Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Antonio Bazzinis „Turanda“

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Freunde seltener und kaum aufgeführter Opern werden begeistert gewesen  sein, als die Nachricht kam, dass das Teatro Sociale Como Antonio Bazzinis Oper Turanda von 1867 (mit nur einer Aufführung an der Mailänder Scala) im Oktober 2025 gegeben werden sollte. Bazzini, Lehrer von Puccini, mit einer Oper fast gleichen Titels wie die seines Schülers? Zudem seine einzige? Doch außerordentlich spannend, zumal sich kaum etwas dazu im Netz findet, nicht einmal die Premierenbesetzung. Deshalb war die Nachricht aus Como um so bedeutender. In der Folge haben wir drei Artikel zur Oper versammelt, die – leider – weniger auf die Musik, aber doch auf die Textlage und die Umstände eingehen. Und genügend Material für eine weitere in unserer Reihe Die vergessene Oper bieten. G. H.

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Unser Bild von Turandot, das weitgehend die größte Anzahl von Interpretationen in verschiedenen Genres, insbesondere in der Oper, beinhaltet, wurde durch die von Giacomo Puccini geprägt. Dennoch sind über zehn ihrer Opernvorläufer noch immer relativ unbekannt, unter denen ein besonderer Platz der Oper Antonio Bazzinis gebührt – dem bekannten Geigenvirtuosen, Komponisten, sozial-kulturellen Persönlichkeit und Professor am Mailänder Konservatorium Antonio Bazzini, in dessen Klasse Giacomo Puccini Schüler war. Bazzinis einzige Oper „Turanda” aus dem Jahr 1867 skizziert das Imagologem der grausamen Prinzessin in der Interpretation von Bazzini. Unter Verwendung imagologischer Methoden von Nationen, Kulturen oder Gruppen, die in Literatur und anderen kulturellen Ausdrucksformen dargestellt werden. (Die Bedeutung von „imagologisch“ bezieht sich auf die Untersuchung von Vorstellungsbildern, Stereotypen und Klischees. G. H.) (…)

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Antonio Bazzini/Teatro Sociale Como

Entstanden fast 100 Jahre nach Carlo Gozzis fiaba und 50 Jahre vor Giacomo Puccinis Turandot, findet Antonio Bazzini neue, unerwartete Dimensionen des Werks zu diesem Thema im Operngenre. Ausgehend von den Elementen der Commedia dell’arte, die die Eckpfeiler von Gozzis Favola bilden, definiert Bazzini, obwohl er im Bereich der märchenhaften Handlung bleibt, das Genre seiner Oper als „asiatische Fantasie”, die trotz des dekorativen Harem- und Staatsimperiumsbildes des Orients den Prinzipien der lyrischen Oper nach französischem Vorbild folgt und sich an der Oper von Vincenzo  Bellini orientiert. Die weibliche Hauptfigur ist eine femme fatale, die im Verlauf der dramatischen Handlung einige weiche Züge annimmt und sich von einer Prinzessinnenmörderin zu einer liebenden Frau wandelt. Bazzinis Eklektizismus manifestierte sich in der Abkehr vom chinesischen Inhalt und der Erweiterung der geokulturellen Grenzen: Die Handlung spielt in Persien (der angestammten Heimat Turandots, deren komplexes  Prototypbild in Nizamis Gedicht „Sieben Schönheiten“ beschrieben wird), Prinz Calaf wird zum indischen Prinzen Nadir, wobei er die Rolle des lyrisch-dramatischen Helden beibehält. (Nizamis „Sieben Schönheiten“ – persisch Haft Peykar – ist das vierte Epos des persischen Dichters Nizami, geschrieben um 1197. Es erzählt die Geschichte von König Behram, der an sieben Tagen der Woche von sieben Prinzessinnen aus verschiedenen Ländern unter sieben unterschiedlich farbigen Kuppeln Märchen hört. Das Werk gilt als ein Juwel orientalischer Erzählkunst und verbindet die Geschichten mit der Symbolik von Gestirnen und Farben. G. H.)

Zu Antonio Bazzinis „Turanda“: Busto di Antonio Gazzoletti/Trento/Foto Nicolò Carantì/Wikipedia

Bazzini verzichtet auf die Masken und führt stattdessen eine neue, farbenfrohe Figur ein – den Zauberer Ormut, der die bösen Mächte repräsentiert, da er hoffnungslos in Turandot verliebt ist und sie mit Hilfe von Zauberei zu Morden inspiriert. Die erhabene mystisch-orgiastische Szene der Verehrung Ahrimans ist eine der besten Darstellungen spektakulärer theatralischer Exotik. Und obwohl mehr als ein Dutzend Komponisten der Romantik versuchten, die Figur der Turandot zu adaptieren, fand die Heldin ihre optimale Verkörperung in der Aura des hohen Verismus, zu dem Turanda von Antonio Bazzini als einer der Schritte auf dem Weg dorthin angesehen werden kann. Yu Wang

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Von den Manuskripten auf die Bühne: 1867 – Bazzinis Oper Turanda erhält auf der Bühne des Teatro alla Scala seine Premiere. Das Publikum reagiert zurückhaltend, die Kritiker urteilen negativ, und innerhalb weniger Tage verschwindet alles, umgeben von einer Aura des Geheimnisvollen und des Unglücks.

Pagina dal ritrovato libretto di Turanda, con le annotazioni manoscritte sceniche e di regia della prima rappresentazione al Teatro alla Scala del 1867. (Milano, Biblioteca del Conservatorio)

Das Libretto von Antonio Gazoletti wurde in Bazzinis Autograph als „fantastische Handlung” untertitelt, ein für die Opernwelt ungewöhnlicher Begriff. Aus diesem Grund bezeichneten die Kritiker es als „dramatische Absurdität”, „ein Märchen, das sich als Episode aus dem wirklichen Leben ausgeben will” und von „einer schrecklichen Verschlingerin ihrer Liebhaber” handelt (Ghislanzoni).

Ein fantastisches Thema also, vielleicht zu gewagt und inakzeptabel für die damalige Zeit, das jedoch mehr als fünfzig Jahre später in Puccinis Turandot seine endgültige Legitimation finden sollte, der übrigens auch ein Schüler Bazzinis am Konservatorium von Mailand war.

Kurz nach der Uraufführung an der Scala wurden die autographe Partitur, die Entwürfe und Kopien, die zahlreichen Orchesterstimmen, die Partituren der Sänger und des Chores, die vom Impresario und Verleger Francesco Lucca (einem erbitterten Gegner von Ricordi) vorbereitet worden waren, eine Wanderung zwischen Schenkungen und Hinterlegungen in Bibliotheken, Katalogisierungen und unverständlichen Verschwindensfällen, zufälligen Funden in jüngerer Zeit.

Bazzinis „Turanda“ in Como 2025/Szene/Foto Conservatorio Como

Bazzinis persönliches musikalisches Vermächtnis wurde nämlich von seiner Schwester der Società dei Concerti di Brescia geschenkt und gelangte von dort zum Istituto Musicale Venturi, dem heutigen Konservatorium von Brescia, um dann teilweise zu verschwinden. Die vollständige autographe Partitur, die als verloren galt, wurde erst vor wenigen Jahren wiedergefunden, halb vergessen in den Archiven der Bibliothek des Konservatoriums von Mailand.

Zum ersten Mal wurden in diesem imposanten Projekt des Konservatoriums von Como die Teile dieses wiedergefundenen Materials zusammengesetzt und verglichen, und nun wird mit der qualifizierten Zusammenarbeit von Casa Ricordi zum ersten Mal eine vollständige Transkription in kritischer Überarbeitung und einer neuen Inszenierung zurückgegeben.

Die wiedergefundenen Papiere von Turanda lassen uns in der Zeit hin und her reisen. Erst vor wenigen Monaten, gerade aufgrund des Interesses, das dieses Projekt geweckt hat, wurde unglaublicherweise eine weitere unbekannte Perle wiederentdeckt: das Libretto der Uraufführung an der Scala mit allen handschriftlichen Anmerkungen zur Regie und zu den Szenen, zu den Bewegungen der Figuren und sogar zur Beleuchtung. Ein wahres historisches Dokument für alle, die sich mit der Turanda von 1867 beschäftigen möchten, während wir heute diese neue Turanda von 2025 erleben. Marcoemilio Camera/ Direktor der Bibliothek des Konservatoriums von Como

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Bazzinis „Turanda“/ Laboratorio di Ormut destinato agli studii e alle evocazioni magiche  bozzetto di Carlo Ferrario per Turanda_(1867) Archivio Storico Ricordi ICON012272

Eine wallfahrende Schönheit: Die Aufgabe, einer Partitur, die so viele Jahre lang ungespielt geblieben ist, wieder eine Stimme zu geben, ist eine Erfahrung, die neben der Freude der Entdeckung immer auch Zweifel und Ängste mit sich bringt. Die große Wertschätzung für ihren Komponisten trug dazu bei, die Fragen und Unsicherheiten bei dem ehrgeizigen Versuch zu verstärken, einen Weg zu finden, der den kompositorischen Reichtum jeder Seite voll zur Geltung bringen könnte.

Ein Reichtum, der in dieser Partitur, wie auch in verschiedenen anderen Werken Bazzinis, oft in der Reinheit einer einfachen Phrasierung, im plötzlichen Aufleuchten einer Melodie, in einem spontanen Gesang enthalten ist, der so leicht ist, dass man sich fast verpflichtet fühlt, ihn in gewisser Weise vor übertriebener Ausdruckskraft schützen zu müssen, die das edle, erhabene Gefühl seiner Kunst verraten könnte, das vielleicht sein charakteristischstes Stilmerkmal ist. Und dann der Reichtum der Form, der Führung der Stimmen, die immer in kontrapunktischem Dialog miteinander stehen, und der Orchestrierung, die in jedem instrumentalen Detail auf der Suche nach nie vorhersehbaren Klangmischungen ist.

Bazzinis „Turanda“: 18th century Persian or Indian Miniature Of Khoshrow Seeing Shirin Bathing Naked/nazmiyalantiquerugs.

Bazzini mochte den „piazzoso-Effekt” nicht, wie der Kritiker Filippo Filippi damals schrieb, als er über Turanda sprach. Seine Schönheit ist zurückhaltend, oft schamhaft, als wolle er den Zuschauer zu einem intensiveren Zuhören einladen, um ihm die Geheimnisse zu offenbaren. Das hindert ihn natürlich nicht daran, Szenen zu schreiben, die von Eindringlichkeit und Imposanz geprägt sind, wie zum Beispiel die Finales des ersten und zweiten Aktes oder das Duett zwischen Turanda und Ormut im dritten Akt. Szenen, die jedoch niemals in Effekthascherei oder in den verwirrenden Nebeln einer leichtfertigen futuristischen Romantik versinken. Das Erstaunlichste an seinem Operndebüt ist außerdem sein angeborener Sinn für das Theater, der sich in einem ständigen Dialog zwischen Bühne und Orchestergraben ausdrückt, der stets darauf bedacht ist, jede narrative Nuance des Librettos hervorzuheben.

All dies machte Turanda zu einer wichtigen, vielleicht sogar einzigartigen Forschungsgelegenheit für alle beteiligten Dozenten, vor allem aber für die Studenten des Orchesters und die jungen Solisten und Chorsänger, die sich von Anfang an bereit zeigten, eine lange Studienzeit auf sich zu nehmen, immer motiviert von dem Wunsch, diesem zunächst unbekannten Komponisten Tribut zu zollen, der dann, Probe für Probe, von allen immer mehr geliebt und geschätzt wurde. Studenten und Kollegen, denen ich meinen aufrichtigen Dank ausspreche. Bruno Dal Bon/Dirigent

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Antonio Bazzini (before_1897)/ Archivio Storico Ricordi FOTO 000436

Der Komponist: Antonio Bazzini (* 11. März 1818 in Brescia; † 10. Februar 1897 in Mailand) war ein italienischer Komponist, Violinist und Musikpädagoge. Er wurde als Geigenvirtuose international bekannt und unterrichtete später am Mailänder Konservatorium. Zu seinen bekanntesten Werken zählt das Violinstück La ronde des lutins.

Antonio Bazzini erhielt seine musikalische Ausbildung bei Faustino Camisani (1772–1830) und trat im Alter von zwölf Jahren erstmals öffentlich als Violinist auf. Ab 1842, gefördert von Niccolò Paganini, unternahm er Konzertreisen durch Europa und Antonio wurde dabei unter anderem in Deutschland bekannt. Verdient machte sich Bazzini auch durch seine Bemühungen um die Einführung deutscher Instrumentalmusik in Italien. Ab 1852 lebte er in Paris, von wo aus er seine Konzertreisen fortsetzte. Eine letzte Konzertreise führte ihn 1864 durch die Niederlande. 1873 wurde er Professor für Komposition am Mailänder Konservatorium, zu seinen bedeutendsten Schülern zählten Pietro Mascagni und Giacomo Puccini. 1882 übernahm er die Leitung des Konservatoriums.

Von ihm stammen mehrere Streichquartette, Violinkonzerte, Ouvertüren und Symphonien, sowie die Oper Turanda (Mailand, 1867). Für die von Verdi angeregte Messa per Rossini komponierte Bazzini das dritte Stück, Dies Irae. Außerdem hinterließ er eines der wichtigsten Stücke der virtuosen Geigenliteratur, den Tanz der Kobolde op. 25 („La Ronde des Lutins“). Wikipedia

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Bazzinis „Turanda“ in Como 2025/Szene/Foto Conservatorio Como

Germaine Clémenceau schreibt: Mit der Wiederaufführung von Bazzinis einziger Oper seit dem Misserfolg der einzigen Aufführung an der Scala 1867 zeigte das Konservatorium Como Intelligenz und Qualität: Die Regisseurin Stefania Panighini hatte an den Gesten, der Choreografie und den Personenführung mit einer Detailgenauigkeit gearbeitet, die im normalen Theaterleben nicht möglich wären. Dank der einfachen, aber wirkungsvollen Kulissen und der schönen Kostüme, die von den Studenten der Accademia di Brera entworfen wurden (sehr wirkungsvoll der Kragen, mit dem sich Turanda vor der Welt schützt und den sie sich  nach der Lösung der Rätsel abreisst), war die Aufführung transparent nachvollziehbar und gleichzeitig reich an Denkanstößen. Höhepunkt war die Szene der spiritistischen Beschwörungen, die von großer theatralischer Wirkung belebt wurde. Alle Musiker, Chorsänger und Solisten (mit Ausnahme der Protagonistin) kamen vom Konservatorium Como: Die instrumentale Qualität des Orchesters war hoch, und Bruno Dal Bon dirigierte mit Energie, Flexibilität und Liebe zum instrumentalen Detail, während der Chor (wie auch die Solisten außer der Protagonistin ausschließlich Asiaten, povero Como!) sich tapfer schlug angesichts der anspruchvollen Aufgaben. Unter den fünf Solisten beeindruckten die satten, wenngleich etwas wilden Bässe von Minsu Kim und Yonghyun Kim als Cosroe und Ormut, und die Aufmerken heischenden Töne des Tenors Weihao Du in der Rolle des Nadir. Die Sopranistin Anna Cimmarrusti (einzige „professionelle“ Sängerin zwischen den Studenten) beeindruckte als Turanda mit ihrer präzisen Diktion, ihrer weiten Stimmführung und ihrer differenzierten Darstellung der Titelfigur. Germaine Clémenceau/DeepL

 

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Bazzinis „Turanda“: Zahra Khanom Tadj al-Saltana, Persian Princess/ Pinterest

Zum Inhalt: Erster Teil.  In Modain, der Hauptstadt Persiens, singen die Tempelpriester eine Hymne zum Gebet an die aufgehende Sonne. Bürger und Händler ehren den Gott an diesem Festtag. Nadir, ein in Ungnade gefallener indischer Prinz, bleibt stehen, um die an den Wänden hängenden Begräbnistrophäen asiatischer Prinzen zu betrachten, und trifft zu seiner großen Überraschung seinen alten Freund und Lehrer Ormut, den Hohepriester des Königreichs. Nadir erzählt Ormut von seinem Unglück und bittet ihn, seinen Namen niemals auszusprechen Der Zauberer erzählt seinerseits von seinen Wechselfällen und erklärt Nadir den Grund, warum die Begräbnis-Trophäen ausgestellt sind: Turanda, die stolze Tochter von Cosroe, König von Persien, weigert sich, aus politischen Gründen zu heiraten und sich den Regeln der Gesellschaft zu fügen: Sie hat versprochen, nur denjenigen zur Heirat zu akzeptieren, der drei Rätsel lösen kann, und stattdessen jeden zu töten, der die Prüfung nicht besteht. Ormut lädt Nadir ein, sich selbst von der Schönheit der Prinzessin zu überzeugen, die inzwischen mit dem königlichen Gefolge eintrifft. Nadir ist hingerissen vom Anblick Turandas, die in ihrem Gesang die Sonne anfleht, in ihrem Willen standhaft zu bleiben. Nachdem er Turandas Gesang gehört hat, beschließt Nadir entschlossen, den Gong zu schlagen, um sein Schicksal herauszufordern. Cosroe, der alte und unsichere König, fleht seine Tochter an, ihre Entscheidung zu überdenken, aber Turanda bleibt standhaft in ihrem Vorsatz, sich für das weibliche Geschlecht einzusetzen: Alle Könige der Welt müssen sich ihrem Willen beugen. Ormut eilt herbei, um Turanda und Cosroe mitzuteilen, dass der achte Prinz bald sein Glück versuchen wird.

Bazzinis „Turanda“/Memoirs of Taj al Santana – From the Harem to Modernity/Pinterest

Zweiter Teil. Im großen Gerichtssaal sind Priester, Richter und Magier bereit, den Kandidaten zu empfangen. Cosroe drückt seine Traurigkeit aus. Turanda tritt ein, gefolgt von ihrem Gefolge aus Dienstmädchen und Sklavinnen, sowie Nadir, der sich entscheidet, den Richtern seinen Namen nicht zu verraten. Turanda stellt die ersten beiden Rätsel, die Nadir lösen kann. Beim dritten Rätsel beschließt Turanda, ihre Augen zu enthüllen, um Nadir mit ihrem Blick zu verzaubern und ihn zu verwirren. Der Prinz schafft es jedoch nach anfänglichem Zögern, auch das dritte Rätsel zu lösen. Die allgemeine Begeisterung und Jubel werden sofort durch Turandas Entschluss gebremst, lieber zu sterben, als sich dem Gesetz zu beugen. Nadir schlägt ihr daher einen Waffenstillstand vor und schlägt ihr seinerseits eine Herausforderung vor: Wenn Turanda es am nächsten Tag schafft, seinen Namen zu nennen, wird sie frei sein. Die Prinzessin nimmt an.

Vittorio Zago (Direttore del Conservatorio di Como)/Foto Zago

Dritter Teil. In seinem Laboratorium drückt Ormut seine Zuneigung zu Nadir aus, den er wie einen Sohn betrachtet. Der Zauberer ist entschlossen, seinen Namen nicht preiszugeben, wenn Turanda um Hilfe bittet. Turanda kommt in die Werkstatt, um durch Ormut die Sterne des Himmels und der Unterwelt zu befragen und so den Namen des unbekannten Prinzen zu erfahren. Die Antwort der Geister und dunklen Mächte, die Ormut beherrscht, enttäuscht jedoch ihre Erwartungen: Sowohl die Sterne als auch die Unterwelt weigern sich dreimal, den Namen des Prinzen preiszugeben. Turanda bricht in Wut und Tränen aus.

Cosroe und Nadir feiern unterdessen ein Festmahl, während Adelma, die insgeheim den Prinzen liebt, mit dem Harfenchor ein Lied anstimmt. Nadir zieht sich in seine Gemächer zurück und ruft das Bild seiner Geliebten herbei, während er in einen tiefen Schlaf fällt, verursacht durch das Schlafmittel, das Adelma ihm auf Befehl Turandas eingeflößt hat.

Turanda und Adelma betreten das Zimmer des Prinzen, der in schlafwandlerischen Visionen unter vielen Frauen nach Turanda sucht. Als er sie erblickt, verrät er in einem Anflug von Zuneigung unbewusst seinen Namen und fleht die Prinzessin an, ihn in ihre Arme zu schließen.

Vierter Teil. Im Garten des Palastes ist Turanda verärgert. Obwohl sie weiß, dass ihr Sieg unmittelbar bevorsteht, spürt sie, dass sich ihre Gefühle gegenüber dem Prinzen verändern.
Im prächtig geschmückten Tempel bereiten sich Cosroe, Ormut, Priester, Richter und Würdenträger des Königreichs darauf vor, der Begegnung beizuwohnen. Ormut versichert dem König, dass die Vorzeichen gut stehen, da er überzeugt ist, dass Turanda die Antwort nicht kennt, da er den Namen des Prinzen nicht preisgegeben hat.
Turanda und Nadir treten ein, aber Turanda bittet ihren Vater, mit dem Prinzen allein bleiben zu dürfen.
Im privaten Gespräch offenbart Turanda Nadir, dass sie seinen Namen kennt und die Herausforderung gewonnen hat. Der Prinz, überrascht von so viel Grausamkeit, greift nach einem Dolch und versucht, sich das Leben zu nehmen, doch in einem Anflug von Verzweiflung hält Turanda ihn davon ab und gesteht ihm ihre Liebe. Die Liebenden umarmen sich. Als Kosro die Schreie hört, stürmt er in den Raum.
Nadir verkündet, dass seine Niederlage das größte Geschenk ist: Durch seine Niederlage in der Herausforderung verdient er sich Turandas Liebe. Der Chor und Ormut stimmen den Schlussakkord der Freude an. (Aus dem Programmheft Teatro Sociale Como)

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Bazzinis „Turanda“/ Premierenbericht 1867/UGA

Wie stets bei uns haben Artikel über seltene oder unbekannte Operntitel viele Väter. In diesem Falle danken wir dem  Conservatorio Como für die Bereitstellung des Programmheftes zur Aufführung in Como im Oktober 2025, Alissa Balocco von der Organisation Skil & Music sowie dem Musikwissenschaftler Yu Wan, dessen Einleitung zu seiner Untersuchung „Der wenig bekannte Vorläufer von Giacomo Puccinis „Turandot“ – „Turanda“ von Antonio Bazzini“ vom Januar 2019 in „Wissenschaftliche Sammlungen der Nationalen Musikakademie Lemberg, benannt nach M. V. Lysenko“; DOI:  10.33398/2310-0583.2019.45.290.308 wir mit Dank übernahmen. Übersetzung aus dem Italienischen und Englischen DeepL/G. H.; Redaktion G. H.

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Turanda;  Azione fantastica in quattro parti (1867) ; Musica di Antonio Bazzini ; Libretto di Antonio Gazzoletti ; Turanda Anna Cimmarrusti ; Nadir Weihao Du ; Ormut Yonghyun Kim ; Cosroe Minsu Kim ; Adelma Aziza Omarova ; Lee Juhyeon ; Direttore Bruno Dal Bon ; Regia Stefania Panighini ; Scene e costumi  Studenti del Biennio di Scenografia Teatro e Costume per lo Spettacolo dell’Accademia di Belle Arti di Brera ; Maestri del coro Matteo Castelli e Domenico Innominato ; Assistente alla regia Ai Takagi Donno ; Coro del Conservatorio «Giuseppe Verdi» di Como ; Filarmonica del Conservatorio «Giuseppe Verdi» di Como ; Nuovo allestimento del Conservatorio «Giuseppe Verdi» di Como; Aufführungen 26. Oktober 2026 im Teatro Sociale di Como, mit einer Wiederaufnahme am Montag, 8. Dezember 2026 im Teatro Lirico „Giorgio Gaber” in Mailand. Die Oper ist eine Produktion und ein Projekt des Conservatorio Como, aufgeführt im Teatro Sociale Como.

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Zum obigen schrieb uns der Musikwissenschaftler und Autor Jürgen Maehder:

Der Artikel enthält eine Reihe von Problemstellen; vor allem aber verschweigt er die seit Jahrzehnten existierende Sekundärliteratur.
a) Bazzinis Autograph wurde während mehrerer Jahrzehnte in der Bibliothek des Conservatorio di Musica in Brescia aufbewahrt, wo Frau Prof. Lo es auch konsultieren konnte. Es war also nicht „verschollen“, jedenfalls nicht für einen ernstzunehmenden Forscher.
b) Die „Verlegung“ der Handlung nach Persien bedeutet eher keine „Erweiterung der geokulturellen Grenzen“, da die Stoffquelle, Nizamis „Haft Paikar“, ja auf Persische verfaßt wurde. Eher kann angenommen werden, daß im Kontext der „Haft Paikar“ die geographische Loalisierung in China nur eine Metapher für größtmögliche Ferne bildete.
c) Nützlich wäre vielleicht auch das Zitat von Giulio Ricordis negativem Urteil über Bazzinis Partitur gewesen, das in italienischer Originalsprache bei Kii-Ming Lo (p. 207) abgedruckt ist.
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Bibliographie:  Alceo Toni, „Antonio Bazzini“, Milano 1946.
Claudio Sartori, „Antonio Bazzini e il teatro lirico“, in: AAVV, „Il melodramma italiano dell’Ottocento. Studi e ricerche per Massimo Mila“, Torino (UTET) 1977, pp. 437-449.
Grundlegend wäre vor allem das Standardwerk zur Stoffgeschichte von „Turandot“ gewesen:
 Kii-Ming Lo, „Turandot auf der Opernbühne“, Bern/Frankfurt/New York (Peter Lang) 1996, pp. 200-209. (ISBN 3-631-42578-3.; Informationen zur Autorin: https://de.wikipedia.org/wiki/Kii-Ming_Lo )
Puch, den 4-11-2025 

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Wiederentdeckung

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Kaum eine andere biblische Gestalt dürfte sich so tief in die Alttagsprache eingedrungen sein wie Hiob. Da mag auch am Inhalt des Ausspruchs liegen, mit dem sich sein Name verbindet: Hiobsbotschaft. Was so viel heißt wie eine Schreckensnachricht, die den Empfänger niederschmettert – zumindest aber aus der gewohnten Bahn wirft. In abgeschwächter Form kann damit inzwischen auch eine unerfreuliche und ärgerliche Mitteilung gemeint sein.

Das Denkmal des Komponisten auf dem Marktplatz seiner Geburtsstadt Löbejün wurde dem ursprünglichen Bronzeguss nachgebildet./Winter

Der biblische Hiob war ein mit großen Reichtum und persönlichem Glück gesegneter frommer Mann, dem im Alten Testament ein eigenes Buch gewidmet ist. Er wird von Gott auf die Probe gestellt indem ihm vier Botschaften erreichen, dass er infolge unterschiedlicher Katastrophen Herden, Knechte, Söhne und Töchter verloren hat. Und dennoch bleibt er demütig, in seinem Glauben unerschütterlich und wird dafür am Ende mit neuem Wohlstand belohnt. Phraseologisch ist die Wortverbindung von Hiob und Botschaft relativ jung. Bei Goethe ist im ersten Akt seines Götz von Berlichingen aus dem Munde des Abts von Fulda noch von einer „Hiobspost“ die Rede. Der Begriff ging auch ins Grimmsche Wörterbuch ein.

Carl Loewe hat die Geschichte des biblischen Hiob zu einem Oratorium gestaltet, das nun erstmals bei Oehms auf CD herausgekommen ist (OC1719). Sein Textdichter Wilhelm Telschow (1809-1872), der bereits die Vorlage des Passions-Oratoriums Das Sühneoper der neuen Bundes geschaffen hatte, war nur nebenbei literarisch tätig. Hauptberuflich arbeitete er als Buchhalter bei der Ritterschaftlichen Privatbank in Pommern und stieg dort bis zum stellvertretenden Direktor auf. Seine Geburts- und Sterbeort war Stettin, wo Loewe von 1820 bis 1866 sechsundvierzig Jahre lang als Kantor und Organist an der Jakobikirche wirkte, zudem den Posten des städtischen Musikdirektors innehatte, Gymnasialunterricht erteilte und am zuständigen Seminar Lehrer ausbildete. Wie Telschow als Dichter war auch Loewe lediglich nebenbei als Komponist tätig. Ein Schicksal, was beide offenbar miteinander verband. Näheres ist nicht bekannt. Die überlieferten biographischen Daten von Telschow sind – weil kaum erforscht – dürftig.

Bei der Neuerscheinung von Oehms handelt es sich um eine Koproduktion mit BR Klassik. Aufgenommen wurde im Oktober 2024 in der evangelisch-lutherischen Himmelfahrtskirsche München-Sendling. Sie liegt ruhig, verfügt über eine ansprechende Akustik und ist deshalb für Einspielungen von Werken mit kleiner und mittlerer Besetzungen geschätzt. In seiner Geschichte mehrfach umgebaut, wurde das Haus 1944 bei einem Bombenangriff völlig zerstört. Trümmerbausteine fanden beim Wiederaufbau Anfang der fünfziger Jahre Verwendung. Innerhalb weniger Jahre hat Oehms nunmehr gleich drei Oratorientitel von Loewe auf den Markt gebracht. Auf Das Sühneoper des neuen Bundes (OC 1706) 2019 folgten Jan Hus (OC 1720) und nun Hiob. Es steht zu erwarten, dass noch weitere Produktionen folgen. Loewe hat fast zwanzig einschlägige Werke hinterlassen. Für das Ensemble ist der Komponist kein Neuland. Wie schon in den vorangegangenen Aufnahmen leitet Thomas Gropper erneut die Arcis-Vocalisten München und des Barockorchester L’arpa Festante. Es dürfte nicht alle Tage vorkommen, dass der Dirigent auch solistische Aufgaben als Sänger übernimmt. Diesmal verstärkt er mit seinem Bariton – gleich einer Signatur – das vom Chor begleiteten Soli „Hört ihr, hört ihr seine Stimme“ im dritten Teil. Zudem steuerte er wissenschaftlich fundierte Texte für die Booklets bei. Das ist insofern so wichtig wie notwendig, weil die Loewe-Literatur nach wie vor spärlich, weit verstreut oft nicht auf dem neuesten Stand der Forschung ist. Noch immer liegt keine umfangreiche Biographie vor. Ein ausführlicher Versuch einer Lebens- und Werkbeschreibung geht auf das Jahr 1898 zurück.

Zu Loewes „Hiob“: Heinrich Bulthaupt war ein bedeutender Theater- und Musikritiker, der zudem die erste Monographie zu Loewe schrieb/ Wikipedia

Es handelt sich um die attraktiv aufgemachte Monographie des aus Bremen stammenden Schriftstellers und Theaterkritikers Heinrich Bulthaupt (1849-1905) aus der seinerzeit populären Buchreihe „Berühmte Musiker“, die inhaltlich aber als veraltet gilt und also nur noch historischen Wert hat. qua Kirchenamt war es Loewe verboten, sich als Opernkomponist zu betätigen. Mit seinen Oratorien – so auch im Hiob folgt er ganz bewusst seinem musikdramatischen Talent und schafft ganz neuen Formen in dieser Gattung. Bulthaupt lässt ihm das nicht durchgehen, indem er den meisten Werken – nicht selten im Vergleich mit Bach und Händel – anlastet, „in ihrer Melodienbildung oftmals ehr zu gefällig als zu groß“ zu sein. Leider entspreche der Kleinheit der Einfälle nicht selten auch ihre harmonische und contrapunktische Behandlung“. Er, Loewe, habe davon nichts wissen wollen, so sein Kritiker, wie er auch gegen das „Zwitterwesen der meisten seiner Oratorien völlig blind war“. Eher ungewollt drang Bulthaupt damit zum Wesen dieser Werke vor: Zumindest steht er Loewe zu, das Gebiet wirklich bereichert zu haben.

Indem er aber „gerade solche Texte bevorzugte, die bühnenmäßig gearbeitet, ohne immer auch musikdramatisch zu sein, der bildnerischen Phantasie eine Tätigkeit zuzumuten, die die musikalischen Eindrücke verwirren und abschwächen musste, verfing er sich zwischen Oratorium und Oper und wurde weder dem einen noch dem anderen völlig gerecht“. Und eben das macht den besonderen Reiz aus. Wäre Bulthaupt zu anderen Schlussfolgerungen gelangt, hätte ihm wie unsereinem Tonträger zur Verfügung gestanden, die in ihrer Vielfalt und sinnstiftenden Wiederholbarkeit andere Eindrücke vermitteln wie vielleicht nur einmalige Aufführungen in Konzertsälen oder das trockene Studium von Noten?

Der deutsche Maler Eberhard von Wächter (Eberhard Georg Friedrich von Wächter, 1762–1852) zählt zu den herausragenden Malern des deutschen Klassizismus. Als sein Hauptwerk gilt heute das Ölbild „Hiob und seine Freunde“ (Hiob 2:11-13). Das Werk von Wächters entstand zwischen 1793 und 1824 und ist in der Staatsgalerie Stuttgart zu sehen /GB

Und die Sänger der Zeit dürften wenig Gelegenheit gehabt haben, Erfahrungen für das typische Mischwesen der Stücke zu erwerben wie das dem Ensemble der Neuerscheinung geben ist. Ein Wiederhören gibt es mit Monika Mauch (Sopran), Ulrike Malotta (Alt), Georg Poplutz (Tenor) und Dominik Wörner (Bass), die inzwischen als Spezialisten für Lowes große Chorwerke gelten können. Sie sind nicht auf die solistische Einzelleistung aus sondern fügen sich mit Disziplin und gegenseitigem Respekt ins Ganze. Wohl hört man die einzelnen Stimmen heraus, erkennt sie an ihm Timbre, nimmt sie letztlich aber als Ensemble wahr.

Thomas Gropper widmet sich in seinem analytischen Booklet-Text dem Werk in seiner Gesamtheit, geht aber auf viele einzelne Nummern und Beispiele ein, was es dem Hörpublikum leicht machen, zu folgen und sich ein eigenes Bild zu machen. Dass Loewe seine Tradition kannte und beherrschte, sei in Hiob vielfach spürbar: alter Stil mit kirchentonalen Wendungen („in modo phrygico et hypophrygico“) in Nr. 11b „Und zu mir kommen ist ein heimlich Wort“; Turbachöre wie Spottchöre aus einer Passion in Nr. 12c „Sieh da, des Heuchlers Los“ mit gehässiger Häme über den geschlagenen Hiob; feierlicher – sogar solistisch gedachter – a cappella-Gesang wie in Nr. 14b „Gib ihm dein Herz“ oder Nr. 20 „Siehe, wir preisen selig“; die gewaltige Doppelfuge im Schlusschor Nr. 21 „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken“. Daneben stünden sehr romantisch-liedhaft empfundene Stellen wie das Ende des ersten Teils „Was betrübst du dich“ in pochendem Sechsachteltakt, von der Soloarie zum Chorsatz gesteigert, oder die große Gewitter-Szene Nr. 17 „Hört ihr seine Stimme“ mit dem kraftvollen „Heilig ist Gott der Herr“. Nicht nur hier werde der kundige Hörer Tonfall und Farben Mendelssohn Bartholdys assoziieren, etwa ganz konkret das große „Heilig, heilig“ aus Elias. Daneben zeige sich (nicht nur in Hiob) immer wieder eine an der deutschen Spieloper geschulte Kunst, leichtgewichtige volksliedartige Genre-Szenen zu formen, etwa „Wach sind, wir, wach zum Streit“ (2b), um die Welt der Hirten zu zeichnen oder die Abendhyme Nr. 9b „Freundestrost, o deine Süße“, die sich zu Beginn des zweiten Teiles vom solistischen Terzett zum vollen Chor weite, um das Zusammenkommen der Freunde Hiobs zu vertonen, so Gropper.

Zu Loewes „Hiob“: William Blake malte diese Illustration zum Buch Hiob 1825/Wikipedia

Dass der Komponist höchst gekonnt und charakterisierend für solistische Stimmen schreiben konnte, erweise sich zum Beispiel in der virtuosen Sopranarie am Ende des ersten Teils „Mag Satans Neid sich auch empören“, wo Loewe auch ausnahmsweise einmal in Melismen und triolische Koloraturen übergehe oder in der Tenorarie „Und siehe da, wie die Natur“, wo ebenfalls virtuose Anforderungen und exponierte Höhen dazu kämen. „Loewe bleibt auch hier fast durchweg bei einer klar dem Text und seiner Deklamation verpflichteten kompositorischen Faktur.“ Von karg begleiteter Deklamation, von innigen, zarten, lyrisch-meditativen Rezitativen bis zur gewaltigen opernhaften Steigerung in der Abendhymne oder der gewaltigen Steigerung des Finales: Loewe koste seine formale, vokale und orchestrale Farbpalette aus und treffe stets den richtigen „Ton“ die Affekte und Stimmungen organisch zu zeichnen und zu entwickeln. Nach Angaben von Gropper schuf Textdichter Telschow für das „Oratorium eine verdichtete Zusammenfassung des mit 42 Kapiteln umfangreichen Buches Hiob aus den Lehrbüchern und Psalmen des Alten Testaments, in die die wichtigsten Entwicklungen und Kerngedanken eingearbeitet sind“. Der erste Teil führe das glückliche und gottgefällige Leben Hiobs vor Augen, enthalte aber auch die Auseinandersetzung Gottes mit Satan und den „Pakt“ beider Seiten, der zu harten Prüfungen Hiobs führe. Der zweite Teil bringe das Erscheinen der Freunde Eliphas von Theman, Zophar von Naema und Bildad von Suah, später trete noch Elihu hinzu. „Gerade hier gelang Telschow eine geschickte Komprimierung, denn die Reden und Gegenreden der Freunde und Hiobs nehmen in der Bibel viel Raum ein. Der Disput läuft auf die zentrale Auseinandersetzung zu: Während die Freunde argwöhnen, ein so anhaltend und hart geprüfter Mensch wie Hiob müsse doch irgendeine Art von Schuld auf sich geladen haben, sonst wären diese Schicksalsschläge nicht erklärbar, bleibt Hiob andererseits bei seinem Bekenntnis der Schuldlosigkeit und der Bekräftigung seines Glaubens.“ Im dritten Teil werde Hiob durch Intervention Gottes sein einstiges glückliches Leben zurückgegeben. Hier zeige sich das alttestamentliche Denken, dass irdisches Glück und Wohlergehen Ausdruck eines gottgefälligen Lebenswandels seien – und wiederholte harte Schicksalsschläge, Unglücksfälle und Leiden eben Strafen Gottes sein müssten. Nicht nur die Freunde hätten das verinnerlicht, auch Hiob denke in diesem Zusammenhang. „Die Frage, warum Gott ausgerechnet seinen treuen Hiob so prüft und leiden lässt, bleibt offen …“

Alte Postkarte mit dem Car-Loewe-Denkmal in Stettin/Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Günther Uecker, Schwerin | Digitalisierung: Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Günther Uecker, Schwerin/Deutsche Digitale Bibliothek

Die Uraufführung fand 1848 in Stettin statt. Sieben Jahre später ist Aufführung mit der Berliner Singakademie unter Leitung Carl Loewes belegt. „Erste Rezensionen loben die Textfassung Telschows und erkennen den eigen geprägten Weg Loewes an, der durchaus ein Mittelding zwischen Oper und Oratorium anstrebte und ja auch Elemente beider Gattungen eingewoben hatte“, weiß Gropper. Von der „Neue Berliner Musikzeitung“ sei Loewe im September 1855 für „in der Kunst, den Gegenstand in allen Einzelheiten zu individualisieren“ gelobt worden. Der Dirigent Hans von Bülow habe offenbar weniger davon gehalten und gegen die Aufführung „unverdiente Strafe“ polemisiert. Während Hardenbergs Oratorienführer nach Angaben von Gropper noch 1999 konstatierte habe, das Werk sei verschollen, „machte man sich in Greifswald im gleichen Jahr an eine Rekonstruktion der Partitur durch die Instrumentalstimmen (Jochen A. Modeß)“. Aus dem Stadtarchiv von Unkel sei ein Klavierauszug gekommen, aus dem Stadtarchiv in Halle originales Stimmenmaterial von 1848/49. Tatkräftig mitgeholfen habe die Internationale Carl- Loewe-Gesellschaft Löbejün. Gropper: „Die Kantorei der Schlosskirche in Bad Dürkheim unter Führung von KMD Jürgen E. Müller ging ab 2001, intensiv dann ab 2004 an das Projekt, das Material zu sichten und modern einzurichten. Im März 2005 kam Hiob dort zur Aufführung, es folgten vereinzelte weitere Konzerte in Hanau, Münster und Zürich.“ Eine neue Aufführung mit einigen Korrekturen am Material gehe auf die Initiative von Clemens Flämig mit dem Stadtsingechor Halle (wo Loewe einst selbst mitgesungen hatte) wiederum mit Unterstützung der Loewe-Gesellschaft zurück. Rüdiger Winter

 

 

 

Sonnig bis neblig

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Welcher im italienischen Fach reüssierende Tenor möchte auf eine Aufnahme neapolitanischer Lieder verzichten und seine Stimme nicht mit Sole mio, Funiculi und Cor `Ngrato verewigt sehen und hören, obwohl einiger Mut dazu gehört, sich mit Giuseppe Di Stefano, José Carreras oder Luciano Pavarotti zu messen. Da muss manchmal auch ein hoch gestecktes Ziel dafür herhalten, sich der Konkurrenz zu stellen, so wenn der samoanische Tenor Pene Pati durch den Mund seines Begleiters Antonello Paliotti erklärt: „Unser Ziel besteht darin, die kultivierten Elemente hervorzuheben, die bereits in den gesungenen Stücken vorhanden sind…..mit Verweisen auf Debussy, Ravel usw., während in den Instrumentalstücken die Verweise auf die mündliche Überlieferung mit unregelmäßiger Formstruktur, den frenetischen Rhythmen, den harten und dissonanten Melodien, die typisch für die Popkultur und insbesondere für die neapolitanische Tradition sind, deutlicher hervortreten.“

Wichtiger dürfte allerdings erst einmal sein, über die stimmlichen Mittel und das Einfühlungsvermögen in eine fremde Kultur zu verfügen, über welche Voraussetzungen der Tenor, wenn man seine bisher in USA und Europa sehr erfolgreich verlaufene Karriere betrachtet, zu verfügen scheint. Neben vielen anderen Preisen gewann er den der Operalia von 2015 und von Cardiff, er wurde von Dennis O’Neill und Kiri Te Kanawa gefördert, hatte bereits in Neuseeland mit seinem ebenfalls als Tenor erfolgreichen Bruder Amitai Pati und seinem Cousin  als Teil eines Trios auf sich aufmerksam gemacht. 2024 erschien eine CD mit dem ebenfalls den Hang zum Populären offenbarenden Titel Nessun dorma.

Ausgerechnet im einleitenden O sole mio überrascht der Tenor mit einem gar nicht strahlenden, sehr verhangen wirkenden Timbre, als hätte sich eine Nebelbank auf die Stimmbänder gelegt, manches ist fast gehaucht, klingt tränenschwer, es fehlt jeder Glanz und auch das Volkstümliche, Spontane, während die sehr raffiniert instrumentierte Begleitung in den Vordergrund tritt.

In abgeschwächter Form muss man das auch über Costas Napolitanata sagen, auch wenn die Stimme klarer erscheint, während in Di Capuas Maria Mari zwar im Text nur eine Gitarre erwähnt wird, das Orchester Il Pomo d’Oro (also keinesfalls Pomodoro) unter Antonello Paliotti stark in den Vordergrund tritt.

Dieses erfreut mit vom Dirigenten, aber auch von Paolo Tosti stammenden Stücken wie Tarantellen oder Romance und zeigt sich angenehm flink, straff und verspielt.

Gefallen kann auch das populäre A Marechiare, das temperamentvoll dargeboten und von einem schönen Spitzenton gekrönt wird, während man in Silenzio cantatone zu schätzen weiß, wie einfühlsam sich die Begleitung gibt. Im Funiculi, funiculà gibt Pene Pati noch einmal alles, und das mit Gewinn (Warner classics 5021732727800). Ingrid Wanja       

Doris Soffel

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Die Berliner Kultursenatorin Sarah Wedl-Wilson überreichte der Opernsängerin und Kammersängerin Doris Soffel heute den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland – als Anerkennung für ihr außergewöhnliches Lebenswerk und ihren herausragenden Beitrag zur deutschen und internationalen Opernkunst .

Sarah Wedl-Wilson: „Über viele Jahrzehnte hat Doris Soffel nicht nur ein Weltpublikum berührt, sondern als Botschafterin der Musik Generationen junger Künstler:innen inspiriert und ermutigt.“

Geboren 1948 in Hechingen, begann Doris Soffel ihre Karriere 1973 an der Staatsoper Stuttgart und feierte 1982 ihren internationalen Durchbruch am Royal Opera House Covent Garden in London. Schnell entwickelte sie sich zu einer der führenden Mezzosopranistinnen ihrer Generation. Nach frühen Erfolgen im Belcanto-Repertoire prägte sie später die großen dramatischen Rollen von Richard Wagner und Richard Strauss, darunter Fricka, Kundry und Klytämnestra. 2007 wurde sie von der Oper Köln als erste Sängerin des Hauses zur Kammersängerin ernannt. Doch auch Uraufführungen zeitgenössischer Komponisten wie Aribert Reimann und Krzysztof Penderecki gehören zu ihrem vielfältigen Repertoire.

Unter den Gästen auch Vertreter:innen aus Kultur, Politik und Musikleben, wie u. a. ihre Exzellenz Botschafterin Veronika Wand-Danielsson (Botschafterin von Schweden) Botschafter a. D. Dr. h.c. Karl-Erik Norrman (Schwedische Botschaft und Generalsekretär des Europäischen Kulturparlaments), Dietmar Schwarz (Intendant bis zur Spielzeit 2024/25), Andreas Massow (designierter Operndirektor ab 2026/27) und Uwe Steinkamp (Geschäftsführer Bühnenverein). (Deutsche Oper Berlin/Foto Soffel))

VERDIS „DON CARLOS“

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Don Carlos als Sujet für eine Oper war Verdi bereits 1850 zum ersten Mal vom Direktorium der Pariser Oper vorgeschlagen worden und zwar im Lauf jenerVerhandlungen, die schließlich zu Les Vêpres siciliennes führten. Schiller lag – ebensowie Shakespeare – Verdi sehr am Herzen; er hielt das Stück für ein „großartiges Drama,dem es aber vielleicht doch an Theaterwirkung fehlt“. 1864, als man ernsthaft wegen einer französischen Fassung von La Forza del Destino und einer weiteren neuen Oper zu verhandeln begann, teilte Verdi dem Direktorium der Oper brüsk mit: „Wenn ich eines Tages für die Opéra etwas komponieren sollte, dann nur auf der Basis einerTextvorlage, die mich vollkommen zufriedenstellt und die, vor allem, einen starken Eindruck auf mich macht“. Mit Don Carlos hatte er ein Sujet gefunden, das seinen Wünschen entsprach.

Verdis „Don Carlos“ 1867: Plakat für die Uraufführung/Wikipedia

Die Librettisten Joseph Pierre Mory und Camille du Locle ergänzten das Stück Schillers mit einer Einleitungsszene in Fontainebleau und der Erscheinung Karls V. am Ende der Oper, was Verdi billigte. Er selbst schlug vor, es sollten wie bei Schiller eine Szene zwischen Philipp und dem Großinquisitor geben, der „blind und sehr alt“ sein müsse, sowie ein Duett zwischen Philipp und Posa. Ferner fügte man – bei Schiller ist das nur angedeutet – eine Autodafé-Szene ein, an der die Zensur heftig Anstoß nahm: Wie konnte ein christlicher Herrscher umgeben von Mönchen und Henkersknechten ausrufen „Maintenant á la fête!“, seine Gemahlin zur Tribüne geleiten und ungerührt die Qualen seiner Untertanen mitansehen?

Im Hinblick auf die zahlreichen Änderungen des Schillerschen Dramas verwundert es, dass Verdi ausgerechnet jenen Eingriff billigte, der das Textgefüge ganz wesentlich beeinträchtigte: die Erscheinung Karls V. am Ende der Oper. Bei Schiller dient die Legende von der Erscheinung Karls V. als Vorwand, die Königin als Mönch verkleidet um Mitternacht aufzusuchen. Beis seinem Anblick fliehen die Wachen entsetzt. Das Stück endet auch bei Schiller tragisch: Der König liefert seinen Sohn dem Großinquisitor mit den Worten aus: „Kardinal ich habe das Meinige getan.Tun Sie das Ihrige.“

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Vorlage und Komponist: Friedrich Schiller und Giuseppe Verdi/Abram

Mitte März 1866 lag Verdi das vollständigeLibretto vor. Er war damit einverstanden und kehrte sofort nach Sant‘Agata zurück. Die Komposition ging ihm erstaunlich leicht von der Hand. Bereits im März entstand der 1. Akt, im April kam er allerdings wegen ständiger Halsbeschwerden kaum voran, im Mai war der 2. Akt vollendet und im Juni lag der 3. Akt vor. Am 23. Juli traf Verdi mit drei Akten für die Kopisten in Paris ein; der 4. Akt war fast abgeschlossen. Den 5. Akt komponierte Verdi in Cauterets, einem Heilbad in den Pyrenäen. Am 10. Dezember war die Instrumentierung mit Ausnahme der Balletteinlage vollendet.

Die erste von insgesamt 133 (!) Proben fand am 11. August1866 statt, die erste Chorprobe am 20. August und die ersten Orchesterprobe am 12. Januar 1867. Die Hauptproben begannen am 24. Februar, in deren Verlauf eine Reihe von Strichen erzwungen wurde, die Verdi niemals sich und der Opéra verzeihen konnte und würde. Die erste Hauptprobe dauerte drei Stunden und siebenundvierzig Minuten ohnePause – siebzehn Minuten länger als Meyerbeer Africaine. Mit den vorgesehenen Pausen hätte die Gesamtdauer fünf Stunden und dreizehn Minuten betragen. Auf der Probe am 9. März (zwei Tage vor der Premiere) wurde die Spieldauer um neunzehn Minuten gekürzt. Da die Dauer einer Aufführung an der Opéra vorgeschrieben war (angeblich auch, um den Besuchern die Rückkehr per Vorortzüge zu ermöglichen), wurden nach der Premiere am 11. März erneute Kürzungen gefordert, nach der zweiten Aufführungam 13. März weitere Striche. Dem beklagenswerten Verdi mag jeder Protest zwecklos erschienen sein, da selbst Meyerbeer sich den strengen Regeln der Direktion hatte unterwerfen müssen.

Verdis „Don Carlos“ 1867: Illustration zur Uraufführung/BNF Gallica

Dazu auch ein Auszug aus einem Artikel des Korrespondenten derMailänder Gazetta Musicale: „Alle diese Bedenken oder eher Abhängigkeiten, wennn icht sklavische Zwänge, haben den Komponisten veranlasst, ja geradezu gezwungen die Dauer der Musik um eine Viertelstunde zu kürzen. Die größten Mühen bereitete es herauszufinden, wo man Striche anbringen konnte. Alles war auf theatralische Wirkung und die Erfordernisse des Musikdramas berechnet. Ein Duett zwischen Mme. Sasse und Mme. Gueymard (. ..) war bereits geopfert worden. Was sollte man nun herausschneiden außer einen Takt hier, einige dort. Genau das ist aber die undankbare Aufgabe vor der Verdi in dem Augenblick, da ich schreibe steht. Eine traurige Notwendigkeit, die Einheitdes Werkes so kindischen Überlegungen zu opfern! ( …)“

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Verdis „Don Carlos“ 1867: Illustration zur Uraufführung/BNF Gallica

Nun also zu den sieben Fassungen für Don Carlo/s: ein kurzer Überblick über die sieben unter Verdis Aufsicht entstandenen Fassungen: (1) Die vollständige 1866 geprobte und imHandlungsabriss enthaltene Fassung. (2) Die Fassung der Hauptprobe vom 24. Februar1867. (3) Die Fassung der Premiere am 11. März 1867. Darin enthalten das von Ursula Günther sapäter wieder entdeckte „Lacrymosa“ (i.e. ein SoloPhilipps im vierten Akt, das sich später im „Requiem“ wiederfindet); natürlich auch A3 die Eingangsszene/Manteltausch und das ganze Ballett nach dem Autodafé, „La Peregrina“ – ein der Tradition der Opéraverpflichtetes, aber für das Drama ungemein notwendiges Handlungsballett, das eine Huldigung auf Elisabeth darstellt, vor der sich die Königin zurückzieht und ihr Kostüm/Mantel mit Kapuze der Eboli überlässt, die im Mantel dann den Brief von Carlo san Elisabeth findet (den dieser Thibault zugesteckt hatte). In der Erstaufführung gab es auch im Fontainbleau-Bild den Holzfällerchor und Szene mit Elisabeth vor dem Auftritt Carlos´ im 1. Bild, das erweiterte Duett Posa-Carlos in der San-Just-Szene, das Duett Philipp-Posa im 2. Akt, das Duettino Elisabeth-Eboli im 4. Akt vor deren „Don fatal“ und viele weitere Details darunter die Tatsache, dass es Graf Lerma/Tenor ist, der Eboli vor deren großer Arie das Verdikt der Königin für Exiloder Kloster überbringt. Eboli tritt auch noch einmal in der vorletzten Szene auf, heizt den Volksaufstand an und hilft Carlos zur Flucht. (4) Die Fassung der zweiten Vorstellung am 13.März 1867. In dieser Fassung endet der 4.Akt unmittelbar nach Posas Tod.

Verdis „Don Carlos“: Illustration Victrola Book of Opera/TNF

(5) Die italienische Fassung (in der Übersetzung von A. de Lauzieres und später in Zusatzteilen von 1872 von A. Ghislanzoni) in Neapel.Bis auf zwei Ausnahmen ist diese Fassung identisch mit Fassung 4. (6) Die überarbeitete vieraktige Fassung von1882/83 (Mailand). Verdi strich mehr als die Hälfte der ursprünglichen Oper, und zwar: 1. Akt, das Duett Don Carlo-Rodrigo und das Duett Filippo-Rodrigo des 2. Akts, die erste Szene des 3. Akts mit dem anschließenden Ballett, einen großen Teil derSzene Filippo-Elisabetta des 4. Akts mit dem folgenden Quartett,einen Teil der anschließenden Szene Elisabetta- Eboli (Duett vorallem), das Finale nach dem Tod Posas (von Ebolis Auftritt ganz zuschweigen) und schließlich des 5. Akts, den Schluß ab dem Duett Elisabetta-Carlo. Stattdessen wurden sieben neue Passagen eingefügt, die insgesamt 268 handgeschriebene Seiten ergeben. (7) Die fünfaktige Fassung ohne Balletteinlage von (1886 Modena). Mit dieser Fassungerreichte Verdi offenbar sein Ziel, die Fontainebleau-Szene wiederaufzunehmen, die ermit Fassung 6 verband. Aber: Verdis ursprüngliche Fassung des Don Carlos erreicht eineEinheit von künstlerischer Form und Absicht, die den späteren Bearbeitungen fehlt.

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Verdis „Don Carlos“ 1867: Jean Morère sang den ersten Titelhelden  (Photo by Eugene de Paris/Ipernity)

Die dramaturgische Wirkung: Verdis Auffassung, die später vieraktige Fassung sei präziser, mag durchaus zutreffen; dennoch bleibt der Einwand, dass die dramatische Handlung durch die Kürzungen unklarer, undurchsichtiger erscheint und dem Publikum die Glaubenslast auferlegt. Ohne die einleitende Szene des 1. Akts könnte man verwundert fragen, was denn Carlos eigentlich in Frankreich sucht und warum Elisabeth ein so wichtiges politisches Pfandist. Und der Auftritt der verarmten Holzfäller bekräftigt Elisabeths Entschluß, sich mit der Heirat mit Philipp (!) für den Frieden zu opfern, nachdem sie ihre Mildtätigkeit in Formdes Geschenkes ihrer goldenen Kette an eine arme Alte („Ma mère, voici ma chaine d’or“) gezeigt hat. Die tiefe Übereinstimmung zwischen Philipp und Posa wird unverständlich, wenn deren Duett im zweiten Teil des 2. Akt sentfällt. Wird die erste Szene des zweiten Teils von Akt 3 (mit Ballett) gestrichen, fällt es schwer zuglauben, Carlos verwechsle Elisabeth mit Eboli (im Original tauschen sie ja nicht nur die Masken, sondern auch die Kapuzenmäntel). Die Beziehung Philipp-Posa und Philipps Unmut gegen die Kirche werden unklar, wenn das Duett zwischen Carlos und seinem Vater (und dessen anrührende Passage, das sogenannte“ Lacrymosa“ (wieder entdeckt von Ursula Günther erst in den Siebzigern) nachder Ermordung Posas entfällt. Streicht man die zweite Szene des 4. Aktes, haben die Worte der Eboli (am Ende von „O dôn fatal“/“Un jour reste“/“Jele sauverais!“) keinen Sinn. Der Schluss der Oper, der zwar schwächer ist als in Schillers Original, wird immerhin durch den Chor, der die Worte der Verdammung singenden Mitglieder der Inquisition, aufgewertet und ist eine eindrucksvolle Bestätigung der ungebrochenen Vormacht der Kirche, die Verdi aus vielen persönlichen Gründen verachtete und bekämpfte. Hier wird eine ganz andere Wirkung erzielt als in dem uns vertrauten (?) Drama Schillers. In dem Maße, in dem die praktischen Erwägungen die Verwirklichung von Verdis grandioser Vision berührten, wirken sie sich auch auf den geistigen Rahmen und die Gefühlswelt des Werkes aus.

Verdis „Don Carlos“ 1867: Marie Sass war die erste Elisabeth (Jules Williaume/Ipernity)

Die Wiederaufnahme der originalen Passagen trägt wesentlich dazu bei, die ursprünglichen Intentionen Verdis zu erfüllen. Und damit stellt sich Don Carlos als eine erz-französische Oper heraus, die in vieler Hinsicht dem Vorläufer Meyerbeer verpflichtet ist.

Don Carlos bleibt Verdis ehrgeizigstes Werk, in dem sich sein theatralisches Gespür fürdie Darstellung von Menschen in Grenzsituationen mit dem Prunk der Grand-Opéra verbindet. In Don Carlos findet Verdis Lebens-Pessimismus wie auch seine Überzeugung, das Individuum müsse unermüdlich für das kämpfen, was ihm wichtig erschiene, ihren vollkommensten Ausdruck. 

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Verbreitung: Die Oper wurde am 11. März 1867 an der Pariser Opéra (damals dasThéâtre Imperial de l´Opéra/Salle Pelletier) aufgeführt, in den Hauptrollen sangen MarieSasse/Elisabeth, Jean Morère/Carlos, Pauline Gueymard-Lauters/Eboli, Louis-HenriObin/Philippe. Die sehr unterschiedliche Lage der Eboli (Schleierlied und „Dôn fatal“)erklärt sich aus der ursprünglichen Besetzung der Partie mit der Sopranistin Bloch, die dann im Laufe der Proben durch die Mezzo-Sopranistin Gueymard ersetzt wurde. DasWerk hielt sich bis 1937 im Repertoire der Opéra, der Zustand des Notenmaterials lässt allerdings ein originales Weiterleben stark bezweifeln, und beim französischenRundfunk wie auch in der Provinz gab man gerne (und perverserweise) die italienischeVieraktfassung in dem zurück übersetzen französischen Text. 1986 gab es die originale Oper unter Prêtre mit Cortrubas/Lagrange etc in der Salle Garnie (s. unten). Erst 2017 dann erschien Don Carlos mehr oder weniger Komplette (Ballett, Duettiono und anderes Fehlten) wieder an der Pariser Opéra (Bastille) mit Kaufmann, Yoncheva, Garanca, Tézier und Abdrazakov in den Hauptrollen unter Philippe Jordan. Aber es gab auch andernorts Wiederbelebungen der Originalversion, son in Büssel und London (Alagna), London (Efstatieva, Allen), Wien (Kaufmann) und viele mehr. Meist ohne Ballett und Eingangsszene Akt 3.

In den italienischen Fassungen, namentlich der Vierakt-Kurzfassung, verbreitete sich das Werk schnell, vor allem auch in den nationalsprachigen Übersetzungen. Nach einer folgenlosen Präsentation 1961 beim RTF Paris (immerhin Vanzo) gab es Wiederbegegnungen in der Salle Garnier 1963 (Chauvet, Sarrocca) und in dichter Folge Aufführungen von 1964 bis 1975, wobei die Versionen kaum zu klären sind und defintitiv nicht die originale 5-Aktfassung gegeben wurde. Geerd Heinsen

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Seit Erstellen des Erstartikels 2017 sind weitere „offizielle“ Aufnahmen der Originalversion zu verzeichnen. Auf die wirkliche Pionierleistung der BBC 1986, das Konzert unter John Matheson eingespielt zu haben, wurde bereits hingewiesen. Diese Version ist bis heute eigentlich immer noch die überzeugendste. Die Sänger sind ein bestes und gutes Mittel-Klasse-Team (vielleicht der Tenor André Turp etwas Blass, aber die Damen Edith Trembley und Michelle Vilma hervorragend, die Herren Robert Savoie und Joseph Rouleau ebenfalls und mehr als das). Glücklicherweise hat Opera Rara dies übernommen und luxuriös ausgestattet herausgegeben.

Die ebenfalls und eigentlich noch bedeutendere, pionierhafte  DG-Aufnahme von 1985 unter Claudio Abbado leidet an der italienisch-sprachigen Besetzung. Katia Ricciarelli und Lucia Valentini-Terrani sind einfach vom Timbre, Diktion und Stimmduktus falsch, Placido Domingo lässt seinen wie stets anonym-instant-engagierten Tenor-Zauberkasten hören, und Piero Cappuccilli ist auch nicht der französischste aller Marquis de Posa. Aber Abbado widmet sich im angehängten Appendix (der damaligen LPs und späteren CDs) doch den bis dahin nicht allgemein bekannten Details wie Ballett, Fountainebleau und anderem mehr, auch dem frisch entdeckten  Lacrymosa. Und da die BBC-Aufnahme zu diesem Zeitpunkt nur auf dem grauen Markt zu kaufen war, ist diese die wirklich erste Studio-Einspielung der Originalversion (naja, mehr der weniger – so ganz komplett ist sie nicht). 

Erst 1996 kam dann wieder Leben in  die Landschaft mit der optisch/akustischen Übernahme der Serie in Brüssel mit Roberto Abbado, Thomas Hampson, José van Dam, Karita Mattila und bizzarrer Weise Waltraud Meier unter Antonio Pappano, leider auch stark gekürzt. Die Übernahme nach London 1998 hatte zumindest Martine Dupuy als Eboli, aber die Mattila ist mit ihrem steifen Ton kein Gewinn (EMI/Warner).

Danach kamen Hamburg und Wien in der Konwitschny-Inszenierung (Don Carlos im Ställchen und Eboli am Ofen) mit einiger Verspätung dann bei Orfeo 2004 (Tamar, Michael/huhhhhhhhhh, Vargas, Skovhus, Miles; de Billy). 

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An Radio-Live-Aufnahmen ist plötzlich kein Mangel. Allen voran als meine absolute Favoritin die Londoner Aufführung von 1983 mit Efstatieva,  Budai, Garazzi, Allan und Rouleau unter einem kraftvollen Bernard haiting, bis auf das Ballett selbst absolut komplett (inkl. Lacrymosa) und wirklich sensationell in der Wirkung.  Aus Boston gibt es bereits 1973 eine Originalversion mit Alexander, Vilma,  Trembley und Dooley. Die eigentliche Sensation auf dem europäischen Kontinent waren 1986 die Pariser Aufführungen mit Cotrubas bzw. Langrange, Miltcheva bzw. Denize oder Dupuy, Stilwell bzw. Allen unter Prêtre, komplett mit Ballett in der Salle Garnier (was für ein Erlebnis, ich sah alle Vorstellungen der ersten Serie). San Francisco spielte Don Carlos 1986 mit Lorengar und Samuel Ramey. Ab der Jahrtausendwende dann gab es immer häufiger die Originalversion, so Metz 2003, Wien und Paris 2017 (Kaufmann, Garanca) und 2020, Liege 2020, Chicago 2022,  2018 erneut Paris, 2022 an der Met, und viele mehr bis heute. Grace a Dieu! G. H.

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Edith Trembley/Rudi van der Bulck

Kleiner Bildungs-Zusatz zum Don Carlos aus London 1968 – unser Foto zeigt die Elisabeth/Edith Thremblay, eine bemerkenswerte und für diese Partie ideale Stimme, die mit gleicher Jugendlichkeit und auch Aplomb in Leoncavallos Bohème mit Alain Vanzo (bei Plein vent) gesungen hat und die in Belgien eine kurze Karriere machte. lhre Spur verliert sich im heimischen Kanada. Sie wurde am11. April 1947 in Quebec geboren (unter dem Namen Marie Edith Louise Ginette), studierte ebendort, nahm siegreich an zahlreichen Wettbewerben teil, auch in Frankreich. 1972-74 sang sie in Liège und gab dort das lyrische Repertoire von Mimì bis Giulietta, auch Desdemona. Sie nahm bei der Firma Alpha die Arie aus der Forza und aus der Cavalleria auf. Gelobt wurde sie auch für ihre Butterfly, die sie bei der BBC sang. Sie war die Verdische Elisabeth in Boston bei ihrem US-Debüt 1973. Bei Radio France gab sie auch Menottis „The old maid and the thief“.1975 hörte man sie noch einmal im Verdi-Requiem in der Albert-Hall London, und sie sang die Zweite Priorin in den Carmelites in Tourcoing. 1976 kehrte sie nach Quebec zurück, wo sie gelegentlich in Konzerten des Rundfunkunks zu hören war, so 1985 mit der Nationalhymne anlässlich der Quebec City Hockey Games. (Dank an Rudi van der Bulck für die Foto-Hilfe). G. H

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(Zum Weiterlesen sei hier die Sondernummer der Pariser Musikzeitschrift Avant-Scenes sowie der sehr informative Artikel von Melville Jahn in der Beilage zur LP-Ausgabe bei Voce, der später bei Opera Rara offiziell herausgekommenen BBC-Aufnahme von 1973 zu erwähnen. /G. H.)

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Kaja Borris

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Mit vielen guten Erinnerungen denkt man im Geist Kaja Borris, unvergessene Alt-Stütze der Deutschen Oper Berlin, die am 23. Oktober 2025 verstarb. Sie war in vielen Inszenierungen meiner Studentenzeit unersetzlich, und ich habe sie vor allem als Lucrezia in Pfitzners Palestrina vor Augen, aber auch als Marthe Schwerdtlein, als Mrs. Quckily oder als Amme im Boris Godunow – natürlich auch in vielen kleinen Partien, wo sie weit über den Comprimario-Status Aufmrksamkeit erregte. Wie viele ihrer damaligen Kollegen vom Haus „war“ sie einfach die Deutsche Oper und hielt damit ihren und den hohen Standard des Hauses hoch. Auch mit ihr versinkt das Andenken an eine vergangene Ära.

Im Folgenden zitieren wir wieder einmal das unersetzliche Wikipedia und danken dem Autor. G. H.

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Kaja Borris (* 8. Januar 1939 in Den Haag, als Karen-Isela Borris; † 23. Oktober 2025 in Berlin) war eine deutsch-niederländische Opernsängerin (Mezzosopran/Alt).

Kaja Borris entstammte einer sehr musikalischen Familie. Ihr Vater war der Musikwissenschaftler und Komponist Siegfried Borris, ihre Mutter, Condoo Margarethe Kerdyk, war eine angesehene und geschätzte Sopranistin. Sie absolvierte ihre Schullaufbahn in Berlin, ging dann jedoch, auf Drängen ihrer Eltern, zurück in die Niederlande, um in Den Haag eine Berufsausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu machen. Gleichzeitig nahm sie am Königlichen Konservatorium in Den Haag ein Klavierstudium auf und ließ nebenbei ihre Stimme bei dem niederländischen Bariton Laurens Bogtmann (1900–1969) und der deutschen Altistin Helena Rott (1908–1991) ausbilden. An der Musikhochschule Köln setzte sie ihre Studien bei Helena Rott, die dort inzwischen eine Gesangsprofessur erhalten hatte, und bei Heinz Marten fort. Später studierte sie in Berlin privat bei Wolfgang Schütt und Irmgard Hartmann-Dressler. 1968 war sie Preisträgerin beim Bundeswettbewerb Gesang.

1971 wurde Kaja Borris Mitglied im Opernstudio der Deutschen Oper Berlin.[1][2] Sie debütierte in Berlin mit einer kleinen Rolle in Die Frau ohne Schatten.[4] 1973 wurde sie festes Ensemblemitglied und gehörte dem Haus bis 2002 insgesamt über 30 Jahre lang ohne Unterbrechung an.[1][2] Sie stand insgesamt in über 1.300 Vorstellungen in fast 70 verschiedenen Partien auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin.

Zu ihren Hauptrollen gehörten u. a. Mrs. Quickly in Falstaff, Azucena in Il trovatore, Ulrica in Un ballo in maschera, die Erda im Ring-Zyklus, Geneviève in Pelléas et Mélisande und die Zia Principessa in Suor Angelica.  Meist wurde sie jedoch in mittleren und kleineren Rollen eingesetzt, die sie „voller Leidenschaft und Hingabe vom ersten bis zum letzten Ton“ mit großem schauspielerischem Talent gestaltete. Dazu gehörten u. a. Annina in Der Rosenkavalier, die 3. Dame in Die Zauberflöte, Marthe Schwerdtlein in Faust, die Amme in Boris Godunow, Madelon in Andrea Chénier und Emilia in Otello.

1984 wirkte sie in einer Produktion der Deutschen Oper Berlin in der Uraufführung der Oper Die Gespenstersonate von Aribert Reimann, die im Hebbel-Theater stattfand, in der Rolle der Köchin mit. 1997 sang sie an der Deutschen Oper Berlin die Hexe in Hänsel und Gretel, 1998 die Filipjewna in Eugen Onegin. Zu ihren letzten Rollen an der Deutschen Oper Berlin gehörten die Annina in Der Rosenkavalier (2000), die Mrs. Quickly (2001) und die Filipjewna (2002). 2002 nahm sie in einer Aufführung von Parsifal Abschied von der Bühne.[4]

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1973 trat sie bei den Schwetzinger Festspielen auf. 1982–83 sang sie bei den Salzburger Osterfestspielen die Mary in Der fliegende Holländer unter der Leitung von Herbert von Karajan. Sie gastierte auch an den Staatsopern von Berlin, Wien, München und Hamburg und am Staatstheater Braunschweig. 1995 sang sie an der Staatsoper Berlin die Mrs. Quickly in Falstaff.

Darüber hinaus trat sie als Konzertsängerin auf. In Berlin war sie u. a. mehrfach Solistin in Konzerten mit den Berliner Philharmonikern und mit dem Deutschen Symphonie-Orchester. Im April 1982 wirkte sie im Großen Festspielhaus Salzburg in geistlichen Konzerten mit Werken von Wolfgang Amadeus Mozart und Anton Bruckner unter der musikalischen Leitung von Herbert von Karajan mit.

1978 erhielt Kaja Borris den Daphne-Preis, mit dem die TheaterGemeinde Berlin herausragende Darsteller der Berliner Kulturszene auszeichnet. 2001 wurde sie zur Berliner Kammersängerin ernannt. Nach Beendigung ihrer aktiven Karriere gab Kaja Borris privaten Gesangsunterricht.

Ihre Stimme ist in Gesamtaufnahmen von Der fliegende Holländer (als Mary), Notre Dame von Franz Schmidt (als Die Alte Falourdel), Flammen von Erwin Schulhoff und Der Corregidor von Hugo Wolf zu hören. Kaja Borris starb im Oktober 2025 im Alter von 86 Jahren in ihrer Wahlheimat Berlin (Foto oben: Kaja Borris als Mrs. Quickly/Falstaff/Foto DOB/Kranich/Widmung privat). Wikipedia

Barockes Gemeinschaftswerk

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Über 70 Jahre vor Glucks bekannter Oper Iphigénie en Tauride gab es bereits eine Vertonung des auf Euripides fußenden Stoffes, die ALPHA auf zwei CDs als Weltersteinspielung herausgebracht hat (1106). Sie stammt von Henry Desmarest, der von 1661 bis 1741 lebte. Neben Campra, Marais und Destouches zählte er zu den führenden Komponisten seiner Generation, hatte mit mehreren Tragödien, darunter Didon und Venus et Adonis, bereits beträchtliche Erfolge erzielt. Ab 1695 arbeitete er gemeinsam mit seinem Librettisten Joseph-Francois Duché de Vancy an dem neuen Werk, bis seine Heirat mit einem jungen Mädchen ohne Einwilligung dessen Vaters ihn ins Exil zwang. Die Partitur war unvollendet, gelangte über einen Freund des Komponisten in die Hände von André Campra, der den Librettisten Antoine Danchet zur Mitarbeit hinzuzog. Das finalisierte Werk erlebte 1704 in der Académie Royale de musique seine Uraufführung, zunächst mit nur mäßigem Erfolg. Erst als 1711 Françoise Journet die Titelrolle übernahm, fand es die verdient starke Resonanz.

Die musikalische Substanz der Oper ist vielfältig. Zu hören sind Ouvertüren, Arien, Duette und eine Vielzahl von Tänzen (Sarabande, Marche, Chaconne, Loure, Menuet).

Das auf den Barock spezialisierte Ensemble Le Concert Spirituel musiziert das reizvolle Werk unter Hervé Niquet mit lebhaftem Duktus, vermittelt einen nachhaltigen Hörgenuss. Véronique Gens, eine Tragödin von hohen Graden, füllt die Titelpartie mit Stilempfinden, Engagement und Emphase aus.  Auch der Tenor/Haute-Contre Reinoud Van Mechelen ist ein Fels in der barocken Landschaft. Sein Pylade imponiert mit kultiviertem Gesang. Thomas Dolié als Oreste singt mit bassbaritonaler Resonanz. Vielbeschäftigt in den Aufnahmen des Labels (wie auch bei Château de Versailles) ist der französische Bariton David Witczak, dessen Thoas durch die energische Tongebung seiner klangvollen Stimme beeindruckt. Im Prologue wird auf der Insel Délos der Geburtstag der Göttin Diane gefeiert, die von der Mezzosopranistin Floriane Hasler solide gesungen wird. Pylades Schwester Électre ist die Sopranistin Olivia Doray mit warmer, angenehmer Stimme.

Die Einspielung, welche im Januar 2024 im französischen Puteaux entstand, ist eine interessante und willkommene Alternative zu Glucks bekanntem Werk (17. 10. 25). Bernd  Hoppe                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              

Eine Turquerie im Hoftheater

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Gelegentlich veröffentlicht das Label Château de VERSAILLES neben seinem reichen CD-Ausstoß auch Produktionen auf DVD. Jüngstes Beispiel ist die Aufführung von André Grétrys La Caravane du Caire aus dem Hoftheater von Versailles vom Juni 2023 – und fügt den reichlich vorhandnenen früheren Aufnahmen eine weitere hinzu. Das Opéra-ballet wurde 1783 auf Schloss Fontainebleau uraufgeführt und fand ein Jahr später auch den Beifall des Pariser Publikums. Die Turquerie folgt wie Mozarts Entführung ganz dem Zeitgeschmack, der orientalische Stoffe favorisierte. Die Handlung kreist um ein von Sklavenhändlern verschlepptes Liebespaar und dessen glückliche Rettung. Marshall Pynkowski inszeniert stilvoll im prachtvollen Dekor von Antoine Fontaine mit den luxuriösen Kostümen von Camille Assaf. Gemäß der barocken Tradition wird das Geschehen vielfach von Ballettszenen unterbrochen. welche Jeannette Lajeunesse Zingg im klassischen Stil choreografiert hat. Sie bezieht auch die Gesangssolisten in den Tanz ein, was besonders der Tenor Enguerrand de Hys als Eunuch Tamorin glänzend meistert. Auch gesanglich überzeugt er mit charaktervoller Stimme und glanzvollen Spitzentönen.

Das zentrale Paar geben Hélène Guilmette als Zélime und Pierre Derhet als Saint-Phar, die am Ende glücklich vereint sind. Gleich zu Beginn vereinen sie ihre Stimmen im Duo „Malgré la fortune cruelle“ – sie mit energischem Sopran und er mit jugendlich schmachtendem Tenor. Beeindruckend trumpft dieser am Ende des 2. Aktes in „Vas, vas, cruel“ auf. Der französische Bariton Jean-Gabriel Saint-Martin gefällt mit markig-auftrumpfender Stimme in der Doppelrolle des Sklavenhändlers Husca und französischen Kapitäns Florestan. Letzterer hat im 3. Akt eine heroische Ariette, „Ah! si pour la patrie“, in welcher der Sänger sein reiches Potential ausstellen kann. Der kanadische Bassbariton Robert Gleadow imponiert mit Nachdruck als Osman Pacha. Die französische Sopranistin Marie Perbost ist die Sultanin Almaide mit melancholischem Klang. In der Ariette „Je souffirais qu´une rivale“ im 3. Akt verkündigt sie aber auch entschlossen, ihren Rang zu verteidigen. Die drei Sklavinnen überzeugen in ihrem Auftritt eher durch Koketterie als stimmlichen Wohllaut: Lili Aymonino als Francaise, Chantal Santon Jeffery als Italienne und Lucie Edel als Allemande.

Die Musik vereint Elemente des französischen Barock mit dem kantablen Stil der italienischen Oper. Mit dem Ensemble Le Concert Spirituel wird Hervé Niquet diesem Anspruch souverän gerecht, sorgt für ein lebendiges Klangbild mit vielen orchestralen Finessen. Die aufwändige Ausgabe mit DVD und Blu-ray sowie einem umfangreichen Booklet, welches den Text in drei Sprachen präsentiert, ist ein Tipp für den Gabentisch (CVS114). Bernd Hoppe

Zuwachs im Vivaldi-Regal

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Konsequent bemüht sich das Label naïve um die Komplettierung seines Vivaldi-Kataloges. Die Edition Opere Teatrali hat es in zwischen auf beachtliche 73 Ausgaben gebracht. Neueste Veröffentlichung ist die Serenata von 1725 La Gloria e Imeneo, welche für die Hochzeit von König Ludwig XV. mit der polnischen Prinzessin Maria Leszczynska in Venedig komponiert wurde. Die allegorischen Titelfiguren Gloria, der Ruhm, und Imeneo, Gott der Ehe, wetteifern in mehreren Arien um die Lobpreisung des Königspaares, gipfelnd in einem gemeinsamen Duett am Ende. Das Stück ist eine von drei erhaltenen Serenaden Vivaldis (neben der Serenata a tre, die auf diesen Seiten bereits besprochen wurde, und der Sena festeggiante), allerdings sind das Frontispiz der Partitur mit dem Titel und die eröffnende Sinfonia verloren gegangen. Aus diesem Grund wurden die beiden Protagonisten als Titel und das Concerto RV 138 als Sinfonia eingesetzt.

Die Aufnahme mit dem Abchordis Ensemble unter Leitung von Andrea Buccarella entstand im November 2024 in Basel und wurde auf einer CD mit mehrsprachigem Booklet veröffentlicht (OP8877). Das Orchester sorgt mit dem Allegro des dreisätzigen Concerto für einen rasanten Auftakt, weiß auch wirkungsvoll zu differenzieren mit dem mittleren Adagio, welches träumerisch-schwebend erklingt und dann von einem wirbelnden Allegro abgelöst wird.

Zwei Interpreten von Rang garantieren das vokal hohe Niveau der Einspielung. Die italienische Mezzosopranistin Teresa Iervolino, Salzburg und Pesaro erprobt, singt die für eine Altstimme komponierte Partie der Gloria. Möglicherweise wurde sie bei der Uraufführung von einem Kastraten gesungen, wie auch der für Sopran notierte Imeneo. Ihn nimmt der italienische Countertenor Carlo Vistoli wahr, der kürzlich beim Festival Bayreuth Baroque erfolgreich war. Gloria fällt mit „Alle amene“ die erste Arie zu – ein bedächtiges Stück, in welchem die Mezzosopranistin ihre reizvoll androgyn getönte Stimme effektvoll einsetzt. Es folgt das stampfende „Questo nodo“, in dem die Stimme noch maskulin-harscher klingt. Im feierlich-getragenen „Al seren d´amica calma“ besitzt sie dagegen feminine Anmut.

Imeneos erstes Solo ist „Tenero fanciulletto“ und Vistoli kann in dieser aufgewühlten Nummer nicht nur sein dramatisches Empfinden, sondern auch die Sinnlichkeit und Virtuosität seines Countertenors ausstellen. Reizvoll beschwingt ist „Scherzeran sempre“, wo der Sänger die Stimme geradezu hüpfen und tirilieren lässt. Betörend und zärtlich klingt sie in dem wiegenden „Care pupille“.

Das erste von zwei Duetten, das hurtige „Vedrò sempre la pace“, führt die beiden Stimmen in perfekter Verblendung zusammen, und auch der finale Zwiegesang, „In braccio de´ contenti“, ist in seinem Schwung und dem kunstvollen Vortrag des Duos ein Genuss.

Die Platte ist nicht nur für den Vivaldi-Connaisseur, sondern für jeden Barock-Freund eine nachdrückliche Empfehlung. Bernd Hoppe      

Krimi an der Wiener Staatsoper

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Sie ist einfach zu gut, um wahr zu sein. Zu sanftmütig, duldend und naiv. Jossi Wieler, der mit seinem ständigen Mitarbeiter und aktuellen Staatsopern-Chefdramaturgen Sergio Morabito, diesen Lohengrin inszenierte, der bei den Osterfestspielen 2022 in Salzburg erstmals gezeigt wurde und im Mai 2024 an die Wiener Staatsoper wanderte, hat Elsa durchschaut. Während des Vorspiels, dessen „opiatische, narkotischer Wirkung“ sich Christian Thielemann nicht nehmen lässt, erleben die Zuschauer bereits, wie Elsa an einer Kaianlage steht und, leicht erschrocken über ihre Tat, Hose und Blouson auszieht, die sie bei der Ermordung ihres Bruders Gottfried trug, den sie soeben in das Wasser gleiten ließ. Heimlich streift sie in einer Ecke das blauweiße Kleid über, das sie fortan bei ihren raffinierten lämmchenfrommen Täuschungsmanövern trägt. Sie wird dabei heimlich von Ortrud beobachtet. Elsa, die Erstgeborene, hat sich des Bruders und Thronerben entledigt. Das ist eine neue Perspektive. Wieler hat sie radikal neu durchdacht. Und sie geht nicht auf. Wäre nicht die exemplarische, sich selbstverständlich und reich entwickelnde und mit den Sängern denkende Wiedergabe durch Christian Thielemann und die Wiener Philharmonikern, würde die Aufnahme (Bluray major 769504) als Dokument aus dem soliden Alltag der Wiener Staatsoper wenige Freunde finden.

Ausstatterin Anna Viebock lässt den Brudermord in der Zeit um den Ersten Weltkrieg spielen. Die graue Ufer-, Wehr- und Hafenanlage aus Beton und Stahl ist überfüllt mit Soldaten und Volk, die Frauen tragen auch ihre Babys auf den Armen, die dem Geschehen kriegs- und opferbereit entgegensehen. Wieler wäre nicht Wieler, wenn er das Wimmelbild nicht genau durchchoreographiert hätte. Das ist feinstes Regiehandwerk, von der abgefeimten Intrige der irren, schizophrenen Diva Elsa, der ungerecht behandelten Ortrud, die nach alter Märchenlogik sonst die böse Gegenspielerin gibt, nun aber allwissend Elsas große Show durchschau, ihrem verlotterten Gatten, der mit strähnigen langen Haaren, locker hängender Krawatte und hochrotem Kopf den cholerischen Loser gibt, der fast einen Herzschlag bekommt, bis zu dem seltsamen Lohengrin, den Elsa herbeifabuliert, ein Monty Python-Ritter mit dünnen langen Löckchen und aufgeschlitzter Schlapperhose, unter der so etwas wie eine Rüstung durchschimmert. Man merkt rasch, dass vieles nicht funktioniert, so fein Wielers Personenregie die Beziehungen auszutarieren versucht,

Malin Byström spielt bravourös die gegen den Strich gebürstete Elsa, die alle zu manipulieren versucht, dabei gerät ihr Singen manchmal auch grimassiert grell und überfordert. Ihr Schwanenritter ist David Butt Philip, ein jugendlicher Tollpatsch mit Ticks und Marotten; er singt mit einer kräftig frischen, etwas einfarbigen Stimme ohne Süße und Piano im Brautgemach, hat berührende, aber auch seltsam verzerrte, flache und abgehackte Phrasen. Als Telramund geht der gut deklamierende Martin Gantner bis an seine Grenzen. Anja Kampe durschaut als Ortrud sowohl den Gatten wie Elsa, bleibt immer hoheitsvoll, sarkastisch und durchwegs überlegen, selbst wenn sie sich als Krankenschwester im zweiten Akt den politischen Strömungen entgegenzustemmen versucht. Kampe verfügt über grandiose Bühnenpräsenz, ihr Singen ist stets ausdrucksvoll und dramatisch und die bösen Höhen schleudert sie kraftvoll ins Auditorium. Alle sind ausgezeichnete Darsteller, auch Georg Zeppenfelds liedhaft dezenter König Heinrich, Attila Mokus‘ nobler Heerrufer und der gesamte Wiener Staatsopernchor. Am Ende der Brautgemach-Szene schlüpft Elsa wieder in ihre Männerkluft und zerrt, nachdem Lohengrin in den Kanal entschwunden ist, den Körper ihres Bruders aus dem Untergrund. Ein Schockmoment: Die Wasserleiche wird wieder lebendig, entpuppt sich als Doppelgänger Lohengrins, dessen letzte Zeilen er mimt, während das Alter Ego noch aus dem Untergrund singt, „Seht da den Herzog von Brabant! Zum Führer sei er euch ernannt!“ und erdolcht die böse Schwester.  Rolf Fath

 

Ausfall der Titelpartie

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Transylvania State Philharmonic Orchestra und ein ebensolcher Chor lassen erst einmal sich gruselnd an Graf Dracula und sein blutiges Geschäft denken, aber rumänische Sänger wecken zugleich positive Erwartungen, selbst an eine Aufnahme von Bellinis Norma, denn rumänische Sänger sind oft für eine positive Überraschung gut, haben sie doch außer der dolcezza eines italienischen Timbres zusätzlich ein gewisses Etwas, das sie besonders interessant macht. So sieht man auch einer Norma-Aufnahme mit entsprechender Besetzung mit positiver Erwartung entgegen, die einen gehörigen Dämpfer erhält, wenn ausgerechnet die Titelpartie von einer amerikanischen Sängerin wahrgenommen wird, womit nichts generell gegen diese gesagt werden soll..

Melody Moore ist ein Vielzweck-Sopran, der sich mit Dorabella und Amneris auch im Mezzofach versucht hat, was sich in der warm klingenden, sicher beherrschten Mittellage bemerkbar macht, die einer Druidenpriesterin gut ansteht. Sie ist keine Norma. Leider zeigt sich bereits bei den Rezitativen, dass es der Stimme für die Partie an corpo fehlt, dass anstelle einer schönen Melancholie eine weniger ansprechende Larmoyanz vorherrscht, es in der Höhe oft klirrt, diese recht dünn und klingt und nicht lustvoll ausgekostet , sondern recht schnell wieder verlassen wird. Zu Beginn des zweiten Akts erfreut immerhin ein schöner canto elegiaco, in der höhenfreien Szene mit Clotilde im ersten Akt kann der Sopran angenehm ausschwingen, aber allzu oft klingt er auch affektiert, so im Duett mit Adalgisa, und immer wieder irritiert die spitze Höhe, auf der sie nicht gern verweilen möchte.

Der Tenor Stefan Pop ist Rumäne, hat eine bedeutende internationale Karriere gemacht und ist auf dem Papier erst einmal eine gute Besetzung. Pollione ist sicherlich kein Elvino, aber auch kein Canio, und Belcanto ist kein Verismo. Sein Gesang ist von Anfang bis Ende kein emphatischer, sondern viel eher martialischer, worüber auch ein gehauchtes „Adalgisa“ nicht hinwegtäuschen kann. Die Stimme klingt hart, viele Töne wirken wie gewaltsam hervorgestoßen,  in seiner Auftrittsarie mit dem Gefährten Flavio findet insbesondere in der Cabaletta ein vokales Gemetzel statt mit Timbreverfärbungen und ohne die Eleganz der Phrasierung, die hier so wichtig ist.  Da wird Belcanto auf der ersten Silbe mit einem Doppelkonsonanten geschrieben.

Ein solider Oroveso ist Adam Lau, nicht weniger, aber auch nicht mehr, denn dazu hat die Stimme zu wenig Autorität, wird sie nicht ebenmäßig genug geführt. Eusebiu Hutan als Flavio und Noemi Modra als Clotilde erfüllen ihre Aufgaben zuverlässig und mit angenehm klingenden Stimmen.

Eine ganz und gar angenehme Überraschung ist die Adalgisa von Roxana Constantinescu, die die Erwartungen, die man an rumänische Sänger hat, nicht enttäuscht. Der geschmeidige Mezzosopran klingt jung, mädchenhaft und unangestrengt und hat dabei noch Charakter und eine schöne Farbe. Die Stimme erscheint wie aus einem Guss, voll angenehmen Ebenmaßes und ohne Registerbrüche. An ihrer Darbietung hat der Hörer seine ungetrübte Freude und ihretwegen lohnt sich das Anhören der CD .

Mächtig ins Zeug legt sich der Chor, besonders die kriegslüsternen Mannen, ein erfahrener Dirigent, Pier Giorgio Morandi, weiß, dass das Orchester sich aufs Begleiten beschränken sollte, kostet aber auch genüsslich das schöne Vorspiel zum zweiten Akt aus (Euroarts 2011163). Ingrid Wanja   

 

Glück mit Gluck

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Erst in jüngster Zeit ist das Interesse an selteneren Opern von Christoph Willibald Gluck erwacht, so dass außer dem populären Werk Orfeo ed Euridice auch andere Titel den Weg auf die CD finden. Jetzt hat das Label Signum ein Recital mit der schwedischen Mezzosopranistin Ann Hallenberg herausgebracht, welches den Titel Gluck Arias trägt und noch weit mehr unbekannte Musik offeriert. Zwei Nummern in der Arienauswahl sind sogar Weltpremieren auf Tonträgern. Das Album wurde im Juli 2024 in London aufgenommen (SIGCD921).

Die durchdacht zusammengestellte Auswahl beginnt mit einer Arie aus Il trionfo di Clelia („Resta, o cara“), geschrieben für die Einweihung des Teatro Comunale di Bologna 1763. Die Oper auf ein Libretto vom Metastasio behandelt die erfolgreiche Verteidigung Roms gegen einen Überfall der Etrusker, angeführt von der noblen Clelia und ihrem Verlobten Orazio. Später folgen aus diesem seltenen Werk noch zwei weitere Ausschnitte: „Saper, ti basti“ und „De´ folgori di Giove“. Alle drei Arien singt Orazio, die beiden ersten als Liebesgeständnisse für Clelia, die letzte als Aufruf zum Kampf. Die Stimme der Mezzosopranistin nimmt sogleich in der ersten Arie mit ihrem warmen, schmeichelnden Klang für sich ein. Perfekt ausgeführt sind die Koloraturläufe, das Da capo wird geschmückt mit zusätzlichen Verzierungen und einer virtuosen Kadenz. Purer Wohllaut auch in der zweiten Arie, und fulminant die dritte als heroischer Aufruf mit Trompeten und Schlagwerk. Sie steht am Ende der Auswahl und steht mit ihrem virtuosen Anspruch für einen brillanten Schlusspunkt.

Die Arie „O del mio dolce ardor“ ist das bekannteste Stück der 1770 im Wiener Burgtheater uraufgeführten Oper Paride ed Elena. Hier fließt die Stimme in nobler Linie und edler Empfindung. Noch immer eine Rarität ist die 1744 in Venedig herausgekommene Ipermestra, aus der die Arie des Linceo, „Io non pretendo“, erklingt. In diesem Stück von energischer Entschlossenheit fehlen nicht beherzte Koloraturen und resolut auftrumpfende Töne. Natürlich gibt es im Programm auch einen Titel aus Glucks populärster Oper Orfeo ed Euridice: „Che puro ciel“. Hallenberg wählte die Version von 1769 aus Parma, welche Gluck für den Kastraten Giuseppe Millico adaptierte, und findet zu betörenden Klängen. Auch Ezio existiert in mehreren Versionen, denn die Oper wurde 1750 in Prag uraufgeführt und vom Komponisten für die Aufführung in Wien 1763  bearbeitet. Die Arie der Fulvia „Ah, non son io che parlo“ stammt aus dem Original. Nach dem erregt deklamierten Rezitativ wird auch die Arie bestimmt von stürmischem Duktus und hastig hervorgestoßenen Wortfetzen.

Es folgen weitere seltene Titel – das sanft-kantable „Di questa cetra in seno“ aus Il Parnasso confuso (1765/Wien), das hochmütig-anmaßende „Maggior follia“ aus La Semiramide riconosciuta (1748/Wien) und das zärtliche, von Flöten und Oboen reich geschmückte „L´augellin da´ lacci sciolto“ aus Le nozze d´Ercole e d´Ebe“ (1747/Pillnitz). In diesen drei Stücken von ganz unterschiedlichem Charakter offenbart sich noch einmal die hohe Kunst der Sängerin im Vortrag und in der Charakterisierung.

Die Solistin wird vom Ensemble THE MOZARTISTS unter Leitung von Ian Page begleitet, der ihr lebhafte Impulse gibt, welche das Zusammenwirken von Sängerin und Orchester auf ein beglückendes Niveau heben. Im „Reigen seliger Geister“ aus Orfeo ed Euridice hat das Orchester auch Gelegenheit für einen solistischen Auftritt, den es mit nobler Kultur wahrnimmt.  Bernd Hoppe

Erika Grimaldi

 

Ein Gespräch über Entwicklung und die Lust, vertraute Rollen immer wieder neu zu vertiefen: Erika Grimaldi steht in Bonn vor einem wichtigen Rollendebüt: als Abigaille in „Nabucco“. Im Interview mit Beat Schmid spricht die Sopranistin unter anderem über die Faszination einer Rolle, in der Stärke und Zerbrechlichkeit unmittelbar nebeneinander stehen, warum für sie alles beim Libretto beginnt, und weshalb Respekt vor dem eigenen Instrument wichtiger ist als jeder Effekt.

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Frau Grimaldi, Sie geben in einer Neuproduktion von „Nabucco“ ihr Debüt in Bonn und in der Rolle der Abigaille. Was hat Sie an dieser Partie gereizt und wie haben Sie die Rolle vorbereitet? Da ich bereits Lady Macbeth interpretiert habe – eine Rolle, die mir großen Spaß gemacht hat -, hatte ich das Gefühl, dass mich diese Erfahrung in gewisser Weise auch Abigaille näherbringt. Sie ist eine Figur, die sehr weit von dem entfernt ist, wie ich im Alltag bin, und gerade deshalb bietet sie mir die Möglichkeit, über mich hinauszugehen, zu übertreiben und beim Spielen umso größeren Spaß zu haben. Der erste Schritt in der Vorbereitung der Rolle war die Frage, was für eine Frau Abigaille ist und woher ihre Bosheit und ihr Machtstreben kommen, der Wunsch, den Thron zu erobern und sich als Nummer eins durchzusetzen. Deshalb habe ich beim Wesentlichen begonnen: beim Libretto.

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Erika Grimaldi: Tosca am Teatro Regio di Parma, Credit: Roberto Ricci

Abigaille ist eine widersprüchliche Figur, letztlich die Antagonistin der Oper. Gibt es Momente, in denen Sie Mitgefühl für sie empfinden? Sicherlich ist Abigaille eine der widersprüchlichsten Gestalten der Opernliteratur. Sie ist eine äußerst kämpferische Frau, und trotz all ihrer Aggressivität glaube ich, dass ihre Wut daraus entsteht, dass ihr Liebe fehlt. In ihrem gewaltsamen Handeln steckt der tiefe Wunsch nach einer Art sozialer Rehabilitation.
Es gibt viele Seiten, die man berücksichtigen muss: Zum einen die intime, persönliche Dimension, die mit ihrer Vergangenheit zusammenhängt und der Entdeckung, die Tochter von Sklaven und adoptiert zu sein. Zum anderen ihre politische Ambition, um jeden Preis den Thron zu erobern. Und es fehlt auch nicht der Liebesaspekt: die nicht erwiderte Leidenschaft für Ismaele, die in ihr ein Rachegefühl auslöst, auch gegenüber der Schwester.
Aus diesem Grund weiß ich nicht, ob ich Mitgefühl für sie empfinde, außer am Ende der Oper, kurz vor ihrem Tod, wenn sie um Vergebung bittet und sich ihrer Fehler wirklich bewusst wird. In diesem Moment erwacht die Frau, die sie ursprünglich war, wie auch ihre Kavatine erzählt: einfach, gut, empathiefähig.

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Es handelt sich in Bonn um eine Neuproduktion: Wie wird Abigaille gezeigt, und wo setzen Sie Ihre persönlichen Akzente? Es ist eine moderne Inszenierung. Die Handlung ist in die Gegenwart verlegt, das Konzept eindeutig zeitgenössisch.
Meine interpretatorischen Akzente sind natürlich von den musikalischen und szenischen Entscheidungen dieser Produktion geprägt, die jedoch der Natur der Figur treu bleiben. Meine Abigaille bewahrt daher ihre gesamte dramatische Kraft und ihre Momente der Verletzlichkeit, so wie es Verdi und das Libretto vorsehen, lediglich in einen anderen Kontext übertragen als den ursprünglichen: in einen modernen, der heutigen Zeit nahen Rahmen.

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Aus technischer Sicht gilt Abigaille als extreme Partie (Lage, Registerwechsel, Koloraturen, Tiefe und Höhe). Wie gehen Sie diese Rolle stimmlich an? Ich muss sagen, es handelt sich wirklich um eine extreme Partie und meiner Erfahrung nach wahrscheinlich um eine der schwierigsten. Die Schreibweise ist in jeder Hinsicht heikel: Die Koloraturen zum Beispiel haben nichts Leichtes oder Schwebendes, sondern sind dramatisch. Dazu kommt der ständige Wechsel von einem äußerst tiefen in ein äußerst hohes Register, was eine zusätzliche technische und interpretatorische Herausforderung darstellt.
An Sanftem, Zartem oder Lyrischem gibt es fast nichts – abgesehen von wenigen Momenten wie der Kavatine und der finalen Todesszene, die ein intimeres, introspektiveres Intermezzo bieten. Ansonsten ist es eine Rolle, die keine Improvisation zulässt: Man muss sie von Anfang an mit äußerster Sorgfalt angehen, weil sie aus technischer Sicht gefährlich werden kann. Man muss Note für Note, Übergang für Übergang abwägen und sie sich nach und nach aneignen.

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Erica Grimaldi: Mimì am Teatro Regio di Torino, credit: Edoardo Pica

Seit 2022 haben Sie in fünf große Verdi-Rollen debütiert: Leonora in „Il trovatore“, Leonora in „La forza del destino“, Aida, Lady Macbeth und Amelia in „Un ballo in maschera“. Gab es eine Rolle, die Ihnen die Richtung der Entwicklung Ihrer Stimme besonders deutlich gezeigt hat? Und haben diese Debüts Ihren Blick auf Ihr Instrument verändert? Die erste wirkliche Repertoireveränderung kam mit Leonora im „Trovatore“. Im Nachhinein würde ich diesen Einstand jedoch nicht als echten Wendepunkt bezeichnen, denn es ist eine Rolle, die viel Lyrisches hat und nicht ausgesprochen dramatisch ist. Die wahre Offenbarung war Aida: eine lange, komplexe Rolle, die viele Nuancen vereint und für jeden, der sie zum ersten Mal angeht, einen wirklichen Meilenstein darstellt. Obwohl auch sie eine sehr lyrische Ader hat, hat mir Aida erlaubt, über mich hinauszugehen, und von dort aus kamen Rollen wie Leonora in „La forza del destino“, Lady Macbeth, Amelia in „Un ballo in maschera“ und weitere.
Diese Debüts haben jedoch nie meinen technischen Ansatz oder meinen Blick auf mein Instrument verändert. Ich glaube, jede Stimme durchläuft eine natürliche Entwicklung, die respektiert werden muss, ohne Zwang oder Abkürzungen. Meine Stimme war nicht von Anfang an dramatisch: Ich habe mich diesem Repertoire später genähert, mit mehr Erfahrung und Reife.
Mein Instrument hat sich sicherlich entwickelt und ist gereift, aber mein technischer Ansatz beim Erarbeiten dieser Rollen ist absolut derselbe geblieben. Wobei das Ziel selbst bei der Interpretation einer „schweren“ Partie immer darin besteht, eine gewisse Leichtigkeit und stimmliche Reinheit zu bewahren, ohne je zu übertreiben oder dem Wunsch nachzugeben, mehr zu geben, wenn das nicht zur eigenen physischen Stimmstruktur passt. Das ist sehr wichtig: der Respekt vor dem eigenen Instrument.

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Wie ordnen Sie Abigaille innerhalb Ihrer Verdi-Rollen ein: als vorläufigen Höhepunkt oder als Ausgangspunkt? Nach Lady Macbeth und Abigaille würden Rollen wie Odabella in „Attila“ oder Elvira in „Ernani“ naheliegen… Das ist eine schwierige Frage, denn Abigaille kann nicht als Ausgangspunkt gelten, sondern eher als Zielpunkt. Es ist eine Rolle, zu der man nur mit viel Erfahrung gelangt, die man nicht jeden Tag singen kann. Sie stellt die Stimme auf eine harte Probe, und um die stimmliche Gesundheit zu bewahren, sollte man sie nur bei entsprechender Gelegenheit und mit den richtigen Abständen angehen.
Natürlich kann man, blickt man in der Zukunft auf Rollen wie Odabella, sagen: Abigaille – zusammen mit Lady Macbeth – kann auch als Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen gesehen werden. Persönlich finde ich Lady Macbeth leichter als Abigaille, während ich Odabella noch nicht beurteilen kann, da ich sie nie gesungen habe. Elvira in „Ernani“ hingegen würde ich nicht zu diesen „extremen“ Heldinnen zählen: Im Gegenteil, ich glaube, ich hätte sie auch vor Lady Macbeth oder Abigaille singen können.
Kurz gesagt: Abigaille ist eine Rolle, zu der man erst mit solider Erfahrung gelangt, die zugleich aber den Weg zu neuen Debüts öffnen kann. Sie ist also – je nach Perspektive – sowohl ein Ziel- als auch ein Ausgangspunkt.

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Gibt es in Bonn einen besonderen Ort, der während der Proben zu Ihrem Rückzugsort geworden ist? Ich muss sagen, ich kannte diese Stadt und das Theater nicht, ich war vorher noch nie dort. Sie hat mich sehr beeindruckt: Es ist keine große Stadt, aber gerade deshalb lebt es sich dort sehr gut. Ich habe eine herzliche Aufnahme und ein wirklich positives Umfeld gefunden. Auch das Theater war eine schöne Entdeckung für mich. Es gibt keinen konkreten Ort, der zu meinem Rückzugsort geworden wäre, aber ich habe die Stadt und das Theater als Ganzes als sehr entspannt erlebt.

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Im Juni kehren Sie als Tosca nach Bonn zurück, eine Rolle, die Sie erstmals im vergangenen Jahr gesungen haben. Wie hat sich die Rolle seit Ihrem Debüt entwickelt? Wie bei jeder neuer Rolle wächst mit der Zeit die Vertrautheit mit der Figur. Tosca ist ein Charakter, den ich besonders liebe und den ich mittlerweile mehrfach gesungen habe: Jedes Mal, wenn ich sie interpretiere, fühle ich mich ihr näher. Ich würde nicht sagen, dass sich meine Interpretation gegenüber dem Debüt radikal verändert hat, sie ist vielmehr gereift.
Das Schönste, wenn man eine Rolle mehrmals interpretiert, ist, dass Passagen und Intentionen, die man anfangs nur im Kopf klar hat, die aber nicht immer sofort zum Vorschein kommen, mit der Zeit natürlicher werden, mehr zu den eigenen werden. Diese wachsende Vertrautheit bringt eine größere Ausdrucksfreiheit mit sich: Die Interpretation an sich ändert sich nicht, aber die Art, sie zu vermitteln, weil man mehr Mittel hat, den Charakter lebendig und authentisch zu gestalten.

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Erica Grimaldi: „La forza del destino“ in Bologna, Credit: Andrea Ranzi

In weniger als zwei Jahren haben Sie in drei großen Puccini-Rollen debütiert: Manon Lescaut, Madama Butterfly und Tosca. Was verbindet diese Figuren für Sie, und worin unterscheiden sich ihre stimmlichen Anforderungen? Ich würde sagen, alle drei sind sehr leidenschaftliche und zugleich tragische Frauen. Sie leben die Liebe absolut, doch wird die Liebe für sie zu einer zerstörerischen Kraft, geprägt von Betrug, Eifersucht oder, im Fall von Butterfly, gesellschaftlichen Zwängen. Und alle drei enden mit dem Tod: Tosca, die sich von der Engelsburg stürzt; Butterfly, die sich ersticht; und Manon, die in der Wüste stirbt. Drei unterschiedliche Schlüsse, aber alle mit einem fatalen Ausgang.
Ein weiteres verbindendes Element ist das Verhältnis zu dem Mann, den sie lieben und der auf unterschiedliche Weise die Ursache ihres Schmerzes und ihres Endes ist. Tosca mit Cavaradossi – und indirekt mit Scarpia; Butterfly mit Pinkerton; Manon mit Des Grieux. Diese Männer sind der Motor ihrer Geschichte, aber auch ihres Endes.
Natürlich gibt es wichtige psychologische Unterschiede. Tosca ist vielleicht die Stärkste: impulsiv, mutig, stolz, fähig, Scarpia die Stirn zu bieten. Butterfly hingegen ist das Gegenteil: zerbrechlich, ihrem Gefährten absolut treu, bereit, sich bis zum Äußersten zu opfern. Ihre Tragödie entspringt der Illusion, zu glauben, dass Warten und absolute Treue Sinn haben und sich lohnen könnten. Manon schließlich ist eine ambivalentere, komplexere Figur: Einerseits liebt sie Des Grieux aufrichtig, andererseits fühlt sie sich vom Luxus und vom Vergnügen angezogen, darin ist sie sehr viel irdischer. Man könnte sagen: Tosca ist eine Heldin, Butterfly ein Opfer und Manon die widersprüchlichste der drei.
Auch stimmlich gibt es grundlegende Unterschiede. Für mich ist Madama Butterfly die anspruchsvollste: eine sehr lange Oper, in der die Protagonistin die Bühne nie verlässt und keinen Moment zum Atemholen hat. Die Schreibweise verlangt eine kontinuierliche Intensität, große Bögen, die in die Höhe steigen und in den dramatischsten Momenten in die Tiefe gehen, ohne Möglichkeit, sich zu schonen. Manon Lescaut ist technisch etwas weniger heikel, aber sehr kompliziert wegen der ständigen Stilwechsel: Es gibt typisch puccineske, weite, leidenschaftliche Seiten, die sich mit fragileren, fast sogar „frühklassischen“ Momenten abwechseln. Und das führt dazu, dass man stimmlich und darstellerisch ständig umzuschalten muss. Tosca hingegen ist vokal geradliniger, gewiss nicht einfach, aber weniger strapaziös als die beiden anderen, während die größte Schwierigkeit darin besteht, ihrem feurigen, leidenschaftlichen Temperament stets Ausdruck zu verleihen.

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Im nächsten Jahr folgen Giorgetta („Il tabarro“) und Suor Angelica in Washington, D.C., und in der Carnegie Hall. Was fasziniert Sie an diesen beiden Frauen des „Trittico“, auch im Kontrast zu Tosca und Manon? Vorweg: Es handelt sich um zwei Debüts, das der Giorgetta und das der Suor Angelica. Rollen also, die ich noch nicht ganz als „meine“ empfinde. Was mich jedoch sofort beeindruckt hat, ist der Unterschied zwischen diesen beiden weiblichen Welten. Es sind sehr unterschiedliche Figuren, die beide zutiefst menschliche Aspekte des Lebens erzählen.
Giorgetta ist eine sehr leidenschaftliche Frau, die in ihrer Ehe gefangen ist und ihr Glück anderswo sucht. Suor Angelica hingegen ist eine transzendentalere Figur, die konstant im Schmerz lebt und im Finale Erfüllung findet, wenn sie ihren Weg mit totaler Hingabe beschließt. Giorgetta und Angelica leben intimere, alltäglichere Gefühle als etwa Tosca oder Manon.
Ich glaube, die große Besonderheit des „Trittico“ ist, dass Puccini sich dazu entscheidet, Frauenfiguren zu zeichnen, die vielleicht weniger heroisch, aber unseren Alltagserfahrungen näher sind. Frauen, die lieben, die Fehler machen, die leiden und die – auf unterschiedliche Weise – einen Weg suchen, sich vom Schmerz zu befreien.

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Die Rolle, die Sie am häufigsten gesungen haben, ist Mimì. Inwiefern hilft Ihnen diese lange Erfahrung, die dramatischeren Puccini-Figuren wie Butterfly oder Tosca anzugehen? Mimì war für mich – das sage ich jetzt und bestätige es im Rückblick – eine fundamental wichtige Rolle und ist es bis heute. Ich kann in der Gegenwartsform sprechen, weil ich sie weiterhin singe und mich ihr verbunden fühle. Es ist die Puccini-Rolle, die ich mit Abstand am häufigsten interpretiert habe, mit der ich am vertrautesten bin und die ich am besten kenne, und gerade deshalb ist sie auch die Partie, von der ich am meisten gelernt habe.
Aus stimmlicher Sicht ist die Schreibweise typisch für Puccini, die sich dann in Tosca und Butterfly weiterentwickelt. Mimì ist ein junges Mädchen, und deshalb verlangt ihre Interpretation Reinheit: Reinheit des Gesangs, Reinheit der Linie und eine große Fähigkeit, stets „auf dem Atem“ zu singen. Sie ist eine unschuldige Figur, und man muss ihre Emotionen mit größtmöglicher Natürlichkeit und Intimität wiedergeben.
Diese lange Beschäftigung mit Mimì hat mir solide technische Grundlagen gegeben, aber auch ein szenisches Bewusstsein, das ich dann in dramatischere Rollen wie Butterfly und Tosca mitnehmen konnte. Mit Butterfly gibt es sogar eine gewisse Kontinuität: Im ersten Teil finden wir dieselbe Zartheit und Unschuld von Mimì wieder, die sich dann aber ab dem zweiten Akt entwickelt. Tosca hingegen ist völlig anders: eine theatralische, stolze, dramatische Figur. Und doch hat mich auch hier die Erfahrung mit Mimì gelehrt, nie die Intimität und die emotionale Wahrheit zu verlieren, selbst in Momenten größter dramatischer Kraft.
Letztlich war Mimì für mich eine wertvolle Wegweiserin, weil sie mir geholfen hat, das Gleichgewicht zwischen rein lyrischem Gesang und szenischer Wahrheit zu finden, das man auch für die „heroischeren“ Puccini-Figuren braucht.

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Ein Blick in die Zukunft: Welche neuen Rollen würden Sie in den nächsten Jahren gern interpretieren? Was ich mir im Moment am meisten wünsche, ist, die Rollen weiter zu singen, die ich in letzter Zeit debütiert habe. Ich möchte sie oft singen, um sie wirklich zu vertiefen, sie mir vollständig zu eigen zu machen und zu hundert Prozent zu leben, natürlich einschließlich Abigaille. Das Debüt ist immer ein besonderer Moment, voller Energie und Adrenalin, aber ich glaube, die eigentliche Arbeit beginnt erst danach.
Deshalb ist mein großer Wunsch, diese Rollen, die ich zutiefst liebe und die zugleich jene sind, von denen jede Sopranistin träumt, sie mindestens einmal im Leben zu singen, häufig wiederholen zu können. Jetzt, da dieser Moment für mich gekommen ist, möchte ich ihn in vollen Zügen genießen, ohne zu sehr an die Zukunft zu denken, sondern im Hier und Jetzt zu leben.
Natürlich gibt es auch Rollen, die ich noch nicht gesungen habe und die ich gern angehen würde. Ein Beispiel? Elisabetta di Valois in Verdis „Don Carlo“. Eine Oper, die ich gut kenne und die mich immer gefesselt hat. Ich würde sie sehr gern interpretieren. Wir werden sehen, was die Zukunft bereithält.

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Sie singen regelmäßig auf den großen internationalen Bühnen. Gibt es dennoch ein Opernhaus oder Festival, auf dessen Bühne zu stehen Sie träumen? Oh ja, gewiss. Einer der großen Träume eines jeden Künstlers ist es, an der Metropolitan Opera in New York zu singen: Nun, da dieses Debüt in der Spielzeit 2026/27 endlich konkret auf dem Programm steht, empfinde ich einfach eine riesengroße Vorfreude. Ein weiterer Wunsch ist es, an eines der wichtigsten Theater nicht nur der Welt, sondern vor allem meines Landes zurückzukehren: an die Scala. Damit nehme ich den anderen Theatern nichts – ich liebe sie wirklich alle -, aber wenn ich einen besonderen Traum nennen soll, dann ist es genau dieser.

Welchen Rat würden Sie der jüngeren Erika Grimaldi am Beginn ihrer Karriere heute geben? Man darf die Dinge niemals als selbstverständlich hinnehmen – ein Grundsatz, den man sowohl in jungen Jahren als auch mit fortschreitender Karriere im Blick behalten sollte. Wenn man einen künstlerischen Weg einschlägt, gelangt man an einen Punkt der Vorbereitung, der es erlaubt, mit Bewusstsein auf die Bühne zu gehen. Das bedeutet aber nicht, dass damit alles für immer erworben wäre: Jede Rolle ist eine eigene Welt mit spezifischen Eigenschaften, die gemeinsam mit dem Künstler wachsen, unabhängig davon, ob es eine große oder kleine Rolle ist.
Deshalb gilt: Auch nach den ersten Erfolgen sollte man eine gewisse kritische Distanz zu dem bewahren, was man singt. Jede Partie hebt unterschiedliche Aspekte der Stimme hervor und bringt Schwierigkeiten mit sich, die angegangen, verinnerlicht und überwunden werden müssen. Kurzum: Man darf nie etwas als gegeben ansehen, sondern sollte jede Partitur mit Demut angehen und das Beste geben, mit den Kenntnissen, die man in diesem Moment hat. Es ist ein Beruf, der ständige Weiterentwicklung verlangt – die kontinuierliche Aneignung neuer Mittel, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Wer stehen bleibt, geht unweigerlich rückwärts. Deshalb sind Studium, Demut und die Fähigkeit, sich immer wieder neu zu hinterfragen, grundlegend.

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Erica Grimaldi: In ihrer Garderobe während einer Vorstellung von „Un ballo in maschera“ am Opernhaus Zürich, Credit: Tim Weiler

Wenn Sie eine Opernfigur zum Abendessen einladen könnten: Wen würden Sie wählen und worüber würden Sie sprechen? Wen ich zum Abendessen einladen würde? Gute Frage. Für mich muss das Abendessen ein Moment der Entspannung und des Vergnügens sein – eine Gelegenheit, den Alltag hinter sich zu lassen. Vielleicht könnte ich andersherum antworten: Anstatt gleich zu sagen, wer es ist, beschreibe ich die Eigenschaften – und dann müssen die Leser raten.
Also… Ich würde eine sehr witzige Frau einladen, eine Buffofigur aus der Oper des 18. Jahrhunderts: schlau, äußerst pragmatisch, schlagfertig und vor allem Meisterin der Verkleidung. Eine echte Komplizin in ihrer Rolle, skeptisch gegenüber treuer Liebe, bereit, ohne allzu viele Skrupel Ratschläge zu erteilen… und fähig, mich das ganze Abendessen über zum Lachen zu bringen.
Wer könnte das wohl sein? [* Auflösung am Ende des Interviews]

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Welche Musik hören Sie privat, wenn Sie gerade keine Opernpartitur in der Hand haben? Ich habe kein bevorzugtes Musikgenre, sondern mag ein bisschen von allem. Ich höre auch einfach die Musik, die im Radio läuft, und verfolge, wenn ich kann, gern das Festival di Sanremo. Ich habe keine besonderen Vorlieben, obwohl ich Jazz sehr schätze.
Privat hängen meine Hörgewohnheiten ein wenig vom Moment ab, von dem, was im Fernsehen oder anderswo zufällig auftaucht: Ich suche nicht gezielt nach bestimmten Dingen. Anders ist es, wenn es um meine Arbeit geht: Da suche und höre ich mit besonderer Aufmerksamkeit, mit der Konzentration, die die professionelle Vorbereitung erfordert.
Ich würde also sagen, ich höre alles – mit einer einzigen Ausnahme: Ich mag keine Diskothekenmusik, dieses etwas „hämmernde“. Mir ist wichtig, dass Musik – auch in anderen Genres als meinem – eine Entwicklung hat, einen roten Faden, etwas Interessantes aus musikalischer Sicht oder zumindest einen erzählerischen Gehalt im Lied.

 

.Auf der Bühne interpretieren Sie oft Königinnen und tragische Heldinnen. Welche ganz „alltägliche“ Rolle im Leben bereitet Ihnen die meiste Freude? Es stimmt, auf der Bühne verkörpere ich oft Königinnen oder tragische Heldinnen. Aber im Alltag ist die wichtigste Rolle leicht zu benennen: die der Mutter. Sie ist zweifellos anstrengend, manchmal sehr fordernd, aber ohne Zweifel die schönste der Welt, denn sie holt mich sofort in die Realität und in die Spontaneität zurück. Es ist eine Rolle ohne Applaus – das stimmt -, aber voller Liebe. Beat Schmid

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* Despina in „Così fan tutte”

 

 

 

Verdienstvoll mit Fleck

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Wie viele Komponisten der Nach-Verdi-Zeit sind mit nur einem Werk dauerhaft auf den Opernbühnen der Welt präsent und hätten es doch verdient, dass auch ihre anderen, oft zahlreichen Werke noch auf den Spielplänen stünden. Neben Mascagni mit seiner Cavalleria, Ponchielli mit seiner Gioconda, Giordano mit seinem Andrea Chénier oder Zandonai mit seiner Francesca da Rimini gehört auch Francesco Cilea mit seiner Adriana di Lecouvreur dazu, dessen Lamento des Federico aus L‘Arlesiana es immerhin zur Zugabenummer für Tenöre geschafft hat. Gianandrea Gavazzeni, obwohl in der Donizetti-Stadt Bergamo geboren und gestorben, liebte den Verismo und setzte sich stets für ihn ein. Seine Gattin Denia Mazzola Gavazzeni folgt im darin und hat nun die einst sehr erfolgreiche Oper Cileas La Tilda nicht nur konzertant aufgeführt, sondern bei dem so altehrwüdigen wie rührigen Verlag Bongiovanni in Bologna als CD verlegen lassen. Derartige Neuerscheinungen erfüllen den Opernfreund immer mit gemischten Gefühlen, wenn er zwischen der Freude, die Bekanntschaft mit einem ihm bisher unbekannten Werk zu machen und der Besorgnis darüber, inwieweit die Sängerin, die sich natürlich stets der Titel- oder Hauptpartie annimmt, dieser noch gewachsen ist, hin-und herschwanken muss. Die jetzt erschienene Aufnahme von La Tilda entstand im Januar 2025 im Conservatorio „G.Verdi“ in Mailand.

La Tilda ist eine römische Straßensängerin, allerdings im Unterschied zur venezianischen Gioconda bereits mit einer halbwüchsigen Tochter namens Cecilia gesegnet. Sie verzehrt sich in Liebe zum französischen Offizier Gastone, der seinerseits mit der römischen Adligen Agnese verlobt ist. Als Gastone Tilda Geld für Liebesdienste anbietet, ist diese so empört, dass sie den römischen Polizisten Geld für die Freilassung eines Räubers anbietet. Das Geschäft findet statt, und der Bandit Gasparre revanchiert sich für seine Befreiung, indem er mit seinen Kumpanen Agnese und Gastone entführt. Tilda ist gerade gesonnen, die Rivalin Agnese zu ermorden, als Glockengeläut beide Frauen ins Gebet sinken lässt. Im dritten Akt behauptet Tilda gegenüber Gastone, seine Verlobte ermordet zu haben, und erreicht so, dass er sie ersticht. Sie findet gerade noch die Zeit, die Verlobten sterbend zu segnen. Wenigstens ist sie durch die Hand des geliebten Gastone gestorben.

Süße Melancholie oder melancholische Süße zeichnet die Musik Cileas auch in diesem Werk aus, in dem zwar der Sopran den Titel einnimmt, der Tenor aber das letzte Wort hat, wenn es auch nur ein „Morta, ,morta“ ist, dem Gastone im Unterschied zu Maurizio noch ein „O sciagurata amor“ hinzufügen darf.

Natürlich kann man Denia Mazzola Gavazzeni nur dankbar dafür sein, dass sie sich des über weiten Strecken hinweg Ohrwurm Qualitäten besitzenden Werks angenommen, hat, aber unüberhörbar sind auch die vokalen Schwächen wie die schrille Höhe, die substanzlose Tiefe, das manchmal ausufernde Vibrato, und nur in der oberen Mittellage lässt sich noch Angenehmes vernehmen. Auch mangelt es ihr, vergleicht man mit dem Booklet-Text,  an Textbeherrschung, und wenn der Chor ein „Eviva, canterà“ anstimmt, kann man kaum in den Jubel ein-, eher dem „Delirio, è follia“ zustimmen.  Ihre  Partnerin auf der Bühne und Rivalin im Werk ist die Agnese von Syuzanna Hakobyan mit reifem Mezzo, der im Duett der beiden mit Erfolg, was Stimmstärke und Durchschlagskraft betrifft, mithalten kann. Einen lieblichen, zarten Sopran setzt Wonjung Kim für die Tochter Cecilia ein. Womit wir bei der Tatsache wären, dass asiatische Kräfte immer mehr auch in Italien die einheimischen Sänger ersetzen. Sie sind oft technisch perfekt, beherrschen die Sprache ebenso perfekt, und doch vermeint man ein Defizit an dem, was man als Italianità bezeichnet, zu konstatieren, so dass auch der Gastone von Yan Wang mit einem frischen Timbre, mit Musikalität und guter Diktion erfreuen, aber doch nicht hundertprozentig überzeugen kann.  Giorgio Valerio ist markant der Brigante Gasparre, Fulvio Ottelli stützt als Mario und Bista und Qu Rui Jie als Locusta, die nicht nur mit Wein, sondern auch mit Gift handelt. Angenehmes lässt der aus asiatischen Sängern bestehende Coro Ab Harmoniae unter der Leitung von Hsiao Pei Ku vernehmen. In der Sinfonia und ganz besonders in dem sehr schönen Vorspiel zum dritten Akt brilliert das Orchestra Sinfonica Colli Morenici unter Nicola Ferraresi, der sich auch als nachsichtiger, zuverlässiger Begleiter der Gesangssolisten bewährt (Bongiovanni 2 CD GB 9616/17-2). Ingrid Wanja               

 

 Passionsgeschichte

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„Ich bin Maria von Buenos Aires, von Buenos Aires Maria, ich bin meine Stadt, Maria Tango, Maria Vorstadt, Maria Nacht, Maria fatale Leidenschaft, Maria der Liebe zu Buenos Aires bin ich!“ singt Maria, die der Geist durch einen Riss im Straßenasphalt beschwört. Sie ist ein Mysterium, geschaffen von dem uruguayischen Dichter Horacio Ferrer für seinen Freund Astor Piazzolla. 1955 lernte der 22jährige Ferrer den 12 Jahre älteren Piazzolla kennen, den er freilich schon lange, schon als Jugendlicher, bewundert hatte. Ferrer hatte seit Beginn der 1950er Jahre Texte für Tangos verfasst, Piazzolla, der quasi immer schon Tangos gespielt hatte, kehrte aus Paris zurück, wo er bei Nadia Boulanger ein richtiger Musiker werden wollte, denn „Tangomusiker war ein schmutziges Wort im Argentinien meiner Jugend“. Der Dichter und der Komponist begegneten sich, als Piazzollas Schiff auf der Rückreise nach Buenos Aires in Ferrers Heimatstadt Montevideo anlegte. Buenos Aires wurde zur Wohn- und Lebensort des in Mar del Plata geborenen Piazzolla, sein Seelenverwandter Ferrer nahm später die argentinische Staatsbürgerschaft an und erkor Buenos Aires zu seiner Wahlheimat.

1967 schuf Ferrer das Libretto zu Maria de Buenos Aires mit der Absicht für die verschiedenen Epochen und Existenzebenen der Maria „unterschiedliche Stilrichtungen des Tango (Traditionell, Romanze, Lied, modern), der Milongas, der Walzer und einige ländliche Weisen aus der Pampa zu verwenden“. 1968 gelangte die Tango-Operita im Sala Planeta in Buenos Aires zur Uraufführung mit einem Orchester von elf Musikern, mit Amelita Balfar als Maria, Hector de Rosas in den männlichen Gesangspartien und Ferrer als El Duende. Es folgten unmittelbar Hundertzwanzig Aufführungen sowie eine Schallplattenaufnahme. Wenige weitere folgten, darunter eine mit Gidon Kremer, bei der Ferrer 1998 nochmals die Sprechrolle übernahm.

Das Stück hat sich durchgesetzt, wurde ein internationaler Erfolg, wenngleich es geheimnisvoll bleibt wie die allegorische Titelgestalt, die als Verkörperung des Tangos seinen Aufstieg aus der Vorstadt in die glänzenden Zentren, Cabarets und Bordelle, seinen Niedergang und seine Wiedergeburt erlebt.

Die Faszination stellt sich direkt ein, auch bei der 2021 im kalabrischen Städtchen Cetraro entstandenen Aufnahme, bei der der unmittelbare Klang von Cesare Chiacchiarettas Bandoneon und die rau gesprochenen Einwürfe der wenigen Männer bei den Erzählungen des Geistes den Zuhörer in die Geschichte ziehen (2 CD Brillant Classics 96762). Filippo Arlia dirigiert das Orchestra Filarmonica della Calabria, das er 2011 als 22jähriger gründete und bis heute leitet, mit Verve und starker gestischer Eindringlichkeit. Die theatralischen Qualitäten der Vorlage bringt Arlia im zweien Teil, und da im 13 Bild, besonders stark und eindringlich zum Ausdruck, das instrumentale Allegro tangabile gegen Ende der Oper ist eine irrlichtende Großstadtsinfonie. Suarez Paz, kurz Ce genannt, eine renommierte Tango-Sängerin aus Buenos Aires, ist die Maria, deren szenische Präsenz und stimmliche Glut mitreißt und geradezu körperlich spürbar wird, sie trägt das Stück, in dem u.a. Alte Hurenmütter, Nudelwalzerinnen, Alte Diebe und Psychoanalytiker zu hören sind. Der Schauspieler Gualtiero Scola übernimmt die Rolle des Sprechers, Alberto Maria Munafò die anderen Gesangspartien, beide geben ihren Figuren ein Gesicht.. Rolf Fath