Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Samaras´Oper „Medgé“

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Unsere Liebe zu griechischen Opern ist ja Lesern von operalounge.de hinlänglich bekannt, unsere Hochachtung vor dem griechischen Dirigent, Musikwissenschaftler und Musik-Archäologen Byron Fidetzis ja auch – wir haben vielfach über ihn berichtet und haben inzwischen doch eine Menge an unkeannten griechischen Operntiteln vorgestellt. So auch jetzt.

Im Februar 2025 gab es, nach der Oper Lionella 2023 (die noch auf eine Präsentation bei uns wartet, aber bei youtube nachzuerleben ist), die Oper Medgé von Spyros Samaras, dessen Rhea zu den einigermaßen bekannteren gehört und dessen Mademoiselle de Belles Iles ebenso wie seine Tigra bei Naxos als CD vorliegt.

Zum ersten Mal nun Spyros Samaras´Oper Medgé in Athen im Maria Callas Saal in neuer Orchestrierung durch Byron Fidetzis, da die Originalpartitur verschollen ist und es nur einen Libretto-Druck und einen Klavierauszug gibt. Wir halten diese Wiederbelebung, Nachschöpfung der Oper eines der bedeutendsten griechischen Komponisten für wichtig und bringen daher nachstehend einen einführenden Artikel von Giorgos Leotzakos sowie ein paar Worte von Byron Fidetzis zu seiner Arbeit an der Oper, gefolgt von einem Bericht über das Konzert selbst von Kostas Xakenis sowie eine ausführliche Inhaltsangabe. G.H.

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Foto von Samara mit Widmung 1913/ Samara Archive/Lyra

Zum Werk und seiner Entstehung ein Artikel von dem renommierten griechischen Musikwissenschaftler Giorgos Leotzakos. Als älteste erhaltene Oper von Spyros Samaras – ihre Komposition wurde bereits im Mai 1883 in der Pariser Presse angekündigt – erhält die Medgé eine wegweisende Bedeutung, sowohl für die Verfolgung der Entwicklung des Komponisten anhand von etwa zehn Opern, unter Berücksichtigung der unvollendeten Tígra, als auch für die weitere Verfolgung einiger möglicher Einflüsse auf die Entwicklung der späteren italienischen Oper und der veristischen Bewegung. Ihre Geschichte ist daher von großem Interesse.

Das Werk basiert auf einem Text von Pierre Elzéar (geb. Paris, 25. November 1849 – gest.?)In Wirklichkeit war Medgé sein einziges Libretto: Er wird zusammen mit drei anderen Mitverfassern des Librettos des Turms zu Babel, einer dreiaktigen komischen Oper (Opera buffa, Paris) in Musiklexika, selbst in französischen, nicht erwähnt (da irrt der Autor, Elzéar war in Paris als Librettist und Dichter sehr bekannt, zu seinen Freunden gehörten Fauré oder auch Pauline Viardot/G.H.).

Pierre Elzéar (Charles Jospeh Bonnier, dit Pierre)/OMU

Was jedoch die indische Geografie des Sujets betraf, so wusste Elzéar nichts von den drei Übeln seines Schicksals: Die Oper spielt in Mysore (indisch: Māisōr),  an der südwestlichen Spitze des indischen Subkontinents, während der Ganges, an dessen Ufern sich der letzte Akt abspielt, etwa am südwestlichen Ende des indischen Subkontinents, etwa… 2.000 Kilometer nördlich im Himalaya entspringt und in den Indischen Ozean in der Nähe von Kalkutta (Ganges-Delta) mündet.

Auf jeden Fall ist die Versuchung groß, Medgé mit der Lakmé Délibes´ zu vergleichen. Wir betonen jedoch nachdrücklich, dass die bislang älteste Information über Medgé aus der Musikzeitung vom 6. Mai 1883 stammt: Sie wurde offensichtlich schon lange vor der Premiere der Oper von Delibes an der Opéra-Comique (Salle Favart) am 14. April 1883 begonnen. (…) Alle Quellen stimmen darin überein, dass Samaras 1882 zum ersten Mal nach Paris kam: Nach unserem derzeitigen Wissensstand ist es nicht abwegig anzunehmen, dass sein Studium am Conservatoire, entweder bei Dubois oder bei Delibes, im Herbst 1882 begann. Zwischen Herbst 1882 und dem 6. Mai 1883 liegt höchstens ein halbes Jahr.

Samaras „Medgé“ im Konzert in Athen/Foto Maria Callas Saal

Samaras beginnt also Medgé, wobei er sich auf das stützt, was er vor allem von Giuseppe Stancampiano in Athen gelernt hat (a pupil of Mercadante, himself an opera conductor and music master, living in the Greek capital/Grove), mit dem er bei der Oper Olao zusammengearbeitet hat! Wir werden nachstehend sehen, wann, wie und wo die Bearbeitung abgeschlossen wurde. 1874 hatte Massenet das fast halbfertige Libretto zu Medgé für eine bestimmte Sängerin (Emma Calvé) abgelehnt, das ihm Édouard Blau und Louis Gallet vorgeschlagen hatten. Gallet unterzeichnete das Libretto einer der ersten Opern von Massenet, der indischen Handlung von  Le Roi de Lahore (Opéra Garnier, 27. April 1877). Diese wird für Samaras wohl entscheidender gewesen sein, obwohl auch Lakmé als möglicher thematischer Einfluss für Samaras Oper angesehen wird. Jedenfalls irrt ein bedeutender Biograf Massenets, der Elzéar völlig ignoriert, wenn er behauptet, dass „mit aller Wahrscheinlichkeit” Samaras das Libretto vertonte, das Massenet 1874 abgelehnt hatte.

Immerhin wurde am 23. Januar 1877 (St. Petersburg) auch ein berühmtes „indische” Ballett La Bajadere aufgeführt, inspiriert von Sakuntala des großen indischen Dichters Kalidasa, in der Choreografie von Marius Petipa und der Musik von Ludwig Minkus, während schon viel früher, 1861, Gounod zu einem Text von Jules Barbier ein Lied gleichen Sujets für Gesang und Klavier komponierte.

Ob Samaras auch die „orientalische” Oper von Saint-Saëns, Samson und Dalila (Weltpremiere in Weimar am 2. Dezember 1877, 1. Ausgabe 1877, aber französische Premiere in Rouen erst 1890!), kannte, ist unklar, auf jeden Fall, abgesehen von der Medgé, wird seine Faszination für das Exotische deutlich.

Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 1. Akt von Carlo Ferrario/ArchvioStorico Teatro del´Opera di Roma

Dies wird auch durch die Komposition der Vier orientalischen Szenen für Klavier zu vier Händen aus derselben Zeit bestätigt, von denen mindestens eine orchestriert wurde. Dies sind die unmittelbaren indologischen und exotischen Vorgänger von Samaras Medgé.

Die nächste wichtige Erwähnung von Medgé stammt von Ferdinando Fontana: Er spricht in zwei Briefen an Puccini vom August 1886 über seine (unvollständige) Übersetzung des Librettos. Somit können wir die Komposition von Medgé festmachen: Anfang 1883 – spätestens Juli 1886, in erster Fassung, mit einer Unterbrechung von vier bis fünf Monaten im Jahr 1885, in denen Samaras die Flora mirabilis am Comer See komponierte! Sollte, wider Erwarten, die verschollene Orchesterpartitur jemals wiederentdeckt (…) werden (dieser Artikel ist von 2011, also vor der im Februar 2025 erfolgten Reorchestrierung durch Byron Fidetzis 2025/G. H.), dann müsste nicht die französische Originalfassung von Elzéar, sondern die italienischen Übersetzung von Fontana übernommen werden, der allem Anschein nach diskret, aber äußerst kreativ daran gearbeitet hat. Im französischen Text, den Samaras offenbar ursprünglich vertont hat, haben sehr viele Abweichungen einen poetischen, wenn nicht sogar literarischen Charakter und damit eine Unbestimmtheit hinsichtlich der Unmittelbarkeit und Klarheit der Gefühle und Reaktionen der Figuren in bestimmten Situationen. In Fontanas Text erhalten dieselben Gefühlsbereiche einen wohlverstandenen Realismus, eine psychologische Wahrhaftigkeit, die die Existenz der Figuren noch mehr betonen. Darüber hinaus gibt es zwischen dem gedruckten Libretto und dem zweisprachigen (französisch-italienischen) Klavierauszug, die beide 1888 erschienen, wesentliche Unterschiede, zumindest was die letzte Szene betrifft.

Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 4. Akt von Carlo Ferrario/Archvio Storico dell Teatro alla Scala

Zwischen der Veröffentlichung des Librettos und des Klavierauszugs liegt offensichtlich ein gewisser Zeitraum, der es Samara nach dem Triumph von Flora mirabilis erlaubte, das Werk zu überarbeiten, wahrscheinlich in engster Zusammenarbeit mit Fontana. Das Ergebnis, im Vergleich zum gedruckten Libretto, zeigt sich deutlich in den beiden letzten Szenen: Es handelt sich nicht einige Änderungen oder Streichungen von Wörtern aus dem Notentext des Klavierauszuges, sondern auch um einige treffende Abweichungen, die den Charakter der Vazanta besser zur Geltung bringen. So übergibt die Königin im Libretto nachdem sie ihren untreuen Liebhaber Selim getötet hat, ihre Krone dem Paar Medgé-Nair zurück und erklärt, dass sie als Priesterin im Tempel von Deva sterben werde. Im Klavierauszug ist diese Abkehr verschwunden. Das Werk endet mit der schrecklichen Überraschung Vazantas über den Mord,  in einem Parlando, das das dramatisch Wesentliche auf den Punkt bringt: „Ah…spento egli è” („Ah. er ist tot”). Der Zuhörer weiß bereits, dass Vazanta das Paar Medgé-Nair unter ihren Schutz gestellt hat. Das reicht: Es gibt dem Komponisten die Gelegenheit zu einem wunderbaren Finale, das den frühen  Verismo ahnen lässt. Natürlich konzentriert sich das Werk damit eher auf das Paar Vazanta und Selim, das letztlich so menschlich ist, während das „ideale“ Paar Medgé und Nair vor allem als Katalysator dient, um das ganze Spektrum ihrer charakterlichen Gegensätze zu offenbaren. Aber auch diese Eingriffe rechtfertigen umso mehr die berühmte Aufforderung Fontanas an Samara im Jahr 1913, die Flora mirabilis noch einmal gemeinsam zu überarbeiten!

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Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 2. Akt von Carlo Ferrario/ArchvioStorico del Teatro alla Scala

Medgé, eine Oper in vier Akten (fünf Bilder), wurde am 11. Dezember 1888 am Teatro Costanzi in Rom uraufgeführt. Insgesamt wurde sie sechsmal gespielt und muss den uns vorliegenden Kritiken zufolge einen gewissen Erfolg gehabt haben. Zweifellos war sie jedoch ein gesellschaftliches Ereignis: Bei der Premiere waren die kunstliebende Königin Margherita, Cousine und Ehefrau von Umberto I., der Premierminister Francesco Crispi und der griechische Botschafter anwesend. Es war ein exotisches, hollywoodreifes Spektakel mit einer üppigen, anspruchsvollen Inszenierung und sicherlich hohen Kosten (á la Aida/G.H.). Wohl auch ein Grund dafür, dass die Oper seitdem nie wieder aufgeführt wurde.

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Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 3. Akt von Carlo Ferrario/Archvio Storico Ricordi

Der vorherrschende Eindruck beim Betrachten der Noten (des Klavierauszugs, da die Orchesterpartitur verschollen ist/G.H.) von Medgé ist der enorme Reichtum der Themen seiner Erfindungen, eine tropisch-orgiastische Vegetation spannender Inspirationen eines charismatischen Komponisten von nur 22 Jahren. Wir erinnern uns wieder an den prophetischen Fontana: „Una vera stoffa d’operista“. Samaras Technik, bewundernswert vollendet, lässt hier schon sein angeborenes Talent erahnen. Sehr oft unterstreichen seine harmonischen Fortschritte den emotionalen psychologischen Wechsel der Konflikte. Die Tempi in ihren gut durchdachten Wechseln, seine Rhythmen, die gesamte organische Begleitung, zusammen mit der Harmonik, wirken wie ein wunderbarer Pulsmesser. (…)  Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Details des riesigen Ton-Gemäldes richten, entdecken wir eine Vielzahl von fein gearbeiteten Miniaturen, deren oft kaleidoskopische vielfältige Abfolge das Gesamtbild vervollständigen. Medgé wird vielleicht einmal als einer der Bezugspunkte für die Verfolgung der Entwicklung der späteren italienischen Oper dienen… Es ist ein Jammer, dass die Orchesterpartitur verloren ist. Alles in der erhaltenen  Klavierfassung von Medgé unterstreicht eindringlich ihre Funktionalität: Wechsel und Kontraste in der Dichte der harmonischen Schreibweise, die der Begleitstimmen mit flüchtigen Pinselstrichen, die mit durchdachten Kontrasten oder Schattierungen der orchestralen Klangfarben usw. identisch sind.

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Zu Samaras „Medgé“: Bühnenbild-Entwurf für Masenets „Roi de Lahore“ Akt 1, 1878 von Agosto Ferri/Archivio Storico Ricordi

Obwohl das Werk genau zu der Zeit geschrieben wurde, als Wagner starb, finden sich stricto sensu in Medgé keine Leitmotive oder „Erinnerungsmotive”. Deutlicher sind thematische Elemente am Anfang des zweiten Aktes (Duett Mezzo – Vazanta), die vage miteinander in Verbindung stehen. Das zweite Motiv findet im letzten Akt recht deutlich als Synkope, Tonika und Rhythmus (Vazanta Anrufung der blutrünstigen, negativen Göttin), während die „Ton-Plejaden” (einzelne aufblitzende tonale Elemente wie Sternschnuppen?/G. H.) in der letzten Szene der Hinrichtung von Selim wieder auftauchen.

Aber diese Plejaden sind ein Teil der„Fingerabdrücke” des Stils von Samara. Um es deutlich zu sagen: Der vorherrschende Eindruck ist der unerschöpfliche Fluss neuer musikalischer Ideen. Daher ist die große Mezzosopran-Arie Medgés als eine Abfolge autonomer musikalischer Einheiten strukturiert, die man im Englischen als „Nummern” bezeichnen würde, mehr oder weniger kurz, oft nicht nur an sich bezaubernd, sondern auch als Abwechslung zu dem, was vorangeht oder folgt. Hier wieder eine wesentliche Verwandtschaft mit Aida: Verdi, der neben den Gefühlen seiner Helden, die in der Regel mit den Dur- und Moll-Tonarten der westlichen Musik ausgedrückt werden, eben auch „Modi” einer ganzen vollständig verlorenen Musikkultur der alten Ägypter erfindet. Etwas Ähnliches versucht vielleicht der 22-jährige Samaras auch, allerdings wesentlich zögerlicher und offenbar fast ohne jegliche Kenntnis der indischen Musik: Mit seinen exotischen Anspielungen, abgesehen von gelegentlichen Rückgriffen auf Monophonie oder sogar Unisono und pentatonischen Konturen, die typisch für „exotische” Musikkulturen sind, versucht er vorsichtig, aber immer mit Treffsicherheit, über den Dur- und Moll-Ton in die Welten des Trioletts und einiger „exotischen“ Varianten vorzudringen. Solche exotischen Bezüge vertraute er oft einem Holzblasinstrument, einer Flöte oder einer Oboe an.

Als Ausgleich dafür weisen sein tonales Spektrum (insbesondere dieses) und sein harmonisches Vokabular über ihre psychographische Funktionalität hinaus eine bemerkenswerte Vielfalt (z. B. häufige harmonische Wechsel) und Ökonomie auf, da die harmonische Idee oft für den expressiven Höhepunkt des jeweiligen „Stücks” reserviert ist. (Wiederveröffentlichung aus dem Programmheft des Staatlichen Orchesters zur Würdigung Samaras beim Philologischen Verein Parnassos am 10. April 2011). Giorgos Leotzakos

 

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Zu Samaras´“Medgé“: Elena Hastreiter war die erste Vazanta 1888 am Teatro Costanzi/Archivio Storico del Opera di Roma

Und nun der Dirigent und Musikwissenschaftler Byron Fidetzis zu seiner Neuausgabe der Oper Medgé von Spyros Samaras. Mit der Medgé von Samaras habe ich mich intensiv beschäftigt, nachdem seine Leonella während der Pandemie aufgeführt wurde. Das Werk hat mich besonders beeindruckt, als April 2011 im Rahmen des 7. Zyklus der Griechischen Musikfestspiele.  Ich zog es jedoch vor, mich zunächst mit Leonella zu beschäftigen, vielleicht weil mich die Geschichte und die Mythologie des Werks faszinierten. Die Uraufführung in der Mailänder Scala im Jahr 1891 und ihr eklatanter Misserfolg trotz der großen Namen, die sie interpretierten, wie der Dirigent Mugnone, und der Ruhm der Trennung unseres Komponisten von Leoncavallo waren äußerst reizvolle Anziehungspunkte, die über den musikalischen Wert hinausgingen.

Die Musik war mir übrigens bereits aus den EMG von 2011 bekannt. Über die Orchestrierung hatte ich ständig nachgedacht und auch einen groben Arbeitsplan erstellt. Als mir dann Olivier Decot den entsprechenden Vorschlag machte, stürzte ich mich mit voller Kraft in die Arbeit.

Von den drei Melodram-Instrumentierungen von Samaras, die ich gemacht habe, stellte jede seiner Opern besondere Probleme dar. Tigra, an der ich als erste gearbeitet habe, existierte in einem einzigartigen Manuskript Partitur, also einem ersten Entwurf für Stimmen und gegebenenfalls „erweitertes“ Piano. Wichtig war, dass Samaras seine musikalischen Ideen zu Papier brachte, ohne sich durch die Notwendigkeit, den Part für den zukünftigen für den zukünftigen Übungspädagogen, der das Werk den Sängern beibringen würde, spielbar zu machen. Der direkte Kontakt zu seinem Manuskript war daher für mich äußerst hilfreich bei der Frage, wie es orchestriert werden könnte.

Bei Lionella lag die Schwierigkeit einerseits in der Existenz eines bedeutenden orchestralen Auszugs wie der Ungarische Rhapsodie, die für die gesamte orchestrale Komposition recht verbindlich ist, und andererseits die für die Erlernbarkeit auf dem Klavier „komprimierte“ gedruckte Wiedergabe des orchestralen Klangs.

Maurice de Vries war der erste Sélim in Samaras´“Medgé“ 1888/Courtesy Charles Mintzer/Rudi van den Bulck Archive

Im Fall von Medgé kam zu dieser letzten Schwierigkeit noch eine weitere hinzu, die sowohl praktischer als auch emotionaler Natur war. Das einzig bekannte Partitur des Werkes war war die des bedeutenden Dirigenten der Griechischen Nationaloper, Totis Karalivanos (1901-1987). Der Maestro liebte die Medgé besonders und hatte mehrere Auszüge daraus selbst orchestriert Er war sogar so freundlich, mir seine Partituren und die Stimmen zu schenken, die alle von ihm handschriftlich verfasst waren. Ich stand vor zwei Problemen. Erstens „beschränkten“ oder „begrenzten“ seine Orchestrierungsnotizen in gewisser Weise die Phantasie eines jeden nachfolgenden Arrangeurs. Zweitens war es nicht möglich, die konkreten Auszüge zu verwenden, da sie der allgemeinen Homogenität verpflichtet waren und urheberrechtlich geschützt waren.

