Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Die besondere Oper

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Auch in dieser Saison (2022/23) sind wir bei der Auswahl der besuchten Live-Aufführungen wählerisch und konzentrieren uns auf wenige und eben für uns interessante Operntitel

.Polnisches Indiendrama in der Berliner Philharmonie: Sie sollte der entscheidende große Wurf sein die letzte und damit sechste Oper Paria von Stanislaw Moniuszko, die den polnischen Komponisten mit Unterbrechungen sein ganzes Leben lang beschäftigt hatte, denn bereits der Achtzehnjährige soll das Trauerspiel von Casimir Delavigen übersetzt haben , der Text ging aber wohl verloren, ehe er sich ans Komponieren machen konnte. Da hatte die gleichnamige Oper von Gaetano Donizetti Il Paria bereits das Alter von vierzig erreicht, nachdem sie mit Rubini, dem Schöpfer des Do di Petto uraufgeführt und die Musik danach bald in Anna Bolena, Torquato Tasso und Il Duca d’Alba wieder verwendet worden war.

Zwar erfüllte der Stoff das Bedürfnis des u.a. durch Weltausstellungen nach dem Orient, nach Exotischem süchtig gewordenen Publikums mit der Geschichte vom unterschiedlichen Kasten zugehörigen Liebespaar, aber außer der Handlung war ganz und gar nichts orientalisch an Paria, weit weniger noch als an auf der gleichen Orient-Schiene sich bewegenden Opern wie Lakmè, Thais oder Die Afrikanerin und Die Perlenfischer. Es kam zwar im Jahre 1868 zur Uraufführung in Warschau, wo man das Werk auch 1917 wieder erleben konnte, dann aber klafft eine große Lücke in der Aufführungstradition, ehe man Paria 1951 in Breslau, 1958 in Posen aufführte, 1991 in Havanna und 2008 entstand eine CD bei Dux Records mit den Kräften aus Stettin. Hin und wieder nahmen sich auch auf westlichen Bühnen erfolgreiche Künstler des Werks oder vielmehr von Teilen desselben an, so findet man bei You Tube eine Aufnahme der Arie der Neala mit Teresa Zylis-Gara unter Kazimir Kord.

2020 inszenierte Graham Vick die Oper „Paria“ in Posen/ Szene/ Opera Vision

2020 inszenierte kein Geringerer als Graham Vick Paria an der Moniuszko Oper in Posen , die Inszenierung erhielt den International Opera Award für ein wiederentdecktes Werk , und nun ist das Spätwerk im Rahmen eine Moniuszko-Dreierpacks (Halka 2019 und Das Gespensterschloss im September 2024 ebenfalls in Berlin) konzertant mit dem Ensemble aus Posen am 23. Mai 2023 in der Berliner Philharmonie zu hören gewesen. Dafür ist man erst einmal dankbar, denn eine Presse-DVD mit Ausschnitten aus der Inszenierung beweist, dass diese einmal mehr die übliche Abrechnung mit dem Klerus, aber da mit Heiligenschein versehen, dem christlichen, und mit dem Militär zeigt, denn auch Idamor, der Tenor, ist recht unsympathisch, mit Maschinengewehr und ordenbehängt zur Hochzeit erscheinend.

Ein ganz anderes Schicksal als Paria hatte übrigens Moniuszkos Oper Halka, in Polen als Nationaloper geliebt und nach 1945 zumindest in den „sozialistischen Bruderländern“ häufig aufgeführt. Während in diesem Werk Handlung und Musik zueinander passen und es  sich so den Ehrentitel polnische Nationaloper redlich verdient, ist Paria ein seltsames, wenn auch sehr reizvolles Gemisch aus französischer Opera Comique, deutscher Spätromantik und polnischer Folklore mit umfangreichen, gewaltigen Chorszenen, einem Ballett und teilweise ausgesprochen apart-interessanten instrumentiert. Wenn Moniuszko bekannte: “Ich bin Paria“, dann lässt das Raum für vielerlei Spekulationen.

Viele polnische Familien hatten sich neben dem üblichen Konzertpublikum in der Philharmonie eingefunden, und es musste auch mal ein schreiendes Kleinkind, das dem Ereignis wenig abgewinnen konnte, aus dem Saal getragen werden, ansonsten herrschte eine feierliche Stimmung, wenn der polnische Botschafter viele Ehrengäste (darunter der polnische Botschafter und Honoratioren aus Politik und Kunst) feierlich begrüßte, anschließend Kulturjournalist Frederik Hanssen das Publikum in das Operngeschehen einführte, nicht ohne zu erwähnen, dass Moniuszko immer auf der Seite der Armen und Entrechteten gestanden habe.

Moniuzskos Oper „Paria“ in der Berliner Philharmonie/ Iwona Sobotka sang die Neala und erinnerte im Timbre an andere berühmte polnische Sopranistinnen wie Teresa Kubiak oder Teresa Zylis-Gara/ Foto: K. Bieliński / Polish National Opera

Die Posener stellten sich mit einem der anspruchsvolle Partitur gleichermaßen mit Hingabe wie technischem Können gerecht werdendem Einsatz dem Berliner Publikum vor, das enorme Pathos, das über weite Strecken in der Musik Moniuszkos herrscht, stilvoll bändigend. Dirigent Jacek Kaspszyk wusste immer wieder Inseln der Ruhe und der akustischen Beschaulichkeit zu schaffen, wenn die Musik sich in unermüdlicher Daueraufgeregtheit zu verausgaben drohte (Wagneranklänge!). Vorzüglich war der Chor der Posener Oper, seien es Damen und Herren getrennt voneinander, so ein wunderschöner Mädchenchor im ersten Akt, oder sei es als teilnehmendes Volk.

Iwona Sobotka im rot-schillernden Glitzerfummel war eine auch akustisch attraktive Neala mit weichem, geschmeidigem, in der Höhe schön aufblühendem Sopran ohne jede Schärfe. Besonders gut gelang ihr das Wechselspiel mit dem Chor im ersten Akt. Mit dunkel getöntem, heldisch auftrumpfendem Tenor vieler Schattierungen sang Dominik Sutowicz ihren Geliebten Idamor, den Paria, der auch mit Schwelltönen prunken konnte. Einen Bass wie aus einem Guss und von schöner Farbe hatte Volodymyr Tyshkov für den Brahmanen Akebar. So beredt wie sonor versuchte Stanislav Kuflyuk mit hochpräsentem Bariton als Djares seinem Anliegen Gehör zu verschaffen. In kleineren Partien schlugen sich Piotr Friebe als Ratef und Lucyna Bialas als Priesterin wacker.

Der Abend war eine interessante Erfahrung, konnte jedoch nicht davon überzeugen, dass dem Paria auf Dauer ein Platz im Repertoire gebührt. Exotische Themen wie dieses haben es sowieso schon schwer in unserer Zeit, umso mehr, wenn die Musik dazu absolut nicht passen will und eher epigonalen Charakters ist. Ingrid Wanja    

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PS.: Wenngleich es die Oper schon vor der Produktion in Posen reichlich zu hören gab: So bereits im polnischen und dann DDR-Rundfunk in den achtziger Jahren aus Krakau (wie ich im Archiv des DDR-Rundfunks in Potsdam entdeckte und mir besorgte), eine polnische TV-Produktion von 1993 unter Antonin Wicherek mit der wunderbaren Hanna Lisowska (davon existiert eine Kopie noch auf VHS), eine weitere TV-Produktion des Wielki Warschau 1989 erneut unter Wicherek und natürlich die schmissige und maßstäbliche Aufnahme aus Breslau bei DUX unter dem jungen Lukasz Borowicz 2019 – ein langer Artikel bei operalounge.de beschäftigt sich zudem mit dem Werk und der zuletzt genannten Aufnahme. Dem Vernehmen nach will Naxos die obige Aufführung herausbringen. G. H.

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Hamlet an der Komischen Oper Berlin – ein Schloss wird zum Friedhof. Nicht gering war die Skepsis nach Bekanntgabe des Spielplanes der Komischen Oper Berlin für die Saison 2022/23, der eine Neuproduktion von Ambroise Thomas’ Hamlet vorsah. Eines der anspruchsvollsten französischen Werke zwischen Grand opéra und Drame lyrique in der Behrenstraße? Die konzertante Aufführung an der Deutschen Oper im Juni 2019 mit Florian Sempey und der rasanten Ève-Maud Hubeaux unter Yves Abels dto. begeisternder Leitung war noch in bester Erinnerung. Man war gespannt.

Die Inszenierung und musikalische Interpretation straften alle Zweifel Lügen und dürften  sogar als Berliner Opernaufführung des Jahres gewertet werden. Nadja Loschky hat das Stück spannungsreich und mit stimmiger Personenführung inszeniert, den Narren Yorick, der bei Shakespeare, aber nicht im Opernlibretto Erwähnung findet, als Figur eingeführt und damit die komisch-groteske Ebene bedient. Kjell Brutscheidt gibt ihn stark effeminiert und mit tänzerisch-exaltierter Allüre, darf zu Beginn sogar das Lied des Narren aus Shakespeares Was ihr wollt singen. Irina Spreckelmeyer hat ihn als einzige Figur der Inszenierung in einem glitzernden schwarz/silbernen Renaissance-Kostüm historisch gewandet. Für alle anderen – bis auf den Titelhelden, der einen schmucklosen, legeren grauen Anzug trägt – ist warmes Burgunderrot vorgesehen, ob in langen Schleppen für das Königspaar oder den Hotelpagenkostümen für einzelne Chorsolisten. Etienne Pluss entwarf eine atmosphärische Bühne – das Treppenhaus eines alten Schlosses mit gemusterter Tapete, das an einen britischen oder amerikanischen Film à la Hitchcock erinnert. Wenn die Lampen flackern, fühlt man sich gar in den Psychothriller Das Haus der Lady Alquist versetzt. Mit seltsamen Gestalten, die anfangs aus einer Bodenvertiefung steigen und sich im Laufe der Aufführung vermehren, führt die Regisseurin gar ein surreales Element ein. Mit Stockschirm, Aktenkoffer und Melone lassen sie an die Bildwelt von René Magritte denken. Ihre Anführer stellen sich schließlich als die beiden Totengräber heraus. Auch mehrere Doubles – für Hamlet, Ophélie, Claudius, Gertrude und den Geist des ermordeten Königs – bringen eine unwirkliche Atmosphäre ein.

Das Geschehen eskaliert am Ende des 2. Aktes, nachdem Hamlet den Tod seines Vaters als Pantomime vorführen ließ und Claudius, der Mörder und neue König, in Panik den Hof verlässt. In rasender Wut zertrümmert Hamlet mit der Spitzhacke die hintere Wand, aus der schwarze Erde herausquillt. Die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin (Einstudierung: Jean-Christophe Charron) erweisen sich in diesem dramatischen Finale mit klanggewaltigem Gesang als grandiose Architekten bei der Errichtung einer Kathedrale in Musik. Nach der Pause zeigt sich der Raum in dichten Nebelschwaden und wüster Zerstörung. Die Natur hat als hügeliges Erdreich von ihm Besitz ergriffen, der Schauplatz hat sich zu einem Friedhof gewandelt. Hier singt Hamlet mit einem Totenschädel in den Händen seinen berühmten Monolog. Der britische Bariton Huw Montague Rendall ist ein Ereignis der Aufführung. Mit seiner weichen, sensiblen Stimme, die vom gehauchten pianissimo bis zum ausladenden forte über schier unbegrenzte vokale Möglichkeiten verfügt, und einem reichen Ausdrucksspektrum der grüblerischen, jähzornigen, halluzinativen, hintergründigen, aufbrausenden Töne darf er als Idealbesetzung der Rolle gelten, zumal er als blonder, träumerischer Jüngling auch optisch die Figur perfekt zu verkörpern vermag. Die Spanne seines gesanglichen Könnens zeigt sich eindrücklich in der Verve des Trinkliedes „Ô vin, dissipe la tristesse“ und dem introvertierten Selbstgespräch „Etre ou ne pas être“. Sein Duett mit Ophélie, in welchem beide von ihrer Liebe singen, steigert sich von schwärmerischem Ausdruck zu ekstatischem Taumel. Mit äußerster Spannung vollzieht sich die erregte Auseinandersetzung mit seiner Mutter Gertrude, die Karolina Gumos mit herbem, dramatisch betontem Mezzo singt. Das Verhältnis zu ihrem Sohn pendelt zwischen inzestuöser Zuneigung und abgründigem Hass. Hamlets Beziehung zu Claudius, den Tijl Faveyts mit körnigem, reifem Bass gibt, wird bestimmt vom Geist seines getöteten Vaters (Jens Larsen mit gespenstisch-fahl tönender Stimme), der aus dem Grab steigt und ihm den Auftrag erteilt, den Mord zu rächen. Am Ende reichte er Hamlet ein Messer, mit dem dieser die Tat vollführt. Eine Glocke senkt sich herab, die Hamlet als neuer König besteigt, freilich eher eine gekreuzigte Leidensfigur abgibt denn einen triumphierenden Regenten. Das Regie-Team bedient damit das Finale der Urfassung von 1868, in welcher der dänische Prinz überlebt.

„Hamlet“ von Ambroise Tomas an der Komischen Oper Berlin/ Szene/ Foto Rittershaus

Das zweite Ereignis der Aufführung am 28. 4. 2023 war die blond gelockte Ophélie der Amerikanerin Liv Redpath, deren Sopran die horrend schwierige Partie mit geradezu mirakulöser Mühelosigkeit bewältigt. Die reiche Farbpalette mit melancholischen, verschatteten, wehmütigen, flirrenden Nuancen bot im Verein mit sensationeller technischer Bravour für die Wahnsinnsszene das perfekte Fundament. Glitzernde Koloraturen, funkelnde Spitzentöne, blitzende staccati, delikate Triller und trancehafte Vokalisen bescheren eine vokale Sternstunde. Himmlisch verklärt dann ihre letzte Szene, in der sie Hamlet erinnert, nicht an ihrer Liebe zu zweifeln.

Es ist ein Verdienst der Inszenierung, dass sie auch das Ballett – neben den großen Chortableaus unverzichtbarer Bestandteil der Grand opéra – in den Handlungsablauf integriert hat. Hier wird es in der Choreografie von Thomas Wilhelm als Ophélies Traum von der Hochzeit mit Hamlet gezeigt. Es ist ein Pas de deux, in welchem der Tänzer im Überschwang des Gefühls seine Partnerin dreht, hebt und durch die Luft wirbelt. Kompetent besetzt sind die Nebenrollen: José Simerilla Romero als Laërte mit tenoralem Strahlen und vehementer Allüre sowie Stephen Bronk als Polonius, Frederic Jost als Horatio und Johannes Dunz als Marcellus mit soliden Auftritten. Zum Abend in seiner Vollendung führt schließlich die musikalische Leitung der Dirigentin Marie Jacquot am Pult des Orchesters der Komischen Oper Berlin. Sie vereint in ihrer Interpretation pathetische grandeur, romantisches Melos, pompöse Festlichkeit, französischen Esprit und sublime Delikatesse. Zu Recht bejubelt das Publikum am Ende eine Aufführung von Ausnahmerang. Bernd Hoppe

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Schloss Rheinsberg Osterfestspiele La clemenza di Silla: In Koproduktion mit den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik kam Carl Heinrich Grauns Dramma per musica Silla nach Rheinsberg und schmückte das Programm der Osterfestspiele im Schloss. Viele Berliner Opernfreunde  waren zur Nachmittagsvorstellung am Ostersonntag angereist, erlaubte der günstige Termin doch eine abendliche Heimfahrt mit dem Regionalzug.

Kein Geringerer als Friedrich II. verfasste das Libretto zu dieser Oper, die 1753 im Berliner Opernhaus Unter den Linden uraufgeführt wurde. Vier Kastraten wirkten bei dieser Premiere mit und führten die hochvirtuose Musik des Königlichen Hofkapellmeisters Graun zu eindrucksvoller Wirkung. Auch in Innsbruck und Rheinsberg war eine prominente Besetzung aufgeboten, die dem Publikum im ausverkauften Schlosstheater ein Fest des Gesangs bescherte.

Georg Quander, Künstlerischer Direktor der Osterfestspiele Rheinsberg, hatte die Sänger in dekorativen Posen arrangiert und dankenswerterweise auf alle Verfremdungseffekte verzichtet. Die optische Faszination der Aufführung war vor allem der Ausstatterin Julia Dietrich zu danken, der durch Kopien von Wandmalereien in pompejanischer Manier und Zeichnungen von Säulen-Architektur ein Mix aus dem römischen Kapitol und dem Potsdamer Schloss Sanssouci gelang. In der Mitte eines Treppenrondells fanden sich wenige Versatzstücke wie eine Ottomane, ein Schreibtisch, eine Büste sowie Banner und Hoheitszeichen zur Bestimmung der Schauplätze.

Osterfestspiele Schloss Rheinsberg/ Grauns Oper „Silla“/ Foto Birgit Guller

Der Titelheld des Werkes ist der römische Diktator Silla, der ein Terrorregime führte und auf dem Höhepunkt seiner Macht alle Ämter aufgab, sogar auf die angebetete Ottavia zugunsten seines Konkurrenten Postumio verzichtete. Bejun Mehta zeichnete die Figur zwischen Machtmissbrauch und Verzicht sehr eindringlich. Von Julia Dietrich in einem roten Samtanzug mit kostbarer Goldstickerei kostümiert, war er auch optisch eine imposante Erscheinung. Sein Countertenor ließ gelegentlich ein paar larmoyante Töne hören, überzeugte aber schon in seiner erregten Arie „Perfido, sì comprendo“ mit vehementem Einsatz und dramatischem Aplomb. In den empfindsamen Arien kostete er das sanfte Melos schwelgerisch aus und krönte seine Interpretation mit dem Koloraturjubel in „Sia questo giorno altero“. Seinen Gegner Postumio stattete der Sopranist Samuel Mariño mit zärtlich sanften Tönen aus. Aber er wusste in „Non più tardi la vendetta“ auch ein Koloraturfeuerwerk von äußerster Erregung abzufeuern. „Caro bell’Idol mio“ mit lieblichen Melismen war sein Liebesgeständnis an Ottavia. Die Sopranistin Eleonora Bellocci, ganz in Weiß in einem Gewand im griechisch-römischen Stil gewandet, sang sie beherzt und entschlossen, was in ihrer Arie „Sol nel caro amabil volto“ auch zu grellen Spitzentönen führte. Hinreißend war sie im Duett mit Postumio, „Quando potrem giammai“, wo sich beider Koloraturläufe perfekt verblendeten. Auch ihr Zwiegesang mit Silla war von starker Wirkung durch die unterschiedlichen Emotionen – sie mit loderndem Zorn, er besänftigend und schwärmerisch. In ihrer letzten Arie, „In quest’amplesso“, konnte sie Postumio dann noch einmal ihrer Liebe versichern. Sie setzt sich damit auch über ihre Mutter Fulvia hinweg, die ihr geraten hatte, sich dem Antrag Sillas zu fügen. Die im Barockfach namhafte Roberta Invernizzi in strenger schwarzer Robe über der Krinoline trat gebührend resolut auf und sang mit reifem, herb getöntem Sopran. Ihr großes Solo gegen Ende des Werkes, „Se l’augellin si vede“, bewies aber ihre noch immer ihre kompetente Beherrschung des virtuosen Zierwerks.

Zwei weitere Countertenöre traten als die römischen Ratsherren Metello und Lentulo auf. Ersteren gab Valer Sabadus in einem reich bestickten, prunkvollen Gehrock. Seinem Auftritt fehlten Energie  und Verve, auch irritierte ein nasaler Beiklang in der Stimme. Besser gelang ihm „Vinci, Signor, te stesso“. Als Lentulo hinterließ Hagen Matzeit einen glänzenden Eindruck. Sein warmer, resonanzreicher und in der baritonalen Tiefe substanzreiche Counter betörte in der Arie „Dopo l’orror“, doch sollte der Sänger in der ausgedehnten Kadenz auf den zirzensischen Effekt verzichten, die weite Spanne seiner Stimme bis zum Extrem auszureizen. Von reinem Wohlklang erfüllt war sein letztes, sanftes Solo „Nel reo destin crudele“.

Ein Tenor ist die tiefste Stimme der Besetzung, Sillas Ratgeber Crisogono, der dem Diktator rät, Ottavia zu entführen. Mert Süngü in römischer Toga und langem weißem Haar sang mit vehementem Einsatz und bedrohlichem Ausdruck, welcher die zwielichtige Figur anschaulich profilierte. Vor allem in seiner aufgewühlten Arie „Invan mortale ardito“ verfehlten die rasenden Koloraturen nicht ihre Wirkung.

Am Ende legt Silla seinen goldenen Umhang ab und verlässt die Szene. Zuvor hatte die Gesangsvereinigung Chorisma Neuruppin (Leitung: Dieter Winterle) noch den Großmut des Herrschers gepriesen („Viva di Silla il nome“) – mit mehr Fortune als im ersten Auftritt („Trionfar veggasi l’Eroe“), wo der Gesang unausgewogen und intonationstrüb klang. Auch das Orchester der Innsbrucker Festwochen fand unter Alessandro de Marchi zu keiner einheitlichen Leistung. Geradezu ausgedünnt klang die Sinfonia und auch später hätte man sich zuweilen ein affektreicheres Musizieren gewünscht. Aber es gab auch viele erfüllte Momente von orchestralem Glanz und ausgewogener Balance zwischen Bühne und Graben. Enthusiastischer Beifall des Publikums galt am Ende allen Mitwirkenden. Bernd Hoppe

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.Szenische Erstaufführung in Braunschweig: Gäbe es nicht eine recht neue Aufnahme der Oper Dante  (2017; ein Mitschnit des Münchner Konzertes beim Palazzetto Bru Zane) wäre der der Komponist Benjamin Godard (1849-1895) fast vergessen, der früh das Violinspiel erlernte und bereits seit seinem 10. Lebensjahr am Pariser Konservatorium Komposition und bei Henri Vieuxtemps Violine studierte. Schließlich war er dort ab 1887 Lehrer einer Kammermusikklasse.  Als Verfasser von Salonmusik und mehr als einhundert Liedern war er seinerzeit durchaus populär; außerdem komponierte er fünf Sinfonien, je zwei Klavier- und zwei Violinkonzerte, Streichquartette sowie Sonaten und Etüden für Violine und Klavier. In seinen Kompositionen orientierte er sich durchgehend an der Klangsprache Gounods oder Massenets, so auch in seinen sechs Opern, denen er sich erst in den 1880er-Jahren zuwendete.

Godards „Dante“ in Braunschweig/ Szene/ Foto © Björn Hickmann

So komponierte er nach dem Libretto von Édouard Blau die ernste Oper Dante, die 1890 in der Pariser  Opéra Comique uraufgeführt wurde. Sie enthält ziemlich zusammenhanglos einzelne Szenen aus der Biographie des mittelalterlichen Dichters und Philosophen sowie als Dantes Traum Szenen aus der berühmten Göttlichen Komödie“. In der Oper gibt es mächtige Chor-Tableaus, aber auch ausdrucksstarke Arien und Ensembles, wobei die Musik fast durchgehend schwelgt oder sich dramatischen Ausbrüchen hingibt, was auf Dauer in gewisser Eintönigkeit reichlich anstrengend wirkt. Das liegt auch daran, dass es zu wenige Piano-Passagen zur Besinnung oder Kontemplation gibt.

Zuerst sieht man in der Braunschweiger Inszenierung von Philipp Himmelmann das Sterbebett der von Dante geliebten Béatrice. Von hieraus blickt der Dichter in einer Art träumerischer Rückblende in ungemein wirkungsvollen Bühnenbildern ( Paul Zoller, Mitarbeit: Loriana Casagrande) auf einzelne Szenen seines Lebens: So geht es in einen imposanten Versammlungsraum, in dem verbitterte politische Fehden zwischen kaisertreuen Ghibellinen und den Anhängern des Papstes, den Guelfen, stattfinden und Dantes Heimatstadt Florenz zu zerreißen drohen. Diese Streitenden tragen einheitliche, maskuline Kleidung des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts, der Entstehungszeit der Oper (Meentje Nielsen), während die Protagonisten der Sterbeszene am Ende der Oper mit Schlafanzug, Jeans und Polohemd moderne Kleidung tragen (Der Tod ist zeitlos!).

Godards „Dante“ in Braunschweig/ Szene/ Foto © Björn Hickmann

Dante blickt anschließend zurück auf die heftig ausgetragenen Auseinandersetzungen mit seinem Freund Simeone Bardi um die von beiden geliebte Béatrice, die sich zeitweise in einer großen, düsteren Bibliothek mit bis zur Decke reichenden Bücherregalen zuträgt. Bevor es zu den traurigen Schlussszenen kommt, erlebt man nach der Preisung des antiken Dichters Vergil durch eine Gruppe junger Menschen in Matrosenkleidung einen Traum Dantes, in dem – eine sehr eindrucksvolle Szene – Vergil in der Bibliothek aus dem Bilderrahmen tritt. Er führt Dante in die Hölle mit allerlei grässlichen Visionen – jetzt ist der gesamte Chor mit femininer Unterwäsche bekleidet – und anschließend in himmlische Gefilde, wo ihm die geliebte Béatrice erscheint. Vor dem absehbaren Ende im mit blutverschmiertem Kopfkissen und anderen Utensilien reichlich realistischen Krankenzimmer versöhnen sich die Freunde Dante und Bardi; wie von Anfang an wird Béatrice von ihrer treuen Freundin Gemma umsorgt, die deren Ende nicht verhindern kann. Ganz am Schluss nach Béatrices Tod verspricht Dante, sie in seinen Werken unsterblich zu machen, wobei offen bleibt, ob es diese Geliebte tatsächlich gegeben hat oder ob sie nicht von vornherein dichterische Fiktion war.

Trotz der konzertanten Aufführung in München 2016 darf bezweifelt werden, ob diese Oper mit ihrem doch reichlich wirren Plot und der wenig differenzierenden Musik den Weg ins Repertoire schafft. Und auch die genannte Ersteinspielung aus München hilft da trotz illustrer Besetzung sicher

Godards Oper „Dante“ bei den Ediciones Singulares/ ISBN: 978-84-697-4879-4

nicht.

Die musikalischen Leistungen waren in der Premiere herausragend, was auch an der wie immer präzisen und inspirierenden Leitung von Braunschweigs 1. Kapellmeister Mino Marani lag, der trotz aller Lautstärke und bedrängender Dramatik durchgehend sängerfreundlich dirigierte; dabei überzeugte erneut das ausgezeichnete  Staatsorchester mit hohem Niveau in allen Gruppen. Ebenso imponierte das dank kluger Personenregie an diesem Abend engagiert und glaubwürdig agierende Opernensemble, das auch stimmlich durchgängig positiven Eindruck machte. Hier ist zunächst Kwonsoo Jeon in der kräfteraubenden Titelpartie zu nennen: Er führte seinen strahlkräftigen Tenor differenzierend durch alle Lagen und sang auch die wenigen Lyrismen in seiner ersten Arie wunderbar aus. Béatrice war Béatrice Kudryavtseva, die mit abgerundeten Melodiebögen und sauberen Piano-Passagen gefiel, sich aber auch in den hochdramatischen Phasen als höhensicher erwies.

Zachariah N. Kariithi als Simeone Bardi setzte seinen  charaktervollen, sicher geführten Bariton dramatisch auftrumpfend ein. Nach wie vor höchst kultivierte Stimmführung zeichnet Milda Tubelythè aus, die als Gemma zeigte, dass sie mit ihrem deutlich voller gewordenen Mezzosopran nun auch dramatischeren Anforderungen mehr als nur genügt.

Die kleinere Partie des Schattens Vergils füllte Jisang Ryu mit sonorem Bass aus, während die junge Schottin Rowan Hellier – neu im  Ensemble – die Huldigung an Vergil mit in der Höhe leicht flackerndem Mezzo sang; Rainer Mesecke (ein Alter) und Matthew Pena (Herold aus dem Off) ergänzten. Chor und Extrachor, einstudiert von Georg Menskes und Johanna Motter, glänzten durch Klangfülle und stimmliche Ausgewogenheit.

Das Premierenpublikum war von den tollen Leistungen begeistert und bedankte sich bei allen Mitwirkenden und dem Regieteam mit starkem, lang anhaltendem Applaus. Gerhard Eckels

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Dmitri Tcherniakov inszeniert Krieg und Frieden von Sergej Prokofjew komplex und monumental an der Bayerischen Staatsoper München: Eine monumentale Inszenierung für die Bayerische Staatsoper, die Sergej Prokofjews ‚Krieg und Frieden‘ dem erfahrenen Dirigenten Vladimir Jurowski anvertraut. Regie und Bühnenbild stammen von Dmitri Tcherniakov, die Kostüme von Elena Zaytseva.

Tcherniakov wählt einen Blickwinkel, der irgendwo zwischen dem Zeitgenössischen und dem Historisierenden liegt. Er vermischt geschickt das aktuelle Geschehen mit der nahen und fernen Vergangenheit einer Nation, Russland, die heute mehr denn je im Zentrum der sozialen, politischen und kulturellen Debatte in Europa steht. Die Fragen sind zahlreich und offen, die Themen so einfach einerseits wie komplex und vielschichtig andererseits.

Der Regisseur entscheidet sich konsequent dafür, die gesamte komplexe Geschichte, die sich mit vielen Zeit- und Ortssprüngen entfaltet, an einem einzigen ikonischen Ort in Moskau anzusiedeln: dem Gewerkschaftshaus.

Ein historisches Gebäude, das das politische Leben der russischen Hauptstadt in den letzten zweihundert Jahren geprägt hat und in seiner großen Halle mit den neoklassizistischen Säulen verschiedene Momente der Geschichte beherbergt hat: von den Festlichkeiten zur Zeit der Zaren über die sowjetischen Aufmärsche bis hin zu wichtigen Ereignissen der jüngeren Zeit. In diesem Palast wurde zum Beispiel 2022 der Leichnam von Michail Gorbatschow beigesetzt.

Das Bühnenbild stellt mit einer statischen Szene diesen großen neoklassizistischen Saal dar, in dem der Regisseur sich eine flüchtende Menschheit vorstellt, die vor einem nicht näher bezeichneten Krieg oder einer Tragödie geflohen ist und sich in einem ständigen Zustand der Unsicherheit und Bedrängnis befindet.

Prokoffieffs „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper München/ Foto Hösl

Die Kostüme sind zeit-genössisch und erinnern an die Bilder, die wir oft in den Massen-Medien sehen, die Ausstattung ist realistisch, manchmal brutal. Es mangelt nicht an Hinweisen auf das Theater und die Kunst der Aufführung, mit Reihen von Theatersitzen, die hier und da verstreut sind.

Die Bühne leert sich nie, alles spielt sich in schneller Folge inmitten von Menschenmassen ab, es mangelt nie an Menschen, die auf dem Boden oder auf improvisierten Feldbetten schlafen, es ist immer eine gewisse Bewegung vorhanden, das Gedränge ist spürbar. Im ersten Akt, dem intimsten und der Friedenszeit gewidmeten Teil, wechseln sich die Szenen im Proszenium in einer im Wesentlichen traditionellen Weise ab. Im zweiten Akt, der vom Krieg beherrscht wird, nimmt der Chor die Bühne verstärkt in Anspruch und die Wirkung, sowohl stimmlich als auch szenisch, einer wütenden und müden Masse ist beeindruckend.

Es mangelt auch nicht an Andeutungen auf das Theater im Theater, fast so, als ob die ganze Geschichte von den Lagerflüchtlingen als Zeitvertreib inszeniert würde. So wirkt die Tanzparty im ersten Akt wie ein improvisiertes Theaterstück dieser vertriebenen Menschheit, die sich die Zeit vertreiben muss, während die Napoleon-Szene im zweiten Akt wie eine Farce zur Belustigung von Kindern wirkt, bei der der französische Kaiser nichts weiter als eine Karikatur der Macht ist.

Das Gleiche gilt für General Kutusow, der resigniert in einem Unterhemd erscheint und apathisch am Tee nippt. Fast das Bild einer Macht, der die leidende Menschheit gleichgültig ist.

Wenn im ersten Akt der Schwerpunkt im Wesentlichen auf der persönlichen Geschichte der Figuren liegt, gibt es im zweiten Akt eine Fülle von politischen Verweisen aus verschiedenen Epochen. Im Finale erscheint auch eine Lenin-Büste im Hintergrund und General Kutusow wird verherrlicht, indem er auf einem Katafalk voller roter Fahnen liegt, ganz im Stil des sowjetischen Zeremoniells.

Die Hinweise sind also zahlreich und komplex, oft eher politisch und symbolisch als auf die Geschichte der Charaktere bezogen. Die sorgfältig orchestrierte und präzise Regie sorgt für eine gute Organisation der Massen, während die Solopartien etwas generisch bleiben. Im Großen und Ganzen gibt es einige sehr gute Momente, aber auf Dauer ist die Menschenmasse vielleicht zu viel, was zu einem ‚Zeffirelli‘-ähnlichen Effekt führt, bei dem man Mühe hat, den Sängern zu folgen, die sich in einer übermäßigen Masse von Menschen verlieren. Auch wenn die Chöre sehr wirkungsvoll sind, die Kulisse, eine einzige für fast vier Stunden Aufführung, zeigt trotz ihrer Beeindruckung einige Grenzen auf.

Ohne Zweifel jedoch sind nur wenige andere Theater in Europa in der Lage, eine Produktion von solcher Komplexität mit vierzig Solisten auf der Bühne anzubieten, zusätzlich zu den Statisten und dem Chor.

Vladimir Jurowski dirigiert die exzellenten bayerischen Ensembles und gibt uns eine moderne und einnehmende Interpretation der Partitur, ohne jemals die Kontrolle über das Ensemble zwischen Orchestergraben und Bühne zu verlieren.

Andrei Zhilikhovskys Bolkonski sticht aus der grenzenlosen Schar von Sängern hervor, seine Stimme ist warm und weich, fähig zu überzeugenden Akzenten und schönen Nuancen. Ihm zur Seite steht die Natascha Rostowa von Olga Kulchynska, die eine selbstbewusste, aufsteigende Stimme hat und uns einen trockenen, überzeugenden Charakter präsentiert. Violeta Urmana in der kleinen, aber intensiven Rolle der Achrossimowa ist großartig, ebenso wie Sergei Leiferkus in der Rolle des Vaters Bolkonski, immer passend und stilistisch einwandfrei. Der unübertroffene Arsen Soghomonyan als Pierre Besuchow, ein sorgfältiger und engagierter Phrasierer in allen Szenen, meistert die Rolle dank einer Stimme mit einem funkelnden Tenortimbre. Erwähnenswert ist auch Tómas Tómasson, der überzeugend einen zur Karikatur gewordenen Napoleon spielte.

Alle anderen Stimmen waren hervorragend, kompakt und professionell in einer meisterhaften Ensemblearbeit, in der alle zu Protagonisten und Schöpfern des Erfolgs der Aufführung wurden: Alexandra Yangel, Kevin Conners, Alexander Fedin, Olga Guryakova, Mischa Schelomianski, Victoria Karkacheva, Bekhzod Davronov, Alexei Botnarciuc, Christian Rieger, Emily Sierra, Martin Snell, Christina Bock, Alexander Roslavets, Oksana Volkova, Elmira Karakhanova, Roman Chabaranok, Stanislav Kuflyuk, Maxim Paster, Dmitry Cheblykov, Nikita Volkov, Alexander Fedorov, Xenia Vyaznikova, Dmitry Ulyanov, Alexander Fedin, Liam Bonthrone, Csaba Sándor, Alexander Fedorov, Stanislav Kuflyuk, Bálint Szabó, Granit Musliu, Aleksey Kursanov, Thomas Mole, Alexander Vassiliev, Mawra Kusminitschina, Xenia Vyaznikova, Andrew Hamilton, Platon Karatajew, Mikhail Gubsky, Christian Rieger, Jasmin Delfs, Jessica Niles.Viel Beifall für alle im Finale. Raffaello Malesci (18 März 2023)

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Oper Frankfurt: Deutsche Erstaufführung. Fast alles ist vor Beginn der Oper schon geschehen. Francesca, die Tochter des Herrn von Ravenna, wurde aus politischen Gründen mit Lanciotto, dem Sohn des Herrschers von Rimini, verheiratet. Da Lanciotto missgebildet ist, gibt man dessen Bruder Paolo als Bräutigam aus. Francesca verliebt sich auf den ersten Blick in den schönen Paolo. In der Hochzeitsnacht muss sie feststellen, dass man sie getäuscht hat. Bei der Rückkehr aus einer Schlacht, und da setzt Saverio Saverio Mercadantes Oper Francesca da Rimini ein, spürt Lanciotto Francesca Abweisung und wird misstrauisch. Bis zum Tod der beiden Liebenden benötigt Mercadante gut drei Stunden Musik. Es braucht geduldige und ausdauernde Hörer, doch die bestrickt Mercadante mit allen Finessen eines italienischen Melodramma romantico. Vor allem den ersten, fast eindreiviertel Stunden langen Akt überzieht er mit einer rossinischen Ornamentik, die die Seelenlage der drei Protagonisten auf subtile Weise auszisiliert und in der Schwebe lässt, bevor er im zweiten Akt zupackt.

Ein beliebter Topos, nicht nur für die Oper: „Paolo und Francesca“, hier nun von Anselm Feuerbach 1865/ Wikipedia

Doch Francesca entstand vor der Reformoper Il Giuramento. Nicht nur die Hosenrolle des Paolo rückt Francesca in die Nähe von Bellinis I Capuleti e i Montecchi über das andere berühmte Liebespaar Italiens. Die Oper Frankfurt brachte Mercadantes Francesca und deren hochromantischen an Rossini und Bellini geschulten Sinnestaumel jetzt in einer im Vorjahr bei den Tiroler Festspielen Erl gezeigten Produktion zur Deutschen Erstaufführung. Hans Walter Richters Inszenierung macht auf fast unmerkliche Weise alles richtig. In dem angeschnittenen Bühnenraum von Johannes Leiacker verweisen die ausgesprochenen geschmackvollen Kostüme der Raphaela Rose und die wenigen Möbelstücke auf die Entstehungszeit. Gelegentlich öffnet sich, wenn Francesca und Paolo sich wegträumen, die Rückwand und zeigt Caspar David Friedrichs Ruine einer gotischen Kirche, deren filigranes Maßwerk wie Stein gewordene Musik wirkt. Die gar nicht kunstgewerblich hingetupften Tanzdoubles von Francesca, Paolo und Lanciotto greifen das Doppelgängermotiv der Romantik geschickt auf. Auch wenn Lanciotto mal wütend Stühle schmeißt, sein Vertrauter Guelfo das böse Buch anzündet, durch dessen Lektüre der Geschichte vom ehebrecherischen Verhältnis des Lancelot und der Guinevere sich Francesca und Paolo näherkommen, und überhaupt im zweiten Teil die Landschaft wie verkohlt wirkt, dominieren die Bilder keinesfalls die von Ramón Tebar mit Geschmack ausgefalteten Formen und Formeln der italienischen Oper der 1830er Jahre und deren virtuose Ausbreitung in den nahtlos ineinanderfließenden vokalen Linien. Von diesem Sog lässt sich auch Frankfurter Opern- und Museumsorchester zunächst sperrig, doch dann durchwegs inspiriert mitreißen.

Saverio Mercandate / Wikipedia/ Gemälde von Cefaly/ Wiki

Er scheint einer anderen Epoche anzugehören, obgleich Saverio Mercadantes Lebensdaten (1795-1870) nahezu identisch mit jenen Rossinis (1792-1867) sind. Wie der fast gleichaltrige Giovanni Pacini (1796-1867) profitierte er von Rossinis Rückzug von der Bühne. In den Schatten gedrängt wurde beider Schaffen zeitweise durch die Werke von Donizetti (1797-1848) und Bellini (1801-35). Doch über seine lange Schaffenszeit gelang es Mercadante eine bedeutende Schanierfunktion zwischen Rossini und Verdi einzunehmen. Mercadantes erste Oper kam 1819 in Neapel heraus, wo er mehr als 45 Jahre und rund 60 Opern später sein Schaffen 1866 mit der letzten vollendeten Oper Virginia beendete. Der ebenso fleißige Pacini brachte es zwischen 1813 und 1858 auf 70 bis 80 Opern. Geboren wurde Mercadante im schönen auf einer Anhöhe etwa 45 südwestlich von Bari und nicht weit vom Weltkulturerbe Matera liegenden Städtchen Altamura. Weniger als 100 Kilometer sind es bis Martina Franca, wo das Festival della Valle d’Itria viel für die Wiederentdeckung von Mercadantes Werken tat. Dazu gehörte 2016 auch die späte Uraufführung der Francesca da Rimini.

Nachdem er in Neapel als Hauskomponist am San Carlo Rossini nachgefolgt war, hielt sich Mercadante 1827-30 in Spanien auf, wo bei seinem zweiten Besuch in Madrid 1831 die geplante Uraufführung der Francesca da Rimini, ebenso wie später in Mailand, nicht zustande kam. Francesca wirkt wie aus einer anderen Zeit. Das liegt auch an einer gewissen metastasianischen Steifheit, mit der Felice Romani die Geschichte erzählt. Mercadantes große Werke der Reifezeit folgten erst wenige Jahre später mit I Briganti für Paris, Il Giuramento und Il Bravo für die Mailänder Scala; später konzentrierten sich die Uraufführungen auf das San Carlo. Mit seinem ursprünglich 1823 für Giuseppina Strepponis Vater Feliciano entstandenen Libretto folgte Felice Romani der von Mazzini ausgerufenen Rückbesinnung auf Dante, in dessen Werk sich „passione, amor patrio, orgoglio e forza nazionale“ vereinen und der in seiner Göttlichen Komödie im 5. Gesang des Inferno die Geschichte Francescas erzählt. Insgesamt schrieb Romani elf Libretti für Mercadante, der darüber hinaus weitere sechs Textbücher verwendete, die Romani bereits für andere Komponisten verfasst hatte.

Mercadantes „Francesca da Rimini“ an der Oper Frankfurt/ Szene/ © Barbara Aumüller

Getreu alter Muster hat Mercadante den drei Protagonisten jeweils ihre Arie im ersten Akt und ihre Szene im zweiten Akt zugeteilt. Er weitet die Seelenräume durch wenige Terzette und Quartette, wo Francescas Vater Guido hinzutritt, und umklammert und durchgliedert sie mit Chören, die mehr als nur Kommentar bieten. Die schicksalhaft von der Liebe zu Lanciottos jüngerem Bruder Paolo erfasste Francesca ist bei Jessica Pratt gut aufgehoben, die lange kristalline Kantilenen über die Ensembles spannt und deren etwas weißer Sopran vor allem in der Höhe Zauber und Reiz besitzt. In ihrer von der Harfe begleiteten Cavatina singt Pratt noch etwas schwerfällig lasch und mit körperloser Tiefe, doch ihre Gefängnisszene mit Englischhorn steigert sie mit stupendem Ziergesang zu einer bravourösen Primadonnennummer. Als Lanciotto besticht Theo Lebow nicht durch das verführerischste Timbre, aber sein charaktertenoral weinerlicher Ton greift das „Herzklopfen“ des betrogenen Ehemanns passgenau auf. Trotz der gekrähten Höhe realisiert Lebow die schwere Partie mit seinen Möglichkeiten sehr gut, da er ist ein sensibler Deuter ist, der in seiner großartigen mit süßen Zwischentönen ausgeleuchteten Szene zu Beginn des zweiten Akts zeigt, welche Wucht in Mercadantes Musik liegt. Mit ihrem hellen, technisch fundierten, nicht allzu großen, aber vielfarbigen Mezzosopran zeigt Kelsey Lauritano nicht nur in ihrer Rossini-Nummer im ersten Akt lieblich unaufdringliche Koloraturkunst und in ihrer Szene im zweiten Akt gestalterische Intensität, sondern ist Francesca und Lanciotto eine stilsichere Duett-Partnerin. Ausgezeichnet der farbenreich frische Bariton von Erik van Heyningen als Francescas liebevoller Vater Guido (26.2.23).    Rolf Fath

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Les Russes: Staatstheater Meiningen: Deutsche szenische Erstaufführung von Georges Bizets fünfaktiger Grand opéra Ivan IV.  Eine Blume spielt auch hier schon eine Rolle. Sie wird nicht dem arglosen Sergeanten Don José von der Fabrikarbeiterin Carmen zugeworfen, sondern Marie von einem Fremden überreicht, der sich mit einem Begleiter in den Bergen des Kaukasus verirrt hat. Sorgfältig schält er „la fleur“ aus dem Schnee und überreicht sie dem Mädchen, das sich auf Anhieb in ihn verliebt. Bald darauf sind die von Maries Vater Temrouk angeführten Tscherkessen in heller Aufruhr: „Les Russes“. Zar Ivan IV. lässt nämlich seine Soldaten aufmarschieren und Marie entführen. Dass es im Kaukasus und im Kreml, wo Marie schließlich im Zaren ihren geheimnisvollen Fremden erkennt, sich von ihm umwerben lässt und ihn heiratet, manchmal ein bisschen wie bei den Schmugglern in der wilden spanischen Bergen klingt, Rhythmik und Modulationen mehr von Spanien als dem Kaukasus künden und die Serenade von Iwans Begleiter, dem jungen Bulgaren, einen ebenfalls spanischen Tonfall hat, kommt nicht von ungefähr. 1863, fast zehn Jahre bevor er von der Opéra Comique den Auftrag zur Carmen bekam, hatte Georges Bizet das Libretto zu Ivan IV erhalten. Charles Gounod, der den Text von François-Hippolyte Leroy und Henry Trianon bereits vertont hatte, gab seine Rechte zurück, nachdem sich die Aussicht auf eine Aufführung an der Opéra zerschlagen hatte und rettete einige Passagen; der Soldatenchor in Faust stammt aus dem Ivan IV.-Projekt. Das gleiche widerfuhr Bizet, der auf eine Aufführung seines Ivan le Terrible am Théâtre Lyrique gehofft und anschließend mit der Grand Opéra verhandelt hatte. Die Grand opéra über Iwan IV., besser bekannt unter seinem Beinamen „der Schreckliche“, dem er durch ausgesucht sadistische Folterungen und Hinrichtungen seiner Widersacher gerecht wurde, blieb unaufgeführt. Spuren der Musik finden sich in anderen Werken Bizets. Erst Ende der 1920er Jahre tauchte das Autograph wieder auf. Und gar erst 1951 erfolgte in Bordeaux die Uraufführung, allerdings in einer Bearbeitung durch Paul Henri Büsser, der sich Aufführungen in Köln, Linz und Basel anschlossen. Die konzertante Aufführung der BBC in Manchester unter Brydon Thomas mit John Noble und Jeannette Scovotti ging anlässlich Bizets 100. Todestag 1975 unter Benutzung der von Howard Williams erstellten fünfaktigen Neufassung der Oper erstmals auf das Manuskript zurück. Williams hatte zu diesem Zweck den von Bizet nicht fertig orchestrierten letzten Akt ergänzt und orchestriert. Williams stellte diese Fassung 1987 in London und 1991 in Montpellier vor, Michael Schønwandt benutzte sie 2002 für seine Pariser Konzertaufführung mit Ludovic Tézier und Inva Mula. Nachdem ihm die Kammeroper St. Petersburg im Dezember 2022 mit der szenischen Uraufführung der fünfaktigen Fassung zuvorgekommen war, präsentierte das Staatstheater Meiningen (2023) jetzt die deutsche szenische Erstaufführung der fünfaktigen Fassung von Bizets Grand opéra mit dem Zusatz „5. Akt ergänzt und orchestriert von Howard Williams“.

Bizets „Ivan IV“ in Meiningen/ Szene/Foto Iberl

Den historischen Hintergrund zu Bizets Ivan IV., der auch in Tschaikowskys Opritschnik sowie in Rimsky-Korsakows Das Mädchen von Pskow und (indirekt) in Die Zarenbraut auftaucht, bildet Ivans Ehe mit Marija Temrjukowna (1511-69), der Tochter des tscherkessischen Fürsten Temrouk, welche Ivan nach dem Tod seiner ersten Gattin 1561 heiratete. Intrigen von Marias Vater Temrouk und ihrem Bruder Igor, die gemeinsame Sache mit Ivans falschem Vertrauten Yorloff machen, Attentate und Verschwörungen sowie Konflikte der Russen mit den muslimischen Bergvölkern bilden den zusammenfabulierten Hintergrund zu einer veritablen Grand operá. Das Problem bestand darin, dass die Gattung zur Zeit der Entstehung eigentlich bereits aus der Mode war, wenngleich in jenen Jahren (1865) noch Meyerbeers Africaine posthum aufgeführt wurde. Natürlich gibt es in Ivan IV. viele Schönheiten, geschmeidige Arien, wie Maries “Il me semble” oder die erwähnte Serenade des jungen Bulgaren „Ouvre ton coeur a l’amour“ – eine Hosenrolle, die in frühen Aufnahmen jedoch einem Tenor übertragen wurde – und Duette, darunter gleich anfangs das hübsch verspielte Duett der Marie mit dem jungen Bulgaren sowie das in ein Terzett der Verschwörer Yorloff/ Temrouk/ Igor mündende Duett von Vater Temrouk und Sohn Igor zu Beginn des dritten Akts  und elegante Ensembles. Insgesamt bleibt der Fünfakter doch recht steif und bemüht. Die ersten beiden Finali sind große Würfe, vor allem das Ende des zweiten Aktes steigert sich zu einem dramatischen Szenenkomplex, wie er jeder italienischen Oper der Epoche gut angestanden hätte. Doch die musikalischen Entwicklungen sind vorhersehbar und in der zweiten Hälfte scheint Bizet irgendwie die Lust verloren zu haben. Aber das kann man dem Mittzwanziger Bizet, der keinen rechten Zugang zum Meyerbeer-Genre fand, kaum vorwerfen. Auch mit Les pêcheurs de perles, La jolie fille de Perth und Djamileh begab er sich nach Ivan IV. in exotische Regionen, bevor er mit dem ihm genauso fremden Spanien der Carmen bleibenden Erfolg hatte. Alle eventuellen Vorbehalte gegenüber dem Werk fegen Philippe Bach und die Meininger Hofkapelle am Premierenabend hinweg. Zusammen mit den nicht nur bei den Hochzeitsgesängen zu Beginn des dritten Aktes exzellenten Chören des Staatstheaters Meiningen kosten sie sowohl die feinen instrumentalen Delikatessen wie die pauschale Wucht dieser Grand opéra aus.

Bizets „Ivan IV“ in Meiningen/ Szene/Foto Iberl

Die Aufführung scheint mir besser gelungen als Bizets Kokettieren mit der Grand opéra. Intensive Episodenrollen liefern dazu Tamta Tarielashvili als aus dem Nonnenkloster erdig raunende Zarenschwester Olga, Andreas Kalmbach als russischer Offizier sowie Sara-Maria Saalmann als soubrettenmunterer Bulgare. Packend entworfen ist die Figur des Temrouk, dessen Hilferuf „Laissze-moi ma fille“ sich als eindringliche Melodie über dem ersten großen Ensemble wölbt. Paul Gay, der die Partie bereits 2002 in Paris unter Schønwandt gesungen hatte, bringt die Wucht seines erzenen Bassbaritons auch in Meinigen großartig zur Geltung, überragt im wahrsten Sinn des Wortes die Ensembles, singt mit eindringlicher Prägnanz und macht den mit alttestamentarischer Würde ausgestatteten Temrouk fast zur Hauptfigur; auf jeden Fall ist er der gewaltige Gegenspieler des Zaren. Vom jungen Liebhaber bis zum resignierenden, langsam im Wahn endenden Herrscher kann Tomasz Wija über die fünf Akte ein darstellerisch packendes Porträt vom körperlichen und psychischen Verfall des Zaren entwerfen und die erlittenen Blessuren mit seinem kantigen Bass nachzeichnen. Mercedes Arcuri sang die Marie mit zartem Vibrato, nicht unangenehm süß-säuerlichem Timbre und schöner Virtuosität in ihrer großen Arie im vierten Akt. Die darauf folgende Arie ihres als Selbstmordattentäter in den Palast eindringenden Bruders Igor, der von den heimatlichen Bergen, von Mutter und Schwester schwärmt, klingt wie Micaelas Gruß von der Mutter. Alex Kim singt das mit jungheldischem Willen, zu viel Überdruck und unebener Linie. Im anschließenden, zwar subtilen, aber auch länglichen Duett sind beider Stimmen nur noch erschöpft. Doch dann geht es gegen Ende des 4. Aktes auch Schlag auf Schlag. Der Kreml brennt, Ivan verfällt dem Wahnsinn, der von Shin Tamiguchi mit vornehmer Durchtriebenheit gesungene Bojar Yorloff verkündet den angeblichen Tod des Zaren. Doch Ivan kann sich aus dem Kerker befreien, schwingt sich zu alter Kraft auf, bestraft den Verräter und rettet Marie und ihren Bruder vor der drohenden Hinrichtung. Fortsetzung folgt in Boris Godunow. In schlicht einprägsamen Bildern, die manchmal suggestive Kraft entwickeln,  hatte Hinrich Horstkotte diesen Ivan IV.  wie als Vorgriff auf Mussorgskys Drama in einer Mischung aus Kultur- und Religionskrieg und persönlichen Schicksalen entworfen, von der Schüssel, in der Ivan seine Blut getränkten Hände reinigt, der langen Tafel, auf der der junge Bulgare den Übergriffen der Soldaten ausgesetzt ist, der Krönung, bei der der Zar mit Gold überschüttet wird, bis zu den stillen Bildern in der Kammer der Marie mit dem Baldachin-Bett und den Schlussbildern mit der Niederschlagung der Palastrevolution und dem riesigen weißen Tuch, das sich, gelb und blau angestrahlt, über die Massen senkt. Großer Jubel deshalb für den Regisseur, der selbst die Ausstattung besorgt hatte, noch größerer Jubel für alle Mitwirkenden (.24.2.23) Rolf Fath

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Vaincre mourir:  Theater Erfurt: Rossinis französische Tragédie lyrique Le Siège de Corinth Mehr als ein One-Night-Stand. Pamyra hat sich in den Mann, der sich Almanzor nennt, verliebt. Leidenschaftlich vergnügt sie sich mit ihm im Bett. Lustvoll und elegant tastet die Kamera die Dessous und Körper ab. Es bleibt während der Ouverture noch genügend Zeit, um vom Videodesign von Mayke Hegger und Lukas Eicher zu den Schrecken einer kriegerischen Belagerung zu schwenken. Ein Mann wiegt den blutenden Körper eines Kindes auf seinen Knien, Menschen, teilweise mit Gasmasken, irren verwirrt durch die bedrohte Stadt und die Scharen der Flüchtenden – die in großer Zahl herbeigeströmte Bürgerstatisterie – kauern sich verängstigt um ihren Anführer Cléomène. Korinth wird vom türkischen Sultan Mahomet II. und seinen Truppen belagert. „Vaincre ou mourir“, „Siegen oder sterben“. Die Devise wird auf der Rückwand ausgegeben und in den Momenten der Erhebung gegen die Feinde neu entrollt, bevor sie von den Belagerern durchbrochen und ein Schmerzensmann aufgehängt wird.  Mohamet selbst erscheint. Ein Schock. Pamyra, die sich in Erinnerung an die Liebesnacht gerade noch weigerte, den jungen griechischen Krieger Néoclès zu heiraten und auf Wunsch ihres Vaters Cléomène sich lieber das Leben nehmen soll als zur Sklavin zu werden, erkennt im feindlichen Anführer ihren Geliebten Almanzor.

Rossinis „Siège de Corinth“ in Erfurt/ Foto Edelhoff

In Paris, wo Gioachino Rossinis Oper über die Belagerung von Korinth  im Oktober 1826 uraufgeführt wurde, war klar, für wen die Herzen der Bevölkerung schlugen. Pamyra entscheidet sich für ihr Volk, entsagt ihrer Liebe zu Mahomet und lässt sich vom Vater mit Néoclès verheiraten. Ein letztes Gebet, „Juste ciel“, dann ersticht sie sich vor den Augen Mahomets, dessen Hand sie immer noch zärtlich umfasst. Das große patriotische Gemälde, mit dem Rossini und seine Autoren quasi Tagespolitik kommentierten und Partei für die Griechen ergriffen, entfaltet auch bei seiner Aufführung am Theater Erfurt seine Wirkung. Mit Pathos und flammender Inbrunst beschwört der Priester Hiéros die Vision eines freien Griechenlands. Die Chöre strömen in den Zuschauerraum und rücken den Besuchern mit ihren patriotischen Kriegsparolen „Nous verrons dans les champs de la gloire“ dicht auf die Pelle. Dem Eindruck kann man sich nicht entziehen. Der Inszenierung von Markus Dietz fehlt es nicht an beklemmenden Kriegsszenarien, aber sie lässt im dezent und elegant ausgeleuchteten zweiten Akt während den Vorbereitungen zu Hochzeit Pamyras mit Mahomet mit den ebenso dezent und eleganten schwarz-goldenen Kostümen Raum für Sinnlichkeit und die immer noch knisternde erotische Anziehung zwischen Mahomet und Pamyra. Sachter Goldregen. Dann wieder Krieg. Mahomets Auto ist ausgebrannt, Feuer überall, auf der Drehbühne (Ines Nadler) dreht sich Pamyra bei ihrem Gebet wie im Taumel.

Mit dem Siège de Corinth hatte Rossini geschickt die Gefühle seines Publikums erkannt. „Paris“, so die Dramaturgie, „war ein aktives Zentrum der Unterstützung des griechischen Aufstands und die politische Bedeutung des Werkes war offensichtlich. Es handelte sich wahrscheinlich um eine der ersten Opern, die sich direkt mit der aktuellen Geschichte auseinandersetzte“. Zunächst ging es wahrscheinlich darum, die Tore der Académie Royal zu stürmen, wo er eine seiner bereits in Italien aufgeführten Opern zu einer französischen Tragédie-lyrique um- und neuschrieb. Als sich Rossini 1824 in Paris niederließ, um mit Ferdinando Paër das Théatre Italien zu leiten, an dem er im folgenden Jahr Charles X. und zu dessen Krönung in Reims mit Il viaggio a Reims seine Referenz erwies, streckte er rasch seine Fühler nach der Académie Royal de Musique aus. Nicht ungeschickt folgte er dem Beispiel Sacchinis, der für seinen Einstand in Paris einst zwei seiner italienischen Opern umgearbeitet hatte. Rossini wählte Maometto II. und Mosè in Egitto aus. Auf diese Weise wurde aus dem in Neapel wenig erfolgreich uraufgeführten Dramma per musica in zwei Akten Maometto II. die dreiaktige Tragédie lyrique Le siege de Corinthe. Die Handlung wurde von der unter venezianischer Herrschaft stehenden Insel Negroponte des Jahres 1470 in das Korinth des Jahres 1458 verlegt. Der Eroberer ist der gleiche: Sultan Mehmed II. bzw. Maometto II. oder Mahomet II., der nach dem Fall von Konstantinopel und dem Ende des Byzantinischen Reiches seinen Machtbereich sukzessive erweiterte. Luigi Balocchi und Alexandre Soumet übersetzten und passten das ursprüngliche Maometto-Libretto an und schufen neue Teile. Die Verlegung nach Korinth sicherte der 1826 uraufgeführten Oper zudem plötzlich politische Relevanz, war doch Lord Byron zwei Jahre zuvor im Freiheitskampf für die Griechen in der Stadt Messolongi gefallen, die sich heftig dem Osmanischen Reich entgegenstemmte. Begeisterung für das Griechentum, doch vor allem Rossinis Einbettung des Belcantos in die rezitativisch durchgliederten Großformen der Tragédie lyrique garantierten der ersten französischen Oper Rossinis, die sich nach der glänzenden Uraufführung rund zwanzig Jahre auf dem Spielplan des Hauses hielt, ihren Erfolg. Die unmittelbar anschließend auch in Deutschland aufgeführte Oper scheint jedoch hierzulande in den letzten Jahrzehnten nicht gespielt worden zu sein.

Am Theater Erfurt kam jetzt die neue wissenschaftlich-kritische Neuausgabe von Damien Colas zur Aufführung (Besuchte Aufführung am 25.2.23), deren Entstehung durch die schlechte Quellenlage erschwert wurde, da kein Autograph existiert und ab der ersten Aufführung Striche, Veränderungen und Ergänzungen vorgenommen wurden. Philip Gosset nannte Siege denn auch „the impossible opera“.

Rossinis „Siège de Corinth“ in Erfurt/ Foto Edelhoff

Erstmals erklungen war Colas‘ Edition 2017 beim Rossini-Festival in Pesaro unter Roberto Abbado (mit Luca Pisaroni als Mahomet II. und Nino Machaidze als Pamyra). Der Eindruck war in Erfurt am Ende ein starker, was sich zu Beginn der Aufführung so nicht abzeichnete. Der Klang der weit um den Orchestergraben formierten Chöre wirkte doch etwas getrübt und gestreut, bevor sich der Chor des Theaters Erfurt zu einer mächtigen Leistung sammelte. Stärker als in anderen Aufführungen merkte man dann, dass die Belagerung vor allem eine Choroper ist. Anfangs ließ Yannis Pouspourikas den Puls der Musik zu sachte schlagen, das Philharmonischen Orchesters Erfurt spielte eckig, eher aggressiv und hart als leidenschaftlich, bevor sich spätestens im dritten Akt nach der Pause ein gerundeter, feierlich breiter Klang einstellte und die zunächst anämische Aufführung an Feuer gewann, was nicht an den Flammen in den Metallkesseln lag. Wohl eher an Rossinis Schreibweise und seiner Kunst, Szenenblöcke zu hinreißender Wirkung zu bringen und in der Szene des Priesters noch eine Melodie von ausgesuchter Schönheit zu erfinden. Mit seinem wohlig runden Bassbariton war Arturo Espinosa als Mahomet ein softer Macho, mehr Liebhaber als Kriegs-Manager, mit schöner Beweglichkeit, reicher Farbgebung und eindringlicher Phrasierung. Keine typischen Rossini-Tenöre sind Luc Robert und Brett Sprague. Der Kanadier Luc Robert sang den Cléomène mit einem Spintotenor von erstaunlicher Wandlungsfähigkeit, nicht ganz ungefährdet, aber markant. Als Feinripp-Krieger Néoclès gefiel der Amerikaner Brett Sprague mit einem schön durchgebildeten lyrischen Tenor und fein angebundenen Höhen. Beide steigerten das große Terzett mit Pamyra im 3. Akt, die Hochzeitszene, zu einem musikalischen Höhepunkt der Aufführung. Der leichte lyrische Sopran von Candela Gotelli, etwas farblos und flach, kann die Partie der Pamyra noch nicht ausschöpfen, aber die Argentinierin agierte mit Feuer und Leidenschaft. Edel und elegant der helle Bass von Emanuel Jessel als Hiéros. Die Vertrauten der Pamyra, des Cléomène und Mahomet gaben Valeria Mudra, Jörg Rathmann und Tobias Schäfer (25.2.23).    Rolf Fath

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Kriegswinde bei den Vespri Siciliani an der Scala: Giuseppe Verdis: Die Oper kehrt nach über dreißig Jahren Abwesenheit an die Mailänder Scala zurück, nachdem die letzte Ausgabe im Jahr 1989 aufgeführt wurde. Diese neue Produktion an der Scala wurde für Regie, Bühnenbild und Kostüme der erfahrenen Hand des argentinischen Regisseurs Hugo De Ana anvertraut, der mit Vinicio Cheli für das Lichtdesign und die Choreographie von Leda Lojodice kooperierte.

De Ana wählt einen Kontext von unbestimmter Gegenwart, indem er die ersten beiden Akte in weiten, offenen Räumen spielt, in denen erst eine Kanone und dann ein Panzer auftauchen, die in den aufgeregtesten Momenten mit großem szenischem Effekt abfeuern. Darüber sind die Theaterdecks mit ihren Lichtern sichtbar, während die Szene von großen, beweglichen grauen Kulissen eingerahmt wird, die an die Wände von Bunkern und Kasematten erinnern. Eine Atmosphäre von bleierner Kriegszeit, mit dem häufigen Einsatz von Särgen und Urnen, die je nach Bedarf auftauchen und wieder verschwinden. Angeführt wird die Dramaturgie von zwei stummen Figuren, die von Ingmar Bergmans ‚Das siebte Siegel‘ inspiriert sind: die Figur des Todes und der Kreuzritter, die das bekannte und tödliche Schachspiel austragen. Sie tauchen am Anfang und am Ende des Stücks auf und sind in fast jeder Szene still und symbolisch präsent.

Verdis „Vespri“ an der Scala/ Szene/ Foto Brescia & Amisano 

Eine Richtung, die irgendwo zwischen Symbolismus und Naturalismus liegt, mit reichlich Gebrauch von Tableaux vivants, die dem argentinischen Regisseur so am Herzen liegen. Natürlich ist der Blick immer fesselnd und angenehm, aber das Ganze leidet bald unter Monotonie und Wiederholung, wobei die Sänger meist unbeweglich in traditionellen und vorhersehbaren szenischen Posen auftreten. Es fehlt nicht an Verbindungen zu Sizilien, mit religiösen Elementen und einer gekrönten Heiligen, aber es handelt sich dabei nur um Dekoration ohne wirkliche dramatische Aussagekraft. Die französischen Eroberer haben die Eigenschaften von Soldaten, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern, während die Kostüme der sizilianischen Rebellen eine gewisse Allgemeinheit und eine sizilianische Skizzenhaftigkeit des 19. Jahrhunderts aufweisen, bis hin zu der Herzogin Elena, die wie eine Santuzza ante litteram in Schwarz gekleidet ist. Die kurze Choreographie von Leda Lojodice, der große Ball im dritten Akt wurde in dieser Ausgabe gestrichen, ist schlecht mit dem Ganzen verschmolzen. Kurzum, eine akkurate, manchmal sogar angenehme Inszenierung mit einer Fülle von Mitteln, die dem Ruf der Scala entsprechen, die aber nie wirklich die Partitur oder die Dramaturgie von Verdis komplexer Oper zum Leuchten bringt.

Das Gleiche gilt für die exzellente Gesangsgruppe, in der alle ihre Pflicht tun, ohne jedoch jenseits der besten Absichten das gewisse Extra herauszuholen, das einen Opernabend vollständig und unvergesslich macht. Luca Micheletti ist ein hervorragender Guido di Monforte mit fester Stimme, präziser Phrasierung und angemessenen Akzenten, aber es gelingt ihm nicht, sich von einer gewissen Allgemeinheit zu befreien, die die gesamte Produktion beherrscht. Das Gleiche gilt für die talentierte Marina Rebeka, die mit Finesse und einem angemessenen Akzent singt, aber durch die Regie und ein unglückliches Kostüm eindeutig benachteiligt wird. Simon Lim porträtiert einen Giovanni da Procida, den man sich als verschwörerischen Bürokraten vorstellt, sehr überzeugend. Während Matteo Lippi, der den erkrankten Piero Pretti zuletzt ersetzte, mit einer heroischen und präzisen Gesangslinie überzeugt. Alle Nebenrollen waren ausgezeichnet, wobei Andrea Pellegrinis Sire di Bethune durch seine Klangfülle und seinen Akzent hervorstach. Die Leistung des Chors unter der Leitung von Alberto Malazzi und des Orchesters der Scala unter der Leitung von Fabio Luisi war ausgezeichnet. Das Theater, das auch mit einem zahlreich ausländischen Publikum gefüllt war, schenkte allen Darstellern viel Beifall. Raffaello Malesci (14. Februar 2023)

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.Uraufführung in Ulm: „Iseut“. Dreimal flüstert Tristan den Namen der Geliebten „mit den letzten Atemzügen“. Dann stirbt er und „die in der Ferne läutenden Glocken mischen sich unter die Stimmen“, die vom Ort ewiger Liebe künden, „wo alle Schönheit aufblüht“, während sich Iseut stumm zu Tristan legt und stirbt. Kein Liebestod. Natürlich nicht. „Nach den drei ›Iseut!‹ löst sich die Seele von der Hülle und befindet sich sofort inmitten der heiteren Regionen, und dann beginnt das Konzert der Oboen…. Es ist alles in allem ein herrliches, endloses, spirituelles Fest, das ich dem Orchester mit einer Glocken-Sinfonie überantworten möchte,“ beschreibt Charles Tournemire das Ende seiner Légende de Tristan. Charles Tournemires 1925/26 komponierte und ursprünglich zur Aufführung an der Pariser Opéra bestimmte La Légende de Tristan ist ein Gegenentwurf zu Wagners Tristan und Isolde. Sublim in Ausdruck, Musik und Gestik. Keine überbordende Liebesnacht-Leidenschaft, sondern als Eingeständnis, dass die Trennung die letzte Prüfung ihrer Liebe sei, Iseuts Rückzug in die Ehe und Tristans Flucht in Einsamkeit und schließlich sein Tod. Das Theater Ulm holte mit der Uraufführung von Tournemires La Légende de Tristan jetzt ein Versäumnis nach, das auch eine französische Bühne inspirieren sollte. Der 1870 in Bordeaux geborene und im Alter von 69 Jahren in Arcachon gestorbene Charles Tournemire griff dazu auf den im Jahr 1900 erschienen Roman de Tristan et Iseut zurück, in dem der Romanist und Mittelalter-Spezialist Joseph Bédier die alten französischen und englischen Quellen neu ordnete: Irland wird von einem Drachen beherrscht. Ein Fremder taucht auf, bezwingt den Drachen und darf als Belohnung Iseut, die zu spät in ihm den Mörder ihres Onkels Morholt erkennt, zur Braut nehmen. Tristan tut das nicht für sich selbst, sondern will Iseut seinem König Marc von Cornwall als Braut zuführen. Um für eine glückliche Ehe zu sorgen, hat die Gesellschafterin Brangien einen Liebestrank vorbereitet, den Iseut und Tristan ahnungslos trinken und in Leidenschaft zu einander entbrennen. Der König bemerkt die Vertrautheit der beiden und wird durch den Zwerg Frocin in seinem Misstrauen bestärkt. Bei ihrem Stelldichein merken Iseut und Tristan, dass sie vom König und dem Zwerg belauscht werden und verhalten sich zurückhaltend, worauf Marc von der Treue Tristans überzeugt ist. Die Liebenden entfliehen. Schlafend werden sie von dem König entdeckt, der weiterhin von Tristans Treue überzeugt ist, als er Tristans trennendes Schwert zwischen den beiden erblickt. Heimlich vertauscht er Tristans Schwert mit seinem eigenen. Tristan erkennt die Botschaft und drängt Iseut, zu ihrem Gemahl zurückzukehren. Tristan zieht in die Welt, wird aber von Sehnsucht nach Iseut verzehrt und kehrt in der Verkleidung eines Narren an den Hofs Marcs zurück, wo die Liebenden endgültig Abschied von einander nehmen. Im achten und letzten Bild findet Tristans Seele, wie es in der Inhaltsangabe heißt, im Jenseits ihren Frieden.

Charles Tournemires „Légende de Tristan“ in Ulm/ Szene/ Foto Jochen Klenk

Basierend auf Tournemires Szenarium verfasste ein anderer Mediävist, der Sorbonne-Professor Albert Pauphilet, Anfang der 1920er Jahre das Libretto, das in acht Bildern Tristans Leidensweg entwirft. An dieser Zeitenwende nach dem Ersten Weltkrieg setzt auch die handfeste, manchmal überdeutliche Inszenierung des Ulmer Intendanten Kay Metzger an, der die Wiederentdeckung nachdrücklich und verdienstvollerweise betrieben hatte. In einem Salon mit üppig bestückten Bücherregalen kümmern sich Krankenschwestern um die Kriegsverletzten, schart sich die adelige Familie um einen der ihren, den toten Onkel Morholt, und versucht die Dienerschar das kriegerische Geschehen auszublenden. Ein gegnerischer Offizier stürmt herein, gewinnt sich Ansehen durch seinen tapferen Kriegseinsatz, was durch Videoeinblendungen dramatischer Kriegsbilder unterfüttert wird, und erhält die Tochter des Hauses (Ausstattung: Michael Heinrich). Im unveränderten Ambiente trifft Iseut ihre Hochzeitsvorbereitungen, während Tristan sich mit Rasiermesser und -Schaum Kriegserlebnisse aus dem Gesicht schabt. Bald ist sie eine anständige Hausfrau mit züchtiger Hochsteckfrisur, die sich im vorgeblichen Stelldichein, das von dem hinter dem Weihnachtsbaum versteckten Marc beäugt wird, zurückhaltend gibt. Erst, als Iseut und Tristan in den Wald fliehen, geben sie den Salon für ein enges „Bohème“-Dachzimmerchen auf, in dem sie an der Nähmaschine werkelt und ihm nichts anderes übrigbleibt, als auf dem Bett zu lagern. Nach ihrer Trennung kehrt Tristan als Narr verkleidet während eines Maskenfestes nochmals in den Salon zurück, um für immer Abschied von Iseut zu nehmen. Als er zuletzt sterbend auf einer Bahre hereingetragen wird, ist er für Krankenschwester Iseut nur noch eine Schimäre ihrer einstigen Liebe. Das vollzieht sich musikalisch und szenisch sehr flüssig, ruhig und in einer nachtwandlerischen Folgerichtigkeit, als seien Iseut und Tristan Kinder von Pelléas et Melisande, die Pauphilets altertümlich steifen Text Silbe für Silbe singdeklamieren, ohne Verzierung und Ausschmückung, ohne Wiederholung, fast spröde und skelettiert, wodurch der viele Text in weniger als 2 ½ Stunden untergebracht werden kann.

Die spätimpressionistischen Tonvaleurs erhitzen sich nur ganz kurz im „Liebesduett“ am Ende des zweiten Aktes, wo sich Iseut zum vollen Bekenntnis „Je t’aime“ aufschwingt und An de Ridders schöner Sopran seine üppige Mittellage entfalten kann, während Markus Franckes charaktervoll schlanker Spezialtenor vor allem den entrückten Tristan des dritten Akts, der auf dem „Schmerzenfelsen“ von den „Tränen der Wellen und des Nebels“ phantasiert oder im „Der wahnsinnige Tristan“ überschriebenen vorletzten Bild mit sarkastischen Untertönen die Geschichte rekapituliert, an starkem Ausdruck gewinnt. Noble Haltung in den langen Gesangsphrasen und der klaren Textbehandlung zeichnen Dae-Hee Shins Roi Marc aus, während der Spieltenor Joshua Spink als Zwerg Frocin zu ätzendem Sprechen und grellen Sprechgesang angehalten ist, I Chiao Shin als Brangien erdig verglühende Mezzotöne beisteuert und Chor und Extrachor eine mythisch, neoklassizistisch eindringlichen Haltung einnehmen. Für Tournemires Musik finden sich schwer Vergleiche. Oder ganz viele, nicht nur von Debussy bis Strawinsky, von Gregorianik bis Impressionismus. Das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm und GMD Felix Bender reizen sowohl die kammermusikalische Intimität der Partitur aus wie die atmosphärisch bezwingende, gegen Ende rauschhaft steigernde Intensität der Zwischenspiele, das Spiel mit altertümlichen Formen und neuer Anverwandlung, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg „Les Six“ proklamierten, und den Wechsel aus herben Signalen und spielerischer Jagd-Szenerie, entrückter Klangmalerei und spröder Wort-Ton-Behandlung. Warum die Oper nicht aufgeführt wurde, ist nicht bekannt. Klingen in ihr doch nochmals der Französische Wagnérisme und die Beschäftigung mit mittelalterlichen Stoffen und Legenden nach, wie man sie in Reyers Sigurd von 1884, Lalos Roi d’Ys von 1888, Magnards Guercoeur von 1901 (erst 1931 uraufgeführt), Chaussons Roi Arthus von 1903 und auch in Hulda und Fervaal von Tournemires Lehrern César Franck und Vincent d’Indy sowie in den symbolistischen Maeterlinck-Märchen von Debussy (Pelléas et Mélisande) und Dukas (Ariane et Barbe-bleue) findet. Tournemire soll kein liebeswürdiger Zeitgenosse gewesen sein. Das allein kann kein Grund gewesen sein.

Charles Tournemires „Légende de Tristan“ in Ulm/ Szene/ Foto Jochen Klenk

Tournemire hatte bei Franck und D’Indy sowie Charles Widor studiert, wirkte ab 1898 bis zu seinem Tod als direkter Nachfolger von Gabriel Pierné als Organist an der Pariser Kirche Sainte Clotilde Kirche, deren Organistin auch Franck gewesen war, und lehrte ab 1919 als Professor am Conservatoire. Als Organist und Orgelimprovisator wurde er bewundert:  Eingeweihten ist er heute als Komponist gewaltiger Orgelwerke, darunter sein Hauptwerk L’Orgue Mystique, zu denen er sich in der Abgeschiedenheit auf der Insel Ouessant vor der bretonischen Küste inspirieren ließ, und acht Orchestersinfonien bekannt – zur Vorbereitung auf die bereits für Mai 2020 zum 150. Geburtstag des Komponisten geplante Uraufführung hatte des Ulmer Philharmonische Orchester 2019 seine dritte Sinfonie „Moscou 1913“ gespielt. Für die posthume Uraufführung ließ das Theater eigens von Michael Weiger eine Edition erstellen, der die Musik so zu beschreiben versucht, „Vielleicht könnte man seine Musik als frühen ›französischen Expressionismus‹ bezeichnen. Ähnlich wie z.B. Max Reger und Richard Strauss in Deutschland bildet Tournemire farbige Akkorde, die sich nicht mehr unbedingt auflösen, er verwendet mutig Dissonanzen, die uns einmal dramatisch schroff und ein andermal ›modern‹ erscheinen. Ähnlich wie diese geht er harmonische ›Wagnisse‹ ein, er experimentiert in seiner Klangsprache, ohne wirklich atonal zu komponieren. Im Gegensatz zu den weicheren idyllischen Akkordfärbungen des Impressionismus erscheinen seine Klänge eher nüchterner und trockener, er sucht nach Mitteln, um noch zu übertreffen, was romantische ›Ideale‹ erlauben, und wählt dem Zeitgeist entsprechend als sein Instrument ein hochdimensioniertes expressives Sinfonieorchester. Im Graben der Weltpremiere in Ulm findet sich ein umfangreiches Instrumentarium wie z.B. 3 Fagotte, Sarrusophon, 4 Posaunen, Tuba, 2 Harfen, Celesta, Baritonoboe, Basstrompete, Tamtam und Glocken, um nur einige hervorzuheben.“   Rolf Fath

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Massenet in Lyon: Eigentlich müsste die Oper natürlich Salomé nach ihrer Hauptrolle heißen, denn Mutter Herodiade hat nicht viel Solistisches zu tun und wirkt eher in den Ensembles und Duetten. So erscheint es merkwürdig und nur aus der Genesis des Werkes erklärbar, dass Massenet sein Jerusalem-Drama nach der Mutter und nicht nach der Tochter benannte.

Die konzertante Aufführung dieser Hérodiade nun an der Opéra National de Lyon im November 2022  genussvoll erleben zu können, ohne die Augen schließen zu müssen und Angst vor den Grauenhaftigkeiten der Regie haben zu müssen, wie es kürzlich in der Bastille der Fall war, ließ den Fan nach Lyon reisen Es überrascht und Heutige einmal mehr, dass das Libretto von Paul Milliet und Henri Grémont nach der Novelle Hérodias (1877) von Gustave Flaubert genug von dem Riskanten aufweist, was bei den Aufführungen in Lyon 1885-1886 einen Skandal auslöste und dass die Oper bis 1926 von den katholischen Behörden Frankreichs auf den Index gesetzt wurde. Naja, was könnte schließlich für damalige Zuschauer unanständiger sein, als sich einen Wüstenrufer Johannes vorzustellen, der kurz vor seinem Märtyrer-Tod plötzlich von der Flamme des sinnlichen Verlangens durchdrungen wird („wet dreams“ nannten das meine amerikanischen Kollegen respektlos), wenn er sich an seine junge, exaltierte Verehrerin erinnert. Und wie ist es mit den erotischen Träumereien des Herodes, die mit einem üppig satinierten Saxophon verziert sind, und dessen „Vision fugitive“ ein einsames Solo  auf der Couch suggeriert? Im römisch besetzten Jerusalem sucht Rabenmutter Herodias Rache an ihrer Rivalin Salome, die niemand anderes ist als die Tochter, die sie nach ihrer Geburt weggegeben hat und die Herodes mit seiner Leidenschaft verfolgt. Während Salome, unter dem Zauber der Stimme des Propheten Johannes, diesem ihre reine und aufrichtige Liebe anbietet. Die er angesichts seiner göttlichen Mission ablehnen muss (und die ihm dennoch, wie Herodes, heiße Visionen bereiten). Dies ist die klassische Dynamik von Racines Andromaque, gewürzt mit einem Quentchen Inzests und mit einer verwirrten Salome, die sich selbst opfert, um Johannes in die Unsterblichkeit zu folgen.

Zurück zum Konzert: Die Diktion der Solisten in Lyon war durch die weitgehend franco-kanadische Allianz der Mitwirkenden gesichert, denn Nicole Car als Salomé (Vehikel solcher Primadonnen wie Sanderson und Sutherland)  – unbestritten als Star der Aufführung – ist Kanadierin und trug den Abend mit ihrer kompetenten, höhensicheren Deutung der Partie. Die Stimme ist merkwürdig kehlig im mittleren und tiefen Bereich bei einer stupenden Höhe, die jedoch eine ganz andere Farbe zeigt als der Rest der Stimme. Sie scheute sich nicht vor ein paar überraschenden Brusttönen und blieb für mich merkwürdig distanziert, kühl in ihrer Verehrung des Propheten. Dieser war bei Jean-François Borras in unruhiger Kehle, jung, zerquält, gut angelegt und erfreulich, mir zu wenig viril und heroisch, kein Rufer in der Wüste, sondern ein eleganter White-Colar-Vertreter seiner Kirche im schwarzen Sekten-Anzug. Als Hérode enttäuschte mich Etienne Dupuy mit recht locker werdendem und recht hellem Bariton eher nur mittlerer Größe, der Vorgänger wie Robert Massard nicht vergessen machte. Wie sein Tenorkollege war er mir zu glatt in der Aussage, zu „normal“ und zu wenig royal, wenngleich natürlich sein „Vision fugitive“ als Showpiece berechtigten und langanhaltenden Beifall nach sich zog. Als Phanuel zeigte sich der in operalounge.de kürzlich wegen seines herausragenden Robert le Diable so gelobte Nicholas Courjol bei schütterem Bass-Stimme-Zustand, namentlich in der Höhe – war´s eine Abendverfassung? Die beim Palazzetto geplante Aufnahme eben diesen events wird´s zeigen. Aber durchgehend stellte ich beim Hören im Saal eine doch störende, unangenehme Unruhe in den Stimmen fest, ein über ein gesundes Vibrato hinausgehendes, zu weites vokales Schwingen, sowohl bei der Sopranistin unter Druck wie vor allem beim Bariton und dem wirklich nicht sehr prophetisch klingen Tenor.

Die kleineren Rollen wurden von Mitgliedern des Lyoner Opernstudios gegeben (Pawel Trojak, Pete Thanapat, Robert Lewis, Giulia Scopelliti) und hinterließen beste Eindrücke.

Der dicke Schmutzfleck auf dem im ganzen ordentlichen Gemälde war die Leistung bzw. Wirkung der Titelvertreterin, Yekaterina Semyonchuk, die ihre Hérodiade mit der Schankwirtin im Boris Godunow verwechselte. Bereits als Didon in der Troyens an der Bastille fiel sie durch ihren qualligen, amorphen, brustigen und zutiefst unfranzösischen  Ton auf, und ihre Aussprache kann nicht einmal beim Goetheinstitut in Perm gelernt worden sein. Ein Totalausfall, der an Vorgängerinnen wie Elena Obraztsova (als Massenets Charlotte zum Beisipiel) erinnert, brrrrr. Was für eine Wahl für dieses Konzert und die nachfolgende Aufnahme.

Dirigent und Chef des fabelhaften Klangkörper der Opéra National de Lyon ist Daniele Rustioni, ein junger Mann aus Italien. Mir war er zu flott, zu unsinnlich, zu fetzig, vielleicht zu „modern“ – und ein Vergleich mit seinem älteren Kollegen Michel Plasson (EMI) ließ dessen Klangbehandlung, dessen Üppigkeit der Streicher und der Holzbläser überzeugender scheinen (und wo Denyce Graces als Hérodiade ihre russische Kollegin mit Verachtung hätte strafen können, auch sprachlich). Auch die ältere Aufnahme des Pariser Radios von 1974 unter David Lloyd-Jones mit der wunderbaren Nadine Denize in der Titelpartie zeigt größeren Raum für bauchtanzschwingende Sinnlichkeit. Die neue Aufnahme beim Palazzetto wird es da schwerer haben, zumal als Triblette des Bekannten. Man fragt sich eh, warum nun eine neue, wenn die EMI-Einspielung unter Michel Plasson doch eine so solide ist. Die Götter in Venedig werden´s wissen. Herbert Schneider

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In Gießen: Asolo, unweit des Grappa-Zentrums Bassano nel Grappa mit seiner eindrucksvollen Holzbrücke nach einem Entwurf Palladios, gehört zweifellos zu den schönsten Orten Italiens. Hier residierte die ehemalige Königin von Zypern zwanzig Jahre bis zu ihrem Tod 1510 mit ihrem Hofstaat. Rang und Tittel einer Königin durfte Caterina Cornaro behalten, umgeben von Dichtern, Gelehrten und Künstlern, wurde sie damit für den Verlust ihrer Macht entschädigt: ein kostbares Exil und Leben in goldenen Käfig unter Aufsicht der Republik Venedig, die sie als Spielball in ihrem Machtspiel um Zypern eingesetzt hatte.

Wer war diese aus dem alten venezianischen Patriziat der Corner, die sich mit Palästen am Canal Grande verewigten und als Dogen in die Geschichte Venedigs einschrieben, stammende Caterina, die Gentile Bellini und Tizian malten und die zum Gegenstand von fünf Opern wurde? Am Stadttheater Gießen, das Gaetano Donizettis letzte zu seinen Lebzeiten uraufgeführte Oper Caterina Cornaro erstmals auf eine deutsche Bühne brachte, betreibt Regisseurin Anna Drescher ein bisschen Volkshochschule und lässt vor der Introduzione eine Stimme aus dem Off locker über Caterina plaudern: Sie war eine gute Partie, da ihre Familie u.a. mit dem Handel von Zucker reich geworden war. Im Alter von 14 Jahren wurde sie in Venedig in dessen Abwesenheit mit Jakob II. von Lusignan, dem König von Zypern, verheiratet. Handelsinteressen und Sicherung des Thronanspruchs gingen eine vorteilhafte Verbindung ein. Erst 1472 segelte Caterina nach Zypern, wo sie abermals mit Jakob II. verheiratet wurde. Bald starb ihr Gatte, ebenso der Thronfolger. Caterina wurde Königin von Zypern, doch bald von der Republik zur Abdankung gezwungen. Das dann eingeblendete Porträt Bellinis zeigt keine schöne Frau.

Und damit springt die Aufführung endlich in die Oper, die dort beginnt, wo andere enden, nämlich mit den Hochzeitsvorbereitungen und Freudenchören. Doch noch bevor Caterina ihre Hand dem jungen Franzosen Gerardo reichen kann, wird Vater Andrea Cornaro vom Vorhaben der Republik unterrichtet: Gerardo werde ermordet, wenn Caterina nicht Lusignano ehelicht. Die bunte Feier mit Luftballons und ausgelassenen Partygästen hatte begonnen, eine junge Frau vollführte auf der Trampolin-Tafel unentwegt Luftsprünge, was ein bisschen vom Caterina-Gerardo-Duett „Tu l’amor mio, tu l’iride“ ablenkt, das überdeutlich an Norinas und Ernestos „Tornami a dir“-Duett angelehnt ist und daran erinnert, dass Donizetti seine im Herbst 1842 begonnene Arbeit an Caterina Cornaro unterbrach, um Don Pasquale zu schreiben; zudem arbeitete er noch für Wien an Maria de Rohan und Paris an Dom Sébastien.

Donizettis „Caterina Cornaro“ in Gießen/ Szene/ © Rolf K. Wegst

Die Stimmung kippt, als der wackere Tomi Wendt, der in der Basspartie des Cornaro nicht gut aufgehoben ist und schütter klingt, die Hochzeit abbläst, worauf eine heftige Tortenschlacht entsteht und er mit Küchenstücken beworfen wird. Als Sprachrohr der Republik, das durchaus eigene Interessen vertritt, ist der als schwarzer Drahtzieher mit Gothic Sidecut mephistophelisch böse durch die Szenen staksende und mit charaktervollem Bass jonglierende Kanadier Clarke Ruth als Mocenigo eine Wucht. Caterina willigt in die Ehe mit Lusignano ein und erklärt Gerardo, ihn nicht mehr zu lieben. Ende des in Venedig spielenden Prologs. Die folgenden beiden Akte spielen auf Zypern.

Nicht mal zwei Stunden braucht Donizetti für die im Januar 1844 in seiner Abwesenheit in Neapel uraufgeführte Oper, wo sie rund 130 Jahre später von Leyla Gencer wieder dem Vergessen entrissen wurde. Den Text schrieb ihm Giacomo Sacchèro, der, wie auch Lachner, Balfe und Pacini, dazu auf das Libretto von Jules-Henri Vernay de Saint-Georges für Halévys La reine de Chypre von 1841 zurückgriff. Alles geschieht bei Donizetti in größter Gedrängtheit, knapp und feurig, ohne größere Verzierungen im Gesang und in der Handlung; im Prolog lässt sich Caterina zwar noch von der Barkarole der Gondoliere verzaubern, aber ansonsten sind die Chöre von martialischer Wucht, sowohl die gedrungenen, blutbeschmierten Mörder der Serenissima („Core, e pugnale!“) wie die erschreckten Frauen im zweiten Akt („Oh ciel! Che tumulto! Che fieri lamenti!“), die damit auf das zur Verteidigung Lusignanos angestimmte und von „Guerra, guerra!“ und „Morte, Morte!“ durchsetzte Kriegsgeheul von Gerardo und seinen Soldaten reagieren. Die Arien sind relativ schmucklos, nicht ganz ohne Reiz – etwa Caterinas Cavatina und ihre Preghiera, Lusignanos Klage über die Kälte seiner Frau, in der Grga Peroš mit körnig ausladendem Edelmaß wie der ebenso frustrierte Luna klingt, oder Gerardos Cabaletta-Ruf zu den Waffen, der den Manrico vorwegzunehmen scheint, aber oft auch etwas blutleer und leidenschaftslos und wie aus der dramatischen Situation entrückt. Lusignano wehrt einen Angriff auf Gerardo ab. Beide erkennen sich als Landsleute und kommen sich, nachdem Gerardo gestanden hat, dass er sich am König für den Verlust Caterinas rächen will und Lusignano sich als ebenjener König zu erkennen gibt und über seine Ehe klagt, derart nahe, dass Drescher die Szene mit innigen Berührungen und einem Kuss enden lässt. Selbstlos und ungeachtet der Etikette lässt der König Gerardo mit Caterina allein. Keine alte Liebe brandet auf, stattdessen Entsagung, wie bei Elisabetta und Carlos.

Donizettis „Caterina Cornaro“ in Gießen/ Szene/ © Rolf K. Wegst

Nach dem Prolog baut Drescher auf starke Bilder (Tatjana Ivschina), die in ihrer Düsterheit durchaus suggestive Kraft besitzen, verbannt Caterina in eine Vitrine, von wo aus sie im historischen Gewand den Ereignissen zuschaut und selten zu Beteiligten wird. Erst am Ende, nachdem Lusignano tödlich getroffen ist und von Gerardo und Caterina Abschied genommen hat, reißt sie in ihrer Schlußcabaletta „Non più affanni“ („Schluss mit den Ängsten“) die Macht an sich. Hier entlockt die uruguayische Sopranistin Julia Araújo ihrem lyrisch verschatteten Sopran Farben und dramatische Akzente, die der von Donizetti nicht überstark gezeichneten Titelgestalt Profil verleihen. Offenbar immer noch von einer Erkältung gezeichnet, die ihn spätestens in der Begegnung mit seiner einstigen Geliebten einholt, zeigte Youngggi Moses Do als Gerardo dennoch mit flüssigem Ton und elegant verblendeter Höhe einen bemerkenswert schön timbrierten Tenor von bester Donizetti-Qualität. Gießens neuer Kapellmeister Vladimir Yaskorski machte die szenische deutsche Erstaufführung der Caterina Cornaro durch seine straffe und befeuernde Leitung der orchestralen Attacken zu einem musikalischen Genuss, mit dem Gießens neue Intendantin Simone Sterr zugleich Hoffnungen auf ähnliche (Belcanto)-Entdeckungen weckt, wie sie ihrer Vorgängerin Cathérine Miville u.a. mit Werken von Pacini, Arrieta, aber auch Gomes, Giordano und anderen so überzeugend gelungen waren.   Rolf Fath

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An der Mailänder Scala: Nach der mondänen Eröffnung vom 7. Dezember gehen die Aufführungen von Modest Musorgskys Boris Godunow an der Scala in Mailand weiter, und zwar in der Originalfassung von 1869, d.h. ohne den „polnischen“ Akt und ohne die Schlussszene. Diese erste Version, die sich mehr auf den Protagonisten konzentriert, endet mit dem Tod des Zaren Boris Godunow.

Alle Kritiker sind sich darin einig, dass dieser so genannte Ur-Boris im Vergleich zur späteren Version von 1872, mit der Mussorgsky versuchte, sich den Opernkonventionen des 19. Jahrhunderts anzunähern, Charaktere von ausgeprägterer Dramatik, Rauheit und authentischer russischer musikalischer Prägung aufweist. Riccardo Chailly dagegen wählt einen ungewöhnlichen Weg, indem er den Ur-Boris mit einer im Wesentlichen klassischen Konzertation spielt, die sehr zurückhaltend ist und wenig zu den schrillen Akzenten neigt, die in der Partitur dennoch vorhanden sind. Das Ergebnis ist eine fast „wienerische“ Interpretation der Oper, die zu Lasten der theatralischen Wirkung geht und sich auf die kantablen und melodischen Teile der Partitur konzentriert. Die Wahl der Gesangsbesetzung war konsequent, mit Stimmen, die sehr homogen und dem Gesamtdiktat treu waren, aber oft gedämpft und mit nicht immensen Klangvolumen.

Wäre es Verdi oder Puccini gewesen, hätte eine solch extreme und innovative Interpretation natürlich lange musikalische und interpretatorische Diskussionen nach sich gezogen, aber da es sich um eine Oper handelt, die im Repertoire weniger präsent ist, auch wenn es zahlreiche Aufführungen an der Scala gegeben hat, hat sie bei den Liebhabern keine besonderen Querellen hervorgerufen.

Das Ergebnis ist eine Inszenierung von großer musikalischer Finesse und Kunstfertigkeit, aber insgesamt wenig theatralisch, auch dank der manchmal didaktischen Regie und Inszenierung von Kasper Holten, der von Es Devlins Bühnenbild und Ida Marie Ellekildes Kostümen begleitet wird.

Mussorsgskys „Boiris Godunow“ an der Mailänder Scala/Szene/ Foto Brescia e Amisano ©Teatro alla Scala

Der dänische Regisseur verlegt die Geschichte an einen undefinierten Ort, der aus großen Leinwänden voller Schriften und Zeichnungen besteht, die wiederum von Landkarten eingerahmt werden, die die Szene umschließen und sich über die gesamte Bühne erstrecken. Eine abstrakte Szene also, dicht mit symbolischen und visuellen Verweisen auf die russische Geschichte. Der geschriebene Text ist auf der Bühne nahezu flächendeckend präsent. Eine Erzählung, die offensichtlich die Geschichte manipuliert und verzerrt und so die Ereignisse von Zar Boris beeinflusst. (…)

Die Besetzung der Gesangsgruppe erschien uns homogen und im Einklang mit den Grundannahmen der Konzertation gewählt zu sein. Ildar Abdrazakov ist ein intelligenter, musikalischer Sänger, ein guter Darsteller, mit einer hellen Stimme, die gut zu dieser Art von Darbietung passt. Natürlich fehlte ihm die notwendige stimmliche Imposanz und die scharfsinnige Phrasierung in den unteren Lagen, die oft vom Orchester abgedeckt wurden. Seine Leistung war insgesamt sehr gut, aber es fehlte der sogenannte „Star Kick“. Ain Anger skizziert einen glaubwürdigen Pimen mit hieratischen Akzenten und einem Gesang, der gut mit dem Wort harmoniert. Dimitry Golovnin bietet uns einen Grigorij Otrep’ev von perfidem Ehrgeiz, der das Beste aus seinem kräftigen, stentorischen Tenortimbre macht. Weniger im Fokus stand Norbert Ernst als Sujskij, dem der Klang und eine konsequentere und partizipative Bühnenglaubwürdigkeit fehlten. Hervorragende Leistungen erbrachten Alexey Markov als Duma-Sekretär mit einer üppigen baritonalen Eloquenz und Yaroslav Abaimov als sehr stilvoller Unschuldiger mit einem geradlinigen und gut unterstützten Tenorakzent, sowie einer völlig überzeugenden Bühnenpräsenz. Alle anderen waren professionell: Lilly Yorstad, Anna Denisova, Agnieszka Rehlis, Stanislav Trofimov, Alexander Kravets, Maria Barakova. Beeindruckend war der Chor der Scala unter der Leitung von Alberto Malazzi. Ein großer Erfolg für alle Darsteller im Finale. Raffaello Malesci (20 Dezember 2022)

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In Liege:  Verdis Alzira hinterließ trotz einer erfolgreichen Uraufführung am 12. August 1845 und einigen weniger erfolgreichen Folgeaufführungen in anderen italienischen Städten sowie in spanischsprechenden Ländern keine bleibenden Eindrücke  und war für mehr als 100 Jahre von den Spielplänen verschwunden. Eine Schwachstelle ist sicherlich das Libretto von Salvatore Cammarano, der nach mehreren erfolgreichen Operntexten für Donizetti erstmals mit Verdi zusammenarbeitete. Aus Alzire ou les Américains (1736), der philosophisch ausgerichteten Textvorlage des französischen Aufklärers Voltaire, baute er ein melodramatisches Konfliktstück zu einer “tragedia lirica” zusammen, das neben unmotiviert verknüpften Szenen auch eine arg gekünstelte finale Auflösung im Geiste Voltaireschen Humanismus präsentierte. Der in Lima geborene Regisseur Jean Pierre Gamarra, der auch für die Beleuchtung mit variabel eingesetzten kalten Stableuchten verantwortlich war, verzichtete an der Opera de la Wallonie Liege  im Verbund mit Lorenzo Albani  (Bühnenbild und Kostüme) auf historisch-folkloristische Szenerie und begnügte sich mit knappen Aktualisierungen (wenn beispielsweise zu Beginn des 2. Aktes Inkafrauen Bilder ihrer (umgekommenen ?) Männer hochhalten. Der in der Textvorlage durchaus immanente “clash of cultures” zwischen den indigenen Inkas und den spanischen Eroberern wird vernachlässigt zugunsten der zeitlosen Darstellung des konfliktbehafteten Dreiecksverhältnisses Gusmano – Alzira – Zamoro. Diese Kontroverse wird zunächst auf der rechteckigen Spielfläche einer wohl peruanisches Ackerland darstellenden Parzelle ausgetragen, die im 2. Akt zum lichtgefluteten Boden eines spanischen Herrschaftsgebäudes mutiert. Mit den dezent charakterisierenden Kostümen der beiden Volksgruppen (die Spanier mit Zylindern ausgestattet) kontrastierte das etwas albern wirkende Hantieren mit der Herrscherkrone zwischen Gusmano und seinem Vater Alvaro, dem Gouverneur von Peru.

Verdis „Alzira“ in Liege/ Szene/ Foto J. Berger

Der neue musikalische Chef der Opéra Royal de Wallonie Giampaolo Bisanti hatte in einem Interview betont, dass für ihn Alzira zu den besten Opern aus Verdis “Galeerenjahren” zähle, und diese Wertschätzung wurde auch in seinem packenden und akribisch ausgefeilten Dirigat deutlich (z. B. die flirrend-vibrierende Einleitung zu Alziras Auftrittskavatine  und die beeindruckenden Finalszenen). Glänzende Unterstützung gab ihm der engagiert und klangmächtig agierende Chor der ORW (Einstudierung Denis Segond). Der zum ersten Mal in Lüttich auftretende Tenor Luciano Ganci war an diesem Abend als Inkahäuptling  Zamoro der umjubelte Triumphator beim  Publikum, was er – sichtbar nicht zum Wohlgefallen aller Kollegen – in einem extensiven Solovorhang genoss. Ich muss gestehen, dass er mit seiner puren Stimmkraft imponierte, diese aber stilistisch nicht zu einer Belcantooper in der Nachfolge von Ernani und I Due Foscari passte. Ihm tat es leider Francesca Dotto in der Titelrolle gleich, die auch erstmals an der ORW zu hören war, die sich aber zumindest in den lyrischen Phasen erfolgreich um abgestufte Lautstärke bemühte. Als spanischer Gouverneurssohn Gusmano  zeichnete Giovanni Meoni ein gesanglich überzeugendes und berührendes Porträt dieser zerrissenen Figur. In den Nebenrollen boten Luca Dall’Amico (Alvaro), Roger Joakim (Ataliba) und die beiden weiteren Tenöre Zeno Popescu (Otumbo) und Alexander Marev (Ovando) sowie Marie-Catherine Baclin (Zuma) – wie immer in Lüttich – rollendeckende Leistungen.

Wie schon Nabucco und Ernani weist diese gerade einmal 90minütige Oper mit ihrem Prolog (“Il prigionero”) und den Akten I und II (“Vita, per vita” bzw. “La vendetta d’un selvaggio”) Titelüberschriften auf und kann nicht nur deshalb in diese Reihe eingefügt werden – auch wenn die entsprechenden Arien und Duette ein wenig Ohrwurmqualität entbehren. Vielleicht sollte man diese verkannte Oper, die in der 200jährigen Geschichte der Opéra Royal de Wallonie zum ersten Mal überhaupt auf die Bühne kam, einfach häufiger aufführen. Immerhin entstand diese Aufführungsserie in Koproduktion mit der ABAO in Bilbao und dem Nationaltheater in Peru. (Besuchte Aufführung: 01.12.22)

Ein erstes Kennenlernen bot eine fast schon skurrile Besonderheit der Schallplattengeschichte: Zum 125. Geburtstag von Giuseppe Verdi nahm der Reichssender Berlin eine gekürzte deutschsprachige Fassung dieser Oper mit Elisabeth Schwarzkopf auf (bei YouTube oder auf der vergriffenen CD nachzuhören). Walter Wiertz 

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PS: Ein kleiner Nachtrag soll auf die Philips-Einspielung der Alzira mit Ramon Vargas und Marina Mescheriakova unter Fabio Luisa von 2001 verweisen. 2012 erlebte man einen Mitschnitt vom Alto Adige Festival bei C-Major (Francesco Facini, Gustav Kuhn). Eine frühere Studio-Aufnahme gibt es bei Orfeo von 1983 (Ileana Cotruba und Francisco Araiza unter Lamberto Gardelli). Die erwähnte deutschsprachige Rundfunkaufnahme mit Elisabeth Schwarzkopf 1938 behielt in der damals als Sensation beachteten SFB-Original-Ausgrabung (ca. 1995) den „eindrucksvollen“ Original-Sprecher im Sportreporter-Stil, der fehlt leider auf der zusammengeschnittenen Myto-Aufnahme. Die Schwarzkopf erläuterte zudem die erstaunlichen Umstände zum Konzert in der Masurenallee, als sie buchstäblich aus dem Stand für die erkrankte Kollegin einsprang und die Alzira-Partie vom Blatt sang. In dem zugeschalteten Interview kommentierte sie dies humorvoll. Zu weiteren Alzira-Aufführungen zählen solche jüngst in Bilbao (2006) in Parma vom dortigen Verdi-Festival (2002 mit Paloetta Marrocu), New York (1968 mit Elinor Ross), bei der RAI 1973 (Angeles Gulin), und Rom (1957 dort mit der fulminanten Virginia Zeani). Immerhin. G. H. 

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.Asger Hameriks Vendetta – pre-verismo? Wer ist Asger Hamerik? Als Philipp Kochheim vor einigen Jahren die Leitung der Königlich Dänischen Oper in Aarhus übernahm, war klar, dass er ein Interesse daran hatte, nach mehr oder weniger seltenen oder sogar unbekannten dänischen Opern zu graben.

Der Komponist Asger Hamerik, Paris 1865/ Wikipedia

Ein sehr erfolgreiches Ergebnis war daher die Wiederbelebung von August Ennas einst auch außerhalb Dänemarks sehr erfolgreicher Cleopatra, die 2019 auch auf Dacapo Records aufgenommen wurde. Opera Lounge hat sowohl August Enna als auch die erwähnte Aufnahme bereits vorgestellt.

Jetzt hat Den Jyske Opera eine neue Rarität herausgebracht: La Vendetta. Es handelt sich um eine kleine Oper aus dem Jahr 1870 in einem einzigen Akt von Asger Hamerik (1843-1923). Er war ein hochgelobter Komponist, der viele verschiedene Arten klassischer Musik schuf, darunter 4 Opern und 6 Sinfonien. Letztere sind alle bei Dacapo Records erschienen.

La Vendetta wird derzeit von der Jütländischen Oper auf einer zweimonatigen Tournee durch Dänemark aufgeführt. Sie haben sich dafür entschieden, La Vendetta zusammen mit Leoncavallos Pagliacci aufzuführen, das sehr oft zusammen mit Mascagnis Cavalleria Rusticana gespielt wird. Diese Verbindung mag sehr natürlich erscheinen, und sei es nur, weil La Vendetta als einer der Vorläufer des Verismo angesehen werden kann, der 20 Jahre später in der Opernwelt so entscheidend auftrat.

Und wie war die Erfahrung, als La Vendetta zusammen mit Pagliacci neulich im Königlichen Theater in Kopenhagen gastierte? Es begann mit Antonios berühmtem Prolog aus den Pagliacci, in dem er dem Publikum mitteilte, dass es nun eine Theateraufführung zu sehen bekäme, die auf dem wahren Leben basiere. Dieser Prolog könnte mit etwas gutem Willen auch für eine Reihe anderer Verismo-Opern verwendet werden, und wenn sich der Vorhang nach dem Prolog senkt, übernimmt La Vendetta die Regie.

Der Schauplatz ist im Volksmund eine braune Taverne, vielleicht aus den 1950er Jahren, und die Handlung besteht kurz gesagt darin, dass Vitollo dem Mädchen Estella den Hof macht, die jedoch Orso liebt, mit dem Vitollo einen alten Familienstreit hat. Die drei Figuren sind mehr oder weniger miteinander verwandt. Zunächst singt Estella lange Zeit allein auf der Bühne über ihr erbärmliches Dasein, das jedoch einen Lichtblick hat, nämlich ihre Liebe zu Orso. Dann taucht Vitollo auf, der mit allen Mitteln, aber völlig vergeblich, versucht, Estella für sich zu gewinnen, sich dann aber plötzlich gezwungen sieht, sie zu verlassen. Als Orso wenig später zur Tür hereinkommt, ist die Stimmung völlig umgeschlagen, obwohl es viel Überredungskunst braucht, bis Estella bereit ist, zu kapitulieren. Zum Unglück der beiden kehrt Vitollo zurück, und nach einem Streit will Vitollo Orso erschießen, doch leider ist es Estella, die getroffen wird. Orso hat einen geliebten Menschen verloren, und Vitollo hat seine eigene Schwester erschossen. Teppichboden.

Asger Hameriks „Vendetta“/ Dorothea Spilger als Estgrella/ © Anders Bach

Ist La Vendetta also eine Oper vor dem Verismo? Da die Verismo-Oper ein Begriff ist, der nach und nach weit mehr als die ersten sehr typischen Vertreter dieser Gattung umfasst, ist es für die Beantwortung der gestellten Frage sehr gut, dass La Vendetta hier mit einem der obersten Vertreter des Echten, nämlich Pagliacci, zusammengebracht wurde.

In beiden Opern geht es um so genannte normale Menschen, ihre Beziehungen und ihre Alltagsprobleme. Das ist schließlich der wesentliche Ausgangspunkt für eine echte Verismo-Oper.  Doch damit eine solche Oper ein Publikumserfolg wird, müssen sowohl die Musik als auch das Libretto ausreichend attraktiv sein. Hameriks Musik ist professionell und von hoher Qualität, aber schon mit Ponchielli begann die Opernmusik eine aktivere Rolle in Bezug auf die Handlung zu übernehmen. Und die Komponisten der Jahrhundertwende, wie Leoncavallo zu einem großen Teil, waren sich dessen sehr bewusst. Hameriks Musik schafft es trotz ihrer Qualitäten nicht, sich im gleichen Maße in die Handlung zu integrieren wie Leoncavallos Musik.

 Das Libretto wurde in beiden Fällen vom Komponisten geschrieben. Schließlich war Leoncavallo ein Spezialist auf diesem Gebiet. Es wäre also nicht vernünftig, von Hamerik ein Libretto von gleichem Kaliber zu erwarten, aber sein Libretto könnte nun etwas veristischer sein. So ist die lange Arie von Estrella zu Beginn eher metaphorisch, und die kurzen und sehr direkten Dialoge, die in einer veristischen Oper so gut funktionieren, sind nicht besonders ausgeprägt.

Auf dem Platz neben mir saß eine Sopranistin, und bei den Vorhangrufen sahen wir uns ohne große Begeisterung an. Sie sagte etwas in der Art, dass La Vendetta offensichtlich nicht ohne Grund so viele Jahre lang in Vergessenheit geraten war.

Nach der Pause wurden die Pagliacci fortgesetzt, was sich als sehr erfolgreich erwies. Eine etwas andere Szenografik, als man sie normalerweise erlebt, aber sehr gut. Der Fluss der Handlung in den beiden Akten ist sehr kohärent und bietet alles, was eine veristische Oper braucht, um erfolgreich zu sein.

Estella und die Rollen von Vitello und Orso wurden von den beiden Baritonen Paul Gukhoe Song und Teit Kanstrup brillant gesungen.

In Pagliacci war die Sopranistin Solen Mainguené eine wahre Freude. Mit ihrem Gesang und ihrer Schauspielkunst füllte sie die Rolle der Nedda perfekt aus. Als Canio hörten wir Peter Lodahl, der gut zu ihr passte.  Paul Gukhoe Song und Teit Kanstrup meisterten ihre Rollen als Tonio bzw. Silvio so gut, wie sie es in La Vendetta getan hatten. Der Tenor Michael Ha schließlich war als Beppe sowohl lustig als auch gut gesungen.

Es überrascht vielleicht nicht, dass die Leistungen der Sänger in Pagliacci besser waren als in La Vendetta, selbst bei denen, die in beiden Opern auftraten. Meine Sopranistin und ich waren uns einig, dass dies ganz natürlich ist, wenn alles um sie herum erfolgreicher ist, wozu das Odense Symphonieorchester unter Christopher Lichtenstein und der Chor der Königlichen Dänischen Oper auf beste Weise beitrugen.

Wer sich selbst ein Bild von La Vendetta im Vergleich zu den Pagliