Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Festivals 2024

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Zehn Jahre Donizetti Opera: Das Festival in Bergamo feiert mit Roberto Devereux, Zoraida di Granata und Don Pasquale. Bergamos Donizetti Festival feiert sein zehnjähriges Bestehen. Unter neuer Zeitrechnung und mit dem Titel Donizetti Opera. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man sich in Bergamo unter dem Titel Donizetti Renaissance der unbekannten Werke Donizettis annehmen, ab 1982 nannte sich ein ähnliches Unterfangen Donizetti e il suo tempo und ich kann mich gut an Raritäten wie Sancia di Castiglia und Gemma di Vergy erinnern.

Anders als alle Vorgänger versucht Donizetti Opera neben den philologisch skrupulösen Editionen von Donizettis Werken die gesellschaftliche Relevanz des Komponisten, seine Modernität und Aufgeschlossenheit zu betonen, sowie, laut des künstlerischen Leiters Francesco Micheli, „Donizettis revolutionäre Theatralik mit der Gegenwart verbinden, da wir glauben, dass kein Theater so zeitgemäß, vital und notwendig ist wie das von Donizetti“. Ob das gelungen ist oder gelingen kann, sei dahingestellt. Auf jeden Fall entfach das Festival ein Spektakel, das auf einer Piazza unweit des Opernhauses mit LU OpeRave beginnt, einer in Anlehnung an Lucia di Lammermoor benannten Veranstaltung, in der Donizettis Musik „meets electronics and new trends“. Dazu das obligate Vermittlungsprogramm aus Familien-, Kinder- und Jugendangebot, offenen Proben, Gesprächen und Serien. Die Karten-reservierungen übertrafen die des Vorjahres, Sponsoring und Spenden waren bedeutend. Donizetti ist in der Stadt in aller Munde. Das ist gut so.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Roberto Devereux“/Szene

Das Programm ist die Mischung, die sich über die letzten Jahre bewährt hat: Das Hauptinteresse liegt dabei auf dem #donizetti200-Projekt, den vor exakt 200 Jahren uraufgeführten Opern Donizettis, also der 1824 in einer zweiten, völlig umgekrempelten Fassung an Roms Teatro Argentina erstmals aufgeführten Zoraida di Granata, deren Uraufführung zwei Jahre zuvor im gleichen Theater erfolgt war. Die Eröffnung bildet der auf mirakulöse Weise wieder international ins Repertoire zurückgekehrte Roberto Devereux, das Glanzstück aus Donizettis Spätphase (Neapel 1837). Zuletzt dann Don Pasquale (Paris 1843), ein Meisterwerk der komischen Oper und Donizettis letztes Werk, das sich dauerhaft im Repertoire behaupten konnte.

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Der Tod tanzt mit. Ein keckes Gerippe, das aus den dunklen Ecken aufraucht und die gleichen Gewänder wie die Königin trägt. Den düsteren Schlusspunkt der im 16. Jahrhundert spielenden Tudor-Kapitel, die Donizetti vom frühen Castello di Kenilworth über Anna Bolena und Maria Stuarda erzählte, bildet Roberto Devereux nach einem Libretto von Salvatore Cammarano. Das Werk entstand in düsterer Zeit, in der Donizettis dritter Sohn die Frühgeburt nur eine Stunde überlebte und seine Frau Virginia kurz darauf starb. Am Ende der Tetralogie bricht Elisabeth I., die bei allen Werken im Hintergrund immer mitgedacht werden muss, nach der Hinrichtung ihres letzten Liebhabers zusammen. Im Vorjahr hatte das Theatre de la Monnaie die Renaissance-Thriller in Anspielung an Elisabeths uneheliche Geburt unter dem Titel Bastarda üppig aufgeputzt und findig auf zwei Abend komprimiert und konzentriert – Elisabeth war die uneheliche Tochter von Heinrich VIII., ihre Mutter war die von Heinrich VIII. zum Tode verurteilte Anne Boleyn, ihre Kusine Maria Stuart. So erfolgreich das Brüsseler Verfahren offenbar war, verbietet sich eine solche Fassung für Bergamo. In Bergamo hatte man zuletzt das erste Auftreten der Elisabeth in Donizettis Schaffen 2018 mit Il Castello di Kenilworth gefeiert, nun also der entsagungsvolle Schlusspunkt mit Roberto Devereux in der kritischen Edition von Julia Lockhart.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Roberto Devereux“/Szene

Wieder ist Jessica Pratt Elisabeth I. von England, wieder steht der musikalische Leiter des Festivals Riccardo Frizza am Pult, der erklärte Roberto Devereux sei seine Lieblingsoper von Donizetti. Fürs britische Flair ist Stephen Langridge zuständig, der in dieser Zusammenarbeit mit dem Theater in Rovigo mit seiner irischen Kollegin Katie Davenport einen Hauch der elisabethanischen Ära nach Bergamo brachte. Elisabethanisch sind vor allem die steifen Halskrausen des Chores, den wackeren Choristen dell‘Acccademia Teatro alla Scala, die entsprechend ihrer wenig handlungsrelevanten Stichwort-Aufgaben hinter Holzbalustraden zum dekorativen Rahmen verkommen. Für Langridge und Davenport ist Donizettis letzte Elisabeth-Tragödie ein einziges Memento mori, ein szenisches Sinnbild für irdische Vergänglichkeit, wie sie die auf einem Tisch aufgebauten Stillleben inklusive Stundenglas und Totenschädel und die verblühten Blumensträuße an der Rampe symbolisieren. Mehr noch das tanzende Gerippe, das unschwer als Doppelgänger der Königin zu erkennen ist. Immer noch scheint es fleischlichen Gelüsten nicht abgeneigt, umgarn einen jungen Mann, wirft ihn aufs große Bett der Königin und umfasst ihn. Das tanzende Skelett ruft Ekel, Abscheu und Grauen der Königin hervor, die ihr Ende gespiegelt sieht. Es ist ein intimes Stück, das zwischen Elisabeth und ihrem halb so alten Geliebten Leicester spielt, der sich in Sara, die Gattin seines Freundes, des Herzogs von Nottingham, und die engste Vertraute der Königin verliebt hat. Düster und beklemmend ist die Atmosphäre in Westminster und in den Gemächern der Herzogin. Hinter dem Rahmen aus Leuchtröhren, die manchmal blendend aufleuchten und die Handlung einfrieren, entwickelt Frizza das Stück mit dem Orchestra Donizetti Opera akribisch und langsam, verzichtet in der kritischen Edition auf das wirkungsvolle God save the Queen-Zitat, das Donizetti erst ein Jahr nach der Uraufführung in die Sinfonia einbaute, und vertraut auf einen flüsternden, raunenden Ton. Das wirkt rasch etwas spannungslos, vor allem, da man den Eindruck gewinnt, dass die Sänger die lange Anlaufzeit des ersten Aktes zum Einsingen nutzen. Ab dem zweiten Akt gewinnt die Aufführung nach der Pause deutlich an Dramatik. Das liegt auch an Jessica Pratt, deren Sopran für diese Partie vermutlich zu leicht, zu einfarbig und ausdrucksarm ist. Dennoch entwickelt die australische Sopranistin ab dem großen Terzett im zweiten Akt mit Roberto und Nottingham das leidenschaftliche Porträt einer verletzten Frau. Das ist spannend, auch wenn manch Phrasen etwas gewollt und vulgär oder flach und quasi gesprochen geraten, doch insgesamt ist Pratts Stimme von einheitlich sanfter Qualität. Das Finale, die bedeutende „Vivi, ingrato“-Szene und die Aria finale, geraten Pratt packend, erreichen die rechte Mischung aus Atemlosigkeit, Hysterie und Verzicht. Auch John Osborn klingt als Titelheld anfangs etwas verhalten, zeigt sich in seiner großen Szene in der Gefängniszelle aber als der überlegene Stilist und technisch formidable Sänger, der „Come uno spirto angelico“ atemstockend über unendliche Piano-Phrasen langsam zu großer Dramatik steigert. Die kalabrische Mezzosopranistin Raffaella Lupinacci beeindruckt als Sara durch einen hellen, sopranklaren und beweglichen Mezzosopran, Simone Piazzola bringt für den Herzog von Nottingham die Qualitäten eines routinierten Verdi-Baritons mit. Auffallend der litauische Bassbariton Ignas Melnikas, der Elisabeths Vertrauten Raleigh markant bassbaritonales Profil verlieh (15. November 2024).

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Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Zoraida di Granata“/Szene

Es war ein weiter Weg bis zu diesem musikalisch ausbalancierten und dramaturgisch mustergültigen verdichteten Seelendrama, wie wir am nächsten Abend am Beispiel der modernen Wiederaufführung der Zoraida eindringlich erleben (16. November). Allerdings sind die Dimensionen einer – inklusive Pause – fast 3 ¾ endlose Stunden dauernden Seria auch dazu angetan, den Zuschauer in einen komatösen Zustand zu versetzten. Zoraida di Granata war einer der ersten unangefochtenen Erfolge Donizettis, der sich damit auf dem Gebiet der altmodischen Opera seria profilierte. Das Libretto von Donizettis Mitschüler und späterem Scala-Direktor Bartolomeo Merelli, der Verdi zur Nabucco-Vertonung drängte, basiert auf dem Roman Golzalve de Cordoue, ou Grenade reconquise des Dichters Jean-Pierre Claris de Florian (1755-94), der sich einen Namen durch seine Fabeln machte. Luigi Romanelli (1751-1839) hatte daraus das Libretto für Giuseppe Nicolinis (1762-1842) 1805 an der Mailänder Scala uraufgeführte Abenamet e Zoraide gemacht. Zoraida di Granata beinhaltet die typischen und ermüdenden Seria-Verstrickungen, bei denen sich irgendwann niemand mehr dafür interessiert, ob noch eine Kerkerhaft oder Hinrichtung droht, ob noch ein unerkannter Ritter oder böser Tyrann naht.

Die Handlung spielt im maurisch beherrschten Granada im späten 15. Jahrhundert. Als neuer König von Granada begehrt Almuzir, der den früheren Herrscher gestürzt und getötet hat, dessen Tochter Zoraida zur Frau. Zoraida liebt bereits Abenamet, Almuzirs Generals und Überhaupt des edlen maurischen Geschlechtes der Abencerragen. Almuzir wirft Abenamet zunächst ins Gefängnis, schickt ihn dann aber auf Drängen seiner Anhänger in die Schlacht gegen die Spanier mit dem ausdrücklichen Befehl, die mitgeführte Fahne wieder zurückzubringen. Abenamet siegt, kehrt aber ohne die Fahne des Königreichs nach Granada zurück, worauf ihn Almuzir des Verrats beschuldigt und zum Tode verurteilt. Nun kommt Zoraida ins Spiel, die einwilligt Almuzir zu heiraten, wenn er Abenamet am Leben lässt. Nach seiner Freilassung trifft Abenamet nochmals Zoraida und erkennt, welchem Opfer er sein Leben verdankt. Das Treffen wird von Almuzirs Vertrauten Ali belauscht, worauf Zoraida des Verrats beschuldigt und zum Tode verurteilt wird, es sei denn ein Ritter kämpfe im Duell für ihre Unschuld. Ein unbekannter Ritter erscheint und trägt die vermisste Fahne mit sich. Er verwundet Ali, der auf Befehl Almuzirs die Fahne ins spanische Lager schmuggelte, um Abenamet zu beschuldigen. Der Fremde ist kein anderer als Abenamet. Das Volk fordert Rache für die Missetat des Königs, doch Abenamet kennt kein süßeres Vergnügen als die Verzeihung und vergibt ihm großmütig, worauf der von dieser noblen Haltung überwältige Almuzir auf Zoraida verzichtet und sich die Freunde versöhnen. Wie stets werden alle Verwicklungen am Ende ganz rasch geklärt und Abenamet kann im finalen Rondo jubilieren, „Da un eccesso di tormento“.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Zoraida di Granata“/Szene

In der zweiten Fassung versuchte Rossinis Aschenputtel-Librettist Jacopo Ferretti eine Verbesserung des Textes, denn auf Wunsch des Impresarios Giovanni Paterni revidierte Donizetti zwei Jahre später die Oper und erweiterte vor allem die Partie des Abenamet, die von der bedeutenden Rossini-Altistin Rosmunda Pisaroni übernommen wurde. In dieser musikalisch weitgehend neu gefassten Fassung vom 7. Januar 1824 wurde Zoraida di Granata jetzt im Teatro Sociale in Bergamo erstmals wiederaufgeführt. Im Gegensatz dazu hatte das Wexford Festival, mit dem die Koproduktion von Bruno Ravellas Inszenierung zustande kam, die erste Fassung aufgeführt; aus Wexford stammt auch der Almuzir des südkoreanischen Tenors Konu Kim, der 2019 in Bergamo den Leone di Casaldi in L’ange de Nisida. Für beide Fassungen wird die kritische Ausgabe von Edoardo Cavalli benutzt. Stärker noch als in Donizettis frühen komischen Opern drücken die Schablonen der Zeit, ersticken geradezu jeden individuellen Zugriff. Der Ton ist, wenn auch nicht wirklich unverkennbar, schon typisch Donizetti, statt des klassizistischen Ebenmaß eines Rossini, dessen Vorbild einen übermächtigen Schatten wirft, vernimmt man in der orchestralen Verdichtung und Verfeinerung den Klang der Romantik, beispielsweise in Zoraidas süßlich sentimentaler Romanze im zweiten Akt „Rose, che un di spiegaste“, während die Cavatine im ersten Akt kaum über formelhafte Figuren hinausreicht. Dagegen ist der finale Rondo-Jubel des Ritters Abenamet wie eine Fortsetzung von Angelinas „Nacqui all’affanno“. Vermutlich hätten sich Cecilia Molinari und ihr kleiner leichter Mezzosopran in den Cenerentola-Regionen auch wohler gefühlt als in der Rüstung des Ritters, die eine ganz andere vokale Statur und letztlich auch darstellerische Präsenz verlangt. Zusana Markova sang mit sauberem Sopran und stabiler Höhe eine lyrisch verinnerlichte Zoraida, Kanu Kim war mit grell gellendem, fast charaktertenoralem Tenor, dem er Höhen abzwang, mit denen er Maries Tonio Konkurrenz machen könnte, ein finster wütender Almuzir. Der sehr junge Valerio Morelli überraschte in der Bravourarie des Ali zu Beginn des 2. Aktes mit einem gravitätischen Koloraturbass von Format, auf die Arie für die Nebenfigur Ines (Lilla Takács) hätte man gut verzichten können. Alberto Zenardi versuchte mit dem auf Originalinstrumenten spielenden Orchestra Gli Originale einen wachen Klang zu erzeugen, wurde aber von den langen Seccorezitativen ausgebremst. Es sängen die Herren des Coro dell’Accademia Teatro alla Scala. Regisseur Bruno Ravella hat das kriegerische Stück um die muslimischen Mauren in das muslimisch geprägte Sarajewo zur Zeit des Bosnienkrieges verlegt. Genauer in die Vijećnica, in der 1992 während der Belagerung zwei Millionen Bände und Dokumente der Geschichte Bosniens verbrannten. Die Bilder des in diesen Ruinen Cello spielenden Musikers gingen um die Welt. Den im neogotischen, pseudo-maurischen Stil errichteten Bibliotheksraum hat Gary McCann für die zwei Akte der Zoraida di Granata nachempfunden und Daniele Naldi manchmal so interessant beleuchtet, dass die über mehrere Etagen reichenden Säulenreihen und Kreuzgewölbe im Schattenspiel wie von Piranesi entworfen wirkten. Ravella hat das langweilige Geschehen entsprechend langweilig und schmucklos und ohne Bezug zum dekorativen Raum arrangiert. Am Ende – die Vijećnica wurde 2014 wieder rekonstruiert – senkt sich das Glasdach mit den wiederhergestellten bunten Ornamenten über den versöhnten Kriegern herab. Der Applaus für das Melodramma eroico war freundlich.

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Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Don Pasquale“/Szene

Nichts schiefgehen kann bei der letzten Produktion. Don Pasquale ist eine sichere Nummer (17. November). Amélie Niermeyer hat die Tragödie des alternden Mannes 2022 in Dijon, mit dessen Opéra das Dramma buffo koproduziert wurde, geschickt ins Heute geholt und ist den Figuren mit viel Gespür für menschliche Faiblesse auf den Leib gerückt. Die drei Akte spielen vor, neben und hinter Don Pasquales Flachbungalow von Maria-Alice Bahria, wo Pasquale auf der Terrasse vor der großzügig bestückten Bar und zwischen der weitläufigen Sitzlandschaft sportlicher und meditativer Selbstertüchtigung nachgeht und die drei Bediensteten Grünpflanzen abstauben und Getränke servieren. Der unwillige Neffe Ernesto wird aus diesem Paradies vertrieben und kampiert mit seinen Rollkoffern neben den Mülleimern auf der Rückseite des Hauses, wo im Dunkel auch eine Gestalt hockt, die das Trompetensolo zu seiner Arie spielen wird. Auf der anderen Seite hat es sich Norina in der Hoffnung, Ernesto werde seinen Onkel dazu bringen, die Einwilligung zu einer Heirat mit ihr zu geben, in ihrem kleinen roten Auto komfortabel und abrufbereit eingerichtet. In dieser Aufführung ist Norina die Drahtzieherin. Mit ihr und ihren kreischend bunten Freunden stürmen nach der Eheschließung mit Don Pasquale halluzinogene Farben in die saubere Villa der Lego- „Friends“-Welt –. „L‘amore è libero“, „L’amore non ha età“ sowie „L’amore non ha confini“ steht auf ihren Plakaten, womit Donizetti zur Freunde des künstlerischen Leiters einmal mehr seine gesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellt. Und mitten drin ein pinker Elefant; man frage nicht, wieso und warum. Nichts wird Norina am Ende aufhalten, sich wieder hinters Steuer zu setzen, auf den gesicherten sozialen Aufstieg zu pfeifen und eine noch bessere Zukunft zu suchen. Niermeyer hat den Freiheitssinn der in grelle und enge Klamotten gewurstelten jungen Frau mit dem großen Herzen schön ausformuliert. Die junge Giulia Mazzola, die bereits in der Arena von Verona die Gilda gesungen hat, ist die rechte Interpretin für das vom benachteiligten Gör zur Ballprinzessin aufgestiegene Aschenputtel mit einem knackigen, reschen Sopran, ausgesprochen quecksilbriger Beweglichkeit, elegant aufblühenden Phrasen und gesanglichem Know-how und Timing, das die Komödie voran- und die Männer vor sich hertreibt. Dieser Sinn für Tempo und Szene fehlt noch dem Mexikaner Iván López-Reynoso, der sich als akkurater Sachwalter schwertat, das Orchestra Donizetti Opera und den Chor der Accademia della Scala zusammenzuhalten. Roberto de Candia ist ein gemütlicher, in sich ruhender Pasquale, der die große Attitüde wie den prägnanten Plappergesang souverän aus dem Ärmel schüttelt. Der Malatesta des Dario Sogos ist ein guter Typ, ein junger Arzt wie aus der Vorabendserie, der vor allem darstellerisch punktet und sich gesanglich noch einiges von dem Alten abschauen kann. Neu übrigens ist in der kritischen Ausgabe von Roger Parker und Gabriele Dotto, deren offizielle Veröffentlichung für 2026 geplant ist, eine erstmals seit 1843 gehörte Passage des Duetts Pasquale/ Malatesta. Den Ernesto singt Javier Camarena noch immer mit sämigem Ton, dessen Goldglanz in der Höhe etwas an Strahl eingebüßt und in der Tiefe an Glanz verloren hat, aber in der Serenata und dem anschließenden Notturno-Duett „Tornami a dir“ hinreichend sinnlichen Pianozauber verströmt. Rolf Fath

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Teatro Regio di Parma: Festival Verdi 2024 mit dem französischen Macbeth sowie La Battaglia di Legnano sowie Un ballo in maschera in Busseto. Hier in Parma können Freunde von CDs und DVDs noch schwelgen. Das Angebot im Foyer des Teatro Regio ist überwältigend. Konzentriert selbstverständlich auf Verdi. Zum Auftakt des diesjährigen Festival Verdi stechen aus heimischer Produktion Macbeth mit Renato Bruson und Ghena Dimitrova ins Auge sowie mit Ludovic Tézier und Silvia Della Benetta. Letzterer als (so annonciert)  World Premiere oft the original 1865 Version for Paris.

Im Pandemie-Jahr 2020 konnten die Aufführungen nur konzertant im Parco Ducale stattfinden, zum Auftakt des diesjährigen Festivals wird der französische Macbeth in szenischer Version nicht einfach nur nachgeholt, sondern erstmals szenisch präsentiert; der italienische Macbeth in der Fassung von 1847 stand zuletzt 2018 auf dem Programm. Wie 2020 dirigiert wieder Roberto Abbado, es spielen und singen die Filarmonia Arturo Toscanini und der Chor des Teatro Regio di Parma. Die Besetzung ist jedoch eine andere. Schön, dass der künstlerische Leiter Alessio Vlad, der im Vorjahr Anna-Maria Meo nachfolgte, die dem Festival zu hohem Aufmerksamkeit verholfen hatte, die französische Rarität nachholt, die sich gut an den französischen Le Trouvère in der Inszenierung von Robert Wilson anfügt. Der fand 2018 im spektakulären Ambiente des Teatro Farnese im Komplex des Palazzo Ducale statt. Auf eine derart einzigartige Lokalität kann Vlad nicht hoffen. Erneut weicht er für konzertante Aufführungen des Attila in das 2022 erstmals vom Festival genutzte Teatro Magnani nach Fidenza aus und selbstverständlich bespielt er mit Un ballo in maschera das Teatro Verdi in Verdis Wohnort Busseto.

Die größte Aufmerksamkeit richtet sich bei so viel braver Hausarbeit auf La Battaglia di Legnano, die in Parma zuletzt 2012 gegeben wurde, doch weltweit eine absolute Rarität geblieben ist. Während die Rarität mit geschicktem Kalkül wieder Valentina Carrasco anvertraut wurde, die vor zwei Jahren mit dem auf den Genueser Schlachthof verlegten Ur-Boccanegra von 1857 aufs Heftigste die Gemüter der Besucher erregt hatte, ging man mit Pierre Audi für Macbeth auf Nummer sicher. Wie die Senioren Pier Luigi Pizzi und Yannis Kokkos, die zuletzt die Eröffnungen betreuten oder die kaum jüngeren Hugo de Ana und Cesare Lievi zuvor, repräsentiert Audi einen zweckdienlichen, altmodischen Theaterstil.

Zum 24-mal findet das Festival Verdi statt, doch erst seit 2007 in der bei Touristen immer noch sehr beliebten Zeit von Mitte September bis Mitte Oktober, in die Verdis Geburtstag am 10. Oktober so praktisch fällt. Dann wird das Teatro Regio zum Zentrum der Stadt. Wobei das Festival seit Jahren weit in die Stadt und die Region reicht und mit einer karnevalsumzugsmäßigen Verdi Street Parade die Sammlung von hunderten Verdi Off-Veranstaltungen und Konzerten eröffnet. Nach den jungen Leuten und den obligaten Tanznummern ist es dann endlich so weit.

Der französische „Macbeth“ in Parma 2024/Szene/Foto Roberto Ricci

Macbeth bedeutete ein Wendepunkt in Verdis Schaffen. Hast und Atemlosigkeit, die das Werk durchdringen, strapazierten auch Verdis Gesundheit. Aufgrund eines extremen Erschöpfungs-Zustandes wurde ihm 1846 eine sechsmonatige Erholungspause verordnet, und im Macbeth-Jahr hatte er noch London mit den Masnadieri und Paris mit den zu Jérusalem umgearbeiteten Lombardi zu versorgen, doch dann ging er achtsamer vor. Es ist bekannt, wie intensiv sich Verdi ein Leben lang mit Shakespeare beschäftigte, den er für den Größten hielt, wie unzufrieden er im Hinblick auf Macbeth mit den Versen von Francesco Maria Piave war, wie intensiv er die Auswahl der Sänger betrieb, wie eingehend er an Details der Inszenierung feilte und mit den beiden Protagonisten arbeitete. Immer noch ein wenig unzufrieden mit dem bei der Uraufführung Erreichten, war das Angebot, das ihm Léon Carvalho im März 1864 aus Paris unterbreitete, nicht unwillkommen. Zu den Veränderungen und Modifikationen, welche die französische Bühne ebenso wie die neue Zeit erforderten, gehörten im Wesentlichen im zweiten Akt der Ersatz der altmodisch effektvollen Cabaletta „Trionfai“ der Lady durch ihren Monolog „La luce langue“ sowie am Ende des dritten Aktes der Ersatz der Macbeth-Cabaletta „Vada in fiamma“ durch das Macbeth-Lady-Duett „Ora di morte“. Dazu gehörten auch die Szene der Erscheinungen und das obligate Ballett im dritten Akt, der Anfang des vierten Aktes sowie auf Carvalhos Wunsch ein Schlusschor anstelle der Sterbearie „Mal per me che m’appressai“ des Macbeth, dessen Tod hinter die Bühne verbannt wird. Sicherlich eine Aufwertung der Lady, deren Schlafwandelszene zu den aufregendsten Momenten der ursprünglichen Fassung gehört und deshalb auch unangetastet blieb. Insgesamt ein Werk, das „wenn nicht zur Hälfte, so doch zu einem guten Drittel neu ist“, wie Verdi Tito Ricordi mitteilte. Die neuen Textpassagen verfasste Piave, wobei auch Strepponi und Verdi tätig wurden. Für Paris wurde alles von Charles Nuitter und Alexandre Beaumont ins Französische übertragen. 1874 gelangte diese Fassung an der Scala erstmals in italienischer Sprache zur Aufführung. Sie hat sich seither durchgesetzt.

Der französische „Macbeth“ in Parma 2024/Szene mit Ernesto Petti und Lidia Fridman/Foto Roberto Ricci

Bei den Verdi Festspielen in Parma wurde dieVersione francese, Paris 1865“ jetzt erstmals szenisch gespielt – konzertant, wie erwähnt, zuvor bereits 2020. Pierre Audis Inszenierung ist eine Verlegenheit, wie ich finde, wie es „Theater auf dem Theater“ immer ist, ein eleganter Trick. Natürlich erinnert das Phantastische, Übersinnliche, Geister- und Zauberhafte, das Verdi an Macbeth faszinierte, an Zutaten des französischen Theaters des 19. Jahrhunderts, wie sie Meyerbeer einsetzte, und die tanzenden Sylphen an die Pariser Opéra, doch Audi bleibt mit seiner Inszenierung in Parma, stellt das  Logenrund des Teatro Regio auf die Bühne, dessen Seitenwände wie im Barocktheater im Handumdrehen Verwandlungen erlauben, so dass die Lady bereits auf die Bühne kommen kann, kaum dass die Hexen ihr Werk verrichtet haben und sich der Theaterraum schnell in eine rote Einheitsszene verwandelt, was die Rastlosigkeit der Handlung betont. Das ist alles richtig, aber auch ein bisschen arm. Alle Akteure sind in schwarzen strengen Kostümen der Zeit gekleidet, die Herren tragen Zylinder (Kostüme: Robby Duiveman). Dann kommt der Bruch mit dem dritten Akt, ab dem, wie wir gesehen haben, Verdi den Großteil seiner Ergänzungen und Änderungen anbrachte. Audi springt ins moderne Musiktheater. Er sprengt das historische Ambiente, bricht es mit irgendwie „modern“ anmutenden Linien. und Gitterwerk auf  (Bühne: Michele Taborelli) und wirft Lady und Macbeth in moderne Gewänder über. Er macht aber dabei so, wie wenn der Macbeth erst ab der Hälfte der große Wurf wäre, der er eigentlich von Anfang an ist, wie Roberto Abbado in seiner peniblen und genauen Leseart darzulegen versucht. Er entwickelt die Story ganz vorsichtig, so als erzähle er sie Unkundigen zum ersten Mal. Tatsächlich klingt vieles sehr neu und frisch, auch stimmungsvoll, wobei Roberto nie die atemstockend nachtschwarze Intensität wie einst Onkel Claudio erreicht. Die Filarmonia Arturo Toscanini scheint nicht ganz mit der gewohnten Klangbreite zu spielen, während der Chor des Teatro Regio nicht nur wegen der betörenden Pianogesängen der Flüchtlinge gefeiert wurde. Lidia Fridmans Lady ist das lebendig gewordene Denkmal einer von Hass und Machtgier zerfressenen Frau, königlich, selbstbewusst und elegant. Mit dem opaken, in der Tiefe dunkel gewichtigen, in den engen Höhen scharfkantigen Sopran übernimmt sie sofort das Zepter, wobei Audi ihrem ersten Auftritt und der Cavatine „L’heure est prochaine“ viel ihrer Wucht nimmt, indem er Macbeth selbst den Brief lesen lässt, in dem die Lady von den Weissagungen erfährt, was in etwa so effektvoll ist, wie wenn Giorgio Gérmont selbst Violetta seinen Brief vorlesen würde und sie somit um das effektvolle Declamato bringen würde. Fridman macht alles sehr überzeugend und gut, doch nicht fesselnd, am besten sicherlich das Brindisi „Par toi, vin généreux“, dessen Feuer sie mit lodernder Brillanz und Kühle erfasst. Der Schlafwandelszene, die Fridman bis zum knappen D gut singt, nimmt Audi wieder viel von ihrer Eindruckskraft, indem er das lange Vorspiel und die Worte zwischen dem Doktor und der Comtesse vor den Vorhang legt und die gesamte Szene viel von ihrer atmosphärischen Magie einbüßt. Es fehlt mir bei der 28jährigen Fridman die Furor und Kraft dieser Figur, auch das stimmliche Durchhaltevermögen. Obwohl diese Fassung alles unternimmt, um die Lady ins Zentrum zu rücken, ist Macbeth die eindringlichste Figur. Ernesto Petti, der mich zuletzt in Stuttgart als Luna nicht wirklich überzeugenden konnte, agiert in Parma viel behutsamer und nachdrücklicher, er singt hier mit leisen und vor allem Zwischentönen und auffallend guter französischer Diktion, gestaltet bezwingende Steigerungen. Die Stimme des 38jährigen Baritons aus Salerno scheint nicht besonders riesig, aber sie packt durch Schönheit und Wärme, sie wird suggestiv eingesetzt, beispielsweise in der Szene mit den Hexen und Erscheinungen im dritten Akt, und obwohl Pettis Macbeths vorerst eine philosophische Dimension noch abzugehen scheint, ist in seinem Monolog im letzten Akt, „Honneurs, respect, tendresse“ großartig. Mit schütterem Bass, aber nobler Linie gab Michele Pertusi den Banquo, Luciano Ganci, dessen grelles Timbre man mögen muss, ist offenbar ein Publikumsliebling und wurde als Macduff nachdrücklich gefeiert. David Astorga, der Tenor aus Costa Rica, war als Macduff ein Gewinn und Rocco Cavalluzzi machte als Médecin nachdrücklich auf sich aufmerksam (26. September 2024).

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„La battaglia di Legnano“ in Parma 2024/Szene/Foto Roberto Ricci

In keiner Oper hat Verdi sich so dezidiert für die Ideale des Risorgimento stark gemacht wie in La Battaglia in Legnano. Wie setzt man den patriotischen Impetus heute in Szene. Da kapituliert auch die findige Valentina Carrasco. Nach der langen Ouvertüre lässt sie zwischen Rauchwolken in kurzen Videosequenzen in die Augen von Rössern schauen und zeigt durch Matsch stampfende Soldatenbein. Im ersten Akt, mit „Er lebt“, überschrieben, erinnern die Mailänder Bürger und Soldaten des 12. Jahrhunderts stark an die Auseinandersetzungen mit den Habsburgern sechshundert Jahre später. Zu den Opfern der Schlachten und Kriege gehören auch Pferde, die ihren Herren arglos bis in den Tod folgen. Die unwissende Treue der Tiere rührt. Über der Leiche eines Schimmels schwören die Mailänder dem feindlichen Eroberer Rache. Der abgerissene Kopf des Pferdes, den Barbarossa den Stadtvätern von Como entgegenhält und der bis zum Ende der Aufführung auf dem Schlachtfeld liegenbleibt, wird zum Symbol für das zerrissene Land. Entworfen hat die Pferde, von denen zehn als Herde oder nebeneinander aufgereiht die Eyecatcher der Aufführung darstellen, die u.a. als Ronconi-Mitarbeiterin berühmte Margherita Palli. Die Pferde werden gestriegelt, versorgt und gefüttert. Hinter einem Maschendraht schwenkt Carrasco in der Mitte der Aufführung unmerklich aus dem Pseudo-Mittelalter in die Zeit des Ersten Weltkriegs mit den entsprechenden Helmen für die Soldaten und Gasmasken zum Schutz der Pferde.

Von den Opern der Galeerenjahre gehört La Battaglia di Legnano mit der Alzira und dem Oberto vermutlich zu den am selten aufgeführten und unbekanntesten Werken. Immerhin hat es nach 2000, als Domingo an Covent Garden in einer konzertanten Aufführung den Arrigo sang, einige wenige Produktionen in der italienischen Provinz, in Catania, Triest und Piacenza, gegeben; ich erinnere mich an eine von Pizzi hoch pathetisch in Szene gesetzte Produktion mit Mara Zampieri 1983 in Rom, wo die Oper im Januar 1849 auch erstmals über die Bühne gegangen war. Die Battaglia di Legnano ist Ehe- und Dreiecksdrama und patriotisches Gemälde, das den Geist der Aufstände, die seit Januar 1848 von Neapel aus über ganz Italien peitschten und in Mailand die Konfrontation mit den von Radetzky geführten Habsburgern suchten, in der mittelalterlichen Schlacht von Legnano spiegelt, in der Kaiser Barbarossa 1178 der von den lombardischen Städten gebildeten Liga unterlag. Diesem politischen Geist und den Rufen nach einer nationalen Einigung wollte Verdi, der die Ereignisse von Paris aus verfolgte, Rechnung tragen. Seltsam, dass er sich bei der Wahl des Librettos auf Salvatore Cammarano verließ, der ihm seine Inka-Oper Alzira verfasst hatte, die Verdi als „proprio brutta“ abgetan hatte. Cammarano hielt Verdi von einem Rienzi ab und stieß ihn auf die zu napoleonischer Zeit spielende Schlacht von Toulouse des gefälligen Joseph Méry, die er nach Legnano verlegen wollte. Legnano war inzwischen zum nationalen Symbol geworden, das sogar in Geoffredo Mamelis 1847 flugs geschriebenen Fratelli d’Italia Erwähnung gefunden hatte. Also letztlich die richtige Wahl. Am Puls der Zeit. Die Geschichte von dem Mailänder Heerführer Rolando, der im Veroneser Krieger Arrigo seinen totgeglaubten Freund erkennt, der in Gefangenschaft geraten war, und Arrigos einstiger Verlobten Lida, die mittlerweile Rolandos Frau ist, ist als Ehedrama relativ harmlos. Über Lidas Treuebruch ist Arrigo verletzt und schließt sich den Todesrittern an. Lida erfährt davon, bittet ihn um eine letzte Aussprache, die an Rolando verraten wird. Dieser schließt Arrigo im Turmzimmer ein, wodurch der Krieger nicht an der entscheidenden Schlacht teilnehmen kann. Arrigo erträgt diese Schmach nicht und stürzt sich mit dem Schrei „Viva Italia“ aus dem Fenster – Mit „Viva Italia. Ein heiliger Bund vereinigt alle Söhne des Landes“ hatte übrigens bereits der Auftrittschor begonnen. Arrigo überlebt, besiegt Barbarossa, wird aber tödlich verwundet. Diese letzte Begegnung des Arrigo mit seiner einstigen Geliebten findet bei Carrasco im Pferdestall statt, wo Arrigo von dem wütenden Rolando läppischerweise in eine Pferdebox gesperrt wird, aus der er im Handumdrehen entkommt. Der Rest ist ein pathetisches Tableau.

La Battaglia di Legnano hatte einen enormen Erfolg – anfangs musste der letzte Akt bei jeder Aufführung wiederholt werden – doch als Zeugnis einer konkreten Situation schwand ihre Bedeutung und Verbreitung nach 1870, um erst wieder zum 100. Jahrestag der Einigung Italiens 1961 an der Mailänder Scala ausgegraben zu werden. Mir erscheint Battaglia di Legnano wie eine Mischung aus dem Ehedrama Stiffelio und den patriotischen Choropern mit Prozession und Schwurszene („Giuriam d’Italia“) à la Lombardi, Ernani. Jede der drei Hauptfiguren ist bestens versorgt mit Cavatine und Romanze und wechselnden Duetten und Terzetten, die vor allem dem dritten Akt „L’infamia“/ „Die Schande“ eine dichte Struktur geben und nach der Preghiera der Lida in der Gran Scena „Vittoria! Vittoria!“ und dem Hymnus „Per la salvata Italia“/ „Bei der Rettung Italiens“ des sehr kurzen vierten Aktes (mit der Überschrift „Morire per la patria“) gipfeln. Der erst 28jährige Diego Ceretta geht das papierene Werk zu zögerlich an. Da fehlt trotz vieler instrumentaler Details der federnde Sound des frühen Verdi und ein wenig auch der mitreißende Elan seiner Chöre. Vielleicht fühlen sich Chor und Orchester des Teatro Comunale di Bologna auch nicht richtig wohl in Parma. Marina Rebeka war, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, als Lida der Mittelpunkt der Aufführung. Etwas kühl, doch mit technisch formidabel geführten Sopran und schönen silbernen Kern sang sie die Stretta ihrer Auftrittsarie mit Strahlkraft, gab den sprunghaften Linien der Lida eine Form und war bewegend in dem Gebet. Antonio Poli gab den Arrigo mit jungmännlichem Draufgängertum, schraubt die Stimme in der ersten Szene mit schmetternder Emphase und fein gehämmerter Diktion in die Höhe, dabei nicht unsensibel im zarten Flirt mit Lida. Zuverlässig, wie stets, zeigte sich Vladimir Stoyanov auch mit reduzierten Mitteln als großer Stilist und sang den Rolando mit weich geschmeidigem Bariton. Neben der prägnanten Arlene Miatto Albeldas als Imelda blieben Riccardo Fassi als Barbarossa, Alessio Verna als Intrigant Marcovaldo, Emil Abdullaiev und Bo Yang als Konsuln von Mailand unauffällig. Verlegener großer Beifall (29. September).

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„Un ballo in maschera“ in Parma 2024/Szene/Foto Roberto Ricci

Verdi war froh, dass sein Ballo in maschera ebenfalls in Rom herauskommen sollte, nachdem ihm die Zensur in Neapel, für das die Oper ursprünglich geschrieben war, so viel Ärger bereitet hatte. Der Erfolg war groß und blieb dem Werk im gesamten 19. Jahrhundert treu und machte es zu einem der beliebtesten in Verdis Werkkanon. Als Fabio Biondi jetzt (27. September) die Aufführung im Teatro Verdi in Busseto dirigierte, war der immense Reichtum dieser Musik zu spüren, ihre Originalität, ihre Tiefe, mit der sie Figuren beschreibt und Situationen einfängt, der Wechsel zwischen Komik und Tragik, nicht zuletzt die Überfülle der Melodien. Der junge Mann neben mir wolle unbedingt wissen, welche mir die liebste aller Verdi Opern sei und bestand darauf, dass der Ballo die bei weitem Schönste sei. Biondi und das Orchestra Giovanile italiana legten mit Schärfe und Präzision die Nerven der Figuren bloß, zeigten die Mechanik der von Scribe ursprünglich eingefädelten Handlung und ihre gnadenlose Stringenz und entfesselten gleichzeitig ein Gesangstheater, das Sänger und Zuhörer im Lauf des Abends mehr und mehr mitriss. Die jungen Sänger, meist so um die 30, brauchten die stimulierende Geste des Dirigenten. Giovanni Sala, der Sänger mit der größten Bühenerfahrung, ist vermutlich kein Verdi-Tenor, dazu fehlt es an Squillo, doch wahrscheinlich ein sehr guter Mozart-Tenor. Die verzierten Passagen des Riccardo lagen ihm sehr schön, er gewann zunehmend auch an dramatischer Überzeugungskraft, an Elan und dunkler Färbung und gestalte die Partie locker tändelnd und packend. In einem größeren Haus würde das nicht so gut funktionieren. Lodovico Filippo Ravizza ist ein Stimmbesitzer, der das Publikum als Renato mit seiner selbstverständlichen Klangfülle im Sturm eroberte, Caterina Marchesini, die sich als Kammerfrau der Lady in Frankfurt demnächst erstmals auf eine deutsche Bühne vortastet und  bereits Liu, Donna Anna und Mimi gesungen hat, ist eine helle energische, etwas unausgewogene Amelia mit schlanker und sehr sicher sitzender Höhe, Licia Piermatteo ein koloraturfeuriger Oscar und Danbi Lee eine dunkel orgelnde Ulrica von Format. Als Opernregisseur ist Daniele Menghini ein Zögling des Festivals, wo er seine ersten Schritte im Rahmen des Verdi Off-Programms machte und Assistent von Graham Vick und Jacopo Spirei war. Für den Tagträumer Riccardo haben Menghini und sein Ausstattet Davide Signorini eine Phantasielandschaft in seiner Bostoner Residenz erschaffen, in der alle Höflinge und Freunde das Spiel des Conte di Warwick und Gouverneurs mitmachen und nur der Richter, Tom und Samuel und sein ihn liebevoll schützender Freund Renato in offizieller Kleidung erscheinen. Das Leben ist ein Fest. Der Gouverneur schlüpft in Verkleidungen, trägt anfangs und am Schluss eine Robe wie eine Tudorkönigin und wirft sich für den Besuch bei der Wahrsagerin behände die Klamotten eines Fischers über. Entsprechend locker und ausschweifend geht es in der Residenz des Gouverneurs mit lasziven Jünglingen und lockenden Gestalten zu, der Thron wird zum Sarg und zum Schädelberg. In diese Mischung aus Grusel- und Horrorkabinett, Geisterbahn und Gothic-Party bringt der abschließende Ballo keinen zusätzlichen Kitzel. Menghinis Inszenierung, die im kommenden Jahr auch nach Bologna zieht, ist eine schwülstig überladene Zustandsbeschreibung, der es an Feinzeichnung fehlt. Rolf Fath

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 35. Musikfest Bremen 2024: Musikalische Sternstunden. Zu den gastierenden Künstlern, die zur Hansestadt eine enge Beziehung haben und seit 30 Jahren immer wieder zurückkommen, um im stimmungsvollen Konzertsaal Die Glocke aufzutreten, gehört Marc Minkowski, Träger des Musikfest-Preises Bremen von 2005. 2018 hatte er mit seinem Ensemble Les Musiciens du Louvre Offenbachs Opéra fantastique Les Contes d’Hoffmann zu einem aufregenden Musiktheaterabend gestaltet. In diesem Jahr widmete er sich Johann Strauß und dessen Hauptwerk Die Fledermaus, die vor 150 Jahren in Wien ihre Uraufführung erlebt hatte. Nach seinem irritierenden Hoffmann bei den diesjährigen Salzburger Festspielen erlebte man hier Minkowski at his best. Denn in Bremen stand er nicht vor den Wiener Philharmonikern, sondern vor seinem Orchester, das er 1982 gegründet hatte – den Musiciens du Louvre. Schon die Ouvertüre hatte Schmiss, Walzerseligkeit und eine rasante Steigerung am Schluss, war ein hinreißender Auftakt dieses Abends, der immer wieder Begeisterungsstürme beim Publikum entfachte. Die konzertante Aufführung hatte Witz, Spannung und Tempo – dank einer illustren Besetzung, die mit szenischen Aktionen und mimischen Gesten eine Bühnenatmosphäre zu suggerieren vermochte. Minkowski wartete nach dem schwelgerisch ausgebreiteten Ensemble „Brüderlein und Schwesterlein“ mit einer veritablen Überraschung auf, dirigierte als Einlage die „Russische Marsch-Fantasie“ von Strauß – eine Komposition von straffem Duktus und geballter Energie Und danach ließ er es sich natürlich nicht nehmen, auch die Polka „Unter Donner und Blitz“ zu bringen und dabei ein Feuerwerk an zündenden Klängen zu entfachen.

In Bremen: „Die „Fledermaus“/ Marc Minkowski,_Alina Wunderlin, Rachel Willis-Sørensen, Christoph Filler/ Foto ©Patric Leo

In der Besetzung gab es gesanglich keinen Schwachpunkt, lediglich die Wortverständlichkeit bei den gesprochenen Dialogen müsste bei einigen Interpreten verbessert werden. Dominierend war Rachel Willis-Sørensen als Rosalinde mit einem prunkenden Sopran von betörendem Timbre und satter Fülle. Hinreißend ihr Auftritt im 2. Akt mit einer silbern glitzernden, wie auf den Leib gegossenen Robe – das perfekte Outfit für ihre Darbietung des Csárdás, der vor Temperament sprühte und mit seiner Sinnlichkeit Aufsehen erregte. Sie leitete mit ihrem dominierenden Sopran auch das Schluss-Ensemble „Champagner hat´s verschuldet“ ein, dem der euphorische Beifall des Publikums folgte, was mit einem Da capo der Polka belohnt wurde. Ein stimmiger Kontrast zu ihr war Alina Wunderlin als quirlige Adele, die für ihre Couplets gefeiert wurde, die sie munter und koloraturgewandt servierte und mit Extremtönen schmückte. Glänzend der österreichische Bariton Christoph Filler als Eisenstein mit substanzreicher Stimme und einnehmender szenischer Präsenz. Ein Versprechen für die Zukunft gab der junge deutsche Tenor Magnus Dietrich ab. Sein Alfred strahlte in der Höhe, gefiel mit lebendigem Spiel und hatte auch keine Probleme, aus seiner Gefängniszelle Passagen des Lohengrin und Cavaradossi zu schmettern. Für Marina Viotti, die wegen eines Unfalls absagen musste, übernahm Annelie Sophie Müller den Orlofsky. Der strenge, androgyne Mezzo mit ordinären tiefen Tönen gab der Rolle en travestie glaubhaftes Profil. Dominic Sedgwick mit schmeichelndem Bariton als Dr. Falke, Michael Kraus mit autoritärem Bariton als Gefängnisdirektor Frank und der Wiener Manfred Schwaiger als Frosch ergänzten hochrangig die Besetzung (6. 9. 2024).

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In Bremen: „Missa Solemnis“/René Jacobs, B’Rock Orchestra, Zürcher Sing-Akademie/ Foto (c) Joshua Krüger

Auch in diesem Jahr war das Musikfest wieder zu Gast in Orten der Umgebung, bespielte Kirchen, Schlösser und Museen, so am 5. 9. 2024 den prachtvollen Dom zu Verden an der Aller. Unter Leitung von René Jacobs erklang Beethovens Spätwerk Missa solemnis D-Dur op. 123. Der Dirigent, ist mit dem Werk, das er 2021 für harmonia mundi auch einspielte, eng vertraut, bot mit dem B´Rock Orchestra eine Interpretation von erhabener Größe, die sich bereits bei den ersten Takten des Kyrie ankündigte. Jacobs reizte die dynamischen Kontraste der Komposition bis zum Äußersten aus, betonte die Modernität der Musik, ihre avantgardistische Kühnheit. Der Einbruch des Chaos am Ende des Agnus Dei, wenn donnernde Fanfaren und Pauken eine kriegerische Atmosphäre suggerieren, war  dafür ein treffliches Beispiel. Links und rechts neben dem Orchester war der geteilte Chor der Zürcher Sing-Akademie aufgestellt, womit eine enorme Klangfülle erzielt wurde. Machtvoll ertönte der Jubel im Gloria, gewaltig das Credo – eine Chorvereinigung der Sonderklasse.

Exzellent das Solistenquartett, angeführt von der Norwegerin Birgitte Christensen mit leuchtendem, auch in der Extremhöhe unangefochtenem Sopran. Mit herbem, doch potentem Mezzo kontrastierte Sophie Harmsen, obertonreich klang der Tenor von Thomas Walker und beschwörend der Bariton von Johannes Weisser in seinem Solo zu Beginn des Agnus Dei. Mit der „Bitte um innern und äussern Frieden“ (Beethoven) endete‚ das Werk. Nach gebührender Ergriffenheit des Publikums gab es Ovationen für alle Mitwirkenden, besonders für René Jacobs, der nach dem Konzert im Domherrenhaus zu Verden den Musikfest-Preis Bremen 2024 empfing. Bernd Hoppe

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Salzburger Festspiele 2024: Morde aller Arten. Es ist eine lieb gewordene Tradition bei den Salzburger Festspielen, dass eine Produktion der Pfingstfestspiele in das Sommerprogramm übernommen wird. Cecilia Bartoli kann dadurch ihre Interpretation beim Pfingstfestival im Sommer wiederholen und vielleicht vertiefen. In diesem Jahr gab sie im Haus für Mozart ihr szenisches Debüt als Sesto in Mozarts La Clemenza di Tito – ein wenig spät, möchte man meinen, doch die Aufführung am 13. August 2024 bewies, dass ihre szenische Präsenz und das darstellerische Engagement noch immer genügend stark sind, um eine Figur glaubhaft zu vermitteln.

Daniel Behle sang den Tito in Salzburg 2024/Foto Marco Borelli

Dabei muss sie in dieser Inszenierung von Robert Carsen gar keinen pubertierenden Jüngling abgeben, denn der Regisseur behauptet in einem Einführungstext im Programmbuch, dass man in einer Zeit der Gendervielfalt Sesto und Annio nicht mehr als Hosenrollen behandeln könne. Beide sind nun als Frauen geführt, was zu zwei Paaren mit homoerotischen Neigungen führt. Ausstatter Gideon Davey freilich kleidet sie in Anzüge, was doch optisch dem klassischen Modell der Hosenrollen entspricht. Das Rezitativ vor „Parto, parto“ gestaltete Bartoli mit expressivem Furor, die große Aria selbst mit dunklem, gutturalem Ton und leidenschaftlicher Empathie. Noch immer funktionieren die Koloraturläufe perfekt, wie auch im Rondò „Deh, per questo istante solo“ zu vernehmen war. Dessen Schlussteil formulierte sie in höchster Erregung zu einem packenden Moment der Aufführung.

Die Inszenierung siedelt Carsen ganz im Heute an, was zum einem im Bühnenbild sichtbar wird, das einen grauen Sitzungssaal mit Schreibtischen, Fernsehmonitoren und Fahnen zeigt, von ihm und Peter Van Praet kalt ausgeleuchtet. Politiker im Business-Look mit Laptops und Smartphonen agieren geschäftig bis hektisch. Nach dem Brandanschlag auf das römische Kapitol zeigt die Szene ein Bild der Verwüstung. Unnötigerweise blendet Thomas Achitz noch aktuelle Videoaufnahmen vom Sturm auf das Gebäude in Washington ein. Schließlich verweist auch die Darstellung der Vitellia als Ebenbild von Giorgia Meloni auf heutiges Zeitgeschehen. Die französische Sopranistin Alexandra Marcellier singt sie mit Entschlossenheit und Nachdruck, steigert sich in ihrem Rondò „Non più di fiori“ zu großer Form mit durchschlagenden Spitzentönen und gefährlich-hintergründigem Ausdruck. Da der Regisseur das lieto fine des Werkes nicht umsetzen wollte, ist sie am Ende die Gewinnerin. Nach dem infamen Mord an Tito sitzt sie siegesbewusst auf dem Regierungssessel.

„La Clemenza di Tito“ in Salzburg 2024/Szene/Foto Marco Borelli

Glaubhaft und sympathisch besetzt ist das junge Paar mit Anna Tetruashvili als Annio und Melissa Petit als Servilia. Die israelische Mezzosopranistin lässt eine jugendliche Stimme von schöner Substanz und reizvollem Timbre hören. Die französische Sopranistin kann mit leuchtenden Tönen in ihrer Aria „S`altro che lagrime“ gegen Ende ds 2. Aktes gefallen. Prachtvolle tiefe Klänge mit imponierender Autorität bringt Ildebrando D´Arcangelo als Publio ein. Mit jedem noch so kurzen rezitativischen Einwurf zog er alle Aufmerksamkeit auf sich.

Die Aufführung adelte Daniel Behle als Titelheld mit idiomatischem, makellos geführtem Tenor. Die in ihrer Prägung sehr unterschiedlichen Arien absolvierte er souverän – „Del più sublime soglio“ mit bestechender Kultur, „Ah, se fosse intorno al trono“ mit viriler Attacke und glanzvollen eingelegten Spitzennoten, „Se all´impero“ mit beherztem Entschluss und perfekter Koloratur. Der Chor Il Canto di Orfeo (Einstudierung: Jacopo Facchini) sang klangvoll und engagiert. Das Orchester Les Musiciens du Prince – Monaco musizierte unter Gianluca Capuano mit Verve und Dramatik – von der martialischen Aggressivität in der Ouverture über die kühnen Dissonanzen beim Anschlag auf den kaiserlichen Palast bis zum furiosen Finale – eine Interpretation voller Sturm und Drang, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurde.

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Traditionell gibt es in jedem Jahr auch konzertante Opernaufführungen, welche sich beim Publikum großer Beliebtheit erfreuen wegen der oft selten zu hörenden Werke und der stets hochkarätigen Besetzungen. Eine solche war am 19. August 2024 in der Felsenreitschule bei Ambroise Thomas´ Oper Hamlet zu erleben. In der Titelrolle bewies der französische Bariton Stéphane Degout seinen Ausnahmerang in diesem Repertoire Sein Prinz war gezeichnet von grüblerischer Neurotik, meditativem Nachsinnen, existentieller Zerrissenheit und vehementen Ausbrüchen bis zur Raserei. Sein eloquenter, absolut idiomatischer Gesang mit einer prachtvollen, prägnant artikulierenden Stimme gipfelte im schwungvollen Trinklied („Ô vin, dissipe la tristesse“), der packenden Schilderung des Mordes und im Monolog „Être ou ne pas être“. Neben ihm glänzte die Amerikanerin Lisette Oropesa in der Bravourpartie der Ophélie. Längst kein Geheimtipp mehr, ist sie heute Star auf den Bühnen der Welt. Ihr melancholisch getönter Sopran mit flutenden hohen Tönen und herrlichen Steigerungen sorgte in der berühmten Wahnsinnsszene für eine mirakulöse Sternstunde. Barfuß mit entrücktem Blick und tieftraurigem Ausdruck ließ sie keinen Moment die Szene vermissen. Ihr makelloser Gesang mit perfekten Trillern und staccati, mit sicheren Tönen bis in die Extremlage endete in Verklärung, im Saal mit Jubelstürmen.

Ève-Maud Hubeaux sang die Königin Gertrude im „Hamlet“ in Salzburg 2024/ Foto Marco Borelli

Ein differenziertes Porträt von Hamlets Mutter Gertrude gab Ève-Maud Hubeaux. In herrscherlicher Attitüde der Königin, aber auch zerrissen als Mitschuldige am Tod ihres Gatten,  faszinierte sie mit expressivem Vortrag ihres streng vibrierenden Mezzos. Spannend gestaltete sich die erregte Auseinandersetzung mit ihrem Sohn, in der sie mit dramatischer Vehemenz aufwartete. Jean Teitgen als König Claudius und Jerzy Butryn sorgten für profunde Basstöne, die von Clive Bayley als Spectre aus den Arkaden klangen gebührend fahl. Unbedingt erwähnenswert der französische Tenor Julien Henric als Laerte wegen seiner potenten Stimme und dem nachdrücklichen Vortrag.

Stéphane Degout sang den Hamlet in Salzburg 2024/ Foto Marco Borelli

Der Philharmonia Chor Wien (Einstudierung: Walter Zeh) imponierte schon  im machtvollen Eingangschor, dann im großen Ensemble am Ende des 2. Aktes und im ergreifenden Finale der Oper. Bertrand de Billy ist ein Spezialist in diesem Genre, was er mit dem Mozarteum Orchester Salzburg einmal mehr bewies. Die Verve der Eingangsszene, das schwermütige Motiv bei Hamlets erstem Auftritt, die düsteren Stimmungen in der Szene mit dem Geist von Hamlets Vater, die festlichen Rhythmen beim abendlichen Fest – den ganzen Reichtum der Musik brachte der Dirigent zum Klingen. Im diesjährigen Gesamtkonzept der Festspiele überraschte diese Werkwahl zwar, doch erwies sie sich – gemessen an den langen stehenden Ovationen des Publikums – als ein Geschenk.

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Morde aller Arten (2): Eine der zentralen Neuproduktionen des Festspielsommers war die Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs Oper Der Idiot in der Regie von Krzysztof Warlikowski in der Felsenreitschule. Der Pole, Stammgast in Salzburg, sorgte in der Vergangenheit für diverse Eindrücke an der Salzach. Mit dieser Arbeit gelang ihm ein durchschlagender Erfolg, weil er sich mit manieristischen Eigenwilligkeiten zurücknahm, sich ganz auf die Titelfigur, Fürst Myschkin, konzentrierte, der sich wegen seines naiven Charakters, seines Glaubens an das Gute im Menschen in der verlogenen Gesellschaft von St. Petersburg fremd fühlt. Der polnische Komponist vertonte 1986/87 das Libretto von Alexander Medwedew nach Fjodor Dostojewskis Roman, 1991 wurde das Werk in einer Kammerversion in Moskau uraufgeführt. Erst 2013 folgte die erste szenische Realisierung der kompletten Fassung in Mannheim, die der 1996 verstorbene Komponist nicht mehr erlebte.

Szene aus Weinbergs „Idiot“/ Foto Bernd Uhlig

Ausstatterin Malgorzata Szczesniak, regelmäßige Mitstreiterin des Regisseurs, verwandelte die archaische Felsenreitschule in einen holzgetäfelten Raum mit einer roten Sitzgruppe auf der rechten Seite, die als Zugabteil fungiert, wo Myschkin auf der Heimreise aus einem Sanatorium in der Schweiz Ragoschin und Lebedjew kennenlernt. Ersterer erzählt ihm von seiner leidenschaftlichen Zuneigung zu der unter schlechtem Ruf stehenden Nastassja, Letzterer entpuppt sich in Folge als Kommentator der Geschichte. Ragoschins und Nastassjas Welt ist in einer kleinen Kammer zur Linken angesiedelt, die mit Ikonen und Folklore-Stickerei geschmückt und von einem Schleiervorhang verschlossen ist. In der Mitte befinden sich eine Projektionsfläche und eine Wandtafel, auf der vorüberziehende Landschaften (während Myschkins Zugreise) sowie Formeln von Einstein und Newton zu sehen sind. Der Regisseur deutet den Titelhelden auch als Wissenschaftler von vergeistigter, zarter Natur und Bogdan Volkov gelingt eine ideale Verkörperung dieser Figur. Er zeichnet einen Träumer, einen Idealisten, der nicht an das Böse im Menschen glaubt – der Regisseur sieht in ihm gar eine Christus-Figur. Beklemmend ist die Darstellung des epileptischen Anfalls im 3. Akt mit schonungsloser naturalistischer Deutlichkeit. Sein lyrischer Tenor mit potenter hoher Lage hält allen Anforderungen des groß besetzten Orchesters stand – insgesamt eine festspielwürdige Leistung. Myschkin steht emotional zwischen zwei Frauen – Ragoschins Geliebte Nastassia, die er glaubt retten zu müssen, und Aglaja, eine der drei unverheirateten Töchter der verwandten Familie Jepantschin. In ersterer Partie errang Ausrine Stundyte nach ihrer gefeierten Salzburger Elektra einen weiteren großen Erfolg. Der durchschlagende dramatische Sopran der litauischen Sängerin meistert die hohen vokalen Anforderungen staunenswert und darstellerisch zeichnet sie die Figur plastisch im Konflikt zwischen ihrer seelischen Verletzlichkeit und der leidenschaftlichen Natur. Szczesniak hat sie mondän gewandet bis zu einem rosa Ensemble aus Seide, Federn und Pelz. Die australische Mezzosopranistin Xenia Puskarz Thomas gibt die Aglaja mit hellem Mezzo als emanzipierte junge Frau. Entsprechend vehement gestaltete sich ihre Konfrontation mit Myschkin im 3. Akt nach ihrem eher schlichten Lied vom „Armen Ritter“. Am Ende tötet Ragoschin Nasstassja und legt sich gemeinsam mit Myschkin auf ihr Totenbett – eine intime Szene der besonderen Art. Vladislav Sulimsky singt ihn mit markigem Bariton und zeichnet ihn als düstere, hintergründige Figur. Auch die mittleren Rollen  sind glänzend besetzt – mit dem ukrainischen Bariton Iurii Samoilov als skurrilem Lebedjew, dem Tenor Pavol Breslik als Ganja und  Margarita Nekrasova mit sattem Alt als Jepantschina.

Die litauische Dirigentin Mirga Grazinyté-Tyla, erfahren mit Weinbergs Musik durch die Leitung der Passagierin am Teatro Real Madrid und die Einspielung von Werken des Komponisten, dirigiert die Wiener Philharmoniker mit großem Gespür für die reichen Facetten der Musik – ihre schneidenden Akzente, die nervösen Passagen und die zarten Lyrismen. Die Aufführung am 15. August 2024 wurde mit Ovationen bedacht – ungewöhnlich bei einem so unbekannten Werk, aber ein deutliches Zeichen für die Qualität der Aufführung.

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Mit Spannung erwartet wurde die letzte szenische Neuproduktion der diesjährigen Festspiele – Offenbachs Les Contes d´Hoffmann im Großen Festspielhaus, hatte es bei den Festspielen doch schon gefeierte Inszenierungen mit Plácido Domingo und Neil Shicoff gegeben. Der neue Titelheld Benjamin Bernheim ist ein exemplarischer Interpret im französischen Repertoire mit feinem, kultiviertem Tenor und idiomatischem Gebrauch der voix mixte. Die lyrische Stimme wirkt freilich in der Mittellage etwas schmal und kommt im Giulietta-Akt, besonders im Duett mit der Kurtisane, deutlich an ihre Grenzen. Als Ärgernis hat die französische Regisseurin Mariame Clément den Dichter zu einem Filmproduzenten gemacht, der seine drei Liebesgeschichten verfilmt. Nervend sind seine permanenten Anweisungen für die Akteure, seine genervten Reaktionen auf deren Unvermögen, seine Ideen umzusetzen. Ausstatterin Julia Hansen hat auf die Bühne ein Filmstudio mit Gerüsten und einer hohen schäbigen Wand gestellt. Hoffmann in Jeans und Blouson liegt alkoholisiert unter einem Einkaufswagen, in dem sich Filmrollen und Kameras befinden. Aus einer Mülltonne steigt die Muse, die Hoffmann als Nicklausse begleitet und ihn am Ende aus seiner Depression befreit. Kate Lindsey singt die Doppelrolle mit schmalem Mezzo von unsinnlichem, jaulendem Klang. Erst das Chanson „C´est l´ amour“ erklingt in schönem Fluss.

Salzburger Festspiele 2024/ Jacques Offenbach /“Les Contes d‘ Hoffmann“/Foto Monika Rittershaus

Hoffmanns erster Film kreist um die Puppe Olympia, die als Barbarella mit blonden Zöpfen und Schulranzen im Schottenröckchen dargestellt ist. Unter ihrer Bluse verbirgt sich ein Bustier von silbernem Metall, was der Figur einen Sciene-Fiction-Anstrich gibt. Die amerikanische Sopranistin Kathryn Lewek brilliert in dieser Partie vor allem mit virtuosen staccati und Tönen bis in die Extremhöhe.

Als Antonia in einem Biedermeier-Salon mit Treppenaufgang und Damenporträts an der tapezierten Wand überrascht sie mit zarter Lyrik und innigem Ausdruck.  Im Duett mit ihr wechselt Hoffmann vom Regisseur zum Darsteller des Liebhabers. In dieser Doppelfunktion ist er immer wieder zu sehen, was die Grundidee der Regisseurin in Frage stellt. Überraschend lässt sie am Ende des Antonia-Aktes nicht die Sängerin sterben, sondern Hoffmann nahe einem Herzinfarkt in den Armen von Nicklausse zusammenbrechen. Stimmig inszeniert ist der Gesang von Antonias Mutter, den spontan eine Regie-Assistentin (Géraldine Chauvet) übernimmt. während ihr Gemälde an der Wand aufleuchtet. Marc Mauillon in den vier Charakterpartien tönt hier als tuntiger Frantz nach pointiertem Beginn penetrant.

Nichts von venezianischer Pracht ist im Giulietta-Akt zu sehen, stattdessen die Rückseite der hohen Wand, versehen mit Neonröhren. Korrespondierend unerotisch klingt die Barcarolle zwischen Nicklausse und Giulietta. Dabei sorgt Lewek mit dem später voller Raffinement und vokaler Brillanz vorgetragenen Chanson „L´amour lui dit“ aus der Fassung von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck für ein musikalisches Glanzlicht. In diesem Akt bringen herum geisternde Statisten mit Riesenaugen einen surrealistischen Effekt ein, während Christian Van Horn, der alle vier Bösewichte gibt, als Dr. Miracle und Dapertutto mit Hörnern und Schwanz ein konventionelles Mephisto-Klischee abgeben muss. Der amerikanische Bassbariton singt eine andere Fassung der „Diamanten“-Arie, seiner Stimme fehlen die dämonische Färbung und die Wandelbarkeit für die verschiedenen Charaktere. Im Duell tötet Hoffmann Schlemil (Philippe-Nicolas Martin) und trifft statt Giulietta, von der er sich betrogen sieht, noch ihren Vertrauten Pitichinaccio. Zuletzt sieht man ihn wieder an seinem Einkaufswagen, aber zum Glück sorgt die Muse für keinen so tristen Ausgang der Geschichte.

Wie Mariame Clément enttäuscht auch Marc Minkowski, dem es mit den Wiener Philharmonikern nicht gelingt, den Esprit der Musik einzufangen und eigene Akzente zu setzen. Mit seinen Musiciens du Louvre und in einem kleineren Haus hätte er wohl ganz anderer Klänge hören lassen. Ein großes Ensemble („Nur die Liebe macht uns groß“) beschließt die Inszenierung, die bei der Premiere noch umstritten war, am 21. August 2024 aber begeistert aufgenommen wurde. Bernd Hoppe

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Fanbo und Pesaro. Il Bel Canto Ritrovato 2024 (über das wir in operalounge anlässlich der Gründung berichteten): Highlights von Lauro Rossi und Nicola Vaccaj. Das Opernfestival Il Bel Canto Ritrovato (IBR), das nun schon zum dritten Mal stattfindet, folgte auch in diesem Jahr dem Rossini Opera Festival in Pesaro und Umgebung. Das ROF schloss seine Pforten mit einer konzertanten Aufführung von Il viaggio a Reims am 23. August, und das IBR wurde am nächsten Abend im nahe gelegenen Fano mit Lauro Rossis Oper La casa disabitata eröffnet . In diesem Jahr stehen zwei Komponisten aus den Marken auf dem Programm, die beide eine enge Beziehung zu Pesaro haben: Lauro Rossi, der im nahe gelegenen Macerata geboren wurde, und Nicolai Vaccaj, der in Tolentino geboren wurde, aber lange Zeit in Pesaro lebte, wo sein Haus noch immer steht, nur einen Häuserblock von der Casa Rossini entfernt. Das Festival umfasste zwei Hauptveranstaltungen: eine szenische Aufführung von Rossis Oper im Teatro della Fortuna in Fano am 24. August und ein Vokalkonzert mit Orchester mit Auszügen aus längst vergessenen Vaccaj-Opern im Teatro Rossini in Pesaro am 25. August.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Intendant, Gründer und Organisator Rudolf Colm/ Foto IBR

Auch andere Veranstaltungen standen auf dem Programm: „Il Buffo all’Opera“, ein interessantes Konzert mit komischen Stücken aus Opern von Rossi, Ricci und anderen aus dieser Zeit, das in Urbino und später in Pesaro aufgeführt wurde, und „I Marchigiani alla Scala“ mit Auszügen aus Opern von märkischen Komponisten (Federico, Vaccaj, Rossi, Nini, Rossini und Salieri) in der Scala. Kurze Konzerte auf den Balkonen der Casa Rossini und der Casa Vaccaj sowie wissenschaftliche Vorträge über die Komponisten waren ebenfalls Teil des Festivals.

Zu seiner Zeit galt La casa disabitata als das Meisterwerk von Lauro Rossi. Der in Macerata geborene Rossi (1810-1885) hatte 1829 kurz nach Abschluss seines Studiums in Neapel debütiert und bereits zehn Opern komponiert, als La casa disabitata am 16. August 1834 nach einem Libretto von Jacopo Ferretti an der Scala uraufgeführt wurde. Es war ein großer Erfolg und Rossi überarbeitete es etwa zehn Jahre später unter dem Titel I falsi monetari für Aufführungen in Turin. Die Oper war viele Jahre lang weit verbreitet, bis nach Spanien und sogar nach Mexiko, wo sie von einer von Rossi selbst geleiteten Truppe aufgeführt wurde. Es war die von Damiano Cerutti herausgegebene Fassung von 1844, die zum ersten Mal in der Neuzeit in Fano wiederaufgeführt wurde, obwohl man sich für den ursprünglichen Titel La casa disabitata „ ( Das unbewohnte Haus“) entschied, da dieser Begriff für die Handlung zentraler ist als der andere Titel Die Fälscher“.

Lauro Rossis Oper „La casa disabitata“ beim IBR 2024 in Fano/ Foto IBR

Ferrettis Handlung für La casa disabitata geht weit zurück, bis hin zu Plautus‘ altrömischer Komödie Mostellaria, in der der schlaue Sklave Tranio den Besitzer eines Hauses davon überzeugt, dass es in dem Gebäude spukt, damit Tranios Herr darin ungestört eine Affäre mit seiner Freundin haben kann. In Ferettis Libretto, das direkt auf einem Theaterstück von Giovanni Giraud (Rom, 1808) basiert, geht es um einen wohlhabenden Spanier, Don Raimondo Lopez, der sechs Jahre zuvor sein Haus auf der Suche nach seiner Geliebten Annetta verlassen hat, die auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Während er auf der Suche nach ihr war, wurde das Haus von einer Bande von Fälschern übernommen, die von Don Isidoro angeführt wird, der auch Raimondos wichtigster Domo ist. Isidoro hat Annetta entführt und hält sie im Haus gefangen, um sie dazu zu bringen, ihn zu lieben, da er sich in sie verliebt hat. Um die Neugierigen fernzuhalten, haben Isidoro und seine Männer verbreitet, dass es in dem Haus spukt. Raimondo kehrt von seiner Suche zurück und findet Don Eutichio und seine Frau Sinforosa auf dem Marktplatz neben dem Haus. Eutichio ist ein verarmter Dichter/Librettist, der gerade zusammen mit Sinforosa aus seiner Wohnung geworfen wurde, weil er die Miete nicht zahlen kann. Raimondo bietet sein Haus mietfrei für jeden an, der dort wohnen kann. Eutichio beschließt, das Angebot anzunehmen, trotz des schaurigen Rufs und obwohl seine eifersüchtige (und ältere) Frau vermutet, dass er das Haus für eine Affäre mit einem Mädchen nutzen will.

Im 2. Akt befindet sich Eutichio im Haus, als Mitternacht naht. Die als Gespenster und Dämonen verkleideten Fälscher quälen ihn, bis er schließlich vor Angst zusammenbricht. Annetta, der es endlich gelungen ist, aus ihrem Gefängnis zu entkommen, betritt das Zimmer und weckt versehentlich Eutichio, der sie für ein Gespenst hält. Sie hat ihn gerade davon überzeugt, dass sie aus Fleisch und Blut ist, als Sinforosa hereinplatzt; sie glaubt, dass Eutichio und Annetta eine Affäre haben, und es kommt zu einem Zickenkrieg zwischen den beiden Frauen. Isidoro kommt als Geist verkleidet herein und wird von Eutichio erschossen. Raimondo, der schon die ganze Zeit ruchlose Machenschaften vermutet hat, trifft ein und sieht seine geliebte Annetta. Am Ende wird alles gut: Die „Geister“ werden entlarvt, Annetta und Raimondo werden vereint und Eutichio und Sinforosa versöhnen sich.

Die Musik ist ein wahrer Strom von eingängigen, italienischen Melodien. Isodoro und Annetta singen in der Eröffnungsszene beide Romanzen, er sanft („Amo sprezzato, ed ardo“), sie trotzig („Aprirò fra voi la scuola“). In der nächsten Szene ist ein Marktchor mitreißend und Raimondo hat eine brillante Arie mit Cabaletta. Eutichio und Sinforosa stellen sich in einem komischen Duett vor, gefolgt von einem Quartett. Annetta singt in ihrem Gefängnis eine unwiderstehliche „Canzone alla spagnola“, gefolgt von einem lebhaften Duett mit Isidoro, bevor das große Concertato-Finale des 1. Im 2. Akt gibt es ein großartiges Duett zwischen dem misstrauischen Raimondo und dem verräterischen Isidoro, gefolgt von einer langen, lustigen Szene und Arie für Eutichio, der versucht, sein Libretto für einen neuen Don Giovanni nach „modernem“ Geschmack zu überarbeiten und dabei von den „Geistern“ gequält wird. Ein lustiges Duett mit der entflohenen Annetta wird zum Trio, als Sinforosa auftaucht, voller Eifersucht und Bosheit, und alles endet mit dem fröhlichen Finaletto. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses fröhliche Finale aus der Partitur von 1834 oder aus der Revision von 1844 stammt, aber es klingt sehr nach dem Finale von Don Pasquale (1843). Zufall? Eine Reminiszenz?

Der Chor hat in dieser Oper viel zu tun und die verschiedenen Ensembles sind noch köstlicher als die Soli, die Orchestrierung ist solide und interessant. Klingt es nach jemand anderem? Nicht wie Rossini, gelegentlich wie Donizetti, aber es ist wahrscheinlich sicherer zu sagen, dass Rossi und Donizetti in diesem Stadium ihrer Karriere wie der jeweils andere klingen. Rossi hat jedoch seine eigene Stimme, die eher der neapolitanischen Popoloresco-Seite Donizettis ähnelt, als seiner eher formalen Stimme. Diejenigen, die die CD-Aufnahme von Rossis Il domino nero gehört haben, werden wissen, was ich meine. Rossis Musik hat sich sicherlich mit der Zeit entwickelt, wie Aufführungen seiner späten Cleopatra (1876) in dem nach ihm benannten Theater in Macerata vor einigen Jahren gezeigt haben. Aber es ist sein Hang zur Komödie und zur eingängigen Melodie, den wir hier haben, und wahrscheinlich auch in einigen anderen komischen Opern dieser Zeit wie Dottor Bobolo, o la fiera (1847) – eine Oper, die ich gerne aufgeführt sehen würde.

Die IBR-Produktion in Fano war aus musikalischer Sicht erstaunlich gut. Enrico Lombardi leitete das Orchestra Sinfonica G. Rossini mit absoluter Klarheit und Prägnanz in einer völlig unbekannten Partitur, für die das Orchester (und der Chor), die im Rahmen des Rossini-Festivals intensiv an Opern gearbeitet hatten, nur wenig Zeit zum Einstudieren hatten. Mirca Rosciani, die Chordirektorin, verdient ein ebenso großes Lob, denn diese Oper enthält viel Chormusik. Obwohl spezielle Fernsehmonitore aufgestellt wurden, um dem überlasteten Chor zu helfen, sich an seinen Text zu erinnern, schienen sie dies nicht zu brauchen und spielten und sangen als Dorfbewohner, Fälscher, „Geister“ und „Dämonen“.

Pressevorstellung des Festivals IBR 2024/IBR

Auch die Hauptsängerinnen und -sänger leisteten Außergewöhnliches bei der Aufführung dieser unbekannten Musik. Tamar Ugrekhelidze zeigte einen attraktiven Mezzosopran, besonders in den spanischen Rhythmen ihrer „Canzone alla Spagnolo“ im ersten Akt, und Vittoriana De Amicis hatte einen präzisen und brillanten Koloratursopran für die Sinforosa, obwohl sie Jahrzehnte jünger aussah (und ist), als die Sinforosa eigentlich sein sollte. Jennifer Turri war eine kecke Ines, mehr oder weniger die Leadsängerin des Chores. Antonio Mandrillos solider Tenor war in seiner Arie mit Cabaletta und in den vielen Ensemblestücken ein starker Trumpf. Das Gleiche gilt für Matteo Mancini als mürrischer Isidoro. Vielleicht am besten von allen war Giuseppe Toia als Don Eutichio, der mittellose Dichter. Er schauspielerte gut, besser als die anderen, und sang hervorragend in der Buffo-Rolle. Martin Csölley als Alberto rundete die Besetzung ab. Tatsächlich gab es unter den Sängern kein schwaches Glied, wie es bei fortgeschrittenen Schülern oft der Fall ist. Wie das Orchester und der Chor hatten sie nur wenig Zeit zum Proben, und die Oper enthält mehrere wirklich komplexe Ensemble-Nummern. Bravissimi an sie alle.

Die einfache Inszenierung stammt von Cristina Pietrantonio. Es gab Hintergrundprojektionen in Schwarz und Weiß, die von den Studenten der Sezione Audiovisivi e Multimedia des Liceo Artistico Mengaroni in Pesaro entworfen wurden. Die Kostüme waren eine Mischung aus historischer und zeitgenössischer Kleidung, und die Fälscher verwandelten sich mit Hilfe von dunklen Schleiern über ihren Gesichtern in Geister. In einer Szene brachten sie große Luftballons mit aufgemalten Augen an Stöcken hervor. Titelkarten, wie sie für Stummfilme verwendet wurden, wiesen auf die Szenen hin. Es war einfach, aber wirkungsvoll. Die Sängerinnen und Sänger haben meist nicht viel gespielt. Ich glaube, sie hatten ihre Augen oft auf den Dirigenten gerichtet, was auf die Unbekanntheit der Musik und den Mangel an Probenzeit zurückzuführen ist. Toia’s Eutichio und manchmal De Amicis‘ Sinforosa waren die Ausnahmen. Ferretti, der auch die Libretti für Rossinis Cenerentola und Mathilde di Shabran schrieb, hat hier ein sehr lustiges Libretto verfasst, und die Inszenierung nutzte das komödiantische Potenzial nicht immer aus. Mit mehr Probenzeit oder erfahreneren Sängern, oder beidem, wäre La casa disabitata ein sehr komisches Werk. Die brillante musikalische Leistung wird jedoch zu gegebener Zeit zu einer CD (von Bongiovanni) führen, die für alle Belcanto-Liebhaber ein Muss ist. (Die CD der letztjährigen Bel Canto Ritrovato-Oper, Riccis Il birraio di Preston, wurde gerade veröffentlicht und ist ebenfalls ein Muss für Belcanto-Liebhaber).

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Der Komponist Nicola Vaccaj/ Wikipedia

Der andere Schwerpunkt des diesjährigen Festivals war das Werk von Nicola Vaccaj, und die Aufführung, mit der Vaccaj gefeiert wurde, war ein Konzert mit sehr seltenen Auszügen aus seinen Opern, dargeboten von einer Phalanx feiner Sänger und wiederum dem Orchestra Sinfonica G. Rossini unter der Leitung von Daniele Agiman, der auch der künstlerische Leiter des Festivals ist. Beim Betreten des Konzertsaals, des Teatro Rossini in Pesaro, fielen dem Publikum die beiden gemalten Medaillons auf dem Bühnenvorhang auf, die von Angelo Monticelli anlässlich der Eröffnung des Hauses im Jahr 1818 (mit Rossinis La gazza ladra unter der Leitung des Komponisten selbst) gemalt worden waren. Die gemalten Medaillons zeigen Rossini in einer Ecke und Vaccaj in der anderen. Vaccaj (1790-1848) war zwei Jahre älter als Rossini; ihre Eltern waren befreundet und die Jungen wuchsen zusammen auf. Zu der Zeit, als das wieder aufgebaute Opernhaus eingeweiht wurde, galten beide als wichtige Söhne der Stadt. Heute ist das Porträt Vaccajs verblasst und verschwommen – auf dem Vorhang wie in der öffentlichen Wahrnehmung. Das Konzert am 25. August stand unter dem Titel „Nicola Vaccaj, Profilo d’Autore“. Es gab großzügige Ausschnitte aus sieben von Vaccajs achtzehn Opern, die einen Zeitraum von 1816 bis 1838 umfassen: Malvina (1816), La Pastorella feudataria (1824), Zadig ed Astartea (1825), Giovanna d’Arco (1827), Giovanna Gray (1827), Saladino e Clotilde (1828) und Marco Visconti (1838).

Vaccajs Portrait rechts unten auf dem historischen Abschluss-Vorhang im Teatro Rossini Pesaro/Wikipedia

Seine berühmteste Oper, Giulietta e Romeo, war nicht unter den ausgewählten Werken, vielleicht weil sie in der Neuzeit (in Jesi) aufgeführt und aufgenommen wurde. Die Musik hat eine klassische Zurückhaltung mit Anklängen an Bellini. Es ist erstaunlich, dass die meisten dieser Werke beim Publikum durchfielen. Dies gilt nicht für das Duett Presso un ruscello limpido“ aus Pastorella feudataria, das in der Tat eine schöne, klare Melodie mit Harfeneinleitung und -begleitung aufweist. Die Buffo-Arie aus Malvina war wie viele solcher Arien aus Rossinis frühen, für Venedig komponierten Farcen , und diese Oper (die scheiterte) war Vaccajs Versuch, auf dem venezianischen Markt Fuß zu fassen. Alle Stücke zeigen die volle Beherrschung der Techniken der damaligen Zeit, sowohl für die Sänger als auch für das Orchester. Nicht weniger konnte man vom Autor des „Metodo Pratico di Canto Italiano“ erwarten, das Vaccaj während seines Aufenthalts in England schrieb, wo er auf Opernaufträge gehofft hatte, die nicht zustande kamen. Dieses didaktische Werk, das noch heute von Sängern verwendet wird, ist wahrscheinlich Vaccajs wichtigster Beitrag zur Oper.

Il Bel Canto Ritrovato hatte vier hervorragende Sängerinnen und Sänger, um dieses Material zu untersuchen: Laila Alamanova (Sopran), Marta Pluda (Mezzosopran), Brayan Avila Martinez (Tenor) und der berühmte Bruno De Simone (Bariton). De Simone, ein Veteran vieler Komödien des Rossini-Festivals, verankerte die jungen Sänger, die alle außergewöhnlich stark und gut vorbereitet waren. Pluda hat einen ansprechenden Mezzo, reichhaltig und mit makelloser Technik ausgestattet; Alamanovas Sopran ist solide und volltönend von oben bis unten, und auch sie ist eine Meisterin der feinen Koloraturtechnik. Martinez war ebenfalls gut, und natürlich ist De Simone in jeder Hinsicht ein Profi.
Es war ein Genuss, und der Applaus des großen Publikums war lang und anerkennend. Bongiovanni hat das Konzert aufgezeichnet, und es wird eine CD davon geben, ebenso wie von der Rossi-Oper.
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Il Bel Canto Ritrovato bezeichnet sich selbst als „Festival Nazionale“, aber es ist ein zunehmend internationales Festival, das sich sowohl an ein lokales als auch an ein internationales Publikum richtet. Es basiert auf der Prämisse, dass italienische Komponisten etwa zwischen 1790 und 1850 eine enorme Anzahl lyrischer Werke schufen, um ein gefräßiges Publikum anzusprechen. Das Festival hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses riesige und vergessene Repertoire zu erforschen und jedes Jahr ein oder zwei ehemals populäre Werke ans Tageslicht zu bringen oder ein neues Licht auf Komponisten zu werfen, die im Vergleich zu Verdi oder Rossini „unbedeutend“ sein mögen, aber reizvolle Werke komponiert haben, die es nicht verdienen, in Archivregalen zu verstauben. Dies ist eine praktisch unerforschte Schatztruhe des mächtigen italienischen künstlerischen Erbes, die nicht ignoriert werden sollte, und dank des IBR wird der Deckel dieser Truhe nun angehoben. Charles Jernigan/ Übersetzung DeepL

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Giacomelli Giulio Cesare beim Festival für Alte Musik Innsbruck 2024: Opernstoffe aus der römischen Geschichte sowie „exotische“ Schauplätze waren im 18. Jahrhundert vor allem in der Handels­republik Venedig – deren Kaufleute ständig mit fremden Kulturen in Kontakt kamen – äußerst beliebt, wobei sich das ägyptische Sujet als außerordentlich populär erwies. Die Liebesgeschichte zwischen Julius Caesar und Kleopatra (die aus Makedonien stammte und somit Griechin aus dem früheren Imperium Alexanders des Großen war) wurde bereits in den Schriften der antiken Historiker Plutarch und Sueton erwähnt und war dem venezianischen Publikum bereits gut bekannt. Sie wurde unzählige Male von Librettisten bearbeitet und von Komponisten vertont, unter anderem auch von Geminiano Giacomelli.

Geminiano Giacomelli/ Wikipedia

Der heute fast vergessene Komponist (geboren am 28. Mai 1692 in Piacenza, gestorben am 25. Januar 1740 in Loreto) hat etwa 10 Jahre nach Georg Friedrich Händels „Masterpiece“ seinen „Cesare in Egitto“ herausgebracht. Giacomelli schuf ungefähr zwanzig Opern, Pasticci, Arien und Intermezzi für verschiedene italienische Städte.

Bis vor einiger Zeit war Geminiano Giacomelli nur wenigen Kennern der Barockoper ein Begriff. Doch in den letzten Jahren hat die Musik dieses zu Lebzeiten hochgeschätzten Komponisten, der regelmäßig für die größten Häuser Italiens und die bedeutendsten Gesangsvirtuosen seiner Generation schrieb, eine bemerkenswerte Renaissance erlebt, sowohl auf der Konzertbühne als auch in Gesangsrezitals und Einspielungen.

Zu seiner Biografie: 1727 wurde Giacomelli auf ausdrücklichen Wunsch des Herzogs Francesco Farnese auf Lebenszeit zum Kapellmeister von San Giovanni in Piacenza ernannt. Dazu erhielt er das Vorrecht, nach Belieben abwesend zu sein, sofern er für eine Vertretung sorgte und Kompositionen lieferte. Außerdem war er Kapellmeister am Hofe von Parma, ausserdem an der dortigen Kirche San Giovanni della Steccata sowie später Kapellmeister an der Kirche Santa Casa in Loreto, wo er auch starb.

Uraufgeführt wurde Giacomellis „Cesare“ 1735 als Karnevalsoper im Teatro Regio Ducale in Mailand, dann wurde die Oper schon im November desselben Jahres im Teatro San Giovanni Crisostomo in Venedig, nachgespielt. Es folgten Florenz, Graz und Verona.

Die Vorstellungen der Oper am venezianischen Teatro San Giovanni Crisostomos schienen besonders erfolgreich gewesen zu sein. Schon in zeitgenössischen biografischen Artikeln zu Giacomelli wird „Ce­sare in Egitto“ als eines der Meisterwerke des Komponisten hervorg­ehoben. Von Venedig verbreitete sich das Werk in ganz Europa.

Giacomellis wachsender Ruhm als Opernkomponist ermöglichte Giacomelli zahlrei­che Reisen und Tätigkeiten auch nördlich der Alpen. So war er 1737 Theaterdirektor in Graz, wo er unter anderem Aufführungen seines schon damals recht populären “Cesare“ aufführte.

Auch wenn Domenico Lalli offiziell als Librettist des „Cesare“ gilt, darf vermutet werden, dass verantwortlich für viele textliche Details und Arientexte, kein anderer als der junge, aufstrebende Carlo Goldoni war. Am Teatro San Giovanni Crisostomo war Goldoni Lallis Assistent, daher wurde Goldonis Arbeit an den Textbüchern nicht einmal mit einer eigenen Signatur gewürdigt. „Cesare in Egitto“ ist mit dem Namen Domenico Lalli unterzeichnet, ohne Erwähnung Goldonis. Dieser scheint jedoch damit völlig einverstanden gewesen zu sein.

Unter dem Motto „Wohin kommen wir? Wohin gehen wir“ steht vom 21. Juli bis 30. August 2024 die Wiederaufführung der Oper „Cesare“ von Geminiano Giacomelli auf dem Programm des diesjährigen Festivals Alter Musik in Innsbruck, dessen finanzielle Verhältnisse erfreuli­cherweise als stabil gelten dürfen. Ottavio Dantone hat Giacomellis Oper für seine erste szenische Produktion als neuer Musikalischer Leiter der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik auserkoren. Eine an sich begrüßenswerte Ausgrabung eines vergessenen Werks.

Man spielt allerdings nicht die Kritische Ausgabe von Holger-Schmitt Hallen­berg., der gleichwohl einen gelehrten Essay im Programmheft beisteuert, sondern eine Kritische Ausgabe von Bernardo Ticci und Ottavio Dantone nach der Uraufführungsversion von Venedig 1735. Als Librettisten werden ausdrücklich Carlo Goldoni und Domenico Lalli genannt. Dantone nennt das dreiaktige „dramma per musica“ schlicht „Oper“.

Er wolle „die Emotionen der damaligen Zeit ins Heute übersetzen“, so erklärte der Italiener seine künstlerische Programmatik. Dass sei eben etwa durch die Reduzierung der Spieldauer möglich. Damit gelinge „eine Anpassung an die heutigen Gegebenheiten.“ Tatsächlich dauert die Aufführung „nur“ drei Stunden, doch die werden lang! Dantone erklärte vorab: „Unser Ziel ist es, dem Publikum die stärksten Emp­findungen erlebbar zu machen, die Wahr­nehmung von Raum und Zeit aufzuheben und sie in eine ferne und dennoch gegenwärtige Ära mitzunehmen.“

Die Inszenierung von Leo Muscato, der sein Debut in Innsbruck gibt, löst dieses Versprechen nur bedingt ein. Er verlegt die Handlung in das augenscheinlich schon muslimisch besetzte Ägypten, die Herren Ägypter tragen den klassisch arabisch-türkischen Fez (in blau) zu sandfarbenen Uniformen. Die Leibgarde des ägyptischen Hofes trägt moderne rote Kampfanzüge und Helme, die Kalasch­nikows stets im Anschlag. Die Herren fuchteln in Machopose mit Pistolen herum, oder sie rennen von einem Raum der aus altägyptischen Tempelruinen bestehenden Drehbühne in den nächsten.

Im Hintergrund fünf römische rote Krieger mit geschlossenen Helmen als Kolossalstatuen. Während der Ouvertüre stehen sie an der Rampe.

Bei den vielen Arien verharren die Sänger meistens in theatralischer Starre. Die Kostüme (Giovanna Fiorentini) sind zeitlos modern, vor allem die der Damen. Cesare, der von einer Frau gesungen wird, was die erotische „Sache“ nicht sehr glaubwürdiger macht, trägt einen roten Kampfanzug, Cleopatra indifferente Damengewandung mit Turban. Alle altägyptischen Erwartungen in Kostümierung (wie Dekoration) werden Lügen gestraft.

Geminiano Giacomellis“Giulio Cesare“ beim Festival für Alte Musik Innsbruck 2024/ Foto Birgit Gufler

Ob die nicht wirklich einsichtige Aktualisierung geeignet ist, eine „Anpassung an die heutigen Gegebenheiten“ zu vermitteln oder gar „dem Publikum die stärksten Emp­findungen erlebbar zu machen, die Wahr­nehmung von Raum und Zeit aufzuheben und sie in eine ferne und dennoch gegenwärtige Ära mitzunehmen,“ sei dahingestellt. Gewiss zeigt das bewegte, leicht variierte Bühnenbild von Andrea Belli immer wieder schöne Momente, zumal in stimmungsvoller Beleuchtung von Alessandro Verazzi, aber die Aufführung ist weitgehend statisch, spannungslos, um nicht zu sagen langweilig. Die Personenführung ist weitgehend konventionell, von Personen­psychologie kann kaum geredet werden, allerdings enthält das (deutsch übertitelte) Libretto auch wenig individuelle Charaktere, verbleibt weitgehend stereotyp und reichlich pathetisch. Worthülsen statt Emotionen. Eine gefühllose Staatsaktion. Wie überwältigend anders kommt Händels (und seines Librettisten Nicola Francesco Hayms) „Giulio Cesare“ daher. Und selbst Carl Heinrich Grauns “Cesare e Cleopatra“ ist um Vieles lebendiger, überzeugender, weniger klischeehaft, gefühlsechter und auch – last not least – musikalisch interessanter, ja faszinierender.

Von seinen Zeitgenossen wurde Giacomelli sowohl als Opernkom­ponist als auch als Gesangslehrer hochgeschätzt. Es gelang ihm, wie Benedetto Marcello im siebten Brief seines „Estro poetico-armonico rühmte, „seine Werke optimal an die Fähigkeiten der jeweiligen Sänger anzupassen. Gleichzeitig hatte er ein starkes Gespür für die Bedürfnisse des Theaters und eine schlichte traditionelle Tonsprache, durch die er große Popularität erlangte. Seine Melodien wirken weich, spontan und kantabel. Sie sind dem Zeitgeschmack entsprechend mit Vokalisen und Koloraturen Gespür für die Bedürfnisse des Theaters und Modulationen belebt.“ Das mag schon sein, aber die Bedürfnisse des Theaters wie des Publikums, die Hörgewohnheiten und die Erwartungen an die Oper. waren zu Giacomellis Zeiten eben andere als heute.

Giacomellis Vertonung des „Cäsar“-Stoffs hält dem uns vertrauten Händelschen Vorbild jedenfalls nicht stand.  Er erreicht das psycholo­gische Einfühlungsvermögen Händels nicht, auch wenn er sich bemüht, einen präzisen Blick auf die Seelenzustände seiner Protagonisten in Töne zu setzen. Doch die Arien seiner Protagonisten sind eher hochvir­tuos als persönlichen oder gar gefühlvoll. Man kann sie bewundern, aber man wird von ihnen nicht berührt.

Giacomellis schon zu seinen Lebzeiten sowohl in der Gesangslinie als auch im genau durchgearbeiteten Orchestersatz als anspruchsvoll geltende Musik, akzentuiert die Persönlichkeitszüge häufig mit großen Intervallsprüngen, expressiven Dissonanzen, synkopierten Akzenten und einer oft imitierenden, selbständigen zweiten Violinstimme. Anspruchsvoll kann man seine Musik wohl nennen, (uns heute affizierende) Gefühlstiefe ist ihr fremd.

Ottavio Dantone und seine Accademia Bizantina bemühen sich redlich, nach Maßgabe der historisch informierten Aufführungspraxis die Reize der Musik Giacomellis, das ihr Eigene und Besondere zu Gehör zu bringen. In der dreiteiligen, recht rasant genommenen Ouvertüre hörte sich das noch vielversprechend an, doch im weiteren Verlauf des Abends machte die Musik einen immer drögeren Eindruck, gar nicht zu. Nicht zu reden von den vielen, langen Rezitativen

Geminiano Giacomellis“Giulio Cesare“ beim Festival für Alte Musik Innsbruck 2024/ Foto Birgit Gufler

Vor allem das (bei Händel) so Flirrende, das erotisch Bezaubernde Cleopatras vermisst man. Sie wird im Libretto als eiskalte, ehrgeizige Machtpolitikerin gezeichnet, die nur Eines im Sinne hat: Das römische Imperium an sich zu reißen. Ihre Liebe zu Cäsar ist lediglich strategisch und berechnend. Wenn überhaupt, ist die Rolle der Cornelia „sympathisch“ gezeichnet, obwohl auch sie eine selbstsüchtige Politikerin ist, die ihre Rolle im rücksichtslosen und grausamen Machtpoker des Stücks spielt, in dem die Frauen die dominanten Persönlichkeiten sind und Cäsar eher eine „milde“, weshalb das Stück auch mit einem „lieto fine“ endet.

Die sängerische Besetzung der Aufführung ist – zumal auf weiblicher Seite – vorzüglich, bei den männlichen Partien gab es hingegen Licht und Schatten: Die Sopranistin Arianna Vendittelli singt einen anständigen, wenn auch (naturgemäß) wenig „männlichen“ Giulio Cesare. Die Mezzosopranistin Emöke Baráth singt eine hochvirtuose, aber keineswegs einschmeichelnde oder gar betörende Cleopatra, Königin von Ägypten und Schwester des Tolomeo. Die sängerischen Höhepunkte des Abends sind der Altistin Margherita Maria Sala zu verdanken, die eine beeindruckende Cornelia, Witwe des Pompeo singt.  Der Tenor Valerio Contaldo leiht Tolomeo, König von Ägypten seine Stimme. Der Sopranist Federico Fiorio singt den römischen Senator Lepido, Liebhaber der Cornelia, den Achilla, General des Tolomeo der Countertenor Filippo Mineccia. Alles in allem eine respektable, aber nicht gerade mitreißende Reanimierung. Dieter David Scholz

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Familienangelegenheit: Luigi Riccis Chi dura vince in Neuburg an der Donau. Die Neuburger Kammeroper in Neuburg an der Donau, einem malerischen Städtchen an der Donau, ist vielleicht nicht über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt, aber sie spielt jeden Sommer für ein paar Wochenenden in dem exquisiten, winzigen Stadttheater aus dem Jahr 1869. Es werden eine zweiaktige Oper oder manchmal zwei einaktige Opern aufgeführt, die immer komisch sind. Sie werden auch immer auf Deutsch aufgeführt, unabhängig von der Originalsprache, und mit gesprochenen Dialogen. Außerdem handelt es sich immer um sehr ungewöhnliche Werke aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die man sonst nirgendwo zu hören bekommt. Im Jahr 2019 haben Peggy und ich zwei Einakter von Ferdinand Hérold gesehen, L’Auteur Mort et Vivant und Le muletier. In diesem Jahr war die Oper von Luigi Ricci, eine italienische Komödie in zwei Akten, die im Original Chi Dura Vince heißt, oder Eine Rosskur in der modernen deutschen Übersetzung von Annette und Horst Vlader. Es handelte sich um die 56. Aufführung des Festivals, das 1969 begann.

Luigi Ricci: „Eine Rosskur“ in Neuburg an der Donau/Szene/Foto Kammeroper Neuburg

Chi Dura Vince bedeutet „Wer ausharrt, gewinnt“, und der deutsche Titel lautet wörtlich „Eine Rosskur“, was eine drastische Heilung bedeutet, ein Ein-Wort-Ausdruck der englischen Idee „it will make you well if it doesn’t kill you first“. Das Libretto von Jacopo Ferretti ist eine Version der Geschichte, die Shakespeare in Der Widerspenstigen Zähmung “ verwendet hat , mit einigen Buffo-Bässen, die die Geschichte über eine zänkische Ehefrau, die sich der Pferdekur“ unterzieht, auflockern. Der Graf Sanviti hat eine junge, aber verarmte Adelige namens Fiorina geheiratet, die er als hochmütig, kapriziös und geradezu gemein empfindet. Er hat sie während der Flitterwochen im Stich gelassen, um seinen Plan für eine „Heilung“ zu verfolgen, indem er sich zunächst als Bauer verkleidet, der eine Stelle auf einem Schloss bekommt, das er selbst gerade gekauft hat. Das Schlossgut wird von zwei Taugenichtsen verwaltet, Gennaro, dem Aufseher, und Giovanni, der auf dem Gut eine Hutmacherei betreibt (in unserer Produktion ein Weingut). Als Fiorina eintrifft und sich über alle Einheimischen hinwegsetzt (auch über Biagio, den Chef der örtlichen Polizeibrigade), ist sie schockiert, als sie erfährt, dass sie keinen Grafen geheiratet hat, sondern jemanden, der auf den Ländereien des Grafen arbeitet. Wut und Abscheu verwandeln sich im zweiten Akt in Entsetzen und Eifersucht, als sie glaubt, ihr Mann wolle sie zugunsten einer neuen Liebe verlassen, nämlich der Baronin Galeotti (die in Wirklichkeit die Schwester des Grafen Sanviti ist). Die Eifersucht lässt sie erkennen, dass sie ihren Mann wirklich liebt, der sich praktischerweise als der echte Graf entpuppt, und die Geschichte endet mit einem fröhlichen Walzerlied.

Der meiste Spaß in der Oper entsteht nicht durch die Geschichte der Verwechslungen und Missverständnisse, sondern durch die Possen von Gennaro und Giovanni und ihre Begegnungen mit der Gräfin Fiorina. Sie überwinden bald ihr Erstaunen über ihre hochmütige Behandlung und geben so viel zurück, wie sie bekommen. Eine der besten Nummern der Partitur ist das Buffo-Duett „Ser Gennaro…Ser Giovanni/Quante pene, quanti affanni“ im zweiten Akt. Ein Genuss ist auch Gennaros eröffnende Buffo-Nummer „Ehi plebe! Volgo! Sudditi!“, in der er sich über die Bauern lustig macht, während diese ihn verspotten. Die Baronin, die zum ersten Mal im zweiten Akt auftaucht, ist auch mit von der Partie, aber sie ist die „seconda donna“, und als solche hat sie in der Originalpartitur keine eigene Arie. Also haben die Neuburger zur Bereicherung ihrer Rolle Musik interpoliert, und zwar aus (wie man mir sagte) Riccis Il birraio di Preston, das letztes Jahr beim Festival Il Bel Canto Ritrovato in Pesaro aufgeführt wurde.

Federico und Luigi Ricci /Wikipedia

Luigi Ricci hatte zusammen mit seinem Bruder Federico am Konservatorium von Neapel studiert, und zwar unter der Leitung von Vincenzo Bellini, der als Seniorstudent eine Art Assistent des Absolventen war. Auch Luigi begann seine Karriere dort mit L’impresario in angustie (1823), der ersten von etwa dreißig Opern, die er schreiben sollte, einige davon in Zusammenarbeit mit seinem Bruder. Seine erfolgreichsten Werke scheinen komisch gewesen zu sein. Acht von ihnen entstanden in Zusammenarbeit mit Jacopo Ferretti, einem römischen Geschäftsmann aus der Tabakindustrie, der nebenbei Libretti schrieb, darunter das für Rossinis La Cenerentola. Ferretti hatte eine klassische Ausbildung genossen und kannte die Möglichkeiten von Missverständnissen und Verwechslungen aus den Farcen des Plautus. Dieses Wissen nutzte er in Chi Dura Vince, dessen Untertitel La Luna di Miele – Die Flitterwochen lautet, was sicherlich ironisch gemeint ist, denn die Flitterwochen der Sanvitis sind alles andere als das.

Chi Dura Vince wurde 1834 in Rom uraufgeführt. Es erlebte eine rege Aufführungsgeschichte und wurde lange nach Luigis Tod (1859) von Luigi Riccis Bruder Federico überarbeitet und 1876 in Paris als La petite comtesse wiederaufgeführt. Die Musik ist immer melodiös und voluminös und manchmal unvergesslich. Je mehr wir von den Brüdern Ricci (und vor allem von Luigi) hören, desto mehr verstehen wir, dass ihr Werk eine Brücke zur leichten Oper und zur Operette des späteren neunzehnten Jahrhunderts bildet. Die leichte Orchestrierung hat Operettenqualität, und die meisten Rollen sind technisch nicht so schwierig wie die Opernrollen der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Die Brüder Ricci wirken wie ein Bindeglied zu Franz von Suppé und zu den Strauss-Brüdern. Die abschließende Walzernummer „Ah! Che al brillar dell’iride“ ist nicht nur fröhlich und einprägsam, sie ersetzt auch das kunstvolle Cabaletta- oder Rondo-Finale, das früher diesen Ehrenplatz einnahm.

Diese Opern waren dafür gemacht, in kleinen und Provinztheatern und gelegentlich auch in großen Häusern gespielt zu werden. Sie eignet sich perfekt für die intimen Räumlichkeiten des Neuburger Stadttheaters und das Gemeinschaftsgefühl der Aufführungen, bei denen Bürgerinnen und Bürger aus der Umgebung im Chor singen, die Bühnenbilder bauen, die Kostüme nähen oder sogar einige der Hauptrollen übernehmen – oder die Regie übernehmen. Das ganze Unterfangen hat etwas Familiäres: Chormitglieder in Kostümen mischen sich unter das Publikum und verkaufen vor der Aufführung Programme, und die Darsteller mischen sich in der Pause unter das Publikum. Viele von ihnen sind Nachbarn, die ihre Nachbarn unterhalten.

Selbst die Hauptsopranistin, die Gräfin Fiorina (im italienischen Original Elisa genannt), Da-yung Cho, ist in Wien geboren und aufgewachsen, obwohl die Familie aus Korea stammt. Ihr heller Sopran wäre sowohl für die Operette als auch für die Oper geeignet, und ihre Technik war sicher. In dem kleinen Saal funktionierte alles perfekt, und ihr Schauspiel war perfekt. Frau Da-yung Cho hat schon früher in Neuburg gearbeitet und ist Teil der Familie. Patrick Ruyters war ebenfalls ein Volltreffer und ein fähiger Farceur als Gennaro. Seine Baritonstimme ergänzte den Giovanni von Michael Hoffmann, der seit vielen Jahren an der Neuburger Kammeroper engagiert ist. Horst Vlader (Biagio) ist einer der Gründungsväter des Neuburger Ensembles und trägt seit Jahrzehnten mit seinen vielen Talenten zum Erfolg des Ensembles bei, auch als Comprimario. Der polnische Tenor Karol Bettley spielte die Rolle des Grafen. Seine Stimme würde vielleicht besser zur musikalischen Komödie oder Operette passen, aber egal, er war großartig auf der Bühne. Das Gleiche gilt für Martha Harreiter als Baronin; ihr Charme auf der Bühne übertraf ihre kleine Stimme.

Alois Rottenaicher leitete das 28-köpfige Orchester, Horst Vlader führte mit sicherer Hand Regie und Michele Lorenzini entwarf einfache, funktionelle Bühnenbilder.

Kurzum, man könnte die Aufführung oder die Sänger kritisieren, aber warum? Es ist am besten, wenn man die Mitglieder der Familie nicht kritisiert. Außerdem sind Opernhäuser, die Werke von Luigi Ricci aufführen, selten, und Werke, die so ungetrübtes Vergnügen bereiten, sind viel lohnender als eine weitere Regieversion von Tosca. Die Neuburger Kammeroper folgt dem Libretto und es gibt kein Konzept, das nichts mit dem Werk zu tun hat. Die Brüder Ricci gehörten zu einer großen Gruppe von Komponisten, Librettisten und Interpreten, die das Publikum in einer Zeit unterhielten, in der die Oper eine der wichtigsten Formen der Unterhaltung war. Das ausverkaufte Publikum im Jahr 2024, das größtenteils aus der Region stammte, verließ das Haus glücklich und gut unterhalten, mit dem letzten Walzerlied im Kopf, genau wie 1834 in Rom. Was ist daran falsch? Charles Jernigan, 27./28. Juli, 2024/Übersetzung DeepL

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Kammeroper Schloss Rheinsberg – in stimmungsvoller Kulisse. Der Komponist Niccolò Piccinni war Italiener, lebte und starb jedoch in Paris. Dort gab es den berühmten Komponistenstreit zwischen ihm und dem Reformer der Oper Christoph Willibald Gluck, ausgefochten zwischen den Anhängern der beiden. Sonst aber ist der italienische Meister heute so gut wie vergessen. Umso verdienstvoller das Bemühen der Kammeroper Rheinsberg, ihn nach 222 Jahren erneut aufzuführen, denn in Rheinsberg war das Werk zuletzt 1802 im Schlosstheater zu hören. Das Festival ist bekannt dafür, sich vergessener Werke anzunehmen – ein Verdienst des Künstlerischen Leiters Georg Quander, der auch zu interessanten Kombinationen in den Programmen findet. In diesem Jahr stellte er unter dem Motto „Der Schatten Trojas“ Glucks Iphigenie in Aulis Piccinis Didon gegenüber. Viele Komponisten haben den Stoff vertont, man denke nur an Purcell, Hasse und Berlioz. Piccinnis Librettist Jean-François Marmontel fokussiert die Handlung auf die wenigen Tage, in denen sich Énée entscheidet, Didon zu verlassen, um in Italien Rom zu gründen.

Zu Piccinnis „Didon“: der bezaubernde Spiwelort, der Innenhof des Schlosses Rheinsberg/Kammeroper Rheinsberg

Piccinnis Musik ist voller Esprit, reich an melodischen Eingebungen und delikat instrumentierten  Zwischenspielen, wird bestimmt von tänzerischem Duktus, der die französischen Konventionen befolgt, nach denen große Chor- und Tanztableaus obligatorisch waren. Der Klang der Akademie für Alte Musik Berlin unter Bernhard Forck entfaltete sich im Schlosshof Rheinsberg, wo das Werk in französischer Sprache halbszenisch aufgeführt wurde (Regie: Andreea Geletu), zauberhaft und wunderbar transparent. Preisträger des Internationalen Gesangswettbewerbes der Kammeroper übernahmen die Partien und legten durchweg Ehre ein, angeführt von Noemi Bousquet in der Titelrolle, die mit größtem Einsatz und leidenschaftlicher Darstellung das Schicksal der Königin packend verkörperte. Ihr farbiger, substanzreicher Sopran ließ schon bei „Venez, enfant des Dieux“ im 1. Akt durch lyrische Delikatesse aufhorchen. Selbstbewusst und mit flammenden Tönen lehnt sie das Werben des feindlichen Königs Yarbe ab, empfindsam und mit leuchtenden Obertönen singt sie „Ah! Que je fus bien inspirée“ im 2. Akt. Herzzerreißend versucht sie mit „Vous la savez“ Énée in seinem Plan, sie zu verlassen,  umzustimmen. Emotional völlig aufgewühlt formt sie das erregte „Non, ce n´est plus pour moi“ zu Beginn des 3. Aktes, ergreifend das „Prend pitié de ma faiblesse“. Am Ende wechselt ihr Gefühlszustand in Raserei, mit „Je veux mourir“ nimmt sie Didons Szene in Berlioz` Tragédie vorweg.

Chen Li lässt als Énée einen hellen, durchschlagenden Tenor hören und bewältigt die. exponierte Partie souverän. Spannend schildert er in „Au noir chagrin“ seinen Konflikt zwischen der Liebe zu Didon und dem Auftrag der Götter. Mit Didon hat er mehrere Duette, die von resolutem Zuschnitt sind und von den beiden Sängern eindringlich geformt werden.

Piccinnis „Didon“ in Rheinsberg 2024/Szene/Foto Uwe Hauth

Der Bariton Yiwei Mao als Yarbe gestaltet sowohl die noblen als auch die vehementen Soli beeindruckend. Das Vokalsystem Berlin absolviert in Konzertkleidung (Leitung: Johannes Wolf) seine Auftritte markant, so das energische „Aux armes“ am Ende des 2. oder lärmende „Victoire!“ zu Beginn des 3. Aktes, wenn die Karthager siegreich aus dem Krieg gegen Yarbe und die Numidier zurückkehren. Grandios die Schilderung der Naturgewalten („Les éléments troublé“) und erschütternd das Finale („O Ciel!“), wenn die Karthager die tote Didon betrauern und mit Hass und Aggressivität den Trojanern ewige Rache schwören. Das Publikum in der zauberhaften Kulisse des Schlosshofs feierte auch in dieser 3. Aufführung am 28. 7. 2024 alle Interpreten begeistert. Bernd Hoppe (ein ausführlicher Artikel zur Oper selbst findet sich als Beitrag in unserer Serie Die vergessene Oper.)

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Rossini in Wildbad 2024: Während in zwei Wochen auf und an der Seine bereits die Eröffnung der Olympischen Spiele stattfindet, wehte im Juli ein Hauch von Paris durch den Nordschwarzwald. Ganz punktgenau hat es Jochen Schönleber nicht hinbekommen, doch die beiden erweiterten Wochenenden, auf die er das Belcanto Opera Festival „Rossini in Wildbad“ reduziert und konzentriert hat, fallen fast genau zwischen Fußball-Euphorie und Olympische Spiele.  (…)

Rossini selbst, Wildbads berühmter Kurgast, ließ sich für seine Bäderbehandlung 1856 mehrere Wochen Zeit. Ein Sportsmann war er sicherlich nicht. Bewegungen vermied er tunlichst. Wenn er sich regelmäßig zu Ausflüge im Bois de Boulogne mit Michele Carafa traf, ritt der neapolitanischen Adelige und Offizier auf seinem Pferd, während es sich Rossini in seiner Kutsche bequem machte. Sie waren gut befreundet, seit sie in Neapel das seinerzeit beste Opernhaus der Welt erobern wollten. Beide verschlug es in den 1820er Jahren nach Paris. Der perfekt französisch sprechende Bonapartist Carafa, der auch die französische Staatsbürgerschaft annahm, konnte an der Opéra-Comique, die fortan sozusagen seine künstlerische Heimstatt blieb, sofort mit französischen loslegen, während Rossini zögernd mit französischen Umarbeitungen früherer Werke und einer Festkantate begann, aus der er dann seine erste originale französische Oper Le Comte Ory filterte.

Rossinis „Comte Ory“ beim Belcanto-Festival Rossini in Wildbad 2024/Szene/Patrick Pfeiffer

Dieser Graf Ory steht zusammen mit Carafas Masaniello im Zentrum der 35. Festspiele 2024. In zehn Tagen geht es hurtig Schlag auf Schlag und atemlos wie im Crescendo einer Rossinischen Ouvertüre, denn hinzu kommen im Königlichen Kurtheater Aufführungen der Italienerin in Algier unter José Miguel Pérez-Sierra, ganz kommod auch vormittags, was geballte Rossini-Besuche erlaubt, dazu Cenrentola für Kinder, instruktive Arienkonzerte, wobei sich beispielsweise Mert Süngü des Tenors Duprez annimmt, und zum Abschluss ein Waldkonzert hoch oben auf dem Berg.

Singen ist Hochleistungssport. Das bewiesen Nathanael Tavernier und Camilla Carol Farias, die am 20.7. nach dem Masaniello wieder ran mussten, um Patrick Kabongos Grafen Ory zur Seite zu stehen. Wobei sie als Erzieher und Pförtnerin des Schlosses kaum das Treiben des Erotomanen gutheißen können, der in wechselnder Verkleidungen Sophia Mchedlishvilis sehr kapriziöser Gräfin an die Wäsche will, im Dunkeln aber an seinen Pagen Isolier gerät. Das alles spielt einer alten Legende zufolge um 1200 in der Tourraine, wo die Frauen während der kreuzzugsbedingten Abwesenheit ihrer Männer Enthaltsamkeit geschworen haben. Diese gilt es zu erschüttern. Rossini hat einen gewichtigen Teil seiner Il viaggio a Reims-Musik in seine erste originale französische Oper gerettet, die dezidiert nicht als opéra comique, sondern als „Opera“ ausgewiesen wurde. Denn schon Philip Gossett wies einst darauf hin, „Während die Instrumentierung einer damaligen opéra comique relativ durchsichtig ausfällt, ist Rossinis Orchesterapparat in Le Comte Ory riesig und durchaus vergleichbar dem, den er in Guillaume Tell verwendete“.

Rossinis „Comte Ory“ beim Belcanto-Festival Rossini in Wildbad 2024/Szene mit Patrick Kabongo/Patrick Pfeiffer

Witz, Geist und Esprit verströmt in reichem Maß die Leitung Antonino Foglianis, der sich einmal mehr als profunder Rossini-Kenner erwies, bei dem Timing, Phrasen und Nuancen wie selbstverständlich sitzen, wie sich im präzisen Agieren des Krakauer Orchesters und Chors zeigte. Patrick Kabongo gab den liebestollen Ory mit ansprechender Geschmeidigkeit und federleichter Verblendung von Mittellage und Höhe und die ihm übergestülpten Kostüme mit Nonchalance. Bemerkenswert die virtuose, in der Mittellage etwas verkniffene Gräfin der georgischen Sopranistin Sophia Mchedlishvili, die eher dem Pagen des Grafen geneigt ist. Diana Haller singt den Isolier als handele es sich um Verdis Amneris, mit bolleriger Mittellage, viel Kraft, mühelos strömend, guter Höhe, aber auch etwas wackelnd. Tavernier blieb als Erzieher bei reicher Tiefe etwas gleichförmig, Fabio Capitanucci machte als Raimbaud wenig aus seiner Arie, Camilla Carol Farias war die resche Ragonde, Yo Otahara die süße Alice. Jochen Schönleber und seine Kostümbildnerin Olesja Maurer haben dazu einen Flower-Power-Mix angezettelt, der ein bisschen mit kultureller Aneignung und genderfluiden Stereotypen kokettiert. Ekstatische Begeisterung. Rolf Fath (der auch den erstmalig Masaniello Michele Carafas als moderne Erstaufführung erlebte, seine Rezension findet sich zum Artikel in der Reihe Die vergessene Oper.)

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Bei der styriarte Graz: Vivaldis Le quattro stagioni als Soap-Opera. Kaiserin Maria Theresia hat sich in Graz angesagt und die Vorbereitungen auf den hohen Besuch sind in vollem Gange. Ein reiches Programm soll die Monarchin unterhalten.  Schon am Vortag der Ankunft Ihrer Majestät herrscht reges Treiben im Palais des Grafen Attems, wo die Putzdirndln und -burschen in historischen Kostümen (der HIB.art.chor) das goldene Besteck polieren und dazu steirische Balladen aus dem 18. Jahrhundert und „Deutsche Volkslieder aus Steiermark“ singen.

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

So beginnt der 1. Teil der Attems-Saga, die Thomas Höft erdacht und Adrian Schvarzstein in Szene gesetzt hat. Grundlage ist der historisch verbürgte Besuch der Kaiserin Maria Theresia in der steirischen Hauptstadt am 4. Juli 1750 samt der Bemühungen des Grafen Ignaz Maria Attems, der Herrscherin mit einer neuen Oper zu imponieren. Leider hatte die Kaiserin die Stadt nach nur wenigen Stunden wieder verlassen…

Nun soll mit einem großen Spektakel an diese historische Episode erinnert werden. Sänger, Schauspieler, Tänzer und Musiker wirken mit. Beim Gang durch die prachtvollen Räume des Palais unter Führung des Haushofmeisters Hippolyt (gebührend aufgeregt: Matthias Ohner) wird man auch Zeuge einer Affäre von Marianne Gräfin Attems (exaltiert: Maria Köstlinger) mit ihrem Geliebten Monsieur de la Tour (Georg Kroneis virtuos an der Viola da Gamba). Schließlich geht es zu Fuß in die ehrwürdige Aula der Alten Universität mit ihren wunderbaren floralen Deckenmalereien, wo ein Vorsingen stattfindet für die Aufführung von Vivaldis „Jahreszeiten“-Oper am nächsten Abend. Große Chancen haben zwei Damen – die Primadonna Daniela Papagallo (die Italienerin Carlotta Colombo mit substanzreichem Sopran) und die Nichte des Basteischließers Mizzi Huber (Anna Manske mit angenehmem, hellem Mezzo). Zweifelhaft ist der Auftritt des dänischen Tenors Svend-Poul Hjorth-Stromqvist (wirklich aus Dänemark: der Tenor Valdemar Villadsen mit schmaler Stimme).

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Tags darauf begegnet man diesen drei Sängern im Schauspielhaus bei der Aufführung von Le quattro stagioni stiriane wieder. Der 2. Teil der Attems-Saga ist ein Pasticcio aus den vier Concerti von Vivaldis Le quattro stagioni und einer Auswahl seiner berühmtesten Arien. Am Pult der Palais Attems Hofkapelle steht Michael Hofstetter im Kostüm eines bettelnden Straßenmusikanten (Bettina Dreißiger). Erfahren  in der historischen Barock-Praxis, findet er die Balance zwischen delikaten Passagen mit filigranen Instrumentalsoli und furios auftrumpfenden oder eisig klirrenden Episoden.

Die Spanierin Lina Tur Bonet als Konzertmeisterin des Ensembles brilliert in den zahlreichen Soli der Komposition mit musikantischer Verve und stupender Technik.

Auf die Bühne hat Christina Bergner ein drehbares Modell gestellt, welches bunte Landschaften, Blumen-Arrangements und winterliche Gletscher-Massive zeigt. Zum Amüsement des Publikums werden die über den Abend verteilten Sätze aus Vivaldis Concerti mit pantomimischen Szenen garniert (Choreografie: Mareike Franz) – ein Schäfer mit Hund, Blumenmädchen, ein Jongleur, Eisbären…

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Immer wieder wird auch die Ankunft der Kaiserin verkündet, das Publikum aufgefordert, sich zu erheben und den Begrüßungschor anzustimmen, ein aus Dorilla in Tempe stammendes und eigens für diesen Anlass mit neuem Text versehenes Stück. Doch jedesmal erweist sich die Ansage .als Irrtum, was die Künstler nicht von der Fortsetzung des Programms abhält. Im Falle der Primadonna Daniela Papagallo alias Carlotta Colombo ist man darüber besonders erfreut, denn die Sopranistin glänzt in „Ombre vane“ aus Griselda mit Klangfülle und starkem Aplomb im rasanten Mittelteil. Das „Addio caro“ aus La verità in cimento im zweiten Teil geriet dagegen etwas beiläufig, während die Aria „In furore iustissimae irae“ wahrhaft mit Furor vorgetragen, im Da capo angemessen verziert und mit Spitzentönen geschmückt war. Die Mezzosopranistin Anna Manske als Mizzi Huber imponierte bei „Gelido in ogni vena“ aus Farnace durch starke Expressivität, während es ihr für die Cantata in Scena con Viola all´inglese (Georg Kroneis) an Pathos fehlte. Mit der Sopranistin fand sie im Duetto „Placa l´alma“ aus Händels Alessandro zu ausgewogenem, harmonischem Zusammenklang. Gegenüber den Sängerinnen blieb der Tenor Valdemar Villadsen im Schatten, doch gelangen ihm in „Care pupille“ aus Tigrane immerhin feine Kopftöne. Dagegen blieb der auftrumpfende Nachdruck in „Alle minacce di fiera belva“ aus Farnace unterbelichtet.

Mit dem Finalsatz Allegro. Lento aus „L´Inverno“ endet die Aufführung, aber es wird natürlich noch einmal der Begrüßungschor angestimmt – auch wenn die Kaiserin bis zum Schluss nicht erschien (was ein wenig an Rossinis Reise nach Reims  erinnert). Die Begeisterung im Publikum bewies, dass darüber niemand enttäuscht war.

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Am nächsten Vormittag waren alle eingeladen, im prachtvollen Planetensaal von Schloss Eggenberg dem Spiel Königlicher Bläser zu lauschen. Die fünf Musiker, Virtuosen auf ihren Instrumenten, gehören zur Compagnia di Punto, benannt nach dem größten Hornisten der Mozart-Zeit Wenzel Stich alias Giovanni Punto. In Telemann Ouvertüre in F zu Beginn wechselten Jagdsignale mit einem lieblichen Menuet, einer feierlichen Sarabande und einer munter beschwingten Loure. In drei Stücken kam noch einmal Händel zu Wort. und mit einer Triosonate in g wurde an Vivaldi erinnert. Nach diesen Kompositionen für kleinere Besetzungen vereinten sich alle fünf Mitglieder des Ensembles am Ende beim Quintett in F von Telemann, das mit einer festlichen Fanfare ausklingt. Danach konnten alle Freunde von Natur und Musik im Park bei einem PicknickKonzert Hornkonzerte von Punto mit David Fliri und Christian Binde, dem Leiter der Compagnia, hören, was das originelle und innovative Wochenendprogramm der styriarte (28., 29. und 30. 6. 2024) stimmungsvoll beendete.. Bernd Hoppe

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Musikfestspiele Potsdam Sanssouci: Der Kaiser auf dem Koffer. Die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci zeichnen sich seit Jahren durch originelle Programmkonzeptionen aus. In diesem Jahr war „Tanz“ das Motto, was eine Fülle von attraktiven Aufführungen versprach. Im Schlosstheater des Neuen Palais gab es Grauns Oper Adriano in Siria, welche erstmals 1746 an der Königlichen Oper in Berlin erklang, seither aber nicht mehr gespielt wurde. Wie die berühmten opéra-ballets im Frankreich des 17. Jahrhunderts erfreute sich diese Kunstform auch in Preußen großer Beliebtheit. Friedrich II. engagierte ab 1744 für den Potsdamer Hof eine Tanzkompagnie, an deren Spitze die italienische Startänzerin Barbara Campanini („La Barberina“) für Furore sorgte und natürlich bei der Uraufführung des Adriano mitwirkte.

Die legendäre Künstlerin hatte auch in der aktuellen Inszenierung von Deda Cristina Colonna einen Platz gefunden. Die Regisseurin arrangierte die Handlung um den römischen Kaiser Hadrian, der den syrischen König Osroa besiegt und dessen Tochter Emirena entführt hat, vor einer hohen dekorativen Wand (Ausstattung: Domenico Franchi), welche mit Kunstobjekten sowie Details aus dem Palastinterieur und dem Garten geschmückt ist. Unnötigerweise wurde eine Vielzahl von Jalousien installiert, die von den Akteuren unmotiviert fast pausenlos bedient werden müssen. Attraktiv und kostbar sind die Kostüme in ihrer historischen Orientierung, entbehrlich einige modische Zutaten wie ein Reisekoffer, der für den Kaiser als Sockel dient, ein Einkaufstrolley und ein Fahrrad. Für die Auftritte der Barberina an den Aktschlüssen hatte Graun Divertissements komponiert, wofür nun eine moderne Lösung gefunden wurde. Als Auftragswerk der Musikfestspiele schuf der 1965 in Rom geborene Italiener Massimiliano Toni eine „Barberina Suite“, bestehend aus drei Intermezzi, die von der Spezialistin für Barocktanz Valerie Lauer mit Grazie und Geheimnis interpretiert werden. Ihre orientalische Gewandung und das golden geschminkte Gesicht sind von fremdartigem Reiz, passend zur Musik mit ihren exotischen Instrumenten Nay, Clavictherium, mediterranem Perkussioninstrumentarium und  von Dorothee Oberlinger selbst gespielter Flöte.

Mit ihrem Ensemble 1700 sorgte die Dirigentin schon in der dreiteiligen Ouvertüre für einen lebhaften Einstieg mit rhythmischer Prägnanz und großem Farbenreichtum. Die Musik ist beschwingt und galant, oft auch elegisch und wehmütig. All diese Stimmungen bringt Oberlinger wirkungsvoll zur Geltung, setzt auch starke Akzente durch prägnant platzierte Affekte.

Szene aus Grauns Oper „Adriano in Siria“ in Potsdam 2024/Foto Sebastian Gloede

Ein erlesenes Solistenensemble meistert die anspruchsvollen Partien in staunenswerter Manier, angeführt von Valer Sabadus in der Titelrolle. Der Counter war in der 4. und letzten Aufführung der Serie am 13. 6. 2024 in blendender Form. Die Stimme klang resonant und ausgeglichen, ohne Schärfen in der Höhe und auch in der tiefen Lage präsent, wie die furiose Arie „Wenn ein wilder Löwe“ im 2. Teil zeigte. Beeindruckend war auch die emotionale Gestaltung seiner Soli, während das Spiel bei diesem Sänger immer recht verhalten bleibt. Spektakulär war der Auftritt des Sopranisten Bruno de Sá als Partherfürst Farnaspe. Nicht nur die stupende Beherrschung der Extremhöhe mit topsicheren Spitzentönen überwältigte, auch die makellose Demonstration des virtuosen Zierwerks mit Koloraturen, Trillern und Fiorituren war von schier mirakulösem Zuschnitt. Als seine Verlobte Emirena war Roberta Mameli zu erleben. Die italienische Sopranistin ist in Potsdam regelmäßig zu Gast und noch immer ein Garant für hochkarätigen Barockgesang. Zu rühmen sind neben ihrer individuellen Stimme die intensive Darstellung und das expressive Gebärdenspiel. Nach ihrer Arie „Als verlassene Gefangene“ mit resolutem Nachdruck sorgt sie gemeinsam mit de Sà im Duett „Meine Seele soll übergehen“ für einen überwältigenden Moment, in dem die Zeit still zu stehen schien – zwei Sopranstimmen, die sich zu einem harmonischen Zusammenklang umschlingen und ihre Individualität aufgeben zugunsten einer wundersamen Symbiose. Auch die zweite Sopranistin, Keri Fuge als Sabina, Verlobte des Kaisers Adriano, die in dessen Affinität zu Emirena eine Rivalin wittert, bot eine exzellente Leistung.  Die substanzreiche, technisch blendend geführte Stimme der Britin war der Mameli ebenbürtig, und auch sie überzeugte durch die engagierte Darstellung. Zu den Trümpfen der Besetzung zählte auch der französische Haute-contre David Tricou als besiegter Partherkönig Osroa. Von stattlicher Erscheinung und herrscherlicher Aura zog er bei jedem seiner Auftritte die Blicke auf sich. Auftrumpfend und furios sein Gesang, furchtlos sein Ausdruck, würdevoll seine Haltung. Der junge italienische Sopranist Federico Fiorio komplettiert das Personal als Adrianos Adjudant Aquilio mit knabenhafter, buffonesk-leichter Stimme. Reizend und mit großer Spielfreude trägt er seine Arien „Ein alter Krieger“ und „Der vorsichtige Schnitt des Winzers“ vor. Am Ende vereinen sich alle Mitwirkenden zum jubelnden Schlusschor „Möge dein Name, großer Kaiser“ und fröhlich-ausgelassenen Tanz, denn Adriano hat Osroa die Freiheit und Farnaspe seine Emirena geschenkt. Nach diesem lieto fine gibt es auch im Saal anhaltende Begeisterung. Bernd Hoppe

Ersteinspielung

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Zwischen 65 und 70 Opern hat Gaetano Donizetti in nur einmal fünfzig Lebensjahren komponiert, so dass es dem in jedem Herbst stattfindenden Festival in seiner Heimatstadt Bergamo immer wieder gelingt, ein noch völlig unbekanntes Werk vor dem erstaunten Publikum zu präsentieren, so auch 2022, genau zweihundert Jahre nach der Uraufführung an der Mailänder Scala, die Semiseria Chiara e Serafina, die allerdings  einer der schlimmsten Misserfolge für das Opernhaus wie für den Komponisten war und somit für zwei Jahrhunderte in der Versenkung verschwand (s. den Bericht von Rolf Fath zur Aufführung in Bergamo 2022). Schuld daran trug der für seine Langsamkeit berüchtigte Librettist Felice Romano, der so säumig war, dass der Komponist nur elf Tage zum Komponieren hatte, nur wenige Proben stattfinden  und die Sänger Änderungswünsche nicht mehr durchsetzen konnten, entsprechend lustlos bei der Sache waren. Erst 1830 gab es wieder Donizetti in Mailand, Anna Bolena, allerdings im Teatro Carcano, und 1833 öffnete die Scala wieder ihre Pforten für den Komponisten für dessen Lucrezia Borgia.

Chiara e Serafina ist nicht etwa die erste eindeutige Lesbenoper, sondern es geht um zwei Schwestern auf Maiorca, die Jahre lang voneinander getrennt leben, weil Chiara mit dem Vater von Seeräubern entführt wurde, während Serafina vom Todfeind ihres Vaters zur Ehe gezwungen werden soll, obwohl sie einen anderen, Rosario, liebt. Entscheidend für den Sieg des Guten und der Guten ist die Wandlung im Charakter des Seeräubers Picaro zum Retter in höchster Not und mit viel Handlung in den unterirdischen Gängen zwischen Meeresstrand und Burg, und auch der männliche Part des niederen Paars, Don Meschino, ist einer der Strippenzieher, die für das happy end verantwortlich sind.

Abgesehen von dieser Partie, die dem gestandenen Bariton Pietro Spagnoli anvertraut ist, sind sämtliche Rollen mit Mitgliedern der Accademia Teatro alla Scala besetzt, auch der Chor entstammt der verdienstvollen Institution, während das Orchester Gli Originali sind, deren Namen verrät, dass unter Sesto Quatrini auf Originalinstrumenten aus der Entstehungszeit gespielt wird.

Weniger durch einprägsame Arien und Duette als durch mitreißende Ensembleszenen und rasante Finali überzeugt das Frühwerk (Donizetti komponierte es als Fünfundzwanziger ), aber es braucht auf jeden Fall auch gestandene Solosänger, die in dem bewährten Belcantobariton Spagnoli natürlich einen wichtigen Bezugspunkt fanden, der den Insiemi viel Halt verleiht. International geht es wie überall sonst auch an der Accademia zu, mit zwar auch italienischen, aber dazu drei asiatischen Solisten und einer Sängerin aus dem slawischen Sprachraum.

Der Bass Matias Moncada singt mit samtweicher Stimme den Don Alvaro, Vater der Schwestern, dazu noch die kurze Partie des Bösen, Don Fernando. Schon recht üppiges Material hat Sung-Hwan Damien Park für den Picaro, ihn könnte man sich auch als Malatesta vorstellen. Einen geschmeidigen Tenor leichter Emission setzt Hyun-Seo Davide Park für den von Serafina geliebten Don Ramiro ein, dessen  empfindsame Seite erfolgreich herauskehrend. Serafina ist Fan Zhou mit pikant-frischem Sopran, der auch einmal kindlich wirken kann. Die Schwester Chiara wird von Greta Doveri mit klarer, Zärtlichkeit verströmender Sopranstimme gesungen, wozu im Vergleich die Lisetta von Valentina Pluzhnikova typische Mezzoqualitäten aufweist.

Im ersten Augenblick bedauert man beim Erhalt der beiden CDs, dass man nicht die auch verfügbare DVD in Händen hält, ist aber, wenn man Fotos aus der Produktion angeschaut hat, dankbar dafür, dass man die  melodienselige Oper ohne die karikierende Optik genießen kann. Für das Publikum war das sicherlich eine vergnügliche Vorstellung und für die jungen Solisten eine wertvolle Erfahrung (Naxos 8.660552-53). Ingrid Wanja 

Heiter bis stürmisch

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Die Tragédie en musique Les Boréades ist Jean-Philippe Rameaus letzte Oper und eine seiner bedeutendsten. Nicht umsonst haben renommierte Alte-Musik-Dirigenten wie John Eliot Gardiner und William Christie das Werk in ihrer künstlerischen Arbeit favorisiert. Nun legt Erato (2173237273) eine Neuaufnahme mit dem ungarischen Orfeo Orchestra unter seinem Leiter György Vashegyi und dem Purcell Choir vor, die im September 2023 in Budapest entstand. Es ist die Premiere für den Klangkörper bei diesem Label und eine exquisite Besetzung soll der Einspielung zum Erfolg verhelfen. Angeführt wird sie von der französischen Star-Sopranistin Sabine Devieilhe in der Partie der Alphise, Königin von Baktrien, die sich mit ihrem Geliebten Abaris dem Nordwindgott Borée und dessen Söhnen widersetzt. Ihr erstes, ausgedehntes Air, „Un horizon serein“, ist von introvertiertem Duktus, verlangt dennoch hohe stimmliche Kunstfertigkeit.

Wie ein Vogel jubiliert Devieilhe, lässt feinste  Schwingungen und raffinierte Modulationen hören. Abaris ist der Haute-contre Reinoud Van Mechelen – ein Spezialist für dieses Fach. Er tritt zu Beginn des 2. Aktes mit  dem Air „Charmes trop dangereux“ auf und besticht mit seiner exemplarischen Artikulation und individuellen Stimme. Heldischen Anstrich hat seine Air „Fuyez, reprenez vos  chaînes“ im 4. Akt. Mit Alphise hat er Ende des 3. Aktes das dramatische Duo „Borée en fureur“ zu singen, bei dem Donnerblech und Windmaschine eine furiose Gewitterstimmung heraufbeschwören. Diese nimmt die Suite des vents zu Beginn des 4. Aktes auf – ein hinreißendes Tongemälde von plastischer Imagination. Einen zweiten Tenor gibt es mit Benedikt Krist Jánsson in der Partie des boreadischen Prinzen Calisis, den Alphise auf Geheiß von Borée ehelichen soll. Ihm fällt das erste Air des Werkes zu, „Cette troupe amable“, das der isländische Sänger kultiviert vorträgt. Herrlich sein Air „Écoutez l´Amour“, in welchem der Purcell Choir prächtig assistiert. Die sich fast überschlagenden Koloraturen in Jouissons de nos beaux ans geraten dagegen etwas angestrengt. Mit dem Bariton Tassis Christoyannis als Hoheprieser Adamas ist die erste tiefe Stimme zu hören – in reifer, etwas grober Verfassung. Er gibt auch den Apollon und kann in dessen Air „Délices des mortels“ mit weicheren Tönen aufwarten.

Ein zweiter Bariton ist Philippe Estéphe als Borilée, der in seinem Air „Nos peuples“ mit gepflegtem Gesang erfreut. Das Bariton-Trio komplettiert Thomas Dolié als Borée, der in seinem kurzen Air „Venez punir son injustice“ im 5. Akt grimmige Töne hören lässt. Die Besetzung komplettiert Gwendoline Blondeel als Alphises Vertraute Sémire, Une Nymphe, L´Amour und Polymnie mit einem Sopran, der im Niveau der Devieilhe nicht nachsteht.

Vashegyi breitet die Komposition in ihrem Reichtum und der Vielfarbigkeit hinreißend aus, findet perfekt die Balance zwischen den lieblichen Divertissements und bedrohlichen Gewitterszenen. Prächtigen Umriss empfängt die Ouverture in ihrem Bläserglanz. Man höre, wie fein ziseliert das zauberhafte Motiv in der Contredanse pour la Suite de Borilée et de Calisis am Ende des 1. Aktes ist, wie delikat die Première et deuxième Gavotte pour les Nymphes ertönt, wie jauchzend sich das Rigaudon im 2. Akt aufschwingt. Zauberhafte Tänze pour l´Amour et le Plaisir beenden die Tragédie in heiterer Stimmung. Bernd Hoppe

Schöne Tradition

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Alles andere als politisch oder sonst wie korrekt ist Ermanno Wolf-Ferraris Einakter Il Segreto di Susanna, den er selbst als Intermezzo bezeichnete, der aber nun von Oehms als Komische Oper auf den Marktgebracht wurde und zwar als Mitschnitt eines Opernabends vor zwei Jahren, als daneben noch Mascagnis Zanetto als Kontrastprogramm von der Berliner Operngruppe aufgeführt wurde. Einiges Empörungspotential hat das Stück, da am Ende nicht die Gräfin Susanna vom Laster des Rauchens befreit wird, sondern ganz im Gegenteil ihr Gatte, der Graf Gil, ihm ebenfalls verfällt und das Ganze mit einem an Verdis Falstaff erinnernden  „Tutto è fumo“ gefeiert wird, nachdem schon zuvor Beethovens Fünfte und Debussys Siesta haltender Faun zitiert wurden. Ein stummer Diener geistert neben dem Ehepaar durch das Stück, der aber natürlich auf der CD keine Spur hinterlässt. Das Operchen wurde 1909 in München in deutscher Sprache uraufgeführt und verschwand nie völlig von den Spielplänen.

Seit zwölf Jahren erfreut die Berliner Operngruppe unter ihrem Dirigenten Felix Krieger das Berliner Publikum mit der Aufführung noch nie oder selten erlebten italienischen Opern, so Verdis I Masnadieri oder Stiffelio, Puccinis La Villi und Edgar, Bellinis Beatrice di Tenda, Donizettis Dalinda oder Mascagnis Iris, und von den beiden letzteren gibt es, ebenfalls von Oehms, CDs.

Kontinuierlich an Quantität, d.h. Zahl der Mitwirkenden, wie an Qualität gewachsen ist der Klangkörper, weil inzwischen fast ausschließlich aus Berufsmusikern bestehend, die es als eine Ehre ansehen, an den einmal im Jahr und einmalig stattfindenden Aufführungen teilzunehmen. Auch der Chor, der allerdings in diesem Werk nichts zu tun hat, hat eine ähnliche Entwicklung durchlaufen.

Das Orchester beginnt rasant und hat im Verlauf der knappen Stunde viele intensiv  genutzte Möglichkeiten, zahlreiche Facetten von Übermut,  Charme, Ironie,  Duftigkeit und Rasanz der Partitur auszuloten. Nie hat der Hörer wie sonst so oft den Eindruck, Leichtigkeit sei ein schwer zu vollbringendes Werk, sondern unter Felix Krieger, gewinnen die Musiker die Fähigkeit, sie als selbstverständlich erscheinen zu lassen. Sinfonia und Interludio erweisen sich als  kleine Kostbarkeiten. Auch die Gesangssolisten sind höchst erfreulich. Der italienische Tenor Omar Montanari, an Rossini und Donizetti geschult, verfügt über recht dunkle, gar nicht anämisch wirkende Stimmfarben, die Stimme hält auch dem Wutausbruch über den vermeidlichen Ehebruch stand, und die Diktion ist beispielhaft, was man leider von der der russischen Sopranistin Lidia Fridman nicht behaupten kann, die aber  mit einer frischen, in der Höhe aufblühenden Stimme, in der sich der Charme der optischen Erscheinung zu spiegeln scheint, den Ohren schmeicheln kann.

Man kann nur hoffen, dass es auch 2025 wieder eine Aufführung der Berliner Operngruppe und danach eine daran erinnernde CD geben wird (Oehms Classics 0C992). Ingrid Wanja         

Giuseppe Morino

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Der italienische Tenor Giuseppe Morino starb am 28. 10. 2024 im Alter von 74 Jahren.  Morino wurde am 18. August 1950 geboren und gab 1981 sein Debüt in Gounods „Faust“ beim Festival des Deux Mondes in Spoleto. Sechs Jahre später debütierte der Tenor beim Rossini Opera Festival als Pilade in „Ermione“. Er wurde für seine Arbeit im Belcanto-Repertoire anerkannt und trat an vielen der großen italienischen Häuser auf, darunter am Teatro alla Scala, am Teatro Regio di Torino und an der Arena di Verona.

Morino widmete sich der Aufführung selten gespielter Werke wie „La Favorita“, „Il Giuramento“, „Gianni di Parigi“, „La Cecchina“, „Maria di Rohan“ und „Lakmé“. Er sang auch bekanntere Werke wie „Il Pirata“, „Lucrezia Borgia“, „Lucia di Lammermoor“, „I Capuleti e i Montecchi“, „Alceste“ und „La Clemenza di Tito“.

Er hinterließ mehrere Aufnahmen, darunter eine Solo-Studioaufnahme mit dem Titel „The King of Bel Canto“.

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Das englische Gramophone schrieb zu seiner CD-Aufnahme mit dem etwas präpotenten Titel „King of Belcanto“ die nachstehenden interessanten Beobachtungen zu Morinos Stimme: Ich mag den Titel dieser Aufnahme, „King Of Belcanto“, nicht, aber ich mag Giuseppe Morino (mit einigen Einschränkungen). In dieser späten Renaissance der Praxis im Stil des frühen 19. Jahrhunderts gab es mehrere bemerkenswerte Tenöre, die jüngsten darunter Chris Merritt, Rockwell Blake und Raul Gimenez. Von diesen finde ich, dass die Bewunderung für die Technik der ersten beiden (obwohl sie in Italien sehr erfolgreich sind) nicht zu einer Vorliebe für ihre Stimmen oder einer positiven Reaktion auf ihren Stil führt; Gimenez, mit einem wärmeren und selteneren Klang, hat eine persönlichere Ausstrahlung, auch wenn er objektiv weniger brillant ist als die anderen. Morino scheint das zu haben, was wir uns schon immer gewünscht haben: die Stimme eines italienischen lyrischen Tenors, die sich über den besonders anspruchsvollen oberen Tonumfang dieses Repertoires erstreckt und dabei immer noch süß und ungezwungen klingt.

Sein erster Vorzug ist die wohlklingende Qualität seines Tons, sein zweiter sein außergewöhnlicher Erfolg bei den hohen Tönen, C und höher. Es gibt hier zahlreiche Beispiele, wobei das hohe C von „Salut, demeure“ und das Cis von „A te, o cara“ nur die Vorbereitung für die stratosphärischen Höhen von Il pirata und Semiramide sind. Mit dieser Oper feierte Morino 1986 beim Valle d’Itria Festival seinen ersten großen Erfolg in Italien. Die Wiederherstellung von „Ah, dov’e il cimento“ im ersten Akt, das äußerst schwierig ist und normalerweise ausgelassen wird, war eine der Besonderheiten dieser Oper. Er überzeugte die erfahrensten italienischen Kritiker sowohl bei dieser Aufführung als auch bei der Wiederaufnahme von Donizettis Maria di Rohan im Jahr 1988 davon, dass es sich hier um einen Tenor handelte, der sich in der Geschichte der Vokalkunst auskannte und in der Lage war, den Klang und wahrscheinlich auch den Stil der ursprünglichen Sänger authentisch wiederzugeben. Nicht, dass sein Stil besonders dekorativ wäre oder dem modernen Geschmack als übermäßig selbstgefällig gelten könnte: Seine „Una furtiva lagrima“ zum Beispiel ist viel „direkter“ als die von Caruso aus dem Jahr 1904, und obwohl er die Arie aus Pecheurs de perles mit dem diskreditierten hohen Zusatz beendet, tut er dies unauffällig und erzielt eine so schöne Wirkung, wie ich sie je gehört habe. Wie so viele seiner Landsleute aspiriert er seine Läufe viel zu oft (in meinen Augen unerträglich in der Semiramide), und ein weiterer Fehler ist, dass seine „e“-Laute (wie in „vedo“) dazu neigen, nach hinten in den Rachen zu wandern. Quelle Gramophone/DeepL

 

 

Glucks „Iphigénie en Aulide“

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Es war damals ein Paukenschlag. Ausdruck von künstlerischem Selbstbewusstsein. Eine Wegmarke. Von jetzt an sollte alles etwas anders auf der Musikbühne zugehen. Christoph Willibald Gluck hatte mit der Pariser Operndirektion einen Vertrag über sechs Opern abgeschlossen. Den Auftakt machte Iphigénie en Aulide. Francois-Louis Gand Le Blanc du Roullet hatte dazu die seit hundert Jahren auf der französischen Bühne bewunderten Alexandriner der Iphigénie von Racine, der seinerseits von Euripides inspiriert wurde, in ein Libretto gefasst. Da die Sänger trotz sechsmonatiger Probenzeit ungenügend vorbereitet schienen, ließ Gluck sogar die Generalprobe verschieben und König und Königin samt Hof ausladen. Doch als die Oper am 19. April 1774 endlich über die die Bühne ging und das Publikum erlebte, wie der Text durch die Musik unterstützt wurde, wie Worte und Gesten und Akzente im Sinn der „Tragédie-Opéra“ Gewicht erhielten und Klytämnestra, Agamemnon, Kalchas und Iphigenie in ihren menschlichen Leidenschaften und ihrer Maßlosigkeit gezeigt wurden, war die Bewunderung groß. Auch wenn er sich vom Vorbild Rameaus verabschiedete, hatte der 60jährige Gluck durch virtuose Arien und Ballette dem französischen Geschmack Tribut gezollt.

Die Alpha Classics-Aufnahme (2 CD 1073) des ohnehin selten eingespielten Werkes – die première mondiale legte Gardiner erst 1990 vor – verdient besondere Beachtung durch die Wahl des Orchesters, dessen Geschichte fast so alt wie die von Glucks Oper ist. 1784 gründete der Offizier und Musikliebhaber Claude-François-Marie Rigoley, Comte d’Ogny, das Orchester Le Concert de la Loge, für das er beispielsweise Haydns Pariser Sinfonien in Auftrag gab. 2015 ließ der Geiger Julien Chauvin Le Concert de la Loge wiederaufleben, ohne sich speziell der Musik des Barock zu verschreiben.

Die im Oktober 2022 im nordfranzösischen Soissons entstandene Aufnahme zeigt im durchsichtigen und leichten Klang, in den sprechenden Tempi, im fein abgestimmten Spiel der Streicher und Holzbläser die besondere Affinität zur Musik der Reformzeit. Der in der Ouverture angeschlagene Ton des knapp 40köpigen Orchesters schmiegt sich dem Text geschmeidig an, so dass der hier auffallend leicht, doch etwas rau und später in seiner Szene am Ende des 2. Aktes hinreichend schmerzgebeugt wirkende Bariton Tassis Christoyannis die Vorgeschichte vom Gebot der Diana, wonach Iphigenie als Preis für die ruhmreiche Heimkehr der Griechen geopfert werden müsse, als Agamemnon tatsächlich „erzählen“ kann. Der anschließende Dialog mit Kalchas, der davor warnt, den Zorn der Göttin herauszufordern, gerät in der Abfolge kurzer Arien, Rezitative und eines Duetts zu einem erregten Disput zweier klugen Männer, wobei der Bariton Jean Sébastian Bou fast ein wenig zu elegant für den Seher wirkt.  Die Choreinwürfe der knapp zwei Dutzend Sänger von Les Chantres du Centre de Musique Baroque de Versailles sind demzufolge Kommentare zufällig anwesender Zuschauer.

Ähnlich empfinde ich auch Iphigénie und ihre Mutter Clytemnestre, die wie Schwestern klingen. Die Clytemnestre der Stéphanie d’Oustrac wirkt, möglicherweise auch ein wenig ungünstig aufgenommen, wie hinter Nebelschwaden, gräulich uninteressant, bleibt zwar verquollen, gewinnt aber in den leidenschaftlichen Einwürfen an Farbe und Gewicht, während Judith van Wanroijs recht reife Iphigénie der Anlage der Partie entsprechend nobel verhalten und blässlich bleibt, aber im dritten Akt mit großer Sensibilität gesungen wird.

Immer aufregend und ein herausragender Sänger: Cyrill Dubois, der auf der neuen Aufnahme von „Iphigénie en Aulide“ den Achille singt/©Jean-Baptiste-Millot/Alpha

Mir gefällt der gesteigerte Konversationston der Aufnahme, das sinnstiftende Pathos, manchmal etwas steif, aber größtenteils mit ausdrucksvoller, plastischer und sinnerfüllender Diktion, etwa der immer am Rande der Erschöpfung agierende Cyrill Dubois, der als jugendlicher, ungestümer, sich vor Aufregung stimmlich fast verhaspelnder Achille zu Iphigénie stürmt und seine kleine Air „Cruelle, non, jamais votre insensible coeur“ mit viel Zärtlichkeit und Empfindung singgestaltet. Auf jeden Fall erreicht Julien Chauvin einen durchgehend dramatischen Fluss. Er entspricht auch ansonsten Glucks Anmerkungen, die verlangen „schnelle Tempi und einen einheitlichen Rahmen zu schaffen, in dem die Unterbrechungen Effekte und nicht die Norm sind. Die vorliegende Aufnahme hat versucht, dem Geist und so weit möglich dem Buchstaben der von Gluck erdachten stilistischen Revolution in der französischen Oper treu zu bleiben“. Die Aufnahme verzichtet übrigens auf den erst im Jahr nach der Uraufführung hinzugefügten Deus ex machina-Auftritt der Diana und überlässt die Zeilen der Göttin „Votre zèle des Dieux a fléchi la colère“ dem Kalchas.  Rolf Fath

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Dazu ein kleiner Überblick über Vohandenes angesichts dieser für mich (wegen Chauvin aber malgré der Damen) doch bedeutenden Neuerscheinung bei Alpha. Die Aulidische Iphigenie tritt ja gerne – für mich zu absolutem Unrecht – hinter ihrer Tauridischen Schwester zurück, auch im Bereich der Dokumentationen. Wenngleich sie öfter gespielt wird als angenommen, namentlich in deutschen Gauen. In Erinnerung bleibt da die gruseligen deutschprachige Bearbeitung (!) in Salzburg 1962 mit der bizarren Verwirrung der Partien, als Inge Borkh und Christa Ludwig die jeweils falschen Partien sangen (zuletzt nun orfeo). Da rettet auch Karl Böhm nichts. Der Berliner Rias gab die Oper mit Martha Musial und Johanna Blatter unter Arthur Heger und dem ganz jungen Fidi 1951 (Walhall und andere). 1992 brachte die Berliner Staatsoper eine Produktion auf die Bühne, die man bei youtube nachhören kann (Schreier; Hajóssyová, Lang, Vogel, Büchner) und die ich optisch recht gruselig, aber natürlich repertoiremäßig verdienstvoll in Erinnerung habe.

Gundula Janowitz sang dier Clytemnèstre in Wien 1987/Foto Michaael Poehn/Wiener Staatsoper

Deutsch ist auch die straffdirigierte Wagnersche Version, die es bei Oehms unter Christoph Spering mit einer phlegmatischen Camilla Nylund auf die CD brachte (wir hatten dazu einen Artikel in operalounge.de). Vergessen möchte ich die vorausgehende trübe Aufnahme bei Ariola mit einer bizarren  Anna Moffo neben einer uninspirierten Trudeliese Schmidt unter Kurt Eichhorn (die Ariola hatte wirklich fatale Casting-Vorstellungen, wenngleich die Moffo die Partie bereits bei der RAI in den frühen Sechzigern gesungen hatte, sie musste nur umlernen).  In München rettet nur Arleen Auger als Diana das Niveau. 2009 spielte die Römische Oper die Wagner-Fassung in Französisch (?) noch einmal (Ekaterina Gubanova machte keinen Splash als Mutter neben Krassimira Stoyanovas sehr reifer, recht anämischer Iphigenie, alles unter Ricardo Mutis schwerer Hand/Radio).

Maßgeblich war lange Jahre die Gardiner-Erst-Einspielung des Originals bei Erato (1990, damals ein Wagnis im Rahmen der vielen französischen Ersteinspielungen der Firma), mit einer nachdrucklosen Anne Sophie von Otter als Mama und Lynn Dawson frisch und jung als Iphigenie, alles nicht unrecht, aber doch eher allgemein. Und langweilig-höflich. Aber es blieb bis zur gegenwärtig besprochenen Rousset-Aufnahme auf dem Platten-Markt dabei.

Unter Sammlern kursiert ein bemerkenswertes Dokument von Gundula Janowitz als außerordentlich engagierte Clytemnèstre, die ich damit noch 1987 in Wien an der Staatsoper erlebt habe – stehplatz-stehend, staunend und bewegt. Die Janowitz hatte man so rasend, so temperamentvoll noch nie erlebt, und nach schlechten Erfahrungen mit dem Wien Publikum ihrer letzten Jahre traute sie dem frenetischen Beifall erst nicht. Mit Joanna Borowska und Bernd Weikl unter einem rasanten Charles Mackerras war dies ein fulminanter Abend.

Véronique Gens singt in der radio-dokumentierten Aufnahme aus Aix 2011 eine solide Iphigenie, Frau Otter hatte wohl das Monopol auf die Mutter, Mark Minkowski macht einen flotten Job, damals galt die Aufführung als maßstäblich. Aix gab in diesem Jahr (2024) die Oper erneut, Emmanuelle Haïms Leitung hielt die Musik durchsichtig und schwungvoll, Véronique Gens ist inzwischen ins Mutterfach umgestiegen und hätte einen Schluck Pastis (oder zwei) mehr vertragen können, Corinna Winters als ihre Tochter ist angenehm, aber nicht aufregend. Vorher hatte Mark Minkowski sich in Amsterdam 2012 für das Werk stark gemacht (Radio), immerhin mit Mireille Delunsch und Yann Beurron als Liebespaar sehr gut besetzt. La Gens war 2009 in der jugendlichen Rolle 2009 in Brüssel zu hören, damals unter Christoph Rousset (Radio).

Die unvergleichliche, einmalige und sensationelle Jane Rhodes/Publicityfoto/Hei

Und Ricardo Muti hatte die Oper schon 2002 in Rom mit der damals entzückenden Genia Kühmeier neben der viril-robusten Daniella Barcellona gegeben (Radio). 2002 dirigierte Kenneth Montgomery sehr gewinnbringend die Aulidische in Amsterdam mit der hoffnungsvollen Robin Redmon in der Titelpartie (Radio). Paris erlebte die Oper zuletzt 2022 unter Julien Chauvin mit Judith Wanroij, Stéphanie D´Oustrac, Cyrill Dubois und Tassis Christoyannis (das klingt doch vertraut, nicht wahr?). Auch damals waren die Meinungen über die Damen schmallippig

Aber nicht vergessen sollte man die eigentliche Pioniertat, in Aix 1963, nicht, diese sogar televisionär in strengem, ruckelndem Schwarz-Weiss festgehalten: Jane Rhodes als energische, recht notenfreie Iphigenie, dazu alles was in Frankreich damals opernmäßige Füße hatte, von Gabriel Bacquier über Michel Sénéchal zu Christiane Gayrod, alles unter Pierre Dervaux, und der konnte Drama! Allein schon die Rhodes ist das Reinhören wert, selbst wenn Puristen sich sicher mit Schauder abwenden. Ich mag mich irren, aber ich denke, dies war die erste Aufführung der Oper in Frankreich nach dem Krieg, zumindest urteilten die überraschten Kritiker so  13. 11. 24). G. H.

Vielseitig

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Tenor-Recitals mit Arien aus italienischen Opern beginnen oder enden meistens mit Nessun dorma. Die neue CD von Saimir Pirgu gehört zu den letzteren und bietet davor auf seiner neuen CD, die sehr anspruchsvoll Saimir betitelt ist,  einen bunten Strauß nicht nur der gängigsten und beliebtesten Arien von Puccini, sondern, schließlich sind nicht weniger als sechs Sprachen vertreten, auch Französisches, Russisches, Spanisches, Deutsches und wohl auch Albanisches. Auf seiner ersten CD vor einigen Jahren hatte der Sänger sich noch auf Belcanto und Verdis Duca und Alfredo beschränkt und dabei dem Hörer eine schöne lyrische Stimme präsentiert, jetzt streift er mit Des Grieux und Andrea Chenier bereits den tenore eroico, vor allem in seiner Auffassung von deren Arien, die in einem kraftvollen, stellenweise aber auch leicht angestrengt wirkenden Gesangsstil, mit bemerkenswertem Squillo und hörbar schwächer ausgeprägter tiefer Lage den Hörer zwischen Faszination und Irritation schwanken lassen. Des Grieux Arie aus dem dritten Akt wird mit einer fürchterlichen Lache verunziert, das Bestreben, den Hörer zu überwältigen, ist allzu hörbar. Die Figur  begegnet dem Hörer auch später noch, so wie auch Cavaradossi, Kalaf und Andrea Chénier je zwei über die CD verstreute Auftritte haben. Des Sängers Des Grieux lässt in Donna non vidi mai zwar nicht vokale Kraft, aber jeden Anflug von Melancholie, die Tenorstimmen und nicht nur diesen so gut ansteht, vermissen, Cavaradossis E lucevan le stelle erfreut wohl durch ein dunkelgefärbtes Timbre, hat aber nicht die erwünschte Zartheit für die belle forme, mit äußerst stählernem Ton wird la vita beschworen, und bereits in Recondita armonia scheint der Tenor unter Dauerdruck zu stehen, quasi a squarciagola zu singen.

Aus Andrea Chénier gibt es Un di all’azzuro spazio, für das man sich anstelle der Daueraufgeregtheit mehr Nuancen wünscht, wo auch wieder die Höhe frappiert, und auch die letzte Arie, Come un bel di, wünscht man sich verinnerlichter. Natürlich darf Giordanos Amor ti vieta nicht fehlen und profitiert von den reichen Stimmfarben. Von Puccini sind noch der Roberto aus Le Villi mit zu viel Bewusstsein für das Ausstellen vor Kraft, der Luigi,  der mit Hai ben ragione dem Sänger gut in der Stimme  liegt, der Pinkerton mit zu lautem Fiorito asil und natürlich Kalaf mit einem Non piangere, das die arme Liù in dieser Lautstärke eher verängstigen als trösten dürfte, vertreten. Da hätte man sich mehr Zartheit und Zärtlichkeit gewünscht.

Für Maurizios L’anima ho stanca nimmt der Tenor die Angebote zu einer feinen Agogik an, kann die Höhe schön decken, lässt aber in der Tiefe die Stimme an Qualität verlieren, verdienstreich ist die Vorstellung von Leoncavallos Chatterton, die ein schönes Plädoyer für diese zu Unrecht vergessene Oper ist.

Aus dem französischen Repertoire stammt die Blumenarie des Don José mit zwar gelungener Fermate auf dem Spitzenton, aber insgeamt doch zu hart, zu kantig dargeboten, Berlioz‘ Fausts Nature immense gibt sich als gelungener Kraftakt, und Wagners Lohengrin ergeht sich zwar bei abrupten Übergängen auch in lobenswerten Pianissimi, die jedoch eher fahl, weniger ätherisch klingen, dem Lenski ist die Stimme mittlerweile entwachsen.

Seine Vorzüge ausspielen kann der Tenor im Zarzuela-Stück No puede ser, wohl eine albanische Oper ist Skenderbeu und damit ein Stück Heimat für den Sänger, der vom Orquestra de la Comunitat Valenciana unter Antonino Fogliani kompetent begleitet wird (Opus arte  CD9052D). Ingrid Wanja           

Rundum gelungen

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Das winzige Quäntchen Unzufriedenheit, das das vollkommene, hundertprozentige Opernglück trübt, ist die Tatsache, dass Don Ottavios zweite Arie, Il mio tesoro intanto, zwar im viersprachigen (!) Libretto des Booklets, aber weder auf der Chateau de Versailles-DVD noch der -BLu-ray von Mozarts Don Giovanni zu finden ist . Nicht das Palais Garnier, schon gar nicht die Opéra Bastille oder die Opéra Comique bescheren ansonsten eine makellose Aufführung des drama giocoso im Schloss von Versailles, sondern die dort ansässige Opéra Royal mit dem dazu gehörigen Orchester, dem Chor und dem Ballett. Das Theater wurde unter Louis XV. in einem Seitenflügel des Schlosses eingerichtet und führt regelmäßig in einem im Wesentlichen gleich bleibendem Bühnenbild, nicht unähnlich dem Palladio-Opernhaus in Vicenza, vor allem Werke auf, die nicht nach der Einweihung  des Saals entstanden sind.

Was als erstes nicht nur überzeugt, sondern gerade entzückt ist die Optik, insbesondere die Kostüme von Christian Lacroix, höchst geschmackvoll, vielleicht ein wenig zu prächtig bunt für das Landvolk, aber ganz sicherlich in ihrer stilsicheren Eleganz den Sängern die Gewissheit verschaffend, durchgehend bella figura zu machen, was sich nicht selten auch auf eine optimale gesangliche Leistung auswirken kann. Die Regie von Marshall Pynkoski beschränkt sich auf sinnvolle Arrangements im Stil der commedia dell‘arte, wobei die Mitwirkung der Choreographin Jeanette Lajeunesse Zingg auch die tumultartigen Szenen wie den Schluss des ersten Akts zu choreographischen Kunstwerken werden lässt, was auch für das Auftischen des Mahls oder für die Prügelszene gilt. Dabei führt das Einhalten einer Etikette der Eleganz keineswegs dazu, den Zuschauer weniger am Schicksal der Figuren teilnehmen zu lassen, im Gegenteil, was auch das Herein- und Hinaustragen von Requisiten bei offenem Vorhang nicht tut, ein angenehmer Schwebezustand zwischen Realität und Illusion bleibt stets erhalten. Am Schluss dröhnt eine mächtige Lache Don Giovannis, der gerade zuvor in wild geschwenkten roten Tüchern den Flammentod erlitten hatte, durch den Saal, das gerade verklungene Sextett Lügen strafend.

Wie die optische, so ist auch die akustische Seite der Aufführung  (fast) ausnahmslos Freude spendend.  Gaétan Jarry kann bereits mit der Sinfonia eine nie nachlassende Spannung und Gespanntheit aufbauen, stilsicher ist Steve Bergeron als pianiste accompagnateur,  zu einer quirligen Einheit schmelzen Chorsänger und Balletttänzer  zusammen.

Nicht wie ein spanischer Grande in der Blüte seiner Jahre, sondern eher wie ein Cowboy mittleren Alters mit Rauschebart wirkt leider Robert Gleadow, eigentlich ein erfahrener Mozartsänger und doch hier auch akustisch recht grobschlächtig wirkend und als Einziger nicht ideal den Vorstellungen von der Partie entsprechend,  an einen Ruggero Raimondi darf man gar nicht denken, auch wenn das Wissen um die Bedeutung der Rezitative imponiert. Das ist aber der einzige Fast-Ausfall.  Überaus gewandt in Spiel wie Gesang zeigt sich Riccardo Novaro als Leporello, der die Registerarie nicht nur singt, sondern auch nicht nur bei „porta la gonella“ spielt. Angsteinjagend ist Nicolas Certenais als Komtur mit tatsächlich Grabesstimme. Elegant und geschmeidig in jeder Hinsicht ist Jean-Gabriel Saint Martin als ungewöhnlich charmanter Masetto. Zum Glück nicht als blässlichen Schwächling stellt Enguerrand de Hys den Don Ottavio dar, der auch akustisch gar nicht anämisch trocken, sondern in Dalla sua pace variationsverliebt und höhensicher ist.  Durchweg optisch höchst attraktiv, wobei die Kostüme hilfreich sind, zeigen sich die drei Damen. Die Donna Anna von Florie Valiquette macht viel aus den Rezitativen, erreicht jede Höhe mit Leichtigkeit und ist sicher in den Koloraturen. Ab und zu eine leichte Schärfe wirkt nicht wie ein Makel, sondern ist der intensiven Interpretation geschuldet. Etwas runder und wärmer klingt der Sopran von Arianna Vendittelli in schlanker Farbigkeit. Die Zerlina von Éléonore Pancrazi singt ihre zweite Arie mit schönen Verzierungen, ist mehr als eine Soubrette, ohne auf deren Charme zu verzichten, wozu allerdings nicht gehört, dass sie Geld von Don Giovanni nimmt.  Aber irgendwie muss sich die Regie schließlich profilieren.

Es gibt nicht nur das umfangreiche Booklet mit vielen Informationen und Fotos, sondern auch gleich außer der Blu ray eine DVD, so dass man sich davon überzeugen kann, ob die neuere Technik tatsächlich Vorteile bringt (CVS 115/ 13. 11. 24). Ingrid Wanja

Sportliches

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Wieder einmal hat das Label Château de Versailles sein angestammtes (französisches) Repertoire verlassen und sich einem italienischen Komponisten gewidmet. Gegenstand ist die Opera seria L´Olimpiade von Domenico Cimarosa. Kein Geringerer als der Barockspezialist Christophe Rousset steht an der Spitze seines Orchesters Les Talens Lyriques. Das Ergebnis ist nicht weniger als sensationell zu nennen. Der Klang evoziert rasante Sprints und mirakulöse Sprünge bei der Olympiade, wie man es zuletzt in Paris erlebt hatte. Schon die Sinfonia fegt wie ein Sturmwind vorüber und bis zum Schluss erlebt man spannungsreiches, farbiges Musizieren von eminentem Drive und überschäumender Verve.

Metastasios verworrenes, mehr als fünfzigmal vertontes  Libretto erzählt vom Brauch der antiken Olympiade, nach dem der Sieger der Wettkämpfe die Tochter des amtierenden Herrschers heiraten darf. Hier ist es der Athener Megacle, der Aristea, Tochter des  Clistene, König von Sikyon, liebt. Megacles Freund Licida liebt die Kreterin Argene, verliebt sich jedoch gleichfalls in den Siegerpreis Aristea. Nach vielen Verwirrungen wird am Ende mit einem Chor des Volkes das lieto fine gefeiert.

Die Besetzung ist exzeptionell und weist keine Schwachstellen auf. Vielleicht ist die Sopranistin Rocío Pérez an die Spitze zu setzen, die die halsbrecherische Partie der Aristea mit Bravour meistert. Bereits der Auftritt „Tu di saper procura“ erfordert geradezu artistische Koloraturläufe und ausgedehnte Töne in höchsten Regionen. Auch die in „Mi sento, oh Dio!“ geforderte Bravour ist enorm. Die Sängerin lässt hier die staccati in extremer Tessitura glitzern. Ihre Landsfrau Maite Beaumont ist dagegen eine gestandene Größe im barocken und Belcanto-Repertoire. Mit der Interpretation des Megacle beweist sie ihren noch immer unangefochtenen Ausnahmerang. Sogleich ihr Entree, „Superbo di me stesso“, lässt in seinem vehementen Zugriff aufmerken. Mit nobler Kultur wartet sie am Ende der Oper in der Arie „Nel lascarti“ auf. Im kantablen Duett mit Aristea „Ne´ giorni tuoi felici“ harmonieren die Stimmen beider Sängerinnen perfekt. Auch die Schweizer Sopranistin Marie Lys hat bereits einen Namen in der Opernwelt, ihre Argene nimmt schon in ihrer getragenen Eingangskavatine „O care selve“ mit delikaten Tönen und feiner Linie für sich ein. In der erregten Arie des 2. Aktes „Spiegar non posso“ zeichnet sie mit vehementer Tongebung plastisch eine dramatische Situation. Die französische Mezzosopranistin Mathilde Ortscheidt gibt dem Licida prägnante Kontur, berührt in ihrer Eingangskavatine Mentre dorrmimit innig warmer Tongebung. In der Arie des 2. Aktes „Torbida il ciel“ wird dagegen flexible Stimmführung gefordert, womit die Interpretin keine Probleme hat.

Zwei Tenöre komplettieren die Besetzung – der Kanadier Josh Lovell als König Clistene und der Brite Alex Banfield als Licidas Erzieher Aminta. Ihm fällt mit „Siam navi all´onde algenti“ die erste Arie des Werkes zu, die er in ihrem stürmischen Duktus mit entschlossener Attacke angeht und damit für einen gelungenen vokalen Auftakt sorgt. Auch „In un cor“ zu Beginn des 2. Aktes gelingt ihm vorzüglich. Ersterer führt sich mit der energischen Arie „Del destin non vi lagnate“ ein, die er nachdrücklich vorträgt. Mit sublimen lyrischen Valeurs wartet er bei „Non so donde viene“ im 2. Akt auf. In der Scène dernière vereinen sich alle sechs Interpreten zu einem stürmischen Abgesang und demonstrieren noch einmal den hohen Rang dieser Aufnahme, die im Dezember 2023 in Paris entstand und auf zwei CDs veröffentlicht wurde (CVS143/ 12. 11. 24). Bernd Hoppe

Uraufführung

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Mit gleich zwei Uraufführungen eigener Werke beschenkte der von 2008 bis 2022 in Freiburg wirkende Dirigent und Komponist Fabrice Bollon das dortige Publikum, inzwischen ist er seit 2022 Generalmusikdirektor der Staatskapelle Halle ist. Nach Oskar und die Dame in Rosa, der Geschichte eines krebskranken Jungen,  folgte 2021 The Folly, eine Oper, in deren Mittelpunkt der Reformator Erasmus von Rotterdam und seine Auseinandersetzungen mit Martin Luther und Ulrich von Hutten stehen, dazu kommt eine allegorische Figur, Stutitia, die Verkörperung der Torheit, die immer mal wieder triumphieren kann.  Im Zentrum des fünfaktigen Stücks steht im dritten Akt die Auseinandersetzung zwischen dem jede Art von Gewalt ablehnenden, zögerlichen Erasmus mit dem entschlosseneren Martin Luther, die in deutscher Sprache geführt wird, während neben dem Lateinischen für die drei unterschiedlichen Päpste, dem Baseldütsch für die Auseinandersetzung mit der Haushälterin Margarethe Büsslin, auch die englische und die niederländische Sprache Einzug in das Libretto von Clemens Bechtel gehalten haben.

Ebenso vielfältig ist die Instrumentierung mit einem klassischen Orchester und dazu Elektro-Violine, ebensolchem  Cello, Keyboard, das Einbauen von U-Musik und elektronischen Klängen. Die Erzdiözese Freiburg förderte übrigens das Projekt.

The Folly gibt es als Doppel-CD, aber viel mehr hätte man von einer DVD gehabt, denn egal ob Niederländisch oder Basler Deutsch, man kann dem Geschehen nur mit Mühe einigermaßen folgen, wird allerdings von einer sehr ausführlichen Inhaltsangabe  im Bemühen darum unterstützt und von einer Trackliste, mit deren Hilfe man erst einmal überhaupt die einzelnen Figuren identifizieren kann. Auch die vielen Fotos von der Uraufführung in Freiburg sind eine Hilfe beim Erfassen des Werks.  

Für ein relativ kleines Dreispartentheater wie Freiburg ist die Besetzung geradezu erstaunlich gut und auch das Philharmonische Orchester Freiburg, Chor und Extra- sowie Kinderchor unter der Leitung des Komponisten leisten Erstaunliches an, Präzision, Klangfülle und Straffheit. Den Erasmus singt Michael Borth mit so geschmeidigem wie sonorem Bariton,  Roberto Gionfriddo ist mit kraftvoll eiferndem Tenor Martin Luther, Ulrich von Hutten ist dem mit Nachdruck differenzierendem Mezzosopran von Inga Schäfer anvertraut und muss sich nur, was Kraft betrifft, gegenüber dem Erasmus geschlagen geben. Ihr „Deutschland muss frei  sein“ bleibt in Erinnerung. Vollmundig nimmt sich Anja Jung der Haushälterin Büsslin an, während John Carpenter einen würdig klingenden Petrus singt. Zvi Emanuel-Marials Countertenor wird desto präsenter, je höher er steigen darf. Einen feinen Sopran hat Agostina Migoni für die Mother, Stavros-Christos Nikolaou ist der sonore Priest, auch alle anderen enttäuschen keineswegs und legen Zeugnis ab für die hohe Qualität, die an einem Provinztheater erreicht werden kann (Naxos 8.660545-46). Ingrid Wanja     

Camille Erlangers „Sorciere“

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Im vergangenen Jahr, 2023, wäre die Chance gewesen, den weitgehend unbekannten Camille Erlanger neu zu entdecken. Das Wexford Festival, das sich gerne der großen Unbekannten annimmt, hatte Erlangers im Dezember 1911 in Rouen uraufgeführte L’aube rouge wiederbelebt. Keine Morgendämmerung. Kein Nachhall. Guillaume Tourniaire, der die irische Festspielentdeckung dirigiert hatte, erlahmte in seinem Enthusiasmus dennoch nicht und versammelte bereits am 12. Dezember 2023 in der Genfer Victoria Hall Orchestre et Choeur de la Haute École de Musique de Genève und zwei Dutzend Sänger, um Erlangers letzte zu Lebzeiten uraufgeführte Oper La Sorcière auf drei CDs zu bannen.

Das Ergebnis liegt nun in aufwendiger Taschenbuch-Ausgabe mit den CDs in der vorderen und hinteren Innenseite (B Records 3 CD LBM068) und in luxuriöser Gestaltung, aber schwer lesbarer Schrift vor. Das Schauspiel von Victorien Sardou, auf dessen Dramen u.a. Fedora und Tosca basieren, wurde von Erlangers Sohn André in ein Libretto verwandelt. Wie nicht anders zu erwarten bietet die Vorlage glutvolles Theater. Die Titelrolle der von Sarah Bernhardt 1903 kreierten Zauberin Zoraya ist reinster Virtuosinnenglimmer. Eine exotische Zauberin, Verführerin, Heilerin, die bereit ist, sich zu opfern, um den Geliebten zu retten. Erlangers Oper wurde am 18.12. 1912 an der Opéra-Comique uraufgeführt, Marthe Chenal, die als schönste Frau von Paris galt und in den Kriegsjahren bald als Interpretin der „Marseillaise“ berühmt wurde, sang die Titelrolle.

Camille Erlanger/Wikipedia

Das Libretto führt in das Toledo des Jahres 1507 mitten in die Konflikte zwischen Christen und Muslimen, wo die Inquisition verbotene interkonfessionelle Beziehungen mit dem Tod bestrafte. Kalem, „ein Moor“, wurde wegen der Verführung einer Christin gesteinigt. Sein Körper wurde gestohlen. Man bezichtigt die Zauberin Zoraya der Tat. Don Enrique, dem Anführer der städtischen Bogenschützen, gesteht sie die Tat, da sie Liebende unabhängig ihres Glaubens schützen wolle. Don Enrique muss sie dem Großinquisitor übergeben. Sie verlieben sich in einander. Beider Verliebtsein steigert sich zu großer Leidenschaft. Enrique ahnt, dass er überwacht wird. Inzwischen vertraut sich Fatoum Zoraya an. Sie ist eine Muslimin, die zum Christentum konvertierte, um ein ihr von seiner sterbenden Mutter übergebenes Mädchen, Joana, großzuziehen. Es ist die Tochter des Gouverneurs Padilla, „der Kämpfer gegen die Mooren“, wobei in diesem Zusammenhang die Muslime gemeint sind. Fatoum bittet Zoraya um Hilfe, da Joana, die an diesem Tag heiraten soll, immer wieder in seltsame Zustände verfalle. Zoraya versetzt die junge Frau in einen Schlaf. Sie erfährt, dass Joana Enrique heiraten solle. Enrique erklärt Zoraya, dass diese Heirat bereits arrangiert wurde, als sie noch Kinder waren. Er und Zoraya beschließen zu fliehen, werden aber von Spionen der Inquisition überrascht. Enrique tötet einen der Verfolger. Gouverneur Padilla und Großinquisitor Ximénés sind entsetzt über den Verrat von Enrique, wollen ihn aber als Anführer der Bogenschützen schonen. Zoraya, die von zwei gedungenen Frauen als Hexe beschuldigt wird, und Enrique werden gegeneinander ausgespielt. Zoraya wird zum Tode verurteilt. Vor der Vollstreckung erfährt Enrique, dass sie alle Schuld auf sich genommen hat. Padilla hält die Hinrichtung auf, als er verkündet, dass seine Tochter von der Zauberin in einen todesähnlichen Schlaf versetzt wurde. Joana wird herbeigeführt, Zoraya weckt sie auf. Vergebens versuchen Padilla und Enrique, Zoraya in Sicherheit zu bringen. Zoraya und Enrique sterben gemeinsam durch einen Kuss Zorayas, die eine mit vergifteten Wachs betriebene Nuss an ihre Lippen führte, „Un dernier baiser“.

Das und manches mehr breitet sich über vier Akte und fünf Bilder als großes geschichtliches Panorama aus, dessen Fülle mich an La Gioconda erinnert, zieht aber in Erlangers duftig feiner Musik als gleichförmiger Strom vorbei, in dem maurische, iberisch-kastilische Weisen und Formen wie Barkarole, Siciliana und nächtliche Gesänge von Straßenmusikern eingewoben sind und immer wieder die aus der Ferne tönenden Glocken von Toledo für die couleur locale sorgen. Instrumentale Finessen der Geigen wie anderer Instrumente bilden eine leitmotivische Struktur, impressionistische Stimmungen, wie die Debussy-Zitate zu Beginn des zweiten Aktes, fangen die nächtliche Atmosphäre, Mondschein oder Morgenstimmungen mit einem Hauch von 1001 Nacht ein.

Die Leitmotive nennt Erlanger übrigens Sujets musicaux und erklärte, „für jede Figur möchte ich besonders ihre einzigartige Bedeutung, ihre Mentalität und sogar ihre Physis herausarbeiten, um ihnen eine ausdrucksstarke musikalische Persönlichkeit zu verleihen, und zwar so, dass alles, was sie umgibt, mit einem Wort, die Atmosphäre, diese Persönlichkeit, die sich darin entwickelt, auf echte und natürliche Weise umrahmt.“

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Konzert 2023 in Genf/ Andrea Soare in der Titelrolle und der Dirigent Guillaume Tourniare/Foto Carole Parodi/B-Records

Es ist die Musik eines Könners, der mit Farben und Orchesterklängen zaubert. Es fehlt jedoch jede Dramatik, jede theatralisch zupackende Pranke, wie wir sie von einer Sardou-Vertonungen erwarten würden. Nur kurz wird es zu Beginn des vierten Aktes im Orchester heftig. Melodische Ausbrüche und lyrische Leidenschaften und Steigerungen sucht man vergebens. Zu dramatischen Ballungen kommt es erst in den letzten Minuten der Oper. Kein Wunder, dass die zitierten Uraufführungskritiken eher verwirren als klären. Im stimmungsvollen zweiten Akt fällt als Zoraya, der quasi der gesamte zweite Akt gehört, Andrea Soare auf, die einen gepflegten und angenehmen, warmen Sopran mit schönen Mezzofarben ins Spiel bringt. Tenor Jean-François Borras ist der Sänger mit der vermutlich reichsten Erfahrung. Sein Don Enrique klingt matt, vielleicht ein wenig müde, zeigt Leidenschaft und Begehren nur verhalten. Alexandre Duhamel singt den Gouverneur Padilla mit ausgesprochen schön klingendem Bariton, der Bariton Lionel Lhote wirkt als Inquisitor Ximénés zu freundlich, aber das liegt sicher an Erlanger, Léa Fusaro fällt als Fatoum auf. Viele weitere Sänger treten in kleinen Partien auf, die nicht in Erinnerung bleiben (Alexandre Duhamel, Marie-Eve Munger, Sofie Garcia, Servane Brochard et al.).

Guillaume Tourniaire war mir erstmals in Prag aufgefallen, wo er Hélène von Saint-Saëns dirigierte als handele es sich um feinste französische Opernware. Auch diesmal kann man ihn nur ob seines unermüdlichen Elans bewundern, mit der er die 160 Minuten gliedert und formt und die Sorcière zu kurzem Leben wiedererweckt.

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Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Konzert 2023 in Genf/ Foto Carole Parodi/B-Records

Camille Erlanger (1863-1919) schrieb rund ein Dutzend Opern, darunter den Fünfakter Le fils de l’étoile (1904), der an der Grand Opéra uraufgeführt wurde und einen gewissen Erfolg erzielt, sowie der an der Opéra-Comique uraufgeführte und bis in die 1930er Jahre gezeigte Le Juif polonais (1900) nach einer Vorlage des elsässisch-lothringischen Autorenduos Erckmann-Chatrian; es war der zu seiner Zeit dauerhafteste Erfolg, den sich Mahler auch für Wien sicherte, wo er allerdings ein Misserfolg war. Erlanger wurde in Paris geboren, der Vater stammte aus dem Elsass. Die Eltern waren Juden und betrieben ein Modistengeschäft, der junge Camille wirkte als Chorknabe in der Synagoge der Rue des Tournelles in der Nähe der Place des Voges. Er studierte ab 1881 am Konservatorium bei Léo Delibes, gewann 1888 den Rom-Preis mit der Kantate Veléda, worauf mehrere Opernuraufführungen folgten, darunter auch Hannele Mattern nach Gerhart Hauptmann, deren Uraufführung durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs unmöglich gemacht und erst 1950 in Straßburg nachgeholt wurde. Zudem entstanden Lieder, Klavierstücke und eine Filmmusik. Erlanger starb im April 1919 in Paris und geriet in Vergessenheit. Wie Alfred Bruneau, Xavier Leroux, Georges Hüe, Henry Février wird Erlanger der Kunstperiode zwischen fin-de-siècle und Erstem Weltkrieg zugerechnet, als sich die französische Oper in Strömungen wie Naturalismus unter dem Einfluss von Émile Zola, Wagnerisme und Symbolismus aufsplitterte. Rolf Fath (30. 11. 24)

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Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Szenenfoto der Uraufführung an der Opéra-Comique/BNF Gallica

Dazu schreibt der eminente Schweizer Musikwissenschaftler und Champion für Camille Erlanger und seine Zeit, Jacques Tchamkerten, im Beiheft zur neuen Aufnahme bei B Records: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gab es in der französischen Oper drei Hauptrichtungen: Naturalismus, Regionalismus und Wagnersches symbolistisches oder legendäres Drama. Diese drei Kategorien schlossen sich keineswegs gegenseitig aus, wie Alfred Bruneaus naturalistische Dramen zeigen, deren Libretti von Emile Zola geschrieben wurden und stark symbolisch aufgeladen waren.
Die Komponisten, die zur letzteren Gruppe gehören, zeigen oft einen Eklektizismus, der sich sowohl in ihren Inspirationsquellen als auch in ihrem eigenen Stil widerspiegelt. Fast alle diese Musiker hatten den Prix de Rome erhalten, doch keines ihrer Werke hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen, obwohl sie alle Feinheiten des Schreibens für das Theater beherrschten und dramatische Musikformen den größten Teil ihres Repertoires ausmachten. Zu ihnen gehören Alfred Bruneau, Xavier Leroux, Georges Hue, Henry Fevrier und Camille Erlanger.
Erlangers Leben und Karriere sind von Geheimnissen umhüllt. Nur ein kleiner Teil seiner Archive und Manuskripte wird in Bibliotheken aufbewahrt, und es gibt kein vollständiges Werkverzeichnis. 1902 heiratete er Irene Hillel-Manoach, eine Verwandte der Familie Camondo und Autorin von Voyage
en kaleidoscope, einem esoterischen Roman, der das Interesse der Surrealisten weckte. Sie schrieb auch die Drehbücher für mehrere Filme von Germaine Dulac.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Szenenfoto der Uraufführung an der Opéra-Comique/BNF Gallica

Der Nachname Erlanger wird von vielen jüdischen Familien deutscher und elsässischer Herkunft getragen. Mehrere nicht miteinander verwandte Musiker tragen ihn: die Komponisten Jules Erlanger, Gustav Erlanger und vor allem Frédéric d’Erlanger, der mehrere Opern schrieb. Erwähnenswert ist auch Frédéric d’Erlangers Bruder Rodolphe, ein Musikethnologe, der eine monumentale Studie über arabische Musik verfasste.
Auf den ersten Blick deutete nichts auf eine künstlerische Laufbahn von Camille Erlanger hin, dessen Eltern einfache Ladenbesitzer waren. Der am 24. Mai 1863 in Paris geborene Junge zeigte jedoch eine offensichtliche Begabung für Musik. 1881 trat er in das Conservatoire ein, wo er in die Kompositionsklasse von Léo Delibes aufgenommen wurde. 1888 gewann er vor Paul Dukas den Premier Grand Prix de Rome. Sein erstes großes Werk, die lyrische Legende Saint-Julien l’hospitalier, machte bei seiner Uraufführung im Jahr 1895 dank seines Umfangs und seiner harmonischen Kühnheit großen Eindruck. Obwohl sich Camille Erlanger hauptsächlich als Opernkomponist etablierte, umfasst sein Werkverzeichnis dennoch zahlreiche Melodien, einige Klavier- und symphonische Werke sowie eine Partitur für La Supreme Epopee, einen Film von Henri Desfontaines, der 1919 vom Service Cinématographique des Armées produziert wurde.
Erlangers Stil zeichnet sich durch eine Vorliebe für orchestrale Opulenz, zahlreiche treibende Motive und eine dichte Schreibweise aus. Seine harmonische Sprache scheut nicht vor überraschenden Kühnheiten zurück, die kurzzeitig an die Grenzen der Tonalität führen können. Als herausragender Orchestrator besitzt er eine offensichtliche Begabung für orchestrale Farben und weiß, wie man mit nur wenigen Takten eine eindrucksvolle Szene schafft.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Szenenfoto der Uraufführung an der Opéra-Comique/BNF Gallica

Stark beeinflusst von Wagners Konzeption des Musikdramas, strukturierte er seine Partituren in ein dichtes Netz von Leitmotiven, die er „Musikalische Themen“ nennt, wie er selbst erklärt: „Diese musikalischen Themen entwickle, verflechte und verschmelze ich so, dass sie die verschiedenen Gemütszustände meiner Figuren darstellen, […] damit ein aufmerksamer Zuhörer durch sie alle Gefühlskonflikte in den verschiedenen dramatischen Situationen wahrnehmen kann […]. Lassen Sie mich das erklären: Für jede Figur möchte ich insbesondere ihre einzigartige Bedeutung, ihre Mentalität und sogar ihre Physis herausarbeiten, um ihnen eine ausdrucksstarke musikalische Persönlichkeit zu verleihen, und zwar so, dass alles, was sie umgibt, mit einem Wort, die Atmosphäre, diese Persönlichkeit, die sich in ihr entwickelt, auf echte und natürliche Weise umrahmt.“
Kermaria, Camille Erlangers erste Oper, ist eine Mischung aus Fantastischem und Legendenhaftem in einer bretonischen Umgebung. Das 1897 uraufgeführte Werk war ein mäßiger Erfolg.
Besser erging es dem Komponisten mit Le Juif polonais (Der polnische Jude), das auf dem Roman von Erckmann-Chatrian basiert und ein düsteres Drama über Schuld und Reue ist, das der naturalistischen Ästhetik entspricht, die zu dieser Zeit von Komponisten wie Alfred Bruneau und Gustave Charpentier vertreten wurde. Le Juif Polonais wurde 1900 erfolgreich an der Opera-Comique aufgeführt und bis in die späten 1930er Jahre hinein regelmäßig wiederaufgeführt.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Marthe Chénal in der Titelpartie auf dem Cover von Le Théâtre/BNF Gallica

Le Fils de 1’Etoile (Der Sohn des Sterns) seinerseits wurde bei seiner Premiere im Jahr 1904 im Palais Gamier aufgeführt. Dieses opulente Drama in fünf Akten verdankt sein Libretto Catulle Mendes und schildert in einem episch-wagnerianischen Fresko den Aufstand der Hebräer, der durch die Entscheidung Kaiser Hadrians, an der Stelle des Tempels von Jerusalem eine Stadt zu errichten, ausgelöst wurde.
Neben Le Fils de l’Etoile schrieb der Komponist das Werk, das sein größter Erfolg bleiben sollte: Aphrodite, deren Libretto von Louis de Grammont Pierre Louys‘ berühmten Roman für die Bühne adaptiert. Die Erotik des Arguments und die Pracht der Inszenierung bei der Premiere an der Opera-Comique im Jahr 1906 waren wichtige Faktoren für den großen Erfolg des Werkes. Aber Erlangers Musik mit ihrem angeborenen Sinn für dramatische Orchesterfarben, ihrer höchst persönlichen Behandlung treibender Motive und dem oft unerwarteten Profil ihrer melodischen Muster war für den Erfolg des Werkes ebenso wichtig, dessen „Hybridcharakter vielleicht mehr über die Anfänge des Modernismus verrät als andere stilistisch homogenere Partituren“, wie der Musikwissenschaftler Leslie Wright zu Recht feststellte. 1909 brachte Erlanger Bacchus in Bordeaux auf die Bühne – ein großes, populäres Spektakel zu Ehren von Wein und Reben. 1911 folgte L’Aube Rouge in Rouen, ein Drama, das in russischen Nihilistenkreisen spielt. Seine nächsten beiden Opern wurden teilweise zur gleichen Zeit produziert: Hannele Mattern und La Sorciere, die letzte seiner Opern, die zu seinen Lebzeiten uraufgeführt wurde.
Bei seinem Tod hinterließ der Komponist zwei unvollendete Werke. Forfaiture, eine seltene Verfilmung, die in eine Oper umgewandelt wurde, wurde 1921 uraufgeführt und schockierte das Publikum mit der leidenschaftlichen Gewalt seines Librettos; sie wurde von den Kritikern einhellig verrissen. Faublas hingegen wurde nie aufgeführt, und die von Paul Bastide fertiggestellte Partitur liegt heute in den Regalen der Bibliothèque nationale de France.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/der Tenor Léon Beyle sang in der Uraufführung/Malibran Records

1913 hatte Erlanger Hannele Mattern fertiggestellt, basierend auf einem Libretto des gleichnamigen Theaterstücks von Gerhard Hauptmann, das im folgenden Jahr gegeben werden sollte. Die Premiere wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert, und während des Krieges war es undenkbar, ein Werk eines zeitgenössischen deutschen Autors in Paris aufzuführen. Da die Musik von Erlanger, der am 24. April 1919 in Paris starb, nicht zu den ästhetischen Revolutionen der Goldenen Zwanziger passte, geriet sie allmählich in Vergessenheit und Hannele Matterns Chancen auf eine Aufführung schwanden dahin. Dennoch wurde das Werk 1950 in Straßburg gebracht, ohne dass es mehr als höfliche Gleichgültigkeit hervorrief. Es war sicherlich eines der letzten Male, dass eine Oper von Erlanger aufgeführt wurde.

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La Sorciere wurde zwischen 1909 und 1912 geschrieben. Sie bestätigt die Richtung, die mit Le Juif Polonais und dann L’Aube Rouge eingeschlagen wurde: eine Abkehr von Mythen und Legenden zugunsten eines direkteren, sogar abrupten musikalischen und dramatischen Ausdrucks. Das Libretto wurde von Camilles´ Sohn André nach dem gleichnamigen Theaterstück von Victorien Sardou, einem der berühmtesten Dramatiker der Belle Époque, bearbeitet. Sardou schrieb die Libretti für eine Reihe von Opern von so unterschiedlichen Komponisten wie Offenbach, Saint-Saens und Xavier Leroux. Vor allem schrieb er La Tosca, ein Drama in fünf Akten, aus dem Illica und Giacosa das Libretto für Giacomo Puccinis Oper schrieben. La Sorciere war eines der letzten Stücke Sardous, dessen Titelrolle für Sarah Bernhardt maßgeschneidert war, die bei der Premiere im Jahr 1903 einen großen Erfolg feierte.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Szenenfoto zum 3. Akt der Uraufführung an der Opéra-Comique/BNF Gallica

Bei der Uraufführung von Erlangers Oper am 18. Dezember 1912 im Théâtre de l’Opéra-Comique sang die Sopranistin Marthe Chenal (1881-1947), die bevorzugte Interpretin des Komponisten, die Titelrolle. Sie beeindruckte durch ihre volle Stimme und Bühnenpräsenz. Sie war es, die am 11. November 1918 in den Farben der Trikolore gehüllt auf den Stufen des Palais Gamier in Anwesenheit von Clemenceau die Marseillaise sang. Dieser scheinbare Akt des Patriotismus hinderte sie nicht daran, Francis Picabias´ Muse zu werden und sich an den Aktivitäten der Dada-Bewegung zu beteiligen.
Obwohl La Sorciere beim Publikum ein großer Erfolg war, waren die Kritiker geteilter Meinung. Die erschreckende Darstellung des Katholizismus und der Inquisition konnte bei einigen Kommentatoren nur negative Reaktionen hervorrufen, wie bei Jean Darnaudat von der rechtsextremen Tageszeitung L’Action Française, der mit widerlichen antisemitischen Untertönen sowohl das Werk als auch den Komponisten angriff.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Nelly Marty sang den zweiten Sopran, Joana, in der Uraufführung an der Opéra-Comique/hier ein Publicityfoto aus Le Théâtre/BNF Gallica

Die Kritiker waren sich insbesondere über das Libretto uneinig, das beschuldigt wurde, auf primitiver Psychologie zu basieren und gefährlich in Richtung des italienischen Verismo zu tendieren. Letzterer wurde in Frankreich äußerst schlecht angesehen, wo er als nichts anderes als ein vulgärer Schwindel angesehen wurde, mit simplen und trivialen Libretti und einer melodischen und vokalen Hyper-Expressivität, die darauf ausgelegt war, das am wenigsten kultivierte Publikum anzusprechen. Eine Reihe von Kommentatoren sind sich einig, dass nur Musik von Puccinis Kaliber für ein Drama mit solch plumpen Effekten geeignet sein könnte, und loben Erlanger dafür, dass er diese Falle vermieden hat. Einer von ihnen, Maurice Ravel, schrieb in seiner Kolumne in Comoedia illustré: „Herr Erlanger ist Musiker und kann dies zu keinem Zeitpunkt verbergen. Wenn er also nicht von vornherein entschlossen war, seine natürlichen Gaben den einfachen Effekten des veristischen Horrors zu opfern, können wir den Beweggrund nicht verstehen, der den Komponisten von Saint Julien 1’hospitalier dazu veranlasst haben könnte, ein Melodram in ein lyrisches Drama zu verwandeln, das zumindest als Vorwand für die veralteten Formeln der alten Oper hätte dienen können.“
Wie in seinen anderen Werken baut Camille Erlanger seine Partitur um ein dichtes Netz treibender Motive herum auf. Pierre Lalo gibt in Le Temps – abseits von Werturteilen – eine recht genaue Vorstellung von der musikalischen Konstruktion: „Die Harmonie wird immer durch die gefürchteten Akkorde behindert, die Herrn Erlanger seit langem am Herzen liegen; durch diese hartnäckigen, aggressiven Quinten, die uns durch Aphrodite von einem Ende zum anderen begleitet haben; sicherlich scheinen sie in La Sorciere weniger zahlreich zu sein als in früheren Werken [ …]. Die Entwicklungsprozesse haben sich nicht geändert; es gibt immer Wiederholungen; Wiederholungen von Abschnitten eines Takts, von zwei oder vier Takten desselben melodischen Entwurfs, derselben harmonischen Formel, auf die eine andere Formel oder ein anderer Entwurf folgt, der wiederum wiederholt wird. […]“

Camille Erlangers Oper „L’Aube Rouge“/Ausschnitt aus dem Frontespiece des Klavierauszugs/BNF Gallica

Andere waren sich der Originalität und der Qualitäten von La Sorciere mehr bewusst. Dies war der Fall bei Reynaldo Hahn, der in den Spalten der Tageszeitung Le Journal erklärte: „Herr Erlanger hat den Schauspielern in dem Stück eine sehr ausdrucksstarke Physiognomie und Haltung verliehen und sie ihrem Charakter entsprechen mit einem warmen Leben, einem aufrichtigen, wahren, kommunikativen Akzent beseelt, und in dieser Hinsicht scheint mir La Sorciere einen unbestreitbaren Fortschritt gegenüber seinen früheren Werken zu markieren […] Was ich wirklich sagen möchte, ist, dass La Sorciere […] ein interessantes, robustes, überzeugendes und musikalisches Werk ist. Ich bestehe auf diesem Wort. Man mag Herrn Erlangers musikalische Natur mögen oder nicht mögen, aber man kann nicht leugnen, dass er Musik schreibt.“
Der Journalist und Polemiker Julien Torchet äußerte sich in der Wochenzeitschrift Les Homes du jour in der gleichen Richtung: „Junge und alte Kirchenfürsten verweigern Herrn Erlanger die Freiheit, seiner Inspiration zu folgen, das Recht zu sagen, was er will. Glücklicherweise ist er kein Mann, der sich von diesen heuchlerischen Urteilen beeindrucken lässt. Im Gegenteil, sie wecken ihn und beschleunigen seinen Fortschritt. La Sorciere hat es bewiesen. […]. Sie werden darin dieselben Eigenschaften finden, die sein Talent auszeichnen, die Intensität seiner Leidenschaft, seine Robustheit, seine Gabe zur Beschwörung; Sie werden auch feststellen, dass diese Eigenschaften, die einst so deutlich voneinander getrennt waren, nun harmonisch miteinander verschmelzen und zu größerer Einheit und Einfachheit tendieren.“
Erlangers sehr individueller Stil hebt sich von dem der Opernkomponisten derselben Zeit ab, insbesondere von den Schülern und Nachfolgern Massenets. Große lyrische Ergüsse und schwelgerische melodische Ausbrüche gehörten selten zu seinem Vokabular. Seine Qualitäten als Dramatiker kristallisierten sich um seinen Sinn für Klangfülle heraus.

Der Autor, der Komponist und Musikwissenschaftler Jacques Tschamkerten/Lied & Mélodie

Durch die Einzigartigkeit eines melodischen Entwurfs oder einer harmonischen Abfolge gelingt es ihm, einen bemerkenswert wirkungsvollen musikalischen Rahmen zu schaffen, mit einer evokativen Kraft, die es ihm ermöglicht, seine Charaktere, ihre Persönlichkeiten und ihre Gemütszustände zu definieren. La Sorciere ist Teil dieses höchst theatralischen und doch unkonventionellen Ansatzes, der sowohl Liebhaber der traditionellen Oper, die in der Tradition von Gounod und Massenet verwurzelt ist, als auch Förderer einer „neuen Kunst“, die von Komponisten wie Debussy, d’Indy und Dukas repräsentiert wird, zu befremden scheint.
Heute haben sich unsere Wahrnehmung und Wertschätzung der Opernkunst verändert, und wir haben gelernt, dramatische Wahrheit und Emotion anderswo als in melodischem Überschwang zu erkennen. Aus dieser Perspektive ist es wahrscheinlich, dass sich unsere Herangehensweise an Erlangers Musik von der seiner Zeitgenossen unterscheidet, und vielleicht können wir Qualitäten und Spielraum darin finden, die die Zuhörer der „Belle Époque“ nicht erkennen konnten. Jacques Tschamkerten/ DeepL

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Großen Dank an Jacques Tschamkerten für die Erlaunis zur Übernahme seines Artikels im Beiheft zur neuen Aufnahme bei B Records, das allerdings Augenpulver für den Interessierten ist. Auch der Dirigent Guillaume Tourniaire hat einen sehr persönlichen Aufsatz zur Oper und seiner Liebe zu dieser Musikepoche im Booklet verfasst, operalounge.de-Lesern wird er wegen seines Ascanio (Die vergessene Oper 121) von Massenet in Erinnerung sein, zu dem sich bei uns ebenfalls ein Opernführer findet. Dank an beide Herren. Die Übersetzung aus dem Französischen besorgten wir mit DeepL (mit Korrekturen). Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge in der Reihe Die vergessene Oper findet sich auf dieser Serie hier. G. H.

Von Kanzonen und Kantilenen

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Mit acht CDs ist das neue Projekt von Opera Rara, DonizettiSongs, groß angelegt. Die ersten beiden Alben (ORR254&255) sind bereits erschienen, jeweils mit Carlo Rizzi, dem Artistic Director des Labels, am Flügel. Den Reigen eröffnet der im Donizetti-Repertoire namhafte Tenor Lawrence Brownlee, der auch bei dieser Auswahl seinen vitalen Gesang, seine gestalterische Emphase und die strahlende Höhe wirkungsvoll einsetzen kann. Im ersten Lied, „L´amante spagnuolo“, einer schwungvollen Tarantella, die vor allem in der Mittellage notiert ist, kann sich tenoraler Glanz in der exponierten Lage freilich noch nicht entfalten. Das ändert sich schon im nächsten Lied „Con le grazie“ und im folgenden. „Il donativo“, einem schwärmerischen Stück, das Brownlee perfekt in der Kehle liegt.

Donizettis Lieder, von denen es an die 200 gibt, können schwärmerische Kanzonen sein oder melancholische Kantilenen. Nicht selten vernimmt man die stürmische Verve einer Cabaletta oder den vehementen Rhythmus einer Stretta. Mehrfach erkennt man aus Donizettis Opern bekannte Motive, wie „Il sogno“, das Edgardos letzte Kavatine aus der Lucia zitiert. Viele Kompositionen entstanden auf Texte unbekannter Dichter, wie das populäre, übermütige „Amor marinaro“, einige Vorlagen stammen aus der Feder des berühmten Pietro Metastasio, wie „Trova un sol, mia bella Clori“, das sogar in zwei Versionen existiert, oder des von Bellini- und Verdi-Opern bekannten Librettisten Felice Romani. Dessen „Ella riposa“ ist mit Rezitativ, Cavatina und Cabaletta wie eine Opernszene angelegt und war dem polnischen Tenor Józef Michal Poniatowski gewidmet. Melodisch reizvoll sind die melancholische  Barcaruole „Sovra il remo“ und die Canzonetta „Or che la notte invita“ mit obligater Klarinette. Der Instrumentalist Jernej Albreht vereint sich hier mit dem Sänger zu einem innigen Duett. In doppelter Version existiert auch „Quando verrà sul colle“, wobei die zweite Fassung in ihrer elegischen, dem Konkurrenten Bellini verwandten Melodie opernnäher scheint, war sie doch dem legendären Tenor Giovanni Battista Rubini gewidmet. Brownlee kann hier seine glanzvollen Spitzentöne demonstrieren, welche dem berühmten Vorbild alle Ehre machen. Im nächsten Stück, „Il sospiro“, ist dagegen die tiefe Lage gefordert und auch hier zeigt sich der Sänger souverän. Die Sammlung der 28 Lieder endet mit der frühen  Komposition „Non giova il sospirar“, welche in ihren Ornamenten noch ganz den Einfluss Rossinis zeigt, aber auch schon Donizettis Energie aufweist, und die Platte heiter enden lässt.

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Giovanni Battista Rubini, Gaetano Donizetti, and Luigi Lablache, from the book The World of fashion and continental feuilletons, 1824. Internet Archive

Die zweite Ausgabe vereint 26 Lieder in der Interpretation des italienischen Baritons Nicola Alaimo, der seine Karriere beim Rossini Festival in Pesaro startete und dort beispielsweise Erfolge als Titelheld in Guillaume Tell feierte. Als Auftakt erklingt das heroische „La partenza del criocato“, dessen erste Zeile „Al campo della gloria“ bereits den Inhalt verrät. Donizetti übernahm die Melodie aus dem Duett Belisario/Alamiro seiner 1836 im Teatro La Fenice uraufgeführten Oper. Alaimo singt hier mit energischer Verve, um im nächsten Stück, „Ov´è la voce magica“, mit lyrischer Kantilene aufzuwarten.

In der Anthologie finden sich auch vier französische Kompositionen und eine deutsche. Letztere, „Auf dem Meere“ auf Worte eines unbekannten Dichters, stammt aus der Sammlung Das singende Deutschland. „J´aime trop pour être heureux“ in schmerzlichem Duktus wird von einer Soloviola (Abigail Fenna) begleitet. Die Stimme des Baritons ist keine noble, klingt eher robust und aufgeraut. Dadurch fehlen Liedern wie „Te dire adieu“ und „“L´amor funesto“ (mit Herry Snell am Cello) lyrische Valeurs und Eleganz. In „O Cloe“ evoziert er mit ganz leichter Tongebung eine Figur aus einer Buffa. Bei „Non v´è nume“ gibt es mit Daniel de Fry an der Harfe noch einen weiteren Instrumentalisten. Die Komposition erweckt die Stimmung von Lucias Auftrittskavatine und Alaimo nimmt sich hier stimmlich sehr zurück, überrascht mit weichen, warmen Tönen. Davon profitiert auch „Le Dernier Chant du Troubadour“. Das energische „Il crociato“ lässt nicht vermuten, dass es der namhaften Sopranistin Laure Cinti-Damoreau gewidmet, eher dass das urige „Il trovatore in caricatura“ dem bekannten Bariton Giorgio Ronconi zugedacht war. Einem anderen Vertreter dieser Stimmgattung, dem Franzosen Paul Barroihet, war „Un baiser pour espoir“ zugeeignet, das zwischen introvertierten und lebhaften Passagen wechselt. Die Platte endet mit „Quando mio ben t´adoro“, das bis vor kurzem als verloren galt und in einem österreichischen Kloster wiedergefunden wurde. Die beiden CDs machen neugierig auf die Fortsetzung des Projektes. Bernd Hoppe

 

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Donizetti-Songs: Roger Parker & Carlo Rizzi (c) Russell Duncan

Der namhafte Musikwissenschaftler und Belcanto-Spezialist, zudem Herausgeber dieser Sammlung, Roger Parker schreibt in den Beiheften zu den ersten zwei CDs von Opera Rara sehr ausführlich über die Zielsetzung des Projektes. Eines der ehrgeizigsten Projekte in der 50-jährigen Geschichte von Opera Rara ist die Aufnahme aller Sololieder von Gaetano Donizetti. Eine Handvoll dieser Lieder sind seit langem bekannt und werden oft in Konzerten aufgeführt; viele weitere sind in Fachkatalogen aufgeführt, werden aber nur sehr selten oder gar nicht aufgeführt; andere wiederum galten als verloren oder völlig unbekannt. Jüngste Forschungen im Zusammenhang mit diesem Projekt, die vom Autor dieses Artikels in Zusammenarbeit mit Ian Schofield durchgeführt wurden, haben ergeben, dass Donizetti im Laufe  seiner 30-jährigen Karriere insgesamt etwa 200 Sololieder geschrieben hat. Die Erstellung moderner Ausgaben dieses umfangreichen Korpus war eine mühsame Aufgabe:

Die Quellen für die Lieder sind in europäischen Bibliotheken und darüber hinaus verstreut, die Autographen des Komponisten wurden zum Zeitpunkt der Komposition oft versehentlich weitergegeben (in der Regel als Geschenk des Komponisten) an den Widmungsträger). In ihrer Gesamtheit sind diese Kompositionen jedoch ein schlagkräftiges Argument für Donizetti als Schlüsselfigur des häuslichen Musizierens im 19. Jahrhundert: jemand, dessen Leistungen auf diesem Gebiet es verdienen, besser bekannt zu sein; ein Werk, das allein schon ein schlagkräftiges Argument für die Bedeutung der italienischen „Schule“ in einem Bereich, der lange Zeit von deutschen und französischen Komponisten dominiert wurde, ein starkes Argument darstellt. Das schiere Ausmaß des ursprünglichen Editionsprojekts war auf den ersten Blick eine extreme Herausforderung. Viele der bisher unbekannten Lieder sind in einer einzigen Manuskriptkopie erhalten, wenn auch oft in der oft hastigen Handschrift des Komponisten und manchmal unvollständig. Die populäreren Lieder – diejenigen, die im 19. Jahrhundert zumindest eine gewisse Verbreitung hatten – werden uns wahrscheinlich in einer Reihe verschiedener und oft widersprüchlicher Quellen überliefert Quellen überliefert: vielleicht (wenn wir Glück haben) in der autographen Partitur des Komponisten; vielleicht in Manuskriptkopien anderer; vielleicht in einer gedruckten Version (oft mit Änderungen und Ergänzungen, die die Zustimmung des Komponisten hatten oder auch nicht); vielleicht als Teil einer größeren veröffentlichten Sammlung; vielleicht übersetzt in eine andere Sprache.

Donizetti-Songs: Recording session (c) Russell Duncan

Buchstäblich Tausende von einzelnen Quellen, eine verwirrende Mischung aus gedrucktem und Manuskriptmaterial, mussten in einem ersten Schritt gesammelt und zusammengestellt werden. Zu unserem großen Glück wurde ein großer Teil dieses Materials kürzlich digitalisiert und ist online verfügbar; dadurch geht das Zusammenstellen viel schneller als noch vor 20 Jahren; in der Tat ist die Tatsache, dass dieses Projekt Jahre statt Jahrzehnte gedauert hat, hauptsächlich auf diese Digitalisierung zurückzuführen. Erleichtert wird die Arbeit auch dadurch, dass sich Donizettis Werke sich vor allem auf drei Sammlungen konzentrieren (die Bibliothèque nationale de France in Paris, die Bibliothek des Conservatorio San Pietro a Majella in Neapel und verschiedene Bestände im Besitz des Komponisten). Heimatstadt Bergamo). Die Art der Liedproduktion – in der Regel häuslich, gelegentlich, feierlich – bedeutet jedoch, dass Donizettis Autogramme oft verschwunden sind und dass anderes Material weit verstreut ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein enorm wichtiger Fundus an Manuskriptmaterial, der etwa 20 Lieder enthält, von denen man bisher annahm, dass sie sich in Privatbesitz befinden und nicht erhältlich sind, tauchte im Musikarchiv des Benediktinerklosters Stift Kremsmünster in einer kleinen österreichischen Stadt zwischen Salzburg und Linz. Es ist leicht zu erraten, warum sich verschiedene unschätzbare antike Relikte in einem 777 n. Chr. gegründeten Kloster befinden; aber die Frage, wie solche Donizetti-Raritäten in seine Mauern gelangten, bleibt ein Rätsel.

Francesco Coghetti: Gaetano Donizetti/Wikipedia

Die Lokalisierung all dieses Materials war natürlich eine notwendige erste Forschungsphase. Die Bearbeitung – das Durchsuchen der Quellen für jedes Lied, um die zuverlässigste Version zu finden, die Ermittlung literarischer Quellen, die Übersetzung der Liedtexte, das Verfassen eines kritischen Kommentars, der auf wichtige Varianten aufmerksam macht und schwierige Textentscheidungen diskutiert – war dann ein fortlaufender Prozess, der am Ende mehr als 1500 Seiten Noten und 500 Seiten beigefügten Kommentar hervorbrachte, die alle mehrere Korrekturphasen durchliefen.

Was in den ersten Monaten des Jahres 2020 als „Lockdown-Projekt“ begann, wurde für eine gewisse Zeit zu einer alles verzehrenden Beschäftigung, an der Bibliothekare von Stockholm bis zur Westküste Amerikas und darüber hinaus beteiligt waren, ganz zu schweigen von der Zusammenarbeit mit Donizetti-Freunden an vielen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Orten.

Als die Arbeit fortgesetzt wurde und das volle Ausmaß des Korpus zutage trat, begannen eine Reihe von umfassenderen Fragen, die einer kritischen Betrachtung bedurften. Das erste, keineswegs einfache Problem war die Festlegung der Stimmtypen.  Gelegentlich gibt es Lieder im Tenor- oder Bassschlüssel, was bedeutet, dass offensichtlich Männerstimmen gemeint sind. Für den Rest der Lieder mussten jedoch Entscheidungen getroffen werden. In seiner frühen Karriere schrieb Donizetti die Melodielinien meist im sogenannten „Sopranschlüssel“, später verwendete er meist den Violinschlüssel; in beiden Fällen blieb unklar, ob ein bestimmtes Lied für eine Männer- oder Frauenstimme gedacht war. Bei unseren Aufnahmen gehen wir normalerweise davon aus, dass die „musikalische Stimme“ mit der „poetischen Stimme“ übereinstimmen sollte (d. h. mit der vom Dichter angenommenen Persona).

So wird beispielsweise das Klagelied eines Troubadours über seine verlorene Liebe von einer Männerstimme gesungen, während eine junge Frau, die an ihrem Fenster Fäden spinnt, von einer Frauenstimme gesungen wird. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass solche solche Fragen in der heutigen Zeit wahrscheinlich von größerer Bedeutung sind als im 19. Jahrhundert. Zu Donizettis Zeiten war die „Geschlechterverwirrung“ (das Singen von Männerrollen durch Frauen und umgekehrt) ein häufiges Merkmal auf der Opernbühne, und es gibt Belege dafür, dass sich diese Einstellung auf den häuslichen Gesangsbereich ausbreiten konnte, wobei junge Frauen – die häufigsten Darstellerinnen im familiären Umfeld – häufig eine männliche poetische Rolle annahmen, wenn sie für die versammelte Gesellschaft sangen. Hinzu kommt die Tatsache, dass Stimmlagen wie Wir wissen, dass sie sich heute etwas von denen zu Donizettis Zeiten unterscheiden, wobei die Unterscheidung zwischen „Sopran“ und „Mezzo“ und – insbesondere – zwischen „Tenor“ und „Bariton“ häufig unsicher ist.

Donizetti-Songs: Lawrence Brownlee & Carlo Rizzi (c) Russell Duncan

Unter den gegebenen Umständen haben wir die Lieder in überaus Donizetti-typischer Manier entsprechend den Fähigkeiten unserer einzelnen Sänger aufgeteilt, anstatt irgendwelche abstrakten Prinzipien von Stimmlage und Geschlecht anzuwenden.

Eine weitere Schwierigkeit betrifft die grundlegendere Frage, was ein „Lied“ ausmacht. Für die vorliegende Ausgabe haben wir uns entschieden, Sololieder von Duetten und größeren Ensembles zu trennen. Diese Entscheidung wurde in erster Linie aus praktischen Gründen getroffen (die Aufführungsmöglichkeiten für Sololieder sind heute so viel größer als die für Duette, Trios usw.), und dies trotz der Tatsache, dass eine solche Trennung uns von einigen der wichtigsten veröffentlichten Sammlungen von Donizetti-Liedern aus den 1830er Jahren entfernt, in denen Soli und Duette bewusst in unmittelbarer Nähe zueinander stehen. Es stellen sich jedoch auch größere Fragen: Wie kann in manchen Fällen ein „religiöses Werk“ auch Anspruch auf den Titel „Lied“ erheben (ein Ave Maria, das zur Klavierbegleitung gesungen wird, wäre ein Beispiel dafür)? Oder wie kann eine „Solokantate“ nach einem Manuskript in einem anderen ein ‚Lied‘ sein könnte; oder – vielleicht die größte Schwierigkeit – worin der Unterschied zwischen einem ‚Lied‘ und einer Opernarie besteht, die uns begleitet von einem Klavier überliefert wurde. Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten; es wird immer unscharfe Grenzen der einen oder anderen Art geben. In der vorliegenden Ausgabe haben wir uns weitgehend an die Taxonomie früherer Donizetti-Lieder-Katalogisierern gefolgt, aber wir haben – im Gegensatz zu ihnen – immer versucht, Opernnummern auszuschließen, die ohne die aktive Mitarbeit des Komponisten in nicht-opernhafte Texte eingebaut wurden.

Es gibt auch das Problem der Übersetzung. Lieder können in einer Sprache begonnen haben (entweder Italienisch oder, in Donizettis späteren Jahren zunehmend, Französisch) und dann in eine andere gewandert sein, wo sie vielleicht „Repertoire“-Status erlangte. Manchmal ist es aufgrund der Quellenlage unmöglich zu wissen, in welcher Sprache ein Lied ursprünglich konzipiert wurde. In einem Fall beginnt die Geschichte eines bestimmten Liedes (soweit wir wissen)mit einer gedruckten Quelle in italienischer Sprache (der natürlich eine heute verlorene autographe Partitur vorausgegangen sein muss); dann – zu einem späteren Zeitpunkt – verwendete Donizetti die Musik erneut, um einen französischen Text zu vertonen, wobei er diesmal eine Autograph, das erhalten geblieben ist; und noch später wurde dasselbe Lied in gedruckter Form weit verbreitet, allerdings in einer neuen italienischen Übersetzung des französischen Textes.

Donizetti-Songs: Daniel de Fry & Carlo Rizzi (c)Russell Duncan

Weitere Probleme betreffen die Urheberschaft des literarischen Textes (häufig nicht identifiziert) und die Identität der Widmungsträger (oft sowohl in Autographen als auch in gedruckten Partituren erwähnt), die beide stundenlange Recherchen erfordern können, aber – dank unserer internetgestützten Welt – oft überraschende Zusammenhänge und chronologische Besonderheiten aufdecken, die alle früheren Kommentatoren zwangsläufig außer Acht lassen mussten. Darüber hinaus können, wenn Donizetti vertonte jeden Text, sei es ein Libretto oder ein lyrisches Gedicht, und änderte die Worte routinemäßig, manchmal radikal: Ein Lied hat eine poetische Quelle, die tragisch endet, während seine Donizetti-Vertonung in Hoffnung und Wiedergeburt endet: Wir könnten an Opern erinnert werden, in denen manchmal im letzten Moment oder bei späteren Wiederaufnahmen, ein tragisches Ende in ein „Happy End“ verwandelt wird (oder umgekehrt). In all diesen Fällen folgen wir natürlich der Textversion des Komponisten, obwohl in extremen Fällen in den begleitenden kritischen Anmerkungen die alternative Richtung des Originalgedichts erwähnt wird.

Ein letztes Problem betrifft mehrere Versionen desselben Liedes. Es entspricht ganz dem Geist dieses Repertoires, dass Donizetti, wenn er später in seiner Karriere zu einem Lied zurückkehrte, fast immer eine Überarbeitung der Musik vorlegte, wobei er manchmal das, was er zuvor komponiert hatte, komplett neu schrieb. In vielen Fällen kann man sich vorstellen, dass es einen einfachen, praktischen Grund für diese kreative Verschwendung gab: Wenn er beschloss, ein Lied wiederzubeleben, vielleicht für einen Verleger, vielleicht für einen anderen häuslichen Anlass, war sein „Original“ nicht mehr zur , sodass er gezwungen war, die Worte und die Musik aus dem Gedächtnis neu zu erschaffen. Aber es gibt auch die Tatsache, dass ein solcher Erfindungsreichtum im Mittelpunkt seines Kompositionsprozesses stand: Selbst bei seinen berühmtesten Opern hat man selten das Gefühl, dass er ein bestimmtes Werk als „fertig“ betrachtete; wenn er zu einer Oper oder einem Lied zurückkehrte, brachte die Erfahrung fast immer neue Ideen, inspiriert von neuen Darstellern. In den meisten Fällen haben die vorliegenden Aufnahmen wurde aus Platz- und Zeitgründen eine Version gegenüber anderen bevorzugt; bei einigen Liedern waren die Alternativen jedoch so unterschiedlich, dass beide Versionen aufgenommen wurden.

Donizettis Grabmal in Bergamo/Wikipedia

Wie aus dieser ersten Aufnahme mit Liedern aus allen Lebensabschnitten des Komponisten hervorgeht, ist Donizettis kreatives Spektrum in diesem Repertoire bemerkenswert. In seiner frühen Karriere (bis ca. 1823) gibt es einige sehr einfache Erfindungen, oft „Canzonette“ genannt, die auf das 18. Jahrhundert zurückzugehen scheinen; und die stärker von der

Oper beeinflussten Nummern aus dieser Zeit ähneln in ihrer Verwendung von Vokalverzierungen unweigerlich Rossini.

In den späteren 1820er Jahren tauchen jedoch Lieder auf, die, obwohl ihre Poesie oft auf ein früheres Zeitalter zurückgeht, in ihrer Gestaltung und Ausführung offen experimentell sind, vielleicht auf konventionelle Weise beginnen, sich dann aber in unvorhersehbare melodische und harmonische Richtungen bewegen, oft als Reaktion auf Details im verbalen Text. In den 1830er Jahren, der Zeit von Donizettis größten italienischsprachigen Opern, lag sein Schwerpunkt auf Liedern für die Veröffentlichung, aufwendigeren Stücken, die für professionelle oder nahezu professionelle Darsteller und mit besonderem Schwerpunkt auf exotischen Stimmungen: der Troubadour, die Jungfrau im Turm, der liebeskranke Ruderer, der religiöse Einsiedler, der Kreuzritter, der leidenschaftliche romantische Außenseiter.

Und dann, in einer erstaunlichen späten Blütezeit, sah man in den 1840er Jahren Donizetti, der nun in Paris und Wien lebte, sich als „internationaler“ Komponist neu zu erfinden, indem er französische Gedichte in einem modernen Stil vertonte und sich in einer völlig anderen lyrischen Tradition fließend ausdrückte. Bei all diesen Stilen und Manieren bleibt ein Aspekt konstant: Wenn wir Donizetti und seine musikalische Sprache durch seine Opernwerke kennen, werden uns die Lieder weiterhin überraschen. Obwohl sie uns gelegentlich an die Manieren der Oper erinnern, beschreiten diese Kompositionen meistens einen anderen Weg: einen, bei dem die musikalische Reise in der Regel viel kürzer ist, bei dem eine Gefühlswelt in Momenten eingefangen werden muss und bei dem die raffinierte musikalische Sensibilität des Komponisten, seine Fähigkeit, poetische Stimmungen und Affekte einzufangen, auf jeder Seite offensichtlich ist.

Donizettis „Esule di Roma“, London 2023/Nicola Alaima und Albina Shagimuratova/Foto Russel Duncan/Opera Rara

Wie bereits zu Beginn dieses Essays erwähnt, sind die Lieder, die Donizetti während seiner Komponistenkarriere komponierte zu Unrecht vernachlässigt wurden. Diese Aufnahmen zielen in der Tradition von Opera Rara darauf ab, ihre Wiederbelebung bestmöglich zu fördern. Das Projekt hat aber auch ein größeres Ziel: Es soll ein neues Licht auf die gesamte italienische Tradition des häuslichen Musizierens im 19. Jahrhundert geworfen werden, eine Tradition, die sich über die gesamte Halbinsel ausbreitete und einen enorm reichen Musikkörper hervorbrachte, der es verdient, einen Platz im internationalen Liedrepertoire einzunehmen. © 2024 Roger Parker/DeepL

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ROGER PARKER (operalounge.de-Lesern absolut kein Unbekannter wegen seiner klugen Artikel zu einzelnen Belcanto-Opern bei uns)  ist der Repertoireberater von Opera Rara. Er ist zudem emeritierter Professor für Musik am King’s College London und unterrichtete zuvor in Cornell, Oxford und Cambridge. Er ist (zusammen mit Gabriele Dotto) Generaleditor der kritischen Donizetti-Ausgabe,  die bei Ricordi veröffentlicht wird. Seine neuesten Bücher sind Remaking the Song: Operatic Visions and Revisions from Handel to Berio (University of California Press, 2006) und A History of Opera: The Last 400 Years (Penguin, UK/Norton, US, 2012), das er gemeinsam mit Carolyn Abbate verfasst hat. Derzeit arbeitet er an einem Buch über Musik im London der 1830er Jahre. Von 2013 bis 2018 war er als Direktor des vom ERC finanzierten Projekts „Music in London, 1800–1851“ am King’s College tätig. (Quelle Opera Rara/DeepL)

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Dank an Opera Rara und vor allem Roger Parker für seinen Text zur Ausgabe, den wir mit großem Dank in unserer Übersetzung/DeepL übernahmen. G. H.

Höhenflug mit tausend Gefühlen

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Mille affetti heißt das neue Album von Bruno de Sá bei seiner Stammfirma Erato (50544197995422). Der Titel lässt an die Worte „mille affani“ in einer Arie aus Luigi Carusos Oper Il fanatico per la musica denken, die sich in der Anthologie auch findet und zu deren sechs Weltersteinspielungen zählt – eine tour de force der sich fast überschlagenden Koloraturen und Spitzentöne.

Der Sopranist überrascht bei seinen CDs und Recitals immer wieder mit origineller Programmkonzeption und dem Spürsinn für Raritäten. Schon der Auftakt, „La gran vendetta ancora“ aus Luigi Cherubinis Mesenzio, re  d´Etruria ist eine solche und bestens geeignet, die stimmliche Bravour des Sopranisten in helles Licht zu rücken. Furiose Koloraturkaskaden, abenteuerliche Sprünge von der Tiefe in die Höhe und stratosphärische Extremtöne werden hier scheinbar mühelos bewältigt. Der nächste Titel, Sifares Arie „Lungi da te“ aus Mozarts Mitridate, findet sich dagegen öfter in Einspielungen, wie auch seine Motette „Exultate, jubilate“, die hier allerdings in der zweiten, der Salzburger Version erklingt. Bei Sifares Arie  kann der Sänger seine klangvolle Mittellage und das perfekte legato ausstellen. Bei der Motette imponieren das mit großer Innigkeit vorgetragene „Tu verginum corona“ und  der Jubel im finalen „Alleluja!“. Seltener zu hören ist das getragene Solo des Engels „Betracht dies Herz“ aus der Grabmusik des Salzburgers. Zu den Instrumentalstücken, welche das Programm ergänzen, gehören auch Mozarts Fuge in g-Moll in der Interpretation von Marcin Szelest sowie die Ouverture zu Franz Ignaz Becks L´isle déserte und die stürmische  Introduzione zu Josef Mysliveceks Il Tobia. Das Wroclaw Baroque Orchestra, das den Sänger unter Leitung von Jaroslaw Thiel aufmerksam begleitet, wartet hier mit musikantischer Frische und großem Farbenreichtum auf.

Zu den CD-Premieren zählen auch Selims Arie „Girate quel guardo“ in extremer Lage aus Franz Seydelmanns Il turco in Italia und Perseos Rondo „Deh! soccorri“ aus Johann Friedrich Reichardts Andromeda, das sich im Gesang von de Sá in schönstem Ebenmaß verströmt. Ebenfalls erstmals auf Tonträgern zu hören ist die fünfteilige Motette „Salve Regina“ von Niccolò Antonio Zingarelli. Hier wirkt der  NFM Choir mit und findet mit dem Solisten zu gemeinsamen vokalen Glücksmomenten. Mehrere Male vertont wurde Metastasios Libretto Alessandro nell´ Indie, aber hier gibt es  mit der Komposition von Felice Alessandri eine Wiederentdeckung. De Sà singt Poros Arie „Se possono tanto due luci vezzose“ und setzt damit einen bravourösen Schlusspunkt unter sein anspruchsvolles und spannendes  Programm. Die Platte, welche  im August des vergangenen Jahres in Warschau entstand, hat alle Chancen für einen Preis in der Gattung Vokal-Recitals. Bernd Hoppe

Sicher verdienstvoll

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Hätte er doch lieber auf die Einwände seiner Gattin gegenüber dem Libretto für seine letzte Oper Die Eifersüchtigen gehört, der Schweizer Komponist Joachim Raff hätte vielleicht die erfolgreiche Uraufführung seiner letzten Oper noch erleben und dieselbe eine lange Bühnenlaufbahn durchschreiten können. So aber erleidet man als Hörer, was zwar auf vier umfangreichen Spalten Text im Booklet mit wenig Handlung und vorwiegend Erzählungen, Meinungsäußerungen, Spekulationen, Pläneschmieden und Beklagen des eigenen und fremder Schicksale, mit Rückblicken und Spekulationen über die Zukunft fast den gesamten Raum der Inhaltsangabe einnimmt, aber fast jeglicher Handlung, geschweige denn Spannung auf das Kommende entbehrt. Lediglich ein kurzer Gefängnisaufenthalt für den Tenor bringt etwas Abwechslung in die Langatmigkeit. Es geht um zwei Hohe Paare samt altem Onkel und ein Dienerpaar, die erst falsch, d.h. mit dem vom Hausherrn gewählten Partner, vermählt werden sollen, um am Schluss doch den Richtigen in die Arme schließen zu dürfen. Die Musik dazu will das Booklet im italienischen Belcanto und in den Mozart-Opern auf Da-Ponte-Libretti verorten, man könnte sie aber auch in der Nähe von Lortzing, eher biedermeierlich  als romantisch,  ansiedeln, die Musik für das Dienerpaar unterscheidet sich von der für die Adligen, für den Tenor gibt es genau in der Mitte des Werks eine schöne Arie, deren Melodie mehrfach unverändert wiederholt wird, eine Besonderheit, die das Booklet als die Absicht des Komponisten deutet, die Unbeirrbarkeit der Gefühle des Helden zu verdeutlichen.

Obwohl Raff zu seinen Lebzeiten ein vielgespielter, mit berühmten Komponisten in engem Kontakt stehender Komponist war, wurden seine Opern, die bekannteste Dame Kobold nach Calderon de la Barca,  und seine zahlreichen Orchesterwerke nach seinem Tode nicht mehr gespielt und Die Eifersüchtigen erlebten so durch das Opernkollektiv Zürich erst im September 2021 zum zweihundertsten Geburtstag des Komponisten bei Zürich ihre Uraufführung, die beiden CDs entstanden ein Jahr später.

Interessant ist über weite Strecken hinweg die Instrumentierung, die für die Arien manchmal mehr erwarten lässt, als der überwiegende Parlandostil schließlich einhalten kann. Geschickt konstruiert sind die Finali, die mit mancher Länger innerhalb der Akte wieder versöhnen und mit Dialogen à la „Da bist du ja“, „Da bin ich nun.“  Dirigent Joonas Pitkänen und das Orchestra of Europe  bemühen sich mit Erfolg um Zügigkeit und Elan.

Viel Freude bereiten die jungen Stimmen, so der schöne lyrische Tenor von Benjamin Popson als Don Claudio, der durch Klarheit und Empfindsamkeit besticht. Balduin Schneeberger als Don Giulio gibt seinen vermeidlichen Rivalen mit feinem Kavaliersbariton für sein Arioso. Etwas derber, aber auch noch präsenter ist Matthias Bein, der die Handlungsfänden in der Hand haltende Diener Peppino mit eines Leporello würdiger vokaler Präsenz. Als Spielbass stellt sich polternd,  aber textverständlich und Temperament ins Geschehen bringend der Don Geronimo von Martin Roth dar. Zart und zierlich und in der Höhe aufblühend gibt Serafina Giannoni die Donna Rosa, während Raisa Ierone als Donna Bianca mehr Mezzofarbe vertragen könnte, Mirjam Fässler als Ninetta da schon reicher und vollmundiger klingt. Insgesamt ein zwar spätes, aber verdientes und Respekt verdienendes Geburtstagsgeschenk (Naxos 8.660561-62). Ingrid Wanja

Buntes Markttreiben

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Wenn’s der Sache dient. Heißt, wenn es dazu führt, dass Mussorgskys komische Oper Der Jahrmarkt von Sorotschinzy häufiger aufgeführt wird. Neben den herrlichen Volksszenen auf dem Jahrmarkt und den deftigen, prallen, komischen und kauzigen Figuren, die wie eine Weichzeichnung ähnlicher Szenen im Boris klingen, besitzen die zweieinhalb Akte eine unverwechselbare groteske Komik.  Mussorgsky arbeite zwischen 1874 und 1881 an der komischen Oper, die einen Gegenpol zu den beiden Volksdramen bilden sollte, zum 1874 fertiggestellten Boris und der 1872 begonnenen Chowanschtschina. Bei seinem Tod war der Jahrmarkt unvollendet.

Mehrere Versuche der Komplettierung wurden unternommen, u.a. von César Cui und Nicolai Tscherepnin. Durchgesetzt bzw. am häufigsten gespielt wurde die 1931 in St. Petersburg erstmals gespielte Fassung von Wissarion Schebalin und Pawel Lamm, die Riccardo Chailly anlässlich des 100. Todestag Mussorgskys 1981 an der Mailänder Scala dirigierte und die 1983 auch am Gärtnerplatztheater gespielt wurde. Mit den Fassungen wollen wir uns nicht befassen, schließlich haben wir jetzt eine neue von Fabrice Bollon, der sich an Mussorgskys Szenarium orientiert und wichtiger noch ausschließlich Mussorgskys Musik verwendet. Fabrice Bollon hatte bereits im Vorjahr eine Covid-19-Fassung des Schlauen Füchsleins (2 CD 8.660526-27) für zwölf Instrumente vorgestellt und jetzt bei Mussorgsky ebenso mustergültige Arbeit geleistet. Zumindest erweckt die im September 2023 in Baden-Badener SWR-Studio entstanden Aufnahme nie den Eindruck, dass es sich bei dieser Fassung um einen Notbehelf handelt.

Die Sänger mögen weniger individuell und leichter als in alten russischen Aufnahmen klingen, doch die armenische Mezzosopranistin Greta Bagiyan ist ausgezeichnet als ebenso zänkische wie verliebte und lockende Chiwrja, der schmale Charaktertenor Jumbum Lee singt das Objekt ihrer Begierde, den Popensohn Afanasil, mit entsprechend verklemmtem Tenor, Carina Schmieger und Nutthaporn Thmmanthi geben ein hübsch klingendes junges Paar mit sehr ansprechenden Arien im 3. Akt ab, die tiefen Stimmen von Tair Tazhi und Hans Gröning klingen nicht ausgesprochen charakteristisch. Wie bei seiner Aufnahme des Schlauen Füchsleins haben sich um Fabrice Bollon wieder die Musiker von The Lily‘s Project versammelt, die zusammen mit dem Cantus Juvenum Karlsruhe und Mitgliedern des Freiburger Opernchors die skurrile und kauzige Dorf- und Märchenwelt beschwören, vielleicht nicht ganz den knorrig knurrigen und knarzig rauen Duktus von Mussorgsky einfangen, aber ausreichend schwungvoll. Das ist eine elegante Salonfassung für junge Sänger.

Ein wenig kompliziert ist auch die Handlung, zu der Mussorgsky selbst den Text auf der Basis von Nikolai Gogols Erzählung Der Sorotschinsker Jahrmarkt (1831) aus dem ersten Teil seiner Sammlung Abende auf dem Weiler bei Dikanka. Auf dem Mark des ukrainischen Dorfes Sorotschinzy begegnen sich der Bauernbursche Gritzko und Parasja, die mit ihrem Vater Tscherewik gekommen ist. Sie verlieben sich in einander. Tscherewik gibt seinen Widerstand gegen die Heirat auf, als er erfährt, dass Gritzko der Sohn seines Freundes ist. Währenddessen warnt der Zigeuner die Leute vor dem „roten Kittel“ und Schweinerüsseln. Als Tscherewik abends trunken die Kneipe verlässt und seiner Frau Chiwrja von dem Schwiegersohn berichtet, ist diese entsetzt, da Gritzko sie nachmittags beleidigte. Dem traurigen Gritzko verspricht der Zigeuner seine Hilfe. Am nächsten Tag hat sich Chiwrja mit ihrem Geliebten Afanasil, dem Sohn des Popen verabredet. Sie bereitet ihm ein üppiges Mahl, das von Tscherewik, Kum, Gritzko und einen Nachbarn gestört wird, die von der Erzählung des Zigeuners berichten. Tatsächlich öffnet sich plötzlich die Erde und ein Teufel erscheint. Alle sind angesichts der satanischen Messe im höchsten Maß verängstigt, nur Gritzko glaubt zu träumen. Es folgt im dritten Akt die Hochzeit des jungen Paares, die mit einem Hopak gefeiert wird.

Ebenfalls unvollendet blieb Mussorgskys erst in den 1980er Jahren komplettierter und uraufgeführter Opernerstling Salammbo nach Flauberts quasi noch druckfrischem Roman. In der von ihm erstellten fünfteiligen Suite hat Bollon 2021 sehr geschickt zentrale Momente der Oper mit u.a. den Chören der Libyer, Karthager und der Priesterinnen der Salammbo sinfonisch verarbeitet, die einen schönen Eindruck von der Exotik der Handlung und Mussorgskys frühem Zugriff vermitteln.   Rolf Fath