Die Schwierigkeit wurde noch größer durch das Bewusstsein für den persönlichen Wert der Arbeit des Maestros. Ich kam zu dem Entschluss, eine vollständige eigene Orchestrierung des Werks vorzunehmen, wobei ich mich an den Arbeiten von D. Sostekin an Boris Godunow und M. Mussorgskys an Boris Godunow und die Chovanschtschina von M. Mussorgski orientierte, trotz der brillanten Orchestrierungen der oben genannten Werke durch den genialen Orchestrator (und selber Komponisten) N. Rimski-Korsakow oder Strawinsky.

Dieses Jahr jährt sich zum 40. Mal die meiner Meinung nach historische Aufführung und CD-Aufnahme von Rhea, die ich im September 1984 in Korfu mit hervorragenden griechischen Solisten und dem Orchester und Chor des Radios Sofia dirigiert hatte. Ich glaube, dass dieses Ereignis sowohl für die Wiederentdeckung von Samaras durch die griechische Musikszene als auch für die anschließende grundlegende Forschung über sein kompositorisches Werk grundlegend war.

Heute, am Ende meines Zyklus von Orchestrierungen und im Rückblick auf meinen persönlichen Weg durch das Werk des großen Komponisten aus Korfu, kann ich sagen, dass ich einen kleinen Beitrag zur wesentlichen Kenntnis seines Werks geleistet habe. Ich glaube, dass die jüngeren Musiker und Forscher mit ihrer Arbeit dazu beitragen werden, dass das Wissen über das Schaffenswerk von Samaras und das Werk anderer bedeutender Komponisten unserer Zeit eine breitere Gesellschaftsschicht erreicht und zum Eigentum unseres griechischen Volkes wird. Byron Fidetzis

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Stagione 1888 al Teatro Costanzi Roma, Librettista: Fontana, Direttore: Mugnone Leopoldo, Scenografia: Fidora Natale, Cantano: Calvé, Emma (Medgé); Hastreiter, Elena (20, 31 dicembre Paolicchi-Mugnone, Maria) (Vazanta); Massart, Nestor (Nair); De Vries, [Devries Maurice?] (Selim); Cherubini, Enrico (Kadur); Navarri, Alberto (Amgiad); Terzi, Raffaele (Il gran bramiro). 11, 13, 15, 16, 20, 30 dicembre. Prima esecuzione assoluta: 11 dicembre 1888 Costanzi, Roma

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Samaras „Medgé“ im Konzert in Athen/Foto Maria Callas Saal

Kostas Xakenis zum Konzert im Februar 2025: Eine unbekannte, absolut wichtige und musikalisch in die Zukunft reichende  Oper des Komponisten  aus Korfu, sein Meisterwerk Medgé, wurde im Rahmen einer Hommage an den großen griechischen Komponisten des Verismo in Zusammenarbeit mit dem Athener Philharmonia Orchestra auf der Bühne des Olympia-Theaters in einer neuen Orchestrierung aufgeführt.

Samaras, der Komponist, der die Olympiahymne vertont hat, war zweifellos der bedeutendste und erste Komponist der Ionischen Schule, der internationale Anerkennung erlangte. Seine Karriere blühte in Paris, Mailand und anderen Städten Italiens, bevor er zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Griechenland zurückkehrte. Leider sind die meisten Opern von Samaras nur in gekürzter Form, in Transkriptionen für Gesang und Klavier, erhalten, wobei die Originalorchestrierungen des Komponisten offenbar für immer verloren sind.

Byron Fidetzis orchestrierte und dirigierte Die „Medgé“ von Spyros Sarama/Foto Athens State Orchestra

Der erfahrene Dirigent Byron Fidetzis arbeitet seit vielen Jahren systematisch an der Wiederbelebung von Samaras‘ Werk und hat aus diesem Grund mehrere seiner Opern neu orchestriert, damit das zeitgenössische Publikum sie genießen und würdigen kann.

Nach der Wiederaufführung der Oper Lionella im Mai 2023 (wie Medgé auf youtube zu erleben) setzte der künstlerische Leiter der Philharmonie seinen unschätzbaren Beitrag zur Verbreitung des griechischen klassischen Repertoires fort und orchestrierte Medgé neu.

Mit diesem Satz hat der italienische Dichter und Librettist von Puccini und Samara (1861-1917), Ferdinando Fontana (1850-1919), vor etwa 140 Jahren das „Phänomen” Samara vorausgesagt! „Hören Sie es sich mit Ihrer Fantasie und im Original an: Spiro Samara: una vera stoffa d’operista! Ist die Musikalität der Worte nicht erstaunlich?“

Und ein Beweis für diese bedeutungsvollen Worte für die Zukunft, die ein „renommierter“ Schriftsteller unserem jungen 22-jährigen BKomponisten aus Korfu in Italien entgegenbrachte – obwohl wir zuvor nur seine späteren Opern Despo, Lionella, Rea, die mit der „Olympischen Hymne” beginnt, und Tigra, sowie seine Operetten La Cretopoula und Die Prinzessin von Sassoon, sowie die Aufnahmen von Xanthoula” und La Martyr kannten – war zweifellos der Höhepunkt der Aufführung im Olympia – dem Städtischen Musiktheater „Maria Callas“, das jugendliche Werk des Komponisten in vier Akten, Medgé.

Nach der Wiederaufnahme der Oper Lionella im Mai 2023 hat der Dirigent Byron Fidetzis, der seinen unschätzbaren Beitrag zur Verbreitung des wissenschaftlichen griechischen Repertoires fortsetzt, Medgé neu orchestriert, da die originale Orchestrierung von Samaras wie im Falle von Lionella als verloren gilt.

Die Oper, die nach dem französischen Originallibretto von Pierre Elzéar aufgeführt wird, ist eine beeindruckende Leistung des erst 22-jährigen Samaras. Ihr unendlicher melodischer Reichtum wurde von einer hervorragenden Besetzung von griechischen und französischen Opern-Sängern dargeboten.

Es war ein „Ozean“ origineller musikalischer Themen, die so vertraut sind und doch noch nie zuvor gehört wurden, sodass man sich dabei ertappt, abstrakt vor sich hin zu summen oder leicht im Takt der Ballettmusik des Werks mitzuwippen, als wäre es etwas ganz Eigenes. Aber ist das nicht das Wesen wahrer Kunst?

Was Byron Fidetzis betrifft, der das Werk nach dem Verlust der Originalpartitur neu orchestriert und damit eine weitere Meisterleistung in unserem Musikleben vollbracht hat, was soll man da noch sagen! Wir glauben, dass selbst wenn die Italiener 1888 in Rom ein völlig anderes Werk gehört hätten, Samaras, wäre er anwesend gewesen, von Fidetzis‘ „Handwerkskunst” begeistert gewesen wäre.

Zu Samaras´“Medgé“: Leopoldo Mignone dirigierte die Oper 1888 am Teatro Costanzi Rom/Wikipedia

In der Musik des Komponisten konnte man die französische Finesse und den Einfluss seiner französischen Kollegen und Lehrer Delibes (Lakmé), Bizet (Les Pêcheurs de Perles), Charpentier (Louise) und Chabrier (L’Étoile), aber auch in der „trionfale” „alla” Aida mit den links und rechts „abgeschnittenen” (!) Trompeten. Vorbildliche Ensembles von Sängern im italienischen Belcanto-Stil von Donizetti (siehe Sextett) und seine Ballette im französischen Stil (siehe Verdis Vêpres siciliennes), sowohl in der Oper als auch in französischen Operetten „à la“ (die an den berühmten Klein-Zack au Les contes d´Hoffmann, aber auch an die österreichisch-ungarische Operette seiner Zeit erinnern), aber immer mit einem persönlichen Stil, der nicht von seinen Zeitgenossen kopiert oder „gestohlen” wurde, sondern sich nur von den musikalischen Entwicklungen um ihn herum beeinflussen ließ, als Student und Kollege, der in ganz Europa intensiv studierte und dessen gesamtes musikalisches Œuvre das Gefühl vermittelt, dass etwas Neues die Geschichte unserer Kunst erschüttern wird, und die Wahrheit offenbart wird, um den kommenden musikalischen Trend des Verismo einzuführen und „zu gebären”, der von seinen Kollegen Puccini, Leoncavallo und Mascagni zu Recht als „Vater” dieser Bewegung bezeichnet wurde. Ein Beweis dafür ist das Intermezzo zwischen dem 3. und 4. Akt.

Das Athener Philharmonia  Orchestra, der Athener Stadtchor unter der Leitung des Dirigenten Stavros Beris und die Solisten in Bestform, obwohl für eine ausgewogene Balance mindestens ein weiterer Chor erforderlich gewesen wäre. Die Rollen wurden gespielt von: Lucie Peyramaure (Medgé/Mezzo), Konstantinos Klironomos (Nair), Dimitris Platanas (Selim), Héloïse Mas (Vazanta), Tassos Apostolou (Kantur) und Florent Leroux-Roche (Amtziad), die vom Pianisten Apostolos Palaios tadellos vorbereitet worden waren (17. 02. 254).

Das Publikum, das den Theaterraum füllte, rief „Bravo” und applaudierte lange, was für die griechische Oper in unserer Zeit ungewöhnlich ist, und ließ die Künstler nicht von der Bühne. Es war ein echter Triumph für Samaras, Fidetzis und alle anderen. In Korfu und Italien wären sie sicherlich mit Rosenblättern überschüttet worden, wie es Tradition ist. Und es stellt sich erneut die Frage, warum die Nationaloper all diese erstklassigen griechischen Opern von Samaras, Carrer, Lavraga usw. nicht in ihr Repertoire aufnimmt und unsere 200-jährige Tradition in der Versenkung verschwinden lässt. Kostas Xakenis

 

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Zu Samaras´“Medgé“: das Teatro Constanzi 1880, später Teatro dell´Opera di Roma/Wikipedia

.Inhalt: Medgé ist ein wahres musikalisches Juwel von Spyros Samaras, dem meisterhaften griechischen Komponisten des Verismus. Die Handlung entfaltet sich in vier Akten und fünf Szenen. Die Oper wurde am 11. Dezember 1888 in Rom (Teatro Costanzi) uraufgeführt und sechsmal aufgeführt, mit der französischen Sopranistin Emma Calvé, einem internationalen Star der Belle Époque, in der Titelrolle.

Die reichhaltige Textur der Musik, die glamouröse Kulisse und die Kraft der melodischen Erfindungen, durchdrungen von den Farben des Exotismus, fanden bei Publikum und Kritik gleichermaßen großen Anklang und markierten einen bemerkenswerten Erfolg Elzéar, in einer neuen Orchestrierung von Byron Fidetzis.

AKT I: Jäger verfolgen die Spuren eines wilden Tieres im Wald. Nair tötet mutig das Tier und feiert seinen Erfolg. Seine Schritte führen ihn zu einem verfluchten Felsen. Dort warnt ihn Kadur, sein weiser Diener, dass, wenn jemand es wage, dreimal Wasser aus dem Fluss zu trinken, ein Dämon in Gestalt einer Frau erscheine. Nair ist nicht überzeugt und trinkt, wodurch er die unbekannte „Göttin der Felsen“ heraufbeschwört. Tatsächlich steht eine schöne Frau vor ihm; sie ist kein Dämon, sondern die unglückliche Tochter des Königs von Mysore, Medgé. Nach der Niederlage ihres Vaters gegen den mächtigen Vazanta suchte sie Zuflucht in der Wildnis. Von ihrer Schönheit verzaubert, verspricht Nair, ihr zu helfen, über Nacht die Grenze zu überqueren. Bevor sie aufbrechen können, überrascht Sélim, der Anführer der Armee, sie und befiehlt seinen Soldaten, die Prinzessin zum Palast zu begleiten. Medgé muss gehorchen, während Sélim ihren Bitten nachgibt und Nair freilässt.

Zu Samaras´“Medgé“: Flachrelief mit Darstellungen von Denkern und Schriftstellern aus Asien, deren Ideen durch den Buchdruck verbreitet wurden, unter der Statue von Gutenberg. Plastik von von David d’Angers (1788–1856). Der Dichter August Pavie (1847 – 1925) steht rechts, beugt sich über die Kinder und zeigt auf die Bücher. Lakmé basiert auf seinem Werk „Les Babouches du Brahmane” und anderen Geschichten/Wikipedia

AKT II: Medgé ist in die vertrauten Gemächern des Palastes zurückgekehrt, aber sie kann Nair nicht aus ihrem Kopf bekommen. Vazanta erscheint, majestätisch und benevolent. Im folgenden Duett gesteht die Königin der Prinzessin, die siegreich von der Grenze zurückgekehrt ist, ihre Liebe zu Sélim. Sie offenbart auch ihre verborgene Angst, dass Medgés erstaunliche Schönheit ihren Auserwählten verführen könnte. Medgé bietet an, den Palast zu verlassen, und Vazanta stimmt erleichtert zu. Unterdessen feiert das Volk die triumphale Rückkehr der Soldaten. In der Menge suchen Nair und Kadur Medgé, trotz der Gefahr. Während Vazanta zusammen mit den Priestern Brahma für den Sieg dankt, entdecken sie sie, aber Nairs unerwünschte Anwesenheit wird von Amgiad bemerkt. Nair wird verhaftet und zu Sélim gebracht, der über sein Schicksal entscheiden wird. Kadur flieht und übernimmt die Aufgabe, Medgé zu benachrichtigen. Im Palast wird Sélim zum König gekrönt. Als er von Medgés Entscheidung zu gehen erfährt, versucht er verzweifelt sie aufzuhalten, jedoch ohne Erfolg. Nair wird vor die Königin gebracht, die ihn dank der Fürsprache der Prinzessin freilässt. Das Drama erreicht seinen Höhepunkt, als die Personen sich in ihren Ängsten und Sehnsüchten gefangen sehen. AKT III: Eingehüllt in die Dunkelheit der Nacht und unter dem bedrohlichen Schatten von Sélim planen die beiden Liebenden ihre Flucht: Sie vereinbaren, dass Nair Medgé vorausgehen wird und sie sich bei Tagesanbruch am Flussufer treffen werden. Als Nair sich entfernt, erscheint Sélim und versucht, sich Medgé aufzuzwingen, die sich jedoch standhaft weigert, seinen Forderungen nachzugeben.  Versteckt hinter einer Säule beobachtet Vazanta die Szene und greift im richtigen Moment ein, um die Prinzessin unter ihren Schutz zu stellen. AKT IV: Am Ufer des Ganges singen der Hohepriester und das Volk Lobeshymnen auf Deva, die Göttin der Nacht. Unter ihnen betet auch Vazanta in ihrer Funktion als Hohepriesterin. Szenenwechsel: Vor dem Tempel Kadur segnet die Vereinigung von Nair und Medgé. Der ekstatische Moment wird von Sélim unterbrochen, der sich bedrohlich Medgé zuwendet. Bevor er sie ergreifen kann, erscheint Vazanta: Sélims Verrat an der Königin wird noch schwerwiegender, als er die Göttin Deva beleidigt. Sélim gesteht seine Liebe zu Medgé und macht damit seine Verurteilung unvermeidlich. Die Oper endet damit, dass Vazanta ein Messer in Sélims Kehle stößt, der auf dem heiligen Altar geopfert wird. Im Morgengrauen stehen Nair und Medgé vereint auf den Stufen des Tempels. Maira Milolidaki

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Die vorliegenden Texte entnahmen wir mit Dank dem Programmheft zur konzertanten Aufführung im Maria Callas Saal in Athen im Februar 2024. Übersetzung DeepL. Die eine oder andere Unklarheit im Text von Giorgios Leotzakos führt darauf zurück, dass es nur einen griechen Originaltext gab – in griechischer Schrift -, der keine weitere Referenz zuließ. Daher die kursiv gesetzten Einschübe. Foto oben: Emma Calvé/ J. Willis Sayre Collection of Theatrical Photographs/University of Washington/Wikipedia. Redaktion und Kürzungen G. H.

Drei Komponistinnen Frankreichs

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Geballte Frauenpower springt dem Betrachter des Covers wie dem Hörer der CD mit dem Titel Sisters in Augen und Ohr, nicht nur mit den Gesichtern von Dirigentin und Sängerinnen, sondern auch mit der Musik von Komponistinnen, die auf ihr vertreten sind, und so huldigt sie in extremer Weise dem Zeitgeist. Allerdings verwundert dabei umso mehr, dass von der französischen Komponistin Louise Bertin nur die Sinfonia ihrer Oper Fausto (nach Goethe), nicht aber die Arie des für Mezzosopran komponierten Titelhelden vertreten ist, und dass obwohl eine der beiden Solistinnen der CD diese Partie vor gar nicht langer Zeit gesungen hat. Sisters sind im übrigen nicht die Mezzosopranistinnen Karine Deshayes und Delphine Haidan, und auch die Dirigentin Débora Waldman kann sich verwandtschaftlicher Bande nicht rühmen, wohl aber sind Maria Malibran und Pauline Viardot Schwestern gewesen, letztere auch als Komponistin bekannt, während als dritte Komponistin Clémence Grandval mit Auszügen aus ihrem Mazeppa vertreten ist, leider nur mit Orchesterstücken, so dass schwesterliche Zusammenarbeit sich auch hier nicht auf die beiden Sängerinnen erstreckt.

Die männlichen Komponisten dominieren auch auf dieser CD, vor allem wenn die Sängerinnen gefragt sind, von denen nur der dunkleren Stimme von Delphine Haidan das Glück zuteil wird, mit Viardots Arie aus Le dernier sorcier ein von einer Geschlechtsgenossin komponiertes Werk darbieten zu dürfen.

In drei anspruchsvollen Rossini-Duetten aus La Donna del Lago, Elisabetta, regina d’Inghilterra und Semiramide ist die mit einer helleren Stimme begabte Deshayes jeweils Elena, Elisabetta und Semiramide, die mit der dunkleren aufwartende Haidan Malcolm, Matilde, Arsace, was man nicht dem Booklet entnehmen kann, das sehr sparsam mit Informationen ist, sondern was man sich irgendwie aus dem sonstigen Repertoire der beiden erschließt. In der Rolle der Elena funkelt die Stimme von Deshayes verführerisch, weiß sie sich als Elisabetta mit der ihrer Partnerin reizvoll zu umschlingen und ist sie als Semiramide klar dominierend, was vokale Energie und Strahlkraft angeht.

Aus Glucks Orphée et Eurydice singt Haidan geschmeidig, weich und doch mit vokalem Biss die berühmte Arie, während die heller getönte Deshayes in Amour, viens rendre behände durch die Koloraturen eilt, mehr auf die technische Bewältigung als tiefsinnige Gestaltung konzentriert ist und mit einer schönen Kadenz, aber auch stellenweise mit Schrillheit aufwartet.

Spätestens beim Anhören von Elviras Qui la voce sua soave fragt man sich, warum sich Karine Deshayes als Mezzosopran bezeichnet, denn hier offenbart die Sängerin vor allem Sopranqualitäten, eine weitere Frage dürfte die nach dem Warum des Überwiegens von Orchesterstücken der Komponistinnen sein, insbesondere, wie bereits erwähnt, den Fausto von Bertin betreffend , aber auch Mazeppa von Clémence de Grandval betreffend. Das Orchestre national Avignon-Provence unter Debora Waldman ist zwar ein solider, einfühlsamer Klangkörper, aber als Alibi für ihre Dominanz nicht geeignet, so wenig wie die Oper generell es sein kann, die zumindest gleichwertige Beteiligung  und Bedeutung von Frauen in ihrer Geschichte zu demonstrieren (NNM 118). Ingrid Wanja.                    

Bayreuther Festspiele 2024

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Kaum ist der letzte Ton verklungen, liegt auch schon die Blu-ray von Tristan und Isolde auf dem Tisch (2 Blu-ray DG 00440 073 6685). Es handelt sich freilich nicht um den Mitschnitt aus dem aktuellen Festspieljahr, sondern um eine Aufnahme, die 2024 entstand, als diese Produktion ihre Premiere erlebte, und die pünktlich Anfang Juli auf den Markt kam. Als Dokument ist sie wichtig, weil sie den Tristan von Semyon Bychkov festhält, der 2018 bei Uwe Eric Laufenbergs Parsifal auf dem Grünen Hügel debütiert hatte und Tristan und Isolde suggestiv gestaltet und stellenweise wie neu leuchten lässt, voll sinnlicher, verführerischer Farben und dabei immenser Spannkraft und Dynamik. Diese glühende Interpretation hatte mich schon in diesem Sommer im Festspielhaus auf Anhieb elektrisiert, wobei sich im Haus die Nuancen und instrumentalen Feinheiten vielleicht noch eine Spur reicher und fesselnder gestalteten. Die Aufnahme hält auch das Rollendebüt von Andreas Schager fest. Dieser Tristan ist ein Kraftpaket, das sich bereits nach dem ersten zaghaften „Isolde“-Stammeln lieber in heldischer Emphase zeigt, was den Hörer eher ermüdet als den unermüdlich muskulös und kernig singenden Helden. Camilla Nylund war mit der Isolde, die sie 2022 in Zürich (und dann in Dresden) erstmals komplett gesungen hatte, endgültig in die Riege der Hochdramatischen vorgestoßen. Sie singt jugendfrisch, mit aufblühenden Bögen, runder Höhe, vielleicht etwas schwächerer Tiefe, insgesamt vermutlich die derzeit beste Vertreterin der Partie. Im Premierenjahr ist die erfahrene Brangäne der Christa Mayer der müden Ekaterina Gubanova vorzuziehen, Birger Radde war als Melot ein Gewinn, der markant rufende Kurwenal von Olafur Sigurdarson wurde 2025 von Jordan Shanahan abgelöst, ansonsten ist die Besetzung von Matthew Newlins jubelnd frischen Seemann, dem eleganten Daniel Jenz als Hirt bis Günther Groissböcks ausdrucksvollen Marke unverändert.

Der Inszenierung ist nicht viel abzugewinnen. Die Arbeit von Thorleifur Örn Arnarsson in den Bildern von Vytautas Narbutas und in den Kostümen von Sybille Wallum gibt sich auf dem Bildschirm belangloser und gefälliger als in der Festspielhaustotalen. Zunächst dominieren die dekorativ gehängten Schiffstaue die Szene sowie vor allem Isoldes sonderbares weißes Engelsgewand, eine Art überdimensionierter Reifrock, auf dem sie Erinnerungen und Gedanken festhält und in den sich auch Tristan gerne vergraben würde, was der Blick von oben sehr geschickt zeigt (Video Director: Michael Beyer). Vieles, wie der im zweiten Akt mit Antiquitäten, Kram und Nippes vollgestopfte Schiffsrumpf, wirkt allerdings in den kleinen Bildausschnitten befremdlich und unfertig und lässt, anders zwar als die rätselhaft wirkende Live-Aufführung, den Betrachter ratlos zurück. Rolf Fath

 

 

Im grossen Schatten anderer

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Eigentlich sollten einige Jahre zwischen den Aufführungen von Mozarts Idomeneo in der Lindenoper und den Konzerten mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München liegen, beide von Simon Rattle geleitet und in den meisten Partien identisch besetzt. Corona machte einen Strich durch die Aufführungspläne und führte dazu, dass die Premiere in Berlin erst im Frühjahr 2023 stattfinden konnte, die drei konzertanten Aufführungen in München mit dem neuen Chefdirigenten gerade einmal neun Monate später, nämlich m Dezember des gleichen Jahres. Abweichend in den Hauptpartien waren die Elettra und die Ilia besetzt, in Berlin sangen Sonya Yoncheva und Anna Prohaska, in München und damit auch auf den nun vorliegenden CDs sind Elsa Dreisig und Sabine Devieilhe zu hören, während die Besetzungen mit Andrew Staples als Idomeneo und natürlich Magdalena Kožená sich nicht voneinander unterscheiden. Für den Hörer, für den Luciano Pavarotti als Idomeneo und Edda Moser als Elettra das Maß aller Rollenportraits sind, gibt es natürlich einiges einzuwenden, was Timbrequalität des Tenors oder dramatische Wucht des Soprans angehen, wobei die Münchner Besetzung gegenüber der Berliner Licht- wie Schattenseiten aufweist.

Dem Idomeneo Andrew Staples mangelt es an Schönheit und Klarheit des Timbres, in Passagen, in denen der Hörer Heldisches erwarten könnte, bekommt er oft nur recht Weinerliches zu hören, auch die Rezitative leiden  streckenweise darunter, man vermisst eine präsentere vokale Autorität, wie sie durchaus stellenweise, so zum Beispiel im „Eccomi…“ zu vernehmen ist. Da ist ihm sein Tenorkollege Linard Vrielink als Arbace oft überlegen, der durchgehend sehr beteiligt wirkt, in der Arie des dritten Akts geradezu tollkühn, allerdings nicht in allen Registern mit der gleichen Qualität aufwartend. Der dritte Tenor ist Allan Clayton als Oberpriester mit der für das Amt notwendigen vokalen Eindringlichkeit. Als Stimme des Orakels lässt sich der Bass von Tareo Nazmi vernehmen.

In Berlin wie in München ist Magdalena Kožená ein in jeder Hinsicht idealer Idamante, nicht zuletzt als  Partnerin für die Ilia der Sabine Devieilhe, zu deren Sopran ihr runderer, dunklerer aber durch gleichwertige Timbreschönheit, Geschmeidigkeit und Farbigkeit hervorstechender Mezzosopran ideal passt, die die Rezitative zu Höhepunkten der Aufnahme werden lässt und die einfach ein Wunder an Ebenmaß ist.  Ein Riesengewinn im Vergleich zu den Berliner Aufführungen ist die Ilia von Sabine Devieilhe mit einem Sopran von pura dolcezza, mit einem tragisch klingenden Touch im Timbre, nur selten etwas zu viel gefällige Naivität ausstrahlend, aber hinreißend mit den „zeffiretti lusinghieri“, die bei ihr zu wahren zeffirettini werden, mit wunderschönen Schwelltönen und vielem zart Dahingetupftem.  Ein empfindsames Beben durchzieht die gesamte Leistung.  Elsa Dreisig ist eine wunderbare Sängerin, aber für die Elettra auch als Gegenspielerin einer ganz zarten Ilia und mit Tugenden wie Textverständlichkeit, Rundung der Töne, schöner Phrasierung einfach zu wenig „furore“ vermittelnd,  wohl eine schöne Trauer, aber kaum die Wut der Kränkung bei allem Bemühen um Rasantes, Hysterisches vermittelnd.

Vorzüglich ist der Chor des bayerischen Rundfunks, erschauern machend mit „Qual nuovo terror“, das Orchester folgt seinem Dirigenten und zaubert einen farbig-duftigen, durch Klarheit und Straffheit sich auszeichnenden Klang und sorgt für nie nachlassende Spannung (BR Klassik). Ingrid Wanja

 

Hochvirtuos

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Eng mit dem Namen des neapolitanischen Kastraten Giovanni Carestini verbunden sind die beiden bei Solo Musica  erschienenen CDs der aus Südafrika stammenden Mezzosopranistin Megan Kahts mit deutschen Wurzeln, deren erste sie im Bündnis mit dem Carestini Orchester und mit Musik von Händel und Haydn und den Damen Ariadne und Armida  zeigt, während die neueste zwar auch Händel, daneben aber  Johann Adolph Hasse berücksichtigt und neben Arien, die der Kastrat einst zum Erfolg führte, auch solche berücksichtigt, die für die Gattin Hasses, die Sängerin Fausta Bordoni komponiert wurden. Dabei schmeichelt die CD nicht nur den Ohren, sondern kann durch die Sorgfalt, mit der Cover und Booklet gestaltet wurden, sich auch für weitere Sinne und nicht zuletzt den Verstand anregendes Erlebnis beweisen.

Megan Kahts war in Südafrika bereits ein singender Teenager-Star gewesen, ehe sie sich zur weiteren Ausbildung nach Wien begab und unter anderem bei  Claudia Visca und mit Robert Holl studierte, immer noch als Sopran, ehe ihre Mezzoqualitäten entdeckt wurden. 2018 debütierte sie im neuen Fach als Costanza in Haydns L’isola disabitata. Neben alter Musik ist ihr zweites musikalisches Standbein die neueste Musik, wie die Teilnahme an der Uraufführung von Fabian Panisellos Oper Die Judith von Shimoda bezeugt. Erstaunlich ist ihr Werdegang schon allein dadurch, dass eine seit dem achten Lebensjahr musikalischer Ausbildung unterworfene Stimme eigentlich diese Erfolge gar nicht erreicht haben dürfte.

Die nun vorliegende CD verrät das abgelegte Sopranfach noch immer in der leuchtenden Höhe, die bruchlos an die farbige, nicht geschlechtsgebunden erscheinende Mittellage  angebunden ist, während in der Extremtiefe doch manch nur angetippter und trotzdem recht mühsam formulierter Ton auf die einstige Stimmlage hinweist, so in Händels „Tempesta e calma“ der Arie des Alessandro.  Das sind aber recht belanglose Einwände, denn insgesamt erfüllt die mit einem angemessenen Vibrato ausgestattete Stimme alle Voraussetzungen für die Bewältigung der anspruchsvollen Partien, lässt die Erleichterung des Ariodante in „Dopo notte“ ebenso erspüren wie die Weiblichkeit einer Alcina in „Mi lusinga il dolce affetto“. Eine schöne Leichtigkeit zeichnet die Darbietung von Ariodantes Arie „Dopo notte“ aus, eine ebensolche Melancholie  und bruchlose Schwerelosigkeit „Scherza infida“, auch die kluge Phrasierung kann gefallen. Ist ein Stück derart virtuos wie die Arie des Tolemeo, dann verzeiht man den ein oder anderen verhuschten Ton gern. Ein wesentlicher Pluspunkt für die CD ist das Orchester Wiener Akademie unter Jeremy Joseph, das spritzig, straff und präzise agiert. Insgesamt und einschließlich des Booklets ist das eine höchst erfreuliche Bereicherung des CD-Markts (Solo Musica SM 493). Ingrid Wanja   

Fürstliche Noten

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Die Historie verzeichnet einige gekrönte Häupter, die sich erfolgreich im Komponieren versuchten, so Ludwig XIII., Kaiser Leopold I. oder König Friedrich II. von Preußen. Das Label Chateau de Versailles, unermüdlich in der Aufarbeitung des Erbes der französischen Barockoper, widmet sich in seiner neuen Ausgabe einem Werk von Philippe d´Orléans, der Suite d´ Armide ou Jérusalem délivrée. Die Tragédie en musique in einem Prolog und fünf Akten, basierend auf Tassos Gerusalemme liberata, wurde wahrscheinlich 1704 im Schloss von Fontainebleau uraufgeführt und war als Fortsetzung von Lullys Armide und Campras Tancrède konzipiert. Die Handlung kreist um die in den Ritter Renaud verliebte Zauberin Armide, die ihn um jeden Preis in ihre Arme zu locken versucht. Prinzessin Herminie, die von Armide gefangen gehalten wird, ist Renauds Begleiter Tancrède zugetan, der jedoch zunächst seiner Clorinde treu bleibt und sich erst am Ende zu Herminie bekennt. Auch Renaud und Armide sind schließlich versöhnt und für immer vereint.

Ende Juni 2023 fand im Château de Versailles die Aufnahme des Werkes mit der Cappella Mediterranea unter Leonardo García-Alarcón statt, die CVS auf zwei CDs mit umfangreichem Booklet veröffentlicht hat (CVS125). Der argentinische Cembalist und Dirigent fächert die an Effekten und Harmonien reiche Musik faszinierend auf und leitet ein renommiertes Solistenensemble, das von Véronique Gens in der Titelrolle angeführt wird. Ihr Sopran ist nachgedunkelt, der Ton energisch und herrscherlich, der Ausdruck verschlagen und bedrohlich. Aber sie findet auch zu tragisch umflorten Momenten, die für ihren Konflikt stehen („Amour, funeste amour“ im 2. Akt). Auch Herminie ist mit Marie Lys prominent besetzt, ebenso der Renaud mit dem französischen Tenor Cyrille Dubois. Die französische Sopranistin weiß sogleich in Herminies erstem Monolog, „Malheureuse Herminie“, mit feiner Lyrik zu betören. Auch im 4. Akt wartet sie bei „Que Vattrin tarde à revenir“ mit bewegenden Tönen auf.

Klangvolle Stimmen lassen der Tenor Nicholas Scott als Adraste und der Bariton David Witczak als Tissapherne, zwei Verehrer Alcinas, hören. Tancrède ist der lyrische Bariton Victor Sicard aus Frankreich, der im 3. Akt in einer dramatischen Szene seiner Clorinde gedenkt, deren Stimme (Gwendoline Blondeel) visionär ertönt. Mit Armide hat er eine Schlussszene von großer Leidenschaft („Heureux, et trop heureux“).  Der Choeur de Chambre de Namur (Einstudierung: Thibaut Lenaerts) lässt als Armides Gefolge puren Wohllaut hören, so am Ende des 1. Aktes bei „Pour mieux servir la belle Armide“, weiß aber auch dramatisch aufzutrumpfen wie zu Beginn des 5. Aktes bei „Combattons, triomphons“, wo Christen und Sarazener konfrontiert sind.

Dreißig Jahre vor Rameau ist das Werk das bedeutende Zeugnis eines Komponisten von großer Kreativität und Phantasie (09. 09. 25). Bernd Hoppe

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Philippe von Frankreich, Duc d´Orleans/  Gemälde von Matthieu/Wikipedia

Philippe von Frankreich, Herzog von Orléans (* 21. September 1640 in Saint-Germain-en-Laye; † 9. Juni 1701 in Saint-Cloud), war Prinz von Frankreich und Navarra, Herzog von Anjou (1640–1668), Herzog von Orléans, Chartres und Valois sowie Pair von Frankreich (1660), Herzog von Nemours und Pair von Frankreich (1672), Herzog von Montpensier und Pair von Frankreich (1695), Dauphin der Auvergne und Fürst von Dombes (1693–1701), Herzog von Beaupréau und Châtellerault, Fürst von Joinville und La Roche-sur-Yon, Marquis von Mézières, Graf von Eu und Saint-Fargeau sowie Baron von Beaujolais. Bei Hofe wurde er allgemein Monsieur genannt, was der offizielle Titel des Bruders von König Ludwig XIV. war; seine Gemahlinnen wurden als Madame bezeichnet. Seine zweite Ehefrau war Liselotte von der Pfalz.

Saint-Saens Oper „Lancêtre“

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Better today than yesterday? The Palazzetto Bru Zane’s series of recordings of the complete operas of Saint-Saëns, begun in 2012, now continues with the release of one of his most mysterious works. For L’Ancêtre, unlike Phryné or La Princesse jaune, is a score that the history of French music has stubbornly ignored and whose title says little about its subject matter. One never ceases to be surprised by opera houses’ general lack of interest in Saint-Saëns’s output for the theatre, even though his Danse macabre, his concertos for piano and cello and the Bacchanal from Samson et Dalila are constantly heard. Let us examine whether the quality of L’Ancêtre justifies its subsequent neglect.

Rather than proposing an answer to the question by means of musicological analysis, perhaps it would be preferable to give the music critics of our day a chance to speak, those journalists who hastened to express their views following the concert performance given in Monaco in October 2024, from which this recording derives. And let us see if today’s discourse matches the – thoroughly enthusiastic – reaction of those who were present at the world premiere (including Gabriel Fauré himself).

François Laurent (Diapason) went so far as to describe the opera as ‘a marvel’ in which ‘nothing drags, the action flows. […] Old Saint- Saëns seeks to astonish his audience at every turn’. Laurent Bury (Classica) called it a ‘brief but powerful piece’, with ‘well-characterised protagonists’ and a libretto that is ‘wholly effective in its tragic character’. For Damien Dutilleul (Olyrix), L’Ancêtre is ‘musically very rich. It is the work of an audacious, mature composer. Several numbers, especially ensembles and choruses, are particularly striking’. Jany Campello (Resmusica) appreciated the ‘concision’ and ‘luxuriance’ of a score that ‘unwinds a dramatic thread of rare tension, particularly from Act Two onwards. […] The variety of effects and orchestral colours, the absence of longueurs, and the vitality of his music prevent boredom, and offer moments of great beauty […] right up to a vocal quartet of overwhelming lyricism’. According to Clément Mariage (Forum Opéra), the music is particularly ‘inspired’, contriving ‘highly successful dramatic episodes. […] What’s more, the orchestration of the work is highly meticulous’, especially the final ‘passionate lyrical outpouring, staggering in its sensuality and pain’. Finally, Laurent Bury (again, but this time writing for Concertclassic) praises ‘a concision and freedom rare in Saint-Saëns, who does not feel obliged to adopt the austere drapery of antiquity and allows himself more flexible forms’; the critic confessed himself ‘struck by certain motifs whose dramatic efficacy almost seems to prefigure the film music of Bernard Herrmann’.

What can we conclude from this chorus of praise, whose unanimity even surpasses the reviews of the premiere (which one might well put down to a polite esteem for the elderly Saint-Saëns)? Firstly, that the tireless work of institutions that go out prospecting for buried treasure can bear fruit and is not in vain. But also that such dormant works must be championed with enthusiasm and talent by artists conscious of their responsibility in this mission of resurrection. For all the aforementioned commentators praised the quality of a team of performers fully committed to the work’s revival. Which is why we would like to pay heartfelt tribute to the instrumentalists, conductor and singers who strove to give L’Ancêtre a new lease of life. For if the score is the prerequisite for displaying the artist’s talent, it is the latter’s sensitivity and exacting standards that transcend that score and raise it to new heights. And, finally, we wish to put in a word for the enthusiasm of our collaboration with the Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo and its conductor Kazuki Yamada, a joint effort initiated and sustained thanks to Didier de Cottignies, to whom we express our warm gratitude for having made this adventure possible. Thanks to him, from now on it will be a pleasure to listen to our ancestors. Alexandre Dratwicki (Palazzetto Bru Zane)

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Camille Saint-Saens (1835-1921): L’Ancetre (Deluxe-Ausgabe im Hardcover-Buch); Michael Arivony, Gaelle Arquez, Helene Carpentier, Julien Henric, Jennifer Holloway, Matthieu Lecroart, Tokyo Philharmonic Chorus, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Kazuki Yamada

2 CDs; Michael Arivony, Gaelle Arquez, Helene Carpentier, Julien Henric, Jennifer Holloway, Matthieu Lecroart, Tokyo Philharmonic Chorus, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Kazuki Yamada/Bru Zane

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Eine Besprechung folgt zeitnah/ g.h.

Ambitioniert in die Sackgasse

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Die einheimische Presse feierte die Neuproduktion von Les contes d´Hoffmann bei den Salzburger Festspielen 2024 als großes künstlerisches Ereignis, und auch das Premierenpublikum zeigte sich angetan von der Regiearbeit von Mariame Clément und dem Dirigat von Marc Minkowski. Nun gibt es die Produktion als Bluray und DVD und fordert dem Betrachter bzw. Hörer ein Höchstmaß an Geduld ab. Das von Offenbach nicht vollendete und vielen Verschlimmbesserungen und Vervollständigungen unterworfene Werk wurde  zuletzt 2003 bei den Salzburger Festspielen gegeben, davor waren über zwanzig Jahre vergangen, bis man es hier hatte erleben dürfen, und die Erwartungen waren entsprechend hoch gespannt, besonders weil man wie inzwischen allüberall „die weibliche Perspektive“ erwartete. Gewählt worden war die Rezitativfassung von Michael Kaye und Jean-Christoph Keck.

Nun ist die Handlung des Werks zwar keine verworrene, aber eine doch recht komplizierte mit einer Rahmenhandlung, innerhalb derer sich drei Episoden, des Dichters Suche nach der wahren Liebe darstellend, abspielen, während im Epilog deutlich wird, dass Hoffmann sich selbst um die wahre Liebe, die Stellas, durch seine Trunksucht gebracht, sie an den ewigen Gegenspieler verloren hat.

Die drei Episoden führen Hoffmann in das Berlin seiner Zeit, in dem ihn Doktor Miracle mit der Puppe Olympia verzaubert,  nach Venedig zur Kurtisane Giulietta, wo er auf den Romantiker Schlemil trifft, und in das Haus der Sängerin Antonia, die von einer tödlichen Krankheit bedroht ist. Mehr Abwechslung, mehr interessante Milieus  können nicht sein, doch die Regie macht alles zunichte, indem sie aus dem Dichter Hofmann einen Regisseur macht, der allerdings oft mit einer Kamera, vor allem aber mit einem Einkaufswagen voller Filmrollen, aber auch Schnapsflaschen über die Einheitsbühne von Julia Hansen schlurft, das nützliche Gerät sogar zur Schlafstätte umzufunktionieren weiß, der Bösewicht sein Filmproduzent ist.  Da der Tenor aber nicht nur der Regisseur Hoffmann, sondern auch dieser selbst in seinen Episodenfilmen, die er umgeben von einer Überfülle umher wieselnden Personals dreht, ist,  singt der Regisseur, während der stumme Hoffmann in den Episoden zwar hübsch anzusehen, aber halt stumm ist. Trostlos ist die Optik, denn vor einer grauen Betonwand gibt es nur kleine Szenen-Ausschnitte, so aus dem Musikzimmer der Antonia, ganz und gar trostlos ist die Kulisse für den Venedig-Akt, der durch kümmerliche Leuchtstäbe dargestellt wird. Nicht nur für  die übervölkerte potthässliche Bühne, sondern auch für die ebensolchen Kostüme  ist Julia Hansen verantwortlich, die offensichtlich ein Faible für untragbare BHs hat, die auch mal explodieren können, oft gerade  von einer Walküre abgelegt zu sein scheinen und wie fast alle Kostüme höchst unkleidsam bis der Lächerlichkeit anheimgebend gegenüber dem Sopran sind. Ausgemerzt ist alles, was dem Stück seine lokale und zeitliche Gebundenheit und Farbigkeit verlieh, angefangen vom Weinkeller Lutters, Lächerliches hinzugefügt wie das Komponieren der Barcarole auf einer öden Parkbank bis hin zum geschmacklosen Auftischen von  Spaghetti mit Tomatensoße plus Parmesan und Schlagrahm.  Das Schicksal des unglücklichen Poeten geht unter in einem Wust von Darstelllern, Nebenhandlungen, witzig sein sollenden Einfällen. Der Verzicht auf viele dieser Einfälle wäre der vom Grundgedanken her gar nicht so abwegigen Regieidee dienlich gewesen.

Marc Minkowski steht Jacques Offenbach, so sollte man meinen, durchaus nahe, hat für diesen Hofmann aber nicht die notwendige leichte Hand, lastet mit den Wienern eher schwer auf der Partitur als sie aufblühen, ihre Eleganz entfalten, ihre Straffheit Triumphe feiern zu lassen. In den Achtzigern war Placido Domingo, gleichzeitig und danach Neil Shikoff nicht nur in Salzburg der Hoffmann vom Dienst. Benjamin Bernheim ist natürlich schon einmal als Muttersprachler prädestiniert für die Partie, geht aber im Inszenierungswust häufig visuell unter und wirkt insgesamt wie von recht leichter vokaler Statur, nur wenn er nicht gleichzeitig szenisch heftig beansprucht wird, wird man gewahr, was vokal in ihm steckt. Wunderbar in jeder Hinsicht und sich in jeder noch so umtriebigen Szene visuell wie vokal behauptend ist Kate Lindsley als Muse. Kathryn Lewek singt alle vier Frauenrollen, ist in keiner ein Ausfall und doch nicht die Idealbesetzung, da nicht einmal im heimischen Koloratursopranfach Außerordentliches leistend. Recht eintönig, wenn auch machtvoll gebietend gibt Christian Van Horn die Bösewichter, auf deren aufsehenerregende Optik man viel Aufmerksamkeit verschwendet hatte. Marc Mauillon kann dem Couplet des Frantz nicht viel Hörenswertes entlocken, eindrucksvoll ist die Stimme der Mutter mit der von Géraldine Chauvet.

Die Aufnahme ist ein trauriges Beispiel dafür, dass auch noch so viel szenische Masse nicht für musikalische Klasse garantieren kann, im Gegenteil (Unitel 811904). Ingrid Wanja

Gemischtwarenladen

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Lumina (die Leuchtende, Lichter) heißt das neue Recital von Samuel Mariño bei DECCA, das im Oktober 2024 in Berlin und im Dezember desselben Jahres in London aufgenommen wurde (487 1226). Über diese Neuaufnahme werden sich Liebhaber der bemerkenswerten Stimme des Sopranisten aus Venezuela freuen, doch müssen sie eine Programmauswahl hinnehmen, die einem Gemischtwarenladen gleichkommt. Sie reicht vom Barock über die Romantik bis zum Piaf-Chanson. Der Einstieg mit Almirenas Arie „Lascia ch´io pianga“ aus Händels Rinaldo ist erwartungsgemäß, wenn das Tempo auch extrem verlangsamt wirkt. Die Stimme klingt keusch, was auf fast jede Nummer zutrifft und damit eine gewisse Einförmigkeit evoziert. Schon der nächste Titel, Schuberts „Ave Maria“, scheint fragwürdig, zumal das Arrangement von Chris Hazell für die von Ben Palmer geleitete Covent Garden Sinfonia geschmäcklerisch wirkt in seinem wolkigen Sound. Gänzlich unerwartet erklingt Marguerite Monnots „Hymne à l´amour“, unsterblich durch die Interpretation von Edith Piaf. Muss dieser Ausflug in die Unterhaltungsmusik sein? Wenigstens bleibt die Begleitung von Jonathan Ware am Klavier im schlichten Bereich. Auch Rusalkas Lied an den Mond aus Dvoráks Oper ist eine befremdliche Wahl trotz der des einfühlsamen Vortrags und melancholischen Stimmung, welche der Interpret erzeugt, ebenso Liszts „Oh! quand je dors“, das der Sänger mit der Begleitung von Ware übermäßig aufrauschen lässt. Mit Caccinis träumerisch vorgetragenem „Amarilli, mia bella“ geht es zurück in den Frühbarock, mit „Ombra mai fu“ aus Serse erklingt eine der berühmtesten Arien Händels, leider in einem schwammigen Arrangement. Aber Mariños Stimme ist schwebend, und und ausgeglichen.

Die letzten Titel der Programmauswahl sind dann wieder Außenseiter – Hahns „À Chloris“, Canteloubes „Bailèro“ aus den Chants d´Auvergne in voluminösem Klang, Strauss´ Lied „Morgen!“, von Ware am Flügel zauberisch intoniert, aber von Mariño mit zu kindlichem Klang angestimmt, das irische Traditional „The Last Rose of Summer“ in traumversunkener Wiedergabe und Rachmaninoffs „Vocalise“, in der er die Stimme mühelos strömen lässt. Eine dramaturgische Konzeption mag man in dieser Auswahl nicht erkennen, sie scheint eher dem „Best of“ verpflichtet.

So verständlich das Bemühen des Sängers um eine Repertoire-Erweiterung ins lyrische Fach anmutet – Mariño sollte sich auf das Repertoire konzentrieren, in welchem er durch seine Auftritte bei internationalen Produktionen und Festivals Aufsehen erregt hat – den Barock. Mit den Werken von Porpora, Vinci, Giacomelli, Vivaldi, Graun u.a. gibt es ein reiches Bestätigungsfeld für den Sänger mit seiner Stimme. Bernd Hoppe

Gladys Kuchta

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Bei youtube gibts – in grauer Qualität, aber immerhin – den wunderbaren alten TV-Film der Elektra (unter Leopold Ludwig mit Regina Resnik, Ingrid Bjoner, Helmut Melchert, Hans Sotin und einer ganzen Garde von ersten Sängern jener Zeit),  1968 in der Regie von Joachim Hess im Deutschen Fernsehen und danach eine Zeitlkang als Gratisstream der Hamburgischen Staatsoper gezeigt. Den Soundtrack gab´s mal bei Ponto (wie auch eine 3-CD-Box mit Live-Ausschnitten). Aber anders als andere Opern aus dieser Hamburger Serie ist Elektra nie als DVD herausgegeben worden – das selbe Schicksal teilen die Arabella mit Arleen Saunders und die Martha unter Stein. Elektra ist die Berliner Hochdramatische Gladys Kuchta.

Und bei erneutem Anschauen/Anhören verbeuge ich mich einmal mehr vor meiner Isolde, Turandot, Leonore, Senta oder Brünnhilde und eben Elektra meiner Lehrjahre an der Deutschen Oper Berlin.  Damals eher schnöde ihre Dauerpräsenz beklagend, bin ich heute demütig und preise sie als eine der wirklich wichtigen Nachkriegsstimmen, ohne die das große Repertoire in Deutschland und vor allem an der Deutschen Oper Berlin nicht hätte stattfinden können. Ich muss gestehen, wir haben damals im 2. Rang uns über die gewisse Schärfe der Stimme beklagt, auch über ihr nicht immer so liebenswürdiges und etwas nasales Timbre. Und eine Hollywood-Schönheit war sie nicht. Aber mit heutigen Ohren gehört, staune ich über ihr ungeheures Engagement, über ihre Emphase (Schluss Elektra und vor allem in ihrer Glanzpartie der Isolde), über ihr schieres Beharrungsvermögen (neben dem stentoralen Beirer damals keine kleine Leistung, der aber ihre letzte Isolde an der DOB nicht schmälern konnte). Sie war eine Bedeutende, wie ich heute reumütig und bewundernd erkenne.

Gladys Kuchta in „Elektra“/ ARD/Produziert von Polyphon Film- und Fernsehgesellschaft für NDR © Polyphon 1968; Regie: Joachim Hess; Ausstattung: Herbert Kirchhoff/ Screenshot 

Die Kuchta war der Inbegriff der tüchtigen Amerikanerin an den deutschen Bühnen jener Jahre. Ihre Karriere reichte von Berlin und Kassel, Hamburg bis nach Buenos Aires, mit Umwegen u. a. über London, die Met und San Francisco. Auch sie hatte das Pech, im immer größer werdenden Schatten der Nilsson zu stehen, neben der sie manche Sieglinde singen musste, während sie an anderen Häusern eben in den großen Rollen ihres Fachs glänzen konnte (ein Lebenslauf findet sich am Ende dieses Beitrags).

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Ihre Dokumente auf dem offiziellen Markt sind wenige (der „berühmte“ Fidelio unter Bamberger von 1965/ Concert Hall/ Nonesuch, die Giulietta im quergeschnittenen, deutschen Hoffmann unter Kraus bei DG jener Jahre, die Sopranpartie in Beethovens Neunter/ dto. bei Concert Hall und anderen sowie bei DG in Kagels Staatstheater 1971).

Live ist sie besser repräsentiert, aber nur für Sammler, und die meisten Dokumente sind auch schwer zu ergattern (so als Senta und Isolde neben Beirer in Buenos Aires 1964, ebendort auch als Turandot neben der jungen Caballé 1965 sowie die Brünnhilde im dortigen Ring ebenfalls 1964; vom Berliner Stammhaus DOB gibt es Zeugnisse ihrer Lady Macbeth neben William Dooley 1963, Isolde neben Beirer 1964 und mehr; aus Bayreuth ist sie Sammlern ein Begriff als GötterdämmerungsBrünnhilde 1968 und 1969 sowie bei youtube Ausschnitte aus dem letzten Akt Götterdämmerung unter Lorin Maazel 1971 im sehr eindrucksvollen Konzert optisch ; als Abigaille trifft man sie in San Francisco 1964 an; und an der Met ist sie mit der Sieglinde (neben Vickers und Nilsson 1961) auch Brünnhilde, sowie als Donna Anna neben Peerce 1963 belegt. Der Mabeth von der DOB mit William Dooley ist gerade wieder aufgetaucht. Ganz sicher habe ich einige Auftritte ausgelassen, mea culpa.

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Diese eindrucksvolle Wieder-Begegnung mit Gladys Kuchta als Elektra nun wollen wir mit einem Artikel würdigen.Also bringen wir noch einmal ein historisches Porträt von ihr, das wir 2017 bereits veröffentlichten und das  Peter Maria Katona, seit 1983 machtvoller Besetzungschef des Royal Opera House Covent Garden, für unsere Kollegen der deutschen Opernzeitschrift Opernwelt 1967 in Berlin geführt hatte und das sowohl seine Eindrücke von ihr auf der Bühne beschreibt, wie auch die Künstlerin selbst zu Wort kommen lässt. Dank an beide, den Autor wie die OpernweltG. H.

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Gladys Kuchta privat/Buhs/DOB

Gladys Kuchta privat/Buhs/DOB

Ihre Brünnhilde in Sellners neuem Berliner Ring (von 1967/ G. H.) ist wieder ein vorläufiger Höhe­punkt in der Karriere dieser sympathischen Sängerin und rechten Vollblutkünstlerin, die in den letzten Jahren in einer beständigen Entwicklung ganz in das große Fach des schweren Wagner-Soprans hineingewachsen ist. Beständigkeit – das scheint überhaupt einer der Momente zu sein, die für die Lauf­bahn von Gladys Kuchta leitend waren. Sie lässt sich nicht von der allgemeinen Hetze des Berufes mitreißen – obwohl sie nun eine der höchst raren echten „Hochdramatischen“ ist, die heute gewiss an einer Hand abzuzählen sind.

Natürlich singt sie mittlerweile an allen gro­ßen Häusern der Alten und der Neuen Welt, doch sie ist auch nunmehr zehn Jahre ihrer Berliner Oper treu geblieben. Während so manchem in den letzten Jahren Berlin bloß als Sprungbrett für dann recht unruhige und wechselhafte Karrieren diente. Gladys Kuchta weiß –  und sie betont es gerne -, was ein künstlerisches Domizil, eine kontinuierliche Arbeit mit wesentlichen Regisseuren an ein und demselben Haus bedeutet.

als Turandot in Berlin/Buhs/DOB

als Turandot in Berlin/Buhs/DOB

Diese Einstellung verrät auch unschwer ihr sehr folgerichtiger Aufstieg selbst: Geboren in Massachusetts und „solange sie sich besinnen kann“ zum Singen entschlossen, studierte sie fünf Jahre in New York und kam dann 1952 mit einem Fulbright-Stipendium nach Italien. Ein halber Zufall ergab es, dass sie schon wenige Wochen später von Tullio Serafin für den Don Giovanni nach Florenz geholt wurde (sie sang damals die Elvira und, pikanterweise, Birgit Nilsson die An­na).

Die Zeit in der Provinz – die fünf Jahre in Kassel zeigen es – hat sie keineswegs als raschen „Absprung“ nach oben betrachtet, sondern als ganz entscheidende und in Ruhe genutzte Vorbereitung: „Natürlich – manche Karrieren gehen gleich kurz und steil hinauf und werden als Sensation aufgemacht, doch dann geht es meist ebenso so steil wieder herunter, nur dann spricht niemand mehr davon. Es hat mir, gerade als Amerikanerin, die in Amerika und Italien im Grunde nur die Stagione kannte, sehr gut getan, hier in Deutschland in einem Ensemble und unter erfahrenen Regisseuren zu wachsen. Das ist eine absolute Notwendigkeit, schon um über­haupt erst einmal Sicherheit und solide Grundlagen zu gewinnen. Nur so kann sinn­voll gearbeitet werden, kann ein Sänger und eine Persönlichkeit sich entwickeln. Das ist ja genau der Punkt, warum es fast überhaupt keine Heldenstimmen mehr gibt und alles sich wundert, warum zum Beispiel keine Siegfried-Tenöre nachwachsen – Leute wollen sich einfach nicht in Ruhe entwickeln, sondern meinen, gar schon als schwere Hel­den auf die Welt zu kommen. Und bis sie kaum dreißig sind, ist das Material dann verbraucht, ehe es sich richtig entfalten konnte. Ich habe selbst ganz lyrisch angefan­gen und nichts forciert.“

Erst 1961, so erzählt sie, fragte Professor Seefehlner in Berlin sie, warum sie noch nicht das schwere Fach sän­ge. „Nun, ich habe gesagt: Man hat mir noch keine Chance gegeben. Und als wir dann da­nach über die Elektra-Neuinszenierung sprachen, in der ich die Chrysothemis singen sollte, sagte ich einfach: Lassen Sie mich doch die Elektra singen.  Und so kam es dann eben.“

as Lady Macbeth mit William Dooley/Buhs/DOB

Als Lady Macbeth mit William Dooley and der DOB/Buhs/DOB

Sie ist ein Star ohne Allüren, nennt als Hob­by sehr hausfrauliche Neigungen und ist eine charmante Erzählerin, der man es so kaum glauben würde, dass ihr auf der Bühne die wilden Elektra-Figuren weitaus lieber sind als die freundlich-damenhaften. „Ich habe Mozart immer gerne gesungen, aber auch nicht zuviel – nach einiger Zeit fühle ich mich da eingeengt, es ist mir zu wenig Spielraum im Temperament. Die Gräfin etwa möchte ich nie wieder singen – stimm­lich ist das gar kein Problem, aber im Spiel“ – sie musste so sehr Dame sein – „und das widerstrebte mir immer.“ Es klingt wohl scherzhaft, aber man kann sie durchaus ver­stehen, wenn man gerade ihre Elektra gese­hen hat: Sie hat zum Stimmfach auch das fu­riose Temperament, das sie nicht so gerne zurückdrängen lässt.

Sie probt ausgesprochen gerne – „weil man in jeder neuen Arbeit an einer Partie auch immer wieder etwas Neues herausfinden und sich deutlich machen kann“. Die Gepflogen­heit, bis in die letzten Proben hinein nur zu markieren oder gar im Play-back-Verfahren nur stumm von einer Position in die andere zu agieren, liegt ihr gar nicht: „Eine Partie muss als Ganzes entstehen und nicht aus Stücken. Gestik, Aktion und voller stimm­licher Einsatz müssen organisch zusammen­passen und auch so immer wieder geprobt werden.“

als Brünnhilde in Berlin/Buhs/DOB

Als Brünnhilde in Berlin/Buhs/DOB

So wird schon deutlich – obwohl sie gern und viel reist -, dass sie doch das Ideal kon­zentrierter Ensemblearbeit ganz für sich angenommen hat und daran „deutscher als die Deutschen“ festhalten möchte. „Ich finde es sehr bedauerlich, dass sich in Deutschland jetzt auch schon Stagione-Gewohnheiten aus­breiten, und das gerade von einigen ent­scheidenden Theatermännern auch noch ge­fördert wird. Das ist kein gesunder Nähr­boden für das Theater. Aber das kommt auch durch den Einfluss der viel schnelllebigeren Massenmedien; und besonders die Schall­platte tut ein Übriges. Gewiss: Die Schallplatte ist großartig, weil sie Musik zu Leuten bringt, die sonst nicht damit in Berührung kämen. Auf der anderen Seite aber vermittelt sie ein ganz falsches Bild, eine falsche Perfektion, die im Theater nie und nimmer zu erreichen ist. Und mancher Künstler setzt sich selbst im Studio einen Maßstab, vor dem er auf der Bühne glatt versagt.“

Nach den Dirigenten gefragt, unter denen sie gesungen hat, zählt sie eigentlich die meisten großen Namen auf, die heute zu nennen sind, und berichtet von manchem für sie bestim-menden Erlebnis. Eines allerdings ist beson­ders erzählenswert, zumal da es ihr nicht nur künstlerisch einen unvergesslichen Eindruck gemacht hat, sondern auch den Reiz des Ku­riosen besitzt. Und zwar war es während ihrer New Yorker Studienzeit, als für eine Benefiz-Aufführung von Verdis Requiem, das Arturo Toscanini leitete, ein Chor von hundertzwanzig Solisten (!) zusammenge­stellt wurde – überwiegend Studenten und Kirchensänger. „Die Auswahl war schon sehr streng. Ich zählte dann sogar zu den vier Solosopranen des Kyrie. Grace Hoffman war übrigens auch dabei. Als wir zur ersten Probe kamen, hat wohl kaum die Hälfte von uns gesungen, so fasziniert waren wir von Toscaninis unerhört überlegener Persön­lichkeit und Ausstrahlung. Aber auch so einen Chorklang habe ich nie wieder gehört – das Rex tremendae, gesungen von dreißig aus­gesucht schönen Bass-Stimmen, hörte sich ein­fach unbeschreiblich an. Wir alle sangen übri­gens umsonst – auch die Solisten, darunter Di Stefano und Siepi.“ Ihr Bericht lässt sich nachprüfen – das Konzert wurde damals live mitgeschnitten und kam später als (noch heute im Katalog stehende) Plattenaufnahme heraus. Unter diesen Umständen kam es also zu Gladys Kuchtas erster Platte!

Gladys Kuchta als Färbersfrau mit Grace Hoffman in Berlin/Buhs/DOB

Doch nach dem Blick in die Vergangenheit – die Pläne für die Zukunft? „Nun, zu­nächst einmal Brünnhilden und kein Ende. Ein Ring nach dem anderen.“ Und auch sonst: Wagner über Wagner, wäre hinzuzu­fügen. So sehr sie da auch in ihrem Element ist: Interessante neue Rollen würden sie na­türlich besonders reizen, zumal in dem schwe­ren Fach eben relativ wenig Gelegenheit dazu gegeben ist. Sie würde gern moderne Partien singen – Liebermanns Penelope steht zum Beispiel auf dem Wunschzettel». Oder so etwas wie eine „Lulu für dramatischen So­pran“. Überhaupt ist sie aller modernen Mu­sik erstaunlich zugetan – von der Ansicht, die moderne Oper befinde sich in einer star­ken Krise oder nähere sich einem toten Grenzbereich, will sie gar nichts wissen. „Ich habe ein altes Lexikon von 1827. Da steht über Beethoven zu lesen: Er geht bis an die Gren­ze des Möglichen. Wo gibt es also absolute Grenzen? Wer will denn wissen, ob nicht all das, was heute schon als Grenze betrachtet werden soll, in fünfzig oder hundert Jahren einmal als Neuanfang gewertet werden wird? Ich würde nie eine Rolle ablehnen aus Be­quemlichkeit oder weil ich sie selbst nicht gleich begreife. Es müsste aber natürlich etwas sein, was mich zu singen und darzustellen wirklich reizt – wie eben die Penelope – und was nicht der Stimme schadet. Die Marie im Wozzeck habe ich zum Beispiel in Kassel ja gesungen – das war allerdings eine für die Stimme äußerst gefährliche Partie, die ich auch nicht mehr singen möchte. Ich sollte sie ja auch an der Met machen, aber das habe ich abgelehnt. Wenn man diese Rolle so sin­gen soll, wie sie im Notentext dasteht, ohne es sich bequem zu machen, und gleichzeitig mit allem Einsatz und Temperament – das zerreißt auf die Dauer wirklich die Stimme.“

Gerade dieses Beispiel zeigt vielleicht am klarsten, wie präzise und bewusst sie arbeiten will, eben „genau so zu singen, wie es da­steht“. Sie macht sich niemals etwas leicht. Ih­re Partien sind – und das verdient hervor­gehoben zu werden, gerade weil es nicht die Regel ist – musikalisch bis ins kleinste De­tail ausgearbeitet und gegenwärtig. Jede Ak­zentuierung, dynamische Werte und Abstu­fungen, die (besonders im italienischen Fach) gerne mit Sorglosigkeit übergangen werden, realisiert sie mit ganz auffälliger und er­staunlicher Konsequenz. Diese zunächst vom rein musikalischen ausgehende Ausformung ist dann eine denkbar sichere Basis für die dramatische Realisierung. In wirklich emi­nenter Weise verbindet sich die vorbildlich balancierte Gesangslinie – ohne je ins Grelle, Scharfe zu geraten – mit starker dramati­scher Projektion, fern von allem kalten, „keimfreien“ Glanz. Und dann eben natür­lich: Gladys Kuchta hat ein geradezu erup­tives Bühnentemperament, und ihre Lieb­lingsrollen, die ihr besondere Gelegenheit geben, dies zur Geltung kommen zu lassen – also Elektra, die Färberin, Isolde und Brünnhilde -, sind gleichzeitig nicht zufäl­lig auch ihre hervorragendsten Leistungen.

Ihre Elektra hat vom Auftrittsmonolog bis hin zur Ekstase des Schlusses eine ständig zu­nehmende intensive Gewalt. Dabei breitet sie schon in dem ersten Monolog die ganze Ge­spanntheit der Figur aus, mit einer expressi­ven stimmlichen Vehemenz, die normaler­weise schon den Verbrauch der rein physi­schen Möglichkeiten bedeuten müsste, doch der Kuchta stehen, und das gilt generell, im­mer noch außerordentliche Steigerungen zur Verfügung. Ich habe eigentlich nie entdecken können, dass sie sich in irgendwelchen Passa­gen einmal ausruht, „auf halbe Kraft schal­tet“, was ja durchaus legitim wäre.

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als Senta mit Ruth Hesse in Berlin/Buhs/DOB

Als Senta mit Ruth Hesse in Berlin/Buhs/DOB

Ihre wichtigsten Rollen, mit denen sie zwischen Hamburg und Rom ein ebenso begehrter Gast ist wie etwa an der Met und in Buenos Aires, umfassen außer dem ganzen Wagner-Fach die großen dramatischen Partien: Turandot, Lady Macbeth, Ariadne, Fidelio und auch noch die Verdi-Amelia, Tosca, Donna Anna. Zwei seien hier noch herausgehoben: die Färberin in der Frau ohne Schatten und die Götterdämmerung-Brünnhilde. Beide Male verlangt in diesen Rollen der Mittelakt dramatische Ausbrüche bis an die Grenze des Möglichen. Die lyrische Linie, die dann das Duett des dritten Aktes der Färberin abver­langt, ist eine kaum lösbare Aufgabe, doch gerade diese Stelle ließ Gladys Kuchta beide Male, wie ich sie sah, zum stärksten gesang­lichen Eindruck der Berliner Aufführung werden, die ja auch sonst wahrlich an sängerischen Höhepunkten nicht arm war. Vor kurzem schließlich die Götterdämmerung: Nach der exzessiven Dramatik von Eid und Racheschwur sang sie die „Starken Scheite“ mit einer herrlichen inneren Gelassenheit und stimmlichen Ruhe, die kein Zeichen vorheriger Beanspruchung verriet. Die kantablen, leisen Stellen dieses Schlussgesanges (vor allem die Anrufung „O ihr, der Eide ewiger Hüter!“) kamen mit einer fast liedhaften Lauterkeit des Tones, die ebenso im szenisch-dramatischen Ausdruckswert wie als persönliche Lei­stung und menschliche Äußerung zutiefst be­wegend erschien. Peter Maria Katona

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als Brünnhilde mit Josef Greindl in Berlin/Buhs/DOB

Noch kurz ein Blick in das tüchtige Wikipedia mit Dank: Gladys Kuchta (* 16. Juni 1915 in Chikopee, Massachusetts; † 7. Oktober 1998 in Hamburg) war eine US-amerikanische Opernsängerin (Sopran). Ihre Familie stammte aus Polen. Sie absolvierte ihre Gesangsausbildung an der Mannes School sowie an der Juilliard School of Music in New York. Eine ihrer Gesangspädagoginnen war Zinaida Lisitchkina. Anfang der 1950er Jahre setzte sie ihre Gesangsausbildung in Italien fort, wo sie 1952 in Florenz als Donna Elvira in der Oper Don Giovanni debütierte. Ein Jahr später übernahm sie ein Engagement am Stadttheater von Flensburg. Von 1954 bis 1958 gehörte sie zum Ensemble des Staatstheater Kassel. Anschließend war sie festes Ensemblemitglied an der Deutschen Oper Berlin. Dort gab die Künstlerin, einen Tag nach ihrem 60. Geburtstag, ihre Abschiedsvorstellung, als Isolde in Tristan und Isolde.

Gladys Kuchta sang auf den großen Opernbühnen dieser Welt u. a. in Wien, London, Dresden, Düsseldorf, Florenz, Stuttgart, München, Bayreuth, San Francisco, Buenos Aires, Edinburgh, Hamburg, Rom, New York, Stockholm, Paris etc. Dabei arbeitete sie mit den großen Dirigenten der Zeit zusammen, allen voran Karl Böhm, Herbert von Karajan, Lorin Maazel und Leopold Ludwig. Die Sopranistin wirkte 1968 an der ersten Studio-Operngesamtproduktion in Farbe für das Fernsehen mit. Sie verkörperte die Elektra in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss. Ein weiterer Höhepunkt ihrer internationalen Karriere war das Gastspiel der Deutschen Oper Berlin 1963 in Tokyo. Dort sang sie die erste Isolde im asiatischen Raum.

Neben ihrer Bühnenpräsenz war die Künstlerin weltweit als Lied- und Konzertsängerin engagiert. Ferner war sie als Gesangspädagogin an der Folkwang-Schule in Essen tätig. Zu ihren Schülern gehören Albert Dohmen, Hans-Peter König, Andreas Förster, Vuokko Kekäläinen u. a. m.

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Wir danken der Opernwelt (und dort besonders der ehemaligen Archivarin Andrea Müller für ihre Grabungen im Archiv) für die Genehmigung zum Nachdruck dieses Artikels, der eben dort in der Nummer 8/1967 und bei uns 2017 erstmals erschien. Der Autor Peter Katona ist berühmt als casting director des Royal Opera Hauses Covent Garden, und er wird sein Jugendwerk sicher mit einem Lächeln noch einmal sehen. Dank geht auch an die wie stets liebenswürdige Pressefrau Bettina Raeder damals von der Deutschen Oper, die die Fotos von Ilse Buhs heraussuchte und überhaupt für uns Berliner Journalisten unvergessen ist.  G. H.

In Bild und Ton

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Die Veröffentlichungen des französischen Labels CVS sind stets hochwertig und informativ ausgestattet, doch die Neuaufnahme von Jean-Baptiste Lullys Atys ist eine  besonders aufwändige Ausgabe mit zwei CDs, einer DVD und einer Blu-Ray (CVS113). Das Cover verzeichnet Leonardo García-Alarcón als Dirigenten und Angelin Preljocaj als Regisseur und Choreografen – eine Zusammenarbeit auf exzeptionellem Niveau. Der argentinische Dirigent leitet die  von ihm 2005 gegründete Cappella Mediterranea, der französische Choreograf gründete 1984 seine eigene Compagnie, arbeitet hier aber mit dem Ballet du Grand Théâtre de Genève zusammen.

Lullys Tragédie lirique wurde 1676 in Paris uraufgeführt und sogleich als „die Oper des Königs“ eingestuft – so hoch schätzte der Monarch das Werk. Es erzählt von der Liebe der Göttin Cybele zum Jüngling Atys, der die Nymphe Sangaride liebt. Deren Hochzeit mit dem phrygischen König  Célénus, einem Freund von Atys, steht bevor. Atys unterbricht die Hochzeitsfeier und flieht mit Sangaride. Cybele ruft aus Rache die Furie Alecton herbei, die Atys verhext. In Wahn hält er Sangaride für ein Ungeheuer und tötet sie. Wieder bei Sinnen, nimmt er sich das Leben und wird von Cybele in eine Pinie verwandelt.

Preljocaj inszeniert die Handlung im März 2022 in der Opéra Royal de Versailles in einer monochromen Optik. Die Bühne von Prune Nourry wird dominiert von einer hellgrauen archaischen Mauer im Hintergrund. Auch die Kostüme von Jeanne Vicérial werden von grauen Farben beherrscht, ergänzt um dunkelblaue und schwarze Töne.

Der amerikanische Tenor Matthew Newlin, dem Berliner Publikum als Tenor in der Winterreise beim Staatsballett erinnerlich, profiliert im mausgrauen Jogging-Anzug mit Kapuze die Titelrolle eindrucksvoll mit expressiver Stimme und hohem darstellerischem Engagement. Wie auch die anderen Sänger hat ihn der Regisseur/Choreograf zu erstaunlichen körperlichen Aktionen befähigt. Eine furiose Cybèle gibt Giuseppina Bridelli mit strengem Sopran, auch sie bewunderungswürdig im tänzerischen Gestus. Ein lyrischeres Naturell ist Ana Quintans eigen, die der Sangaride einen weichen Umriss verleiht. Der Bassbariton Andreas Wolf ist der sonor tönende König Célénus. Von starker Wirkung sind Preljocajs choreografierte Gruppenszenen, welche die Tänzer aus Genf mit Passion und suggestiver Körpersprache umsetzen. Nicht zuletzt trägt die Capella Mediterranea mit ihrem farbigen Spiel und dem tänzerischen Duktus, der besonders in den orchestralen Nummern (Préludes, Entrées, Ritournelles) zu faszinierender Wirkung kommt, zum Erfolg der Produktion bei. Bernd Hoppe (11.08.25)

Giovanni Pacinis „Amazilia“

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Giovanni Pacini war 29 Jahre alt und hatte bereits 27 Opern komponiert, als seine Amazilia am 6. Juli 1825 im Teatro San Carlo uraufgeführt wurde. Politisch war es eine Oper, die eng mit Neapel und der spanischstämmigen Herrscherfamilie Bourbon verbunden war und indirekt deren Geschichte lobte, indem sie die Behandlung der Ureinwohner Nordamerikas durch die spanischen Konquistadoren in einem positiven Licht darstellte.

Ein schöner Mann und so erfolgreich bei den Damen: Giovanni Pacini/Wikipedia

Die Handlung spielt im Florida des 16. Jahrhunderts und zeigt zwei verfeindete Indianerstämme. Der eine, der an der „Grenze Floridas“ lebt, wird von Cabana angeführt, der andere, namenlose Stamm unter der Führung von Miscou besetzt die „Hügel von Luisiana“, ein fruchtbares Gebiet, das einst von Cabanas Volk bewohnt war. Amazilia, ein Mitglied des Florida/Cabana-Stammes, ist in Zadir, den Sohn von Miscou, verliebt. Vor dem Hintergrund der bewaffneten spanischen Konquistadoren möchte Miscou (der in der Oper nie auftritt) einen Friedensvertrag mit Cabana schließen und sich gegen die Spanier verbünden, und Zadir will den Vertrag durch die Heirat mit Amazilia besiegeln. Cabana jedoch will Amazilia für sich selbst, weshalb er jeglichen Vertrag ablehnt. Cabana und Zadir kämpfen um Amazilia, und Cabana gewinnt. Das Gesetz der Stämme verurteilt den Verlierer zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Zadir, der der Gefangennahme entkommen ist, will Amazilia zu seinem Vater Miscou bringen, als er von Cabana gefasst wird. Gerade als sein tragisches Schicksal besiegelt scheint, taucht wie ein Deus ex machina ein bewaffnetes spanisches Korps unter Captain Alvaro auf. Sie haben einen Vertrag mit Miscou geschlossen und befreien nun Zadir und nehmen Cabana gefangen, sodass die Liebenden einer glücklichen Zukunft entgegensehen und Cabana vor sich hin murren kann.

Pacinis „Amazilia“: Figurine für Cabano (Luigi Lablache) von Carlo Dellarocca zur Uraufführung 1825/Archivio Storico Ricordi/Wikipedia

Der Librettist Giovanni Schmidt (von dem keine Abbildung zu finden ist/G.H.) musste für seine Inspiration nicht lange suchen: Sein eigenes Libretto für Gli americani, das von Giacomo Tritto vertont wurde (Neapel: San Carlo, 1802), war die wichtigste Quelle. Gli americani, das 1805 am San Carlo wiederaufgenommen wurde, schmeichelte dem spanischen Erbe der Monarchie, als Ferdinand I. Neapel regierte. Nach einer Pause, als Napoleon Bonaparte die Bourbonen zur Flucht nach Sizilien zwang, kehrten sie im Mai 1815 nach Neapel zurück, nachdem die Österreicher Murat in der Schlacht von Tolentino besiegt hatten und Ferdinand wieder auf den Thron gesetzt worden war. Zehn Jahre später, als Ferdinands Sohn Francesco 1825 den Thron bestieg, wurde die alte Geschichte in einem leicht veränderten Rahmen wiederbelebt, um dem neuen König und seiner Königin Maria Isabella von Spanien zu schmeicheln. Schmidt reduzierte sein Libretto auf einen Akt, verlegte den Schauplatz nach Florida, und es wurde als Geburtstagsfeier für die Königin aufgeführt.

Abgesehen von der üblichen opernhaften Dreiecksbeziehung, die in der primitiven Wildnis Floridas ebenso verbreitet zu sein scheint wie im alten Rom oder im mittelalterlichen Europa, ist die ziemlich explizite Moral von Schmidts Werk, dass das überlegene und wohltätige europäische (spanische) Recht über das barbarische Recht der Ureinwohner („selvaggi“) triumphiert. Es gibt keine Todesstrafe durch den aufgeklärten Spanier. (Schmidt vergisst dabei geflissentlich die Inquisition oder die spanische Gepflogenheit des Autodafés.) Die Spanier, in der Oper durch Alvaro verkörpert, sind ganz auf Respekt gegenüber den Ureinwohnern bedacht und versorgen sie sanft mit europäischer Aufklärung. Vermutlich hat Maria Isabella das gutgeheißen.

Pacinis „Amazilia“: Giovanni David sang die Tenorpartie des Zadir bei der Uraufführung 1825/Wikipedia

Tatsächlich war an Schmidts Libretto nichts neu. Die ursprüngliche Quelle war Jean-François Marmontels Roman Les Incas, ou La destruction de l’empire du Pérou aus dem Jahr 1777. In Italien verarbeitete Andrea Willi einen Teil von Marmontels Geschichte bald zu einem fünfaktigen Drama mit dem Titel La vergine dei sole, das 1780 in Venedig uraufgeführt wurde. La vergine dei sole spielt in Ecuador in der Nähe von Quito und handelt von Cora, einer Inka-Jungfrau und Priesterin des Sonnengottes, und Alonso, einem spanischen Adligen, die sich ineinander verlieben. Als ein Vulkan ausbricht und den Sonnentempel zerstört, rettet Alonso Cora, doch sie hat gegen das Gesetz der Inka verstoßen, indem sie das heilige Gelände verlassen hat, und wird zum Tode verurteilt. Alonso schwört, mit ihr zu sterben, doch am Ende wird ihr vergeben und ein aufgeklärteres Gesetz setzt sich durch.

Diese Werke dienten als Vorlage für mindestens elf Opern (nicht nur) in Italien vor Pacinis Werk und mehrere Ballette. Zu den bekanntesten Komponisten, die Opern zu dieser Geschichte unter verschiedenen Titeln (La Vergine dei sole oder Alonso e Cora oder Idaiaide oder Gii americani) schrieben, gehörten Giuseppe Sarti, Giacomo Tritto, Domenico Cimarosa und Giovanni Simone Mayr. Tritto schuf zwei völlig unterschiedliche Opern zu diesem Thema – die erste mit einem Libretto von Carlo Giuseppe Lanfranchi mit dem Titel La vergine dei sole (Neapel, 1786) und Gii americani mit einem Libretto von Schmidt (Neapel, 1802). Mayrs Alonso e Cora, die 1803 an der Scala uraufgeführt wurde, wurde 1815, kurz nach der triumphalen Rückkehr Ferdinands nach der Schlacht von Tolentino, in einer überarbeiteten Fassung unter dem einfachen Titel Cora am San Carlo aufgeführt. Eine Oper zu diesem Thema von Francesco Bianchi mit einem Libretto von Francesco Maria Foppa (Venedig, 1786) hatte bereits eine Figur namens Amazili eingeführt, die die Freundin/Begleiterin von Cora ist.

Pacinis „Amazilia“: Josephine Mainville sang die Titelpartie in der Uraufführung 1825/Ipernity

In der Oper Gii americani von Schmidt/Tritto handelt die Liebesgeschichte immer noch von einem Spanier (namens Gonzalvo) und einer einheimischen Jungfrau, die nun jedoch Amazilia heißt. Der Name stammt von einer völlig anderen Figur in Marmontels Roman von 1777. In Les Incas… ist Amazili eine Inka-Jungfrau, die von den grausamen spanischen Konquistadoren gefangen gehalten wird, die Cortez in Mexiko übertrumpfen wollen, indem sie das Inka-Reich in Peru erobern; Amazili und ihr Geliebter Telasco sind das Mittel, mit dem die Spanier an Orozimbo, den Anführer der Inkas, gelangen wollen. (Ironischerweise ist Marmontels Roman eine scharfe Anklage gegen die Grausamkeit der spanischen Konquistadoren in Amerika.) In Schmidt/Tritto ist Cabana jedoch Amazilias Vater und Orozimbo ihr Bruder. „Cora“ hat die Rolle ihrer „Vertrauten“ übernommen. Gonzalvo ist der Sohn von Arias Davila, einem kastilischen General.

Als Schmidt fast 25 Jahre später für Pacini schrieb, änderte er einige der Charakternamen, verlegte die Handlung nach Florida, stellte den Konflikt zwischen zwei einheimischen Stämmen in den Mittelpunkt und kehrte die Handlung von Marmontels Original komplett um, indem er die nun wohlwollenden spanischen Konquistadoren im letzten Moment eintreffen lässt, um den Streit beizulegen. Zu diesem Zeitpunkt ist es offensichtlich, dass die erstmals in La vergine del sole aufgeführte Geschichte stark von René de Chateaubriands Atala ou Les amours de deux sauvages dans le desert beeinflusst ist, das 1801 veröffentlicht wurde und unter indigenen Stämmen in Florida spielt. Pacini hatte tatsächlich eine Atala (Padua, 1813) komponiert, die auf Chateaubriands Novelle basiert und die tragische Liebe zwischen zwei amerikanischen Ureinwohnern, Chactas und Atala, erzählt; Chactas‘ Großvater ist Miscou, der Name eines der Stammeshäuptlinge in Amazilia.

Pacinis „Amazilia“:  Beverly Sills sang als Einschub Amazilias langsame Cabaletta „Parmi vederlo” dann in der Rolle der Pamira in Rossinis L’assedio di Corinto in den späten 1960er und 1970er Jahren an der Met und an der Scala. Dazu auch Thomas Lindner: „Parmi vederlo, ahi misero“ – Pacinis ‚Amazilia‘ und Rossinis ‚L’assedio di. Corinto‚, S. 87-92. in La Gazetta/Deutsche Rossini Gesellschaft

Die Geschichte von Amazilia mag „vecchio come Noe“ (eine Zeile, die Bellini verwendete, als er ein Libretto für Cesare in Egitto ablehnte, einen Titel, der bereits von Pacini komponiert worden war) gewesen sein, aber sie passte zur konservativen Bourbonenmonarchie von Neapel und den beiden Sizilien. Tritos Oper von 1786 hatte dort Premiere, als Ferdinand IV. regierte, bevor Napoleon ihn nach Sizilien verbannte, und Mayrs Cora wurde 1815 kurz nach der Vertreibung der Bonapartes und der Rückkehr Ferdinands aufgeführt. Ein Jahrzehnt später, als Ferdinand starb und sein Sohn Franz I. den Thron bestieg, feierte Amazilia, die neue Oper von Pacini und Schmidt – ganz im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Vorlage – erneut die Gnade und Aufklärung Spaniens.

Sie war am Abend des 6. Juli 1825 ein großer Erfolg mit einer Starbesetzung, darunter Luigi Lablache (Cabana), Josephine Fodor-Mainvielle (Amazilia) und Giovanni David (Zadir) neben Gaetano Chizola, Eloisa Manzochi und Domenico Pizzoni . Im folgenden Jahr wurde sie in Neapel wiederaufgenommen und im November 1826 an der Mailänder Scala, 1828 in Rom, 1829 in Palermo und 1832 in Messina aufgeführt. In seinen Memorie artistiche berichtet Pacini, dass der Impresario Barbaja das Werk 1826 auch nach Wien brachte und für diese Wiederaufnahme zwei zusätzliche Nummern komponierte, die die Oper so weit verlängerten, dass eine Fassung in zwei Akten gerechtfertigt war.

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Pacinis „Amazilia: Quasi Florida-Stimmung auf Anton Goerings Gemälde „Flamingos  in Venezuela“ 1855/Wikipedia

Musikalisch entspricht die Oper Pacinis früherem Stil, der, wie er selbst oft zugab, stark von Rossini beeinflusst war. Alexander Weatherson beschrieb die Partie der Amazilia im Newsletter der Donizetti Society vom Mai 1991. (1) Eine „fröhliche Sinfonia mit Crescendo; (2) Introduzione, Coro e Cavatina für Cabana. Der Eröffnungschor und das Cantabile („Tutto annunzia quella gloria“) sind reiner Rossini; die Cabaletta („Paventi il perfido“) ist kraftvoll, eingängig und weist bereits auf den frühen Verdi hin. Man versteht fast sofort, warum Pacini als „Maestro delle cabalette“ bezeichnet wurde! (3)  Zadirs Scena e Cavatina, „sehr hoch für die Stimme gesetzt“ (Weatherson). Das Cantabile („Come mai calmer le pene“) ähnelt einem der weniger bedeutenden Werke Rossinis in diesem Genre, aber dann setzt wieder die eingängige Cabaletta („lo ti vidi, t’adorai“) ein, die so bekannt war, dass Giuliani kurz nach ihrer Entstehung eine Reihe von Variationen darauf komponierte – und der italienische Patriot Giuseppe Mazzini seine Vorliebe für Giulianis Version zum Ausdruck brachte. (4) Duett für Amazilia und Zadir („Se non ti muove, o caro“), in dem die Liebenden ihre Situation beklagen. Das Duett ist mit drei Teilen sehr rossinianisch angelegt. Der mittlere Andante-Teil ist der attraktivste. (5) Scena e coro „Vi regga, vi guida“. Die Familien sorgen sich um die bevorstehenden Schlachten. (6) Terzetto („Frena quel labbro audace“). Dieses Trio bildet eine Art Finale in der Mitte der Oper in der Einakterfassung und schließt den ersten Akt in der Zweiachterfassung ab. Es hält sich eng an die Rossini-Formel: Allegro-Adagio-Allegro mit recht formelhafter Musik, obwohl das Adagio („Oh ciel! veggio svanita“) reizvoll ist.

Pacinis „Amazilia“ mit der Handlung in Florida – Anton Goehrings Gemälde „See in Venezuela“ kommt der Stimmung sehr nahe/Wikipedia

(6A) Duett („Tu sprezzar gli affetti miei“). Der zweite Akt der Zweiakter-Fassung (für Wien) beginnt mit einem sehr schönen Duett für Cabana und Amazilia. Weniger rossinianisch als einige andere Musikstücke, ist die Basslinie würdevoll, während Amazilias Gesangslinie blumiger ist. Hier scheint Pacini eher in seiner eigenen Sprache zu komponieren als in der Rossinis. (6B) Die zweite Nummer, die Pacini für die Zweiakter-Fassung hinzugefügt hat, ist eine erweiterte Szene für Zadir mit Chor. Die Arie selbst („Affanno spietato“) ist freier als üblich und sehr ausdrucksstark, während die Cabaletta Pacini in diesem Genre alle Ehre macht.

(7) Nun kehren wir zu der Musik zurück, die in beiden Fassungen zu finden ist, mit dem hübschen Frauenchor „Di pace la speme“. Ein ausgedehntes Rezitativ zwischen Orozimbo und seiner Tochter Mila ist musikalisch uninteressant, bereitet aber das Rettungsfinale durch die gütigen Spanier vor. Mila drückt ihr Entsetzen darüber aus, dass der Verlierer des Kampfes zwischen Cabana und Zadir auf den Scheiterhaufen kommen wird, und sagt, dass die Dinge in Europa anders sind: „Oh, wie anders sind die europäischen Sitten von den unseren! Kein Gefangener würde [dort] jemals auf den Scheiterhaufen kommen.“ Orozimbo bestätigt dies mit seiner eigenen Erfahrung, als er auf dem Schlachtfeld vom „starken Alonso“ besiegt wurde und nicht nur am Leben blieb, sondern auch seine Freiheit behielt.

Pacinis „Amazilia“: Das Teatro San Carlo Neapel um 1830/Wikipedia

(8) Dies ist die große Nummer für Amazilia mit einem ausgedehnten Rezitativ, einer Arie mit Chor und einer langsamen Cabaletta. Es ist zweifellos die beste Musik in der Oper. Die Arie („Ah! non fia mai ver“) ist ein wunderschönes Andante, voller Leidenschaft und Trauer, als sie erfährt, dass Zadir den Kampf gegen Cabana verloren hat. Die langsame Cabaletta („Parmi vederlo“) ist ungewöhnlich und im Stil Rossinis gehalten, aber in der Art der Musik für Maometto Secondo (vergl. Sills) und Le siege de Corinthe. Sie ist sehr blumig, aber voller Gefühl. (9) Das Finale beginnt mit einer langen orchestralen Einleitung, die ebenso wie Amazilias Kantabile „Dove sei, mio dolce amore“ eine Tragödie anzukündigen scheint. Sie glaubt, Zadir zu sehen, aber sie halluziniert. Doch dann taucht er tatsächlich auf, und in schneller Folge beginnen die Liebenden zu fliehen und werden von Cabana gefangen genommen, nur um sich der Ankunft der Spanier unter Alvaro zu stellen. Er nimmt Cabana gefangen und vereint die Liebenden so schnell, wie man „Vaudeville-Finale“ sagen kann, in einem weiteren Trio mit Pertichini für Alvaro und dem Chor („Mio core, ah! si, ti sento“). Die Spanier und Alvaro singen „Tutto cangio d’aspetto“, und das war nie wahrer. Die Musik klingt, als hätte Rossini sie selbst für eine seiner Komödien geschrieben.

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Pacinis „Amazilia“: das Innere Teatro San Carlo mit der Aufführung von „L´ultimo Giorno die Pompei“ Pacinis im Bühnenbild von Sanquirico/Wikipedia

So wichtig Amazilia für die Festigung Pacinis‘ Position bei den Bourbonen-Monarchen von Neapel (wo das Opernhaus an den Palast angrenzt) war, so sehr sprach seine nächste Oper, L’ultimo giorno di Pompeii, nicht nur die Bourbonen an, sondern bescherte ihm auch den größten Triumph der ersten Hälfte seiner künstlerischen Laufbahn. Die Monarchie hatte maßgeblich an der Ausgrabung Pompejis beteiligt, die unter Carlo I. begann und unter Ferdinando (sowie während der napoleonischen Zeit) fortgesetzt wurde. Bis 1825 war Pompeji zu einer Touristenattraktion geworden, da ausländische Besucher nach der Niederlage Murats nach Neapel zurückkehrten. Die erstaunlichen Entdeckungen wurden von der Monarchie genutzt, um die kulturelle und historische Bedeutung des Königreichs zu unterstreichen, und Pacinis neue Oper schürte das Interesse an Pompeji mit einer spektakulären Inszenierung, in der der Ausbruch des Vesuvs auf der Bühne zu sehen war. Wie wir noch sehen werden, spielte diese Oper auch eine Rolle im Leben von Amazilias Namensgeberin. Charles Jernigan/DeepL/G. H.

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Pacinis „Amazilia“: Luigi Lablache, hier mit Giulia Grisi in Bellinis „Puritani“/Wikipedia

Handlung. Die Szene spielt am Fluss. Cabana und die Wilden aus Florida marschieren an einem Fluss entlang, hinter dem in der Ferne die Hügel von Louisiana zu sehen sind. Die Sonne geht auf, Vorbote einer Zukunft voller Siege. Erste Szene. Die Wilden und ihr Häuptling haben ihren Weg fortgesetzt. Vom Fluss taucht vorsichtig Zadir auf, der seine Liebe zu Amazilia besingt und sich Sorgen macht, dass er die Empfehlungen seiner Geliebten nicht beachtet hat. Zweite Szene. Amazilia kommt hinzu und wirft Zadir seine Unvorsichtigkeit vor. Der Anführer der Wilden aus Louisiana hofft seinerseits, dass es noch Hoffnung für ihre Liebe gibt, und vertraut auf eine Verbindung mit Cabana. Amazilia glaubt hingegen nicht, dass dies möglich ist. Die beiden schwören sich Liebe, selbst wenn sie dafür sterben müssen, und verabschieden sich. Zadir geht zum Fluss, Amazilia kehrt zurück, woher sie gekommen ist. Dritte Szene. Auf der Bühne sehen wir Cabana, seinen Bruder Orozimbo und die Wilden. Die Frauen und Kinder verabschieden sich von ihren Familienoberhäuptern, die bereit für den Krieg sind. Vierte Szene. Orozimbo schlägt seinem Bruder vor, nicht zu kämpfen, sondern vielmehr den Frieden zwischen den Völkern zu fördern. Cabana lehnt dies jedoch vehement ab und beschuldigt Miscou, sich seines fruchtbaren Landes bemächtigt zu haben, und seinen Sohn Zadir, seinen Wert auf dem Schlachtfeld verachtet zu haben. Fünfte Szene. Ein Wilder kommt zu Cabana und Orozimbo und verlangt, Zadir zu sehen, den er im Auftrag von Miscou gebracht habe. Orozimbo überredet seinen Bruder, der jedoch misstrauisch ist, ihm zuzuhören. Sechste Szene. Zadir tritt ein, gefolgt von zwei Wilden, die jeweils einen Palmzweig in der Hand halten. Zadir bittet darum, die gegenseitigen Missstimmungen zugunsten eines Bündnisses gegen den spanischen Feind beizulegen. Cabana unterstellt, dass hinter dieser Bitte kein Wunsch nach Frieden, sondern nur Angst stecke. Zadir rechtfertigt die Angst, die Cabana selbst empfinden würde, wenn er den Spaniern gegenüberstünde.Er legt dann die Vereinbarung dar: Sie werden das Land teilen und Amazilia wird Zadir zur Frau gegeben. Cabana wirft ihm Arroganz vor und fordert ihn zum Schweigen auf.

Pacinis „Amazilia“: das Teatro della Fortuna in Fano, wo 2025 die Oper erstmals in moderner Zeit gegeben wird/Teatro della Fortuna

Siebte Szene. Zadir wird wütend. Die beiden schwören sich, sich auf dem Schlachtfeld zu vernichten, während Amazilia, die gerade hinzugekommen ist, verzweifelt. Als Zadir geht, erblickt er seine Geliebte und lässt sie an sich heran, indem er sie bei der Hand nimmt. Cabana will ihn töten, doch. Achte Szene. Amazilia hält ihn zurück. Zadir eilt davon, Cabana und seine Krieger wenden sich dem Fluss zu, Amazilia nimmt einen anderen Weg. Neunte Szene. Der Frauenchor besingt die verlorene Hoffnung auf Frieden zwischen den Völkern. Zehnte Szene. Orozimbo und Mila sprechen miteinander. Der erste erklärt ihr, dass Cabana nicht die Absicht hat, die Friedensforderungen anzunehmen, und dass er in seinem Feind zudem einen Rivalen in der Liebe gefunden hat. Die beiden sind besorgt über die Folgen, die ein Sieg Cabanas mit sich bringen würde. Elfte Szene. Die beiden werden von Amazilia eingeholt, die verzweifelt ist wegen dem, was geschehen wird. Plötzlich hört man Stimmen, die im Chor den Sieg Cabanas verkünden.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Rudolf Colm und seine Kollegen (u. a. der Sovrintendenti Saul Salucci, der direttore artistico Daniele Agiman und Paolo Rosetti)/IBR

Zwöflte Szene. Amazilia glaubt, dass Zadir im Kampf gefallen ist, aber der Chor der Wilden teilt ihr mit, dass ihr Geliebter gefangen genommen wurde und auf den Scheiterhaufen kommen soll. Amazilia geht weg, umarmt von ihrer Freundin Mila, gefolgt von den anderen Frauen. Dreizehnte Szene. Orozimbo versucht vergeblich, Cabana davon zu überzeugen, Zadir nicht zu töten, da er die Rache seines Vaters Miscou fürchtet. Cabara beruft sich daraufhin auf das Gesetz: Jeder, der gefangen genommen wird, muss auf dem Scheiterhaufen sterben.Vierzehnte Szene. Orozimbo, der allein zurückgeblieben ist, beschließt, sich von der Grausamkeit seines Bruders zu distanzieren. Die vierzehnte Szene spielt in einem Wald. Mila und Amazilia suchen nach Zadir, damit das Mädchen ihren Geliebten ein letztes Mal sehen kann. Fünfzehnte Szene. Amazilia glaubt, Zadir zu sehen. Sechzente Szene. Die beiden Liebenden begegnen sich und verlassen den Weg, um dem Überfall der Feinde zu entgehen. Siebzente Szene. Cabana und die Wilden erreichen die beiden Liebenden. Zadir schießt einen Pfeil auf Cabana. Achtzehnte Szene. Alvaro und die spanischen Krieger kommen hinzu und umzingeln die Wilden. Alvaro fordert sie auf, ihre Waffen fallen zu lassen, wie Miscou es getan hat. Die Wilden folgen dem Befehl. Cabana gehorcht nicht und wird gefangen genommen und ins spanische Lager verschleppt, während Amazilia und Zadir endlich wieder vereint sind. Wikipedia Italia/Deep/G. H.

Hanne-Lore Kuhse

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Spurensuche im Berliner Nordosten. Wo Pankow und Prenzlauer Berg aufeinander treffen, dort hat sie gelebt. Ein passender Ort. Zumal damals in der DDR. In Pankow wehte noch ein Hauch von Großbürgerlichkeit. Den Prenzlauer Berg hatten die Künstler in Beschlag. Die Opernsängerin Hanne-Lore Kuhse wohnte auf dieser Grenze in der Schonenschen Straße. Wenngleich Zufall, passt auch der Straßenname. Schonen hieß einst die südlichste Provinz Schwedens, direkt an der Ostsee gelegen.

Ihre Bindungen an den Norden bestanden lebenslang. Sie wurde am 28. März 1925 in Schwaan an der Müritz geboren. Es zog sie immer wieder dorthin. Der nordische Dialekt schlug bis zum Schluss durch. Selbst im Gesang. In Rezitativen und Dialogen sowieso. In einer Gesamtaufnahme der Zauberflöte (Suitner, ehemals Eterna/ Eurodisc), in der sie die Erste Dame singt, kann das nachgehört werden. Gestorben ist die Sängerin am 10. Dezember 1999 in Berlin. Ihr Wunsch war es, in Schwaan begraben zu werden. So geschah es auch. Dieser Stadt blieb sie treu, die Stadt ihr auch. Posthum wurde sie zur Ehrenbürgerin ernannt. Ihr Berliner Wohnhaus steht noch. Sträucher und Bäume haben den Garten in Besitz genommen. Die Rosenstöcke, denen ihre Liebe galt, haben überdauert. Ein heimlicher Blick über den Zaun. Hoffentlich sieht mich jetzt niemand. Ich habe Mühe, das alte Bild vom Haus, in dem ich gelegentlich freundlich aufgenommen wurde, wiederzufinden. Die Kuhse war eine perfekte Gastgeberin, empfing den Besucher im eleganten Hauskleid. Der Kaffee wurde in silbernem Geschirr serviert. Bei aller Distanz ließ sie keinen förmlichen Abstand aufkommen. Ihren Gästen gab sie das Gefühl, der Mittelpunkt des Geschehens zu sein und nicht sie selbst, die berühmte Sängerin.

Die Eterna-LP ist inzwischen auch auf CD bei Berlin Classics erschienen.

Erweitert um einen Bonus ist die Eterna-LP inzwischen auch auf CD bei Berlin Classics erschienen.

Erstmals hörte ich sie im Radio. Da war ich nicht älter als Vierzehn. Noch heute sehe ich mich in den Lautsprecher des Apparats hineinkriechen. Sie war oft zu hören. Oper war für mich Hanne-Lore Kuhse. Erst mit der Zeit kam ich hinter ihre Kunst. Großes, sich in der Mittellage reich verströmendes Volumen. Eine Stimme, die auch im Piano noch hochdramatisch ist. Ein Freund sagt, sie singe so erfüllt. Das stimmt. Immer natürlich, niemals auf den vordergründigen Effekt erpicht. Dem Werk verpflichtet und gegen die Verlockung immun, Grenzen zu durchbrechen. Ein heller, leuchtender Klang, dem es aber an Tiefe gebricht. Muss sie hinunter, büßt die Stimme an Kraft und Ausdruck ein. Sie besaß, was heute immer mehr verloren geht – ein unverwechselbares Timbre. Auch das weniger erfahrene Ohr dürfte sie mit Sicherheit unter hundert anderen heraushören. Später entdeckte ich für mich Ähnlichkeiten mit Eileen Farrell oder Helen Traubel, die sogar über Stimmliches hinausgehen. Auf Fotos lachen alle drei ganz herzlich. Am Ende will es gar scheinen, als hätten sie denselben Schneider gehabt. Schade, dass sich die Kuhse im Gegensatz zu ihren amerikanischen Kolleginnen nicht auch außerhalb der Oper künstlerisch betätigte – einen kurzen Fernsehausflug in die Operette nicht mitgerechnet –, es ließen sich gewiss noch mehr Gemeinsamkeiten feststellen.

Ein Bild auf den Anfängerzeit  1953 in Schwerin: Hanne-Lore Kurse als Frick im "Rheingold". Wotan ist Heinrich Geduldig. Foto: OBA

Ein Foto aus der Anfängerzeit 1953 in Schwerin: Hanne-Lore Kuhse als Fricka im „Rheingold“ mit Heinrich Geduldig als Wotan/ Foto: Archiv Kuhse

Zunächst war ihr in der DDR der Beginn einer bedeutsamen Karriere beschieden. Gleich nach dem Studium an den Konservatorien von Rostock und Berlin das erste Engagement an den Städtischen Bühnen Gera, wo sie sofort mit der Fidelio-Leonore konfrontiert wird. Ein gewagter Anfang, der ihr womöglich auch stimmliche Ressourcen kostete. Dann, von 1952 bis 1959, Staatstheater Schwerin mit Brünnhilde und Turandot und bis 1964 Opernhaus Leipzig. Bereits 1954 zur Kammersängerin ernannt, folgt sie 1964 einem Ruf an die Berliner Staatsoper, wo sie zwar wieder Fidelio-Leonore sowie Tosca, Donna Anna, Isolde, Abigail, Lady Macbeth und eine missglückte Turandot gab. Doch alsbald wurde es dort ruhig um sie. Die Gründe liegen im Dunkeln. Dem Vernehmen nach soll die im Ausland Gefeierte auch Feinde gehabt haben. Zur Wahrheit gehört, dass sie sich künstlerisch zu überleben begann. Der Typ der gestandenen Kammersängerin war nicht mehr gefragt. Es drängten jüngere Talente auf die Bühnen, denen die Rollen, die sie verkörperten, auch äußerlich mehr abgenommen wurden. Sie selbst trug es mit Fassung – und wohl auch mit Humor. Also dann eben Provinz! In Berlin Stimme des Falken, in Jena und in Magdeburg Brünnhilde in Konzerten. Und eben die Auftritte in den USA, wo sich niemand daran störte, wenn Frauen nicht über die Maße einer Barbiepuppe verfügten.

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Hanne-Lore Kuhse mit Erich Leinsdorf in Boston. Der Dirigent schätzte die Sängerin und begleitetet sie auch in Paris und London. - Foto: OBA

Hanne-Lore Kuhse mit Erich Leinsdorf in Boston. Der Dirigent schätzte die Sängerin und begleitetet sie auch in Paris und London / Foto: Archiv Kuhse

Doch zurück zu den Fakten. Die besagen, dass Hanne-Lore Kuhse ihre größten künstlerischen Erfolge außerhalb der DDR in den USA beschieden waren. New York 1967, Philharmonic Hall im Lincoln Center, Vier letzte Lieder von Richard Strauss und Ferruccio Busonis Turandot mit Plácido Domingo als Calaf. Isolde mit dem Heldentenor Ernst Gruber (Tristan), Ramón Vinay (Kurwenal) und Blanche Thebom (Brangäne) in Philadelphia. Der Mitschnitt ist bei Ponto erschienen Als Partnerin von Jon Vickers (Siegmund), Ingrid Bjoner (Sieglinde), Thomas Stewart (Wotan) und Nicola Moscona (Hunding) war sie die Brünnhilde in der Walküre der Connecticut Opera in Hartfort. In der Hollywood Bowl trat sie an der Seite von Jess Thomas in einem großen Wagnerkonzert in Erscheinung. Thomas war auch ihr Siegmund im ersten Walküre-Aufzug in Boston, der sich als Mitschnitt in privaten Sammlungen erhalten hat. Dort gastierte sie auch als Lady Macbeth an der Seite von Kostas Paskalis (Macbeth). Als Erich Leinsdorf das US-amerikanische Publikum in Tanglewood mit der Leonore, der Urfassung des Fidelio, vertraut machen wollten, holte er die Kuhse für die Titelpartie. Florestan war George Shirley, Pizarro Tom Krause. Leinsdorf schätzte die Sängerin und besetzte sie sogar als Fricka in konzertanten Szenen aus dem Rheingold, eine Rolle, die sie zuletzt Mitte der fünfziger Jahre in Schwerin gesungen hatte. Im französischen Rundfunk wurde erst vor wenigen Jahren ein Leinsdorf-Konzert des National Orchestra of France von 1968 erneut ausgestrahlt, das mit dem Schlussgesang der Brünnhilde aus der Götterdämmerung endete.

Eva Rieger kommt in ihrem Buch über Friedelind Wagner auch auf die Kurse zu sprechen (Pieper, ISBN 978-3-492-05489-8).

Eva Rieger kommt in ihrem Buch über Friedelind Wagner auch auf die Kuhse zu sprechen (Pieper, ISBN 978-3-492-05489-8).

Ein greifbar nahes Debüt als Isolde an der Met scheiterte an den Bürokraten in Ostberlin. Das Visum lag nicht rechtzeitig vor. Ihr erstes namhaftes Gastspiel auf internationalem Parkett absolvierte die später Weitgereiste 1956 in Nizza – und zwar als Senta im Fliegenden Holländer. Auf dem Programmzettel standen mit Hans Hotter (Holländer), Arnold van Mill (Daland) und Günther Treptow (Erik) prominente Namen. Später war sie oft London anzutreffen, wo die von ihrer Freundin Friedelind Wagner veranstaltete erste komplette Aufführung der Siegfried-Wagner-Oper Der Friedensengel für großes Aufsehen sorgte. Gemeinsam mit dem Dirigenten Leslie Head gelang es Friedelind, den Widerstand ihrer Mutter Winifred, die von Aufführungen der Opern ihres Mannes Siegfried nicht viel hielt, zu überlisten. Als Eigentümerin der Rechte stimmte sie schließlich der Aufführung zu uns reiste sogar selbst in London an. Die Kuhse sang die Mita, die weibliche Hauptfigur, Martha Mödl Frau Kathrin, die im Werk vielbeschäftigte Mutter des Wilfried (Raffaele Polani). Das Konzert in der Queen Elizabeth Hall vom 23. November 1975 gelangte über einen Rundfunkmitschnitt auf CD (Living Stage). In ihren Buch über Friedelind Wagner hat die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger auch dieses spannende Kapitel berührt. Unveröffentlicht hingegen blieb bisher das BBC-Band der konzertanten Aufführung des Kobold von 1980. Wieder stand Head am Pult.

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Diese RCA-LP mit einem klassischen Liederprogramm ist in New York produziert worden und nur noch antiquarisch erhältlich.

Diese RCA-LP mit einem klassischen Liederprogramm ist in New York produziert worden und nur noch antiquarisch erhältlich.

Sammler müssen keinen Mangel an Kuhse-Dokumenten beklagen. Von den offiziellen Titeln ist das meiste inzwischen als CD zugänglich. Allen voran die oft aufgelegte Gesamtaufnahme von Tiefland (zuletzt Brilliant Classics), die in der Diskographie dieser Oper nach wie vor einen ersten Rang behaupten dürfte. Nur noch musikhistorisch interessant ist Händels  Radamisto (Berlin Classics) aus Halle. Eine Aufnahme, die den Wandel der Zeiten gut überstanden hat, sind die Wesendonck-Lieder von Wagner und die Vier letzten Lieder von Strauss mit dem von Vaclav Neumann geleiteten Gewandhausorchester Leipzig. Ihr eigentliches Opernrepertoire, in dem neben Wagner auch Verdi präsent war, ist auf Tonträgern leider nur bruchstückhaft überliefert. Don Carlos (Elisabeth), Die Macht des Schicksals (Leonore), Macbeth (Lady) gibt es zumindest scheibchenweise, ebenso Elsa, Senta. Ihre Diskographie ist nur auf den ersten Blick relativ schmal, weil eben nicht alle Dokumente auf Platte bzw. CD gelangten. Die meisten Aufnahmen entstanden beim DDR-Rundfunk und werden im Deutschen Rundfunkarchiv in Babelsberg aufbewahrt. Dazu kommen private Mitschnitte. Immerhin gibt es mit Hanne-Lore Kuhse siebzehn Operngesamtaufnahmen – live und Studio. Darunter sind Verdis Troubadour, Glucks Iphigenie in Tauris, Mussorgskys Boris Godunow und sogar Haydns La vera costanza. Mitgerechnet ist eine Rundfunk-Fidelio-Produktion, von der nur die Szenen der Leonore überlebten. Auch die im Rahmen der DVD-Felsenstein-Edition veröffentlichten Hoffmanns Erzählungen gehören in diese Aufzählung. Die Kuhse singt die Stimme der Mutter, wird aber weder im Vor- noch im Abspann erwähnt, was peinlich ist. Wer also die Edition besitzt, mache sich eine ergänzende Notiz. Und es tauchen immer wieder bislang unbekannte Dokumente auf, zuletzt Auszüge auf einem Konzert mit Wagners Tristan vom 18. Dezember 1967 im Salle Pleyel in Paris. Partner der Kuhse als Isolde sind der Heldentenor Claude Heater als Tristan und Grace Hoffman als Brangäne. Georges Sebastian leitet das Orchestre Lyrique del’RTF. Der filmische Mitschnitt wird im Institut National de l’audiovisuel (INA) bewahrt, einem öffentlich-rechtlichen Unternehmen, das alle französischen Rundfunk- und Fernsehproduktionen sammelt, um sie öffentlich zugänglich zu machen. Gegen Gebühr kann dass Video in Ausschnitten erworben weden.

Eine der gelungensten Einspielungen von Hanne-Lore Kuhse sind die "Vier letzten Lieder" und die "Wesendonck-Lieder"  - erschienen bei Berlin Classics.

Eine der gelungensten Einspielungen von Hanne-Lore Kuhse sind die „Vier letzten Lieder“ und die „Wesendonck-Lieder“ – ehemals Eterna und nun bei Berlin Classics.

Zudem existieren in Deutschland etliche Werke als sogenannte Querschnitte. Vierzehn Titel sind Chorwerke im weitesten Sinne, darunter dreimal Beethovens Neunte, Bruckners Te Deum, die Glagolitische Messe von Janácek oder das Deutsche Requiem von Brahms. Die Zahl der einzelnen Arien, Duette und Szenen aus Opern, darunter Mitschnitte aus Leipziger Anrechtskonzerten, beläuft sich auf fast fünfzig. Zugegeben: Statt der C-Dur-Messe, der Kantate auf den Tod Joseph II. oder der Konzertarien von Beethoven – mit Ausnahme von Ah, perfido! – hätte ich doch lieber das Verdi-Requiem, Schumanns Paradies und die Peri, Haydns Schöpfung oder Schönbergs Erwartung im Schrank. All das hat sie gesungen. Freilich findet sich auch in ihrem Plattennachlass inzwischen fast vergessene sozialistische Auftragswerke – darunter Siegfried Köhlers Reich des Menschen nach Gedichten des Dichters der DDR-Nationalhymne Johannes R. Becher, Günter Geislers Oratorium Schöpfer Mensch und das Mansfelder Oratorium von Ernst Hermann Meyer, das es im Rundfunkarchiv gleich zweifach gibt. Wer sich eine Vorstellung von Kuhses Gespür für Modernes machen will, sollte zu den Bruchstücken für Gesang aus Wozzeck und der Lulu-Suite mit dem Todesschrei greifen. Oder nach dem War Requiem von Britten, das sie zu einem verklärenden Schluss führt. Die von Herbert Kegel geleitete Eterna-Plattenproduktion in seltener deutscher Übersetzung, in der auch Peter Schreier und Günther Leib mitwirken, taucht immer mal wieder bei Ebay auf, noch aber nicht auf CD.

Hanne-Lore Kurse und Friedland Wagner mit Winifred Wagner in Bayreuth.- Foto: OBA

Hanne-Lore Kuhse und Friedelind Wagner mit Winifred Wagner in Bayreuth/ Foto: Archiv Kuhse

Wie in den Konzertsälen, so im Studio – immer wieder Lieder. Wolf, Berg sind auf CD zugänglich. Strauss und Wagner waren schon genannt. Alle Sammleranstrengungen wert ist eine von RCA in New York eingespielte Liederplatte, die neben Wolf auch Schubert und Brahms enthält. Als private Pressung, die endlich auch offiziell ans Licht kommen sollte, existiert auf zwei Platten der Mitschnitt eines Abends im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth vom August 1966: Carl Philipp Emanuel Bach, Mozart, Mahler, Schumann, Strauss, wieder Wesendonck-Lieder – und Siegfried Wagner. Nach Auffassung von Peter P. Pachl (1953-2021), des Begründers der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft, drangen dessen Lieder erst mit diesem Konzert ins Bewusstsein der musikliebenden Öffentlichkeit“.

Noch auf dem Höhepunkt widmet sie sich der Lehrtätigkeit, wurde eine gesuchte Gesangspädagogin – als Professorin an der DDR-Hochschule für Musik, bei internationalen Meisterkursen, die von Friedelind Wagner in England angeboten wurden und ganz privat zu Hause. Eine ihrer Schülerinnen war Gabriele Schnaut. In den schon erwähnten Buch von Eva Rieger erinnert sie sich an ihre Lehrerein Hanne-Lore Kuhse: Die Arbeit mit ihr tut mir sehr gut, ja, ich glaube, uns beiden macht es viel Spaß und Freude.“/Rüdiger Winter

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Foto oben: Im Spiegelbild ihrer Garderobe. Hanne-Lore Kurse 1967 mit Friedelind Wagner im Opernhauses von Philadelphia vor Beginn von Tristan und Isolde./Archiv Kuhse/Rüdiger Winter.

NEUBURGER KAMMEROPER

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Die Neuburger Kammeroper hat es sich zur Aufgabe gemacht, Opern aufzuführen, die in anderen Häusern der modernen Welt nur sehr selten oder gar nicht zu sehen sind. Diese werden während ihres kurzen Sommerfestivals im kleinen, hübschen Stadttheater in Neuburg an der Donau, einer malerischen bayerischen Stadt am Ufer der Donau, präsentiert. Das Festival findet seit 1969 statt und ist nun in seinem 57. Jahr, doch leider wird es das letzte Jahr für die Kammeroper sein, da die Stadt Neuburg ihre Fördermittel umgeschichtet hat und das Festival nicht mehr finanziert werden kann.

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Die Opern dieses Jahres werden also die letzten dieser unbekannten Werke sein: zwei Einakter des praktisch unbekannten belgischen Komponisten François-Auguste Gevaert (1828-1908), La comédie à la ville (Gent, 1849) und Le diable au moulin (Paris, 1859). Beide Opern wurden, wie es Tradition der Kammeroper ist, in deutscher Sprache gesungen, als

Neuburger Kammeroper zum letzten Mal: Gavaerts heitere Oper „So Eine Komödie!“ 2025/Szene/Foto Neuburger Kammeroper

So Eine Komödie! und Der Teufel von der Mühle.

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Gevaert, geboren in Huysse, Belgien, war von seinem Vater zum Bäcker berufen, doch der Dorfpfarrer überzeugte seine Eltern, ihm seinem musikalischen Talent zu folgen, was er in Belgien tat und mit dem Prix de Rome für seine Kantate Le Roi Lear belohnt wurde. Das zweijährige Reisestipendium wurde jedoch durch die Produktion seiner ersten Oper in Gent unterbrochen, einer der beiden Opern, die in Neuburg angeboten wurden, La comédie à la ville. 1853 ließ er sich in Paris nieder und produzierte mehrere Opern an der Opéra-Comique und am Théâtre-Lyrique, darunter Le diable au moulin im Jahr 1859.

1867 trat Gevaert die Nachfolge von Halévy als Leiter der Musikakademie an und war von da an wahrscheinlich eher als Lehrer denn als Komponist bekannt. 1870 kehrte er nach Belgien zurück und wurde Direktor des Königlichen Konservatoriums in Brüssel; er war Autor zahlreicher Monografien über Musik, von denen einige noch heute konsultiert werden.

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Neuburger Kammeroper: der Prinzipal Horst Vladar/NK

Die erste seiner Opern, die in Neuburg aufgeführt wurde, war Der Teufel von der Mühle mit einem Libretto des bekannten Pariser Librettisten-Duos Eugène Corman und Michel Carré (die unter anderem auch das Libretto zu Bizets Les pêcheurs de perles verfassten). Sie handelt von Antoine, einem Müller, dessen Launenhaftigkeit ihm den Spitznamen „Teufel” eingebracht hat und der beschließt, zu heiraten. Als der Bauer Boniface mit seiner hübschen Nichte Martha zur Mühle kommt, verlieben sich die beiden ineinander. Martha gewinnt Antoine für sich, indem sie ihm ein Spiegelbild ist – wenn er die beiden Diener Toinette und Fargeau beschimpft, tut sie es ihm gleich. Wenn er in Wut gerät, passt sie sich ihm an. Ihr Nachahmen seiner Ausbrüche überzeugt ihn, aber es lehrt ihn auch, sich mit Marthas Hilfe zu beherrschen. Alles endet glücklich.

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Neuburger Kammeroper: die Prinzipali Annette Vladar/NK

So Eine Komödie! handelt vom Pariser Kaufmann Durosier, der zwei Töchter hat, Isabelle und Angéline. Er möchte sie mit den Söhnen seiner Jugendfreunde verheiraten, die er jedoch noch nie gesehen hat, aber die Töchter sind in zwei Schauspieler verliebt, Flavigny und Grandval. Als Durosier die Schauspieler als Freier ablehnt, verkleiden sie sich als die Söhne seiner alten Freunde und benehmen sich so unmöglich, dass Durosier entsetzt ist. Als er entdeckt, dass die Schauspieler ihn so gründlich getäuscht haben, belohnt er ihre Klugheit mit den Händen seiner Töchter.

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Die Musik dieser kurzen Possen ist charmant, ohne besonders einprägsam zu sein. Wie zu erwarten, waren die Ensembles die reizvollsten Teile. Ich muss zugeben, dass mir Gevaerts Durchbruchstück „La comédie à la ville“ am besten gefallen hat; es ist leicht zu verstehen, warum seine ansteckende Fröhlichkeit Gevaerts Karriere erfolgreich ins Rollen gebracht hat. Es war auch ein kleiner Schock, direkt aus München zu kommen, wo wir zwei Tage vor diesen Einakter-Opern Lohengrin gesehen hatten. Lohengrin, mit seinem gewaltigen Chor und Orchester und seinen tiefen Wurzeln in der germanischen Mythologie, ist Welten entfernt von Gevaerts Einakter-Farces, obwohl sie aus derselben Zeit stammen – La comédie à la ville wurde 1849 uraufgeführt und Lohengrin 1850. Lohengrin ist natürlich ein Meisterwerk, das nie aus dem Repertoire verschwunden ist, während Gevaerts Farces uns eine alltägliche Welt der Musikkomödie zeigen, in der der Opernbesuch der Unterhaltung diente, um die Sorgen der realen Welt vergessen zu machen. Als solche sind diese Opern Teil einer langen Tradition der französischen Unterhaltungsmusik in kurzen Dosen.

Neuburger Kammeroper 1979/NK

Die sechs Sänger der Kammeroper übernahmen alle Rollen in beiden Werken. Stephan Hönig war Boniface, der Bauer, in Der Teufel, und Durosier, der Kaufmannsvater, in Eine Komödie; Karol Bettley war der Teufelsmüller und einer der Schauspieler, während Gabriel Goebel den anderen Schauspieler und den Knecht des Müllers spielte. Sarah-Léna Winterberg war Toinette, die Magd und eine von Durosiers Töchtern, während Elisabeth Zeiler die andere Tochter und die clevere Martha spielte, die den Müller imitiert. Horst Vlader, einer der Gründer des Ensembles, spielte in beiden Werken Komprimario-Rollen. Alle Sänger waren den musikalischen Anforderungen mühelos gewachsen, gut einstudiert und witzig. Jede Oper dauerte angenehme 90 Minuten.

Georg Hermansdorfer leitete die Mitglieder des Akademischen Orchesterverbandes München e.V. Der Chor aus lokalen Teilnehmern rundete das Ganze ab. Alle schienen sich gut zu amüsieren. Annette und Horst Vlader lieferten die deutschen Übersetzungen, und Horst Vlader war der Regisseur. Die Inszenierungen der Neuburger Kammeroper sind stets traditionell und kostümiert nach den Vorgaben des Komponisten und des Librettisten.

Neuburger Kammeroper 2020/NK

Die Bühnenbilder sind einfach, aber realistisch. Das ist weit entfernt von den lächerlichen Regie-Inszenierungen von heute, wie beispielsweise Lohengrin in München. Neuburg brauchte kein Video und keine Programmnotizen, um die seltsamen und unmusikalischen Konzepte des Regisseurs zu erklären.

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Das endgültige Programm der Kammeroper listete alle Werke auf, die seit 1969 aufgeführt wurden: 73 Opern von A. Adam bis N. Zingarelli; zwei Barbier von Sevilla, keine davon von Rossini; ein Türke in Italien, aber von Seydelmann. Wer? Einige der Namen der Komponisten sind mir vage bekannt, andere habe ich zumindest noch nie gehört – wie Gevaert. Es ist traurig, dass das Ensemble verschwindet. Seine Aufgabe wird in dieser Form nicht wieder erfüllt werden können. Die Stadt Neuburg hat einen Schatz verloren (Neuburger Kammeroper 1. August, 2025; François-Auguste Gevaert; Le diable au moulin/Der Teufel von der Mühle; La comédie à la ville/So Eine Komödie). Charles Jernigan/DeepL

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Neuburger Kammeroper 1994/NK

Über den Verein: „Seit einem Vierteljahrhundert behauptet die Neuburger Kammeroper ihren unverwechselbaren Platz in der Vielfalt des sommerlichen Festspielbetriebes. Komponisten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, die selbst dem Fachmann kaum mehr als namentlich bekannt sind, feierten mit ihren Bühnenwerken vitale Auferstehung aus langem Archivschlaf und bewiesen, daß sie – zuverlässig und liebevoll aufbereitet – auch einem heutigen Publikum durchaus noch etwas zu sagen haben.“ (Opernwelt – Oktober 1993)

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Über die Neuburger Kammeroper und ihre letzte Produktion: Wenn man in Neuburgs historischer Altstadt das hübsche Biedermeiertheater mit seinen zwei Rängen und den zierlichen Säulchen sieht, muß man sich als „Musenjünger“ wünschen, daß darin auch Werke des Musiktheaters ein wohlgestimmtes Publikum erfreuen. Das dachte sich auch der in Neuburg aufgewachsene Opernsänger und Regisseur Horst Vladar, als er 1969 mit Freunden die Neuburger Kammeroper gründete.

Neuburger Kammeroper 2014/NK

Keiner ahnte damals, daß sich das kaum subventionierte Unternehmen über 30 Jahre halten würde. Inzwischen fördern Stadt und Landkreis die Neuburger Kammeroper soweit, daß wenigstens jeden Sommer eine Produktion auf die Bühne kommt.Dies wird nur möglich, weil außer den Gesangssolisten und dem künstlerischen Führungsteam begeisterte Amateure – Orchester, Technik, Verwaltung – mitwirken. Diese Mischung gibt trotz aller Einschränkungen dem Unternehmen seinen besonderen Reiz.

Die Neuburger Kammeroper wurde über die Region hinaus bekannt, weil sie es sich zum Programm gemacht hat, nur Opern aufzuführen, die kaum an anderen Opernhäusern zu hören sind. Wo bringt man schon Opern von Komponisten wie z. B. Salieri, Himmel, Guglielmi, Philidor, della Maria, Fischietti, Logroscino, Mehul, Martin y Soler, Schweitzer, Isouard, Morlacchi, Galuppi, Gretry, Fioravanti, Danzi, Kreutzer, Mayr, Gaßmann? Verein Neuburger Kammeroper

Feuchter Rausch

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Zu oft sind weibliche Opernfiguren eher strahlende Heldinnen mit einem kleinen Knacks oder schöne Frauen im Bedrängnis. In Rameaus wohl berühmtester Oper Platée ist das ein bisschen anders. Da dreht sich alles um die Hässlichkeit. Ja:  Hässlichkeit! Und auch wer sich nicht mit Rameau auskennt bekommt diesen Eindruck spätestens, wenn er oder sie die neue Aufnahme beim Label Chateau de Versailles zur Hand nimmt. Auf dem Cover ist ein hellgrüner Frosch im weißen Brautkleid mit Diadem und Schleier zu sehen. Also eine Froschdame. So ein schräges Albumcover habe ich noch nie gesehen. Dieses Cover alleine lohnt schon den Kauf, eines der lustigsten Operncover seit langem. Absoluter Hingucker. Bei Rameau ist das eigentlich kein Frosch sondern eine Sumpf-Nymphe. Aber die sieht ja einem Frosch ziemlich ähnlich und gehört jetzt nicht wirklich zu den attraktiven Damen. Götter-Fürst Jupiter möchte in dieser Oper seiner Frau Juno ein für alle Mal beweisen, dass sie nicht eifersüchtig zu sein braucht. Dafür umwirbt er diese hässliche Nymphe. Und inszeniert das Ganze als Riesenhochzeit mit allem Pomp, um dann auf dem Höhepunkt seiner rasenden Gattin zu sagen: „Alles nur ein Joke“. Übrigens besonders abgefahren ist, dass Platée als eine Travestie-Rolle von einem hohen Tenor (einem haute-contre) gesungen wird, in diesem Fall von Matthias Vidal, der seinen Part auch prachtvoll ausführt (wenngleich er kein echter haute-contre im alten Sinne wie Michel Sénechal z. B. ist), und man merkt auch mit viel Genuss er seine Rolle auslebt.

Platée ist diese besagte hässliche Nymphe in der Oper und musikalisch auch eindrücklich gestaltet. Eine unattraktive Sumpf-Nympfe, die hier für einen Spaß missbraucht wird. Wir können darüber lachen, aber siehat ja auch was Tragisches. Ist das dem heutigen Publikum in einer Zeit von Mobbing, Scamming, Body-Shaming und so weiter überhaupt noch vermittelbar? Das Interessante ist ja, dass wir immer glauben, wir seien heute besonders sensibel in solchen Sachen, aber die Franzosen waren das damals auch schon. Auch 1745 war der Stoff brisant, zumal das Werk für eine Hochzeit, eine royale, aufgeführt wurde. Anlass der Aufführung war die Vermählung von Louis, Dauphin von Frankreich, Sohn König Ludwigs XV., mit der Infantin Maria Theresia von Spanien. Und die Braut war auch damals nicht so der wirkliche Hingucker. Viele waren nicht begeistert von dieser wenig sensiblen Handlung. Voltaire zum Beispiel regte sich furchtbar auf und fand das den Gipfel der Unanständigkeit. In seinem Totalverriss sagt er, alle Rameau-Opern seien unausgewogen, aber diese sei das abscheulichste Schauspiel, das er je gesehen und gehört habe. Und dann auch noch für eine königliche Hochzeit!

Grausame Streiche sind in der Oper ja keine Seltenheit. Man denke an Donizettis Don Pasquale bis zu Wolf-Ferraris Sly. Aber man kann dem ganzen auch eine tragische Komponente abgewinnen.  Platée lässt sich auch anders lesen, nämlich als eine Studie über Eitelkeit. Denn so ganz Opfer und unschuldig an der Situation ist die Nymphe ja nicht, weil sie total leichtgläubig sich eben für hochattraktiv hält. Sie findet es ganz normal, dass der Göttervater vorbeikommt und sie umwirbt. Das gehört sich so und steht ihr zu. Vielleicht ist dies auch eine Parodie auf dem Versailler Hof und dessen Umtriebe …

Charles-Antoine Coypel: Pierre Jélyotte in der Rolle der Nymphe Platée, um 1745/Wikipedia

Rameau zeigt sich hier als ein Komponist, der grausam und kalt mit der Umgebung spielt, was ich spannend auch vielschichtig finde. Die kommentierenden Chöre haben mitunter eine fast Offenbachsche, grelle Bosheit. Platée gehört ja zu den bekanntesten Opern von Jean-Philippe Rameau, auch zu den besten. Musikalisch ist dies vielleicht nicht die komplexeste davon. Da gibt es Opulenteres. Aber die Schrägheit des Stoffs allein lässt sie ein Publikumsrenner sein. Die relativ schlichte Handlung macht es auch möglich, dem Ganzen leicht zu folgen. Was nicht gerade der Normalzustand im Barocktheater ist. Und ein Tenor in Frauenkleidern macht auch immer was her.

Das Werk gehört tatsächlich zu den erfolgreichsten Bühnenwerken Rameaus überhaupt. Seit den 1950ern, als es (in Aix?) wiederentdeckt wurde, ist es immer wieder inszeniert worden.  Dagegen wurde recht selten eingespielt. Diese hier ist erst die fünfte Gesamtaufnahme. Das klingt paradox: So viele Inszenierungen und dann nur so wenige CD-Gesamtaufnahmen (optische gibts mehr).

Wer´s optisch nacherleben will hat an Marc Minkowskis/Laurent Pellys Pariser  Aufnahme seine ungezügelte Freude bei Arthaus.

Was sicherlich daran liegt, dass das Werk seine Hauptstärken in der Optik besitzt:  eben eine musikalisch illustrierte Ballett-Optik, eine komische Ballettoper.  Mit extrem vielen Tänzen. Die Männerrollen überwiegen massiv. Das ist auf der Bühne natürlich sehr lustig, aber akustisch ist diese von Voltaire bemerkte Unausgewogenheit sehr deutlich. Und auch ermüdend auf die Dauer. Immer dieses Jammern und eitle Gesinge von der Nymphe, und immer der hohe Tenor.  Dem muss man für eine rein akustische Wirkung gegensteuern und versuchen, die musikalische Textur spannend zu machen, um die fehlende Optik zu ersetzen. Ich finde man hat hier sehr erfolgreich sein Möglichstes gegeben. Und mit Valentin Tourné steht ein sehr junger Dirigent am Pult (28 letztes Jahr, als das aufgenommen wurde). Junge Menschen sind ja in der Regel ungeduldiger als ältere. Das ist in diesem Fall eine Tugend, weil Tourné sich nicht langweilen will und dem Ganzen viel Tempo gibt. Die orchestrale Seite ist einfach glänzend. Die Tänze glitzern hier in herrlichen Farben. Rhythmisch ist das Spiel sehr nervös und vorwärtsdrängend, pulsierend. Man wartet nicht während der Ballette darauf, dass endlich wieder gesungen wird. Ein Riesenverdienst, finde ich. Es liegt wirklich daran, dass die Tänze und die Sänger exzellent klingen. Diese Sängerriege überragt um die gefeierte Gesamtaufnahme unter William Christie (bei hmf). Voltaire hat ja nicht ganz unrecht, wenn er sagt, dass die Musik selber den Stimmen (zu) viel abverlangt. Diktion und Technik müssen perfekt sein bei einem so recht spannungslosen Werk, das sich auch mal dahinzieht. Und damit das Ganze für den Hörer witzig bleibt, muss man gute Stimmen haben, wie hier. Matthias Vidal singt die Titelpartie mit Aplomb. Hier ist er in seinem Element, hat diesen Mut zur Hässlichkeit und zur Selbstpersiflage und ringt dieser armen Nymphe sogar schöne Töne ab. Marie Lys in der Rolle des Wahnsinns ist auch persönlich der Wahnsinn, geht mit ihrer Koloraturarie absolut „wahnsinnig“ an ihre Grenzen, wirklich beglückend.

Ich würde diese Aufnahme auch klanglich den Vorzug vor der Christie-Einspielung geben, weil hier ist der Bühnenraum nicht so präsent wie in der Konkurrenzaufnahme ist. Die Mikros sind hier besser aufgestellt. Ich bin insgesamt sehr glücklich damit (mit Mathias Vidal, Marie Lys, Zachary Wilder, Alexandre Duhamel, Juliette Mey, David Witczak, Cecile Achille, Cyril Costanzo;  La Chapelle Harmonique; Leitung Valentin Tournet; Château de Versailles, 2 CD/CYS 153/ 24. 07. 25). M. K./S. L.