immer präsent war, ohne jemals den Status eines „Stardirigenten“ anzustreben. Dazu ist Blomstedt zu honorig und seriös. Dass die Musik des Norddeutschen Johannes Brahms unter seiner Stabführung bestens aufgehoben ist, liegt insofern praktisch auf der Hand. Gleichwohl musste er die neunzig überschreiten, ehe er nun endlich eine offizielle Einspielung der großen ersten Sinfonie von Brahms auf dem dem stets für Überraschungen guten Label Pentatone vorlegen kann (PTC 5186 850).

Wie der Kenner weiß, ist es natürlich keine Erstbegegnung, hat sich Blomstedt doch schon vor Jahrzehnten mit Brahms‘ Werken auseinandergesetzt und bereits während seiner Zeit in San Francisco (1985-1995) das Deutsche Requiem, von der Kritik gefeiert, bei Decca vorgelegt. Noch vor seiner Berufung zum Gewandhauskapellmeister in Leipzig spielte er sodann 1996 die vierte Sinfonie ein, wiederum für Decca. Das Label Querstand veröffentlichte einen Mitschnitt der zweiten Sinfonie aus dem Jahre 2000 und in der nur als Online-Download erhältlichen Reihe Decca Concerts erschien eine Live-Aufnahme der dritten Sinfonie, 2007 aufgezeichnet. So schließt sich nun gewissermaßen der Kreis, indem jetzt endlich auch die Erste folgt, die zwar chronologisch am Anfang steht, aber in gewisser Weise doch den Höhepunkt des sinfonischen Schaffens Brahmsens darstellt.

Beinahe jeder Dirigent von Rang hat sich irgendwann im Laufe seiner Laufbahn mit der c-Moll-Sinfonie op. 68 auseinandergesetzt, die Hans von Bülow als Beethovens Zehnte adelte. Kaum eine Sinfonie dürfte einen langwierigeren Entstehungsprozess gehabt haben als dieses Werk. Sage und schreibe vierzehn Jahre mussten vergehen, ehe sie 1876 endlich zur Uraufführung bereit war. Es gibt eine interessante Parallele zum seinerzeit ebenfalls bereits 90-jährigen Leopold Stokowski, der die Erste von Brahms in seinem spektakulären Rückkehrkonzert in London 1972 noch einmal aufführte. Auch wenn der Dirigententypus, den Stokowski verkörperte, kaum unterschiedlicher sein könnte, so ist es doch gleichsam ein verbindendes Element zum greisen Blomstedt. Die erste Sinfonie von Brahms ist mitnichten ein Werk für Anfänger. Und der altersweise Zugriff, den Blomstedt diesem Opus magnum angedeihen lässt, spricht vollumfänglich für sich. Mit 50 Minuten Spielzeit wählt er die adäquaten Zeitmaße, bei denen sich Tempofragen gar nicht erst stellen. Vom ersten bis zum letzten Takt klingt es schlicht und ergreifend richtig. Der monumentale Kopfsatz, hier 17 Minuten lang, mit einem der einprägsamsten Auftakte in der gesamten Sinfonik weist bereits den Weg. Keine noch so kleine Phrasierung ist hier zufällig, alles durchdacht und in sich überzeugend. Obwohl der Interpretation eine norddeutsche Ernsthaftigkeit nicht abzusprechen ist, ist sie doch gleichwohl keineswegs von einer kühlen akademischen Strenge, die jedwedes Gefühl im Ansatz unterdrückt. Blomstedts Brahms ist ein zutiefst menschlicher, nahbarer, was gerade im träumerischen langsamen zweiten Satz hervorsticht. Die Leichtigkeit des kurzen dritten Satzes, der nicht wirklich ein Scherzo darstellt, bildet den idealtypischen Kontrast zum titanenhaften Finale. Dunkel timbriert, erzielt das exzellente Gewandhausorchester den für Brahms mustergültigen Tonfall. Blomstedt lässt sich nicht dazu verleiten, in der Adagio-Einleitung das Tempo anzuziehen. Erst nach ziemlich genau fünf Minuten erklingt der einprägsame Hymnus als Hauptmotiv und wiederum behält der brillante Dirigent die Zügel fest in der Hand. Die Coda gerät selbstredend zum Höhepunkt, wobei das Choralthema eindeutig protestantisch-asketische Züge hat. Großartig die Detailarbeit bis zum Schluss, wo die hier oft untergehenden Blechbläser noch einmal auftrumpfen können. Die zurecht gerühmte Akustik des Gewandhauses zu Leipzig unterstützt dies kongenial. Als Beigabe rundet die Tragische Ouvertüre d-Moll op. 81 die Compact Disc ab. Sie steht zu Unrecht im Schatten der berühmteren Akademischen Festouvertüre. In ihrem dunkel-festlichen Charakter ist dieses Stück sicherlich näher an der ersten Sinfonie denn an der zweiten, nach welcher sie im Jahre 1880 entstand, insofern ist die von Pentatone gewählte Kombination sinnig. In Blomstedts Interpretation verliert auch diese Ouvertüre etwas von ihrer Schwere und erklingt mustergültig. (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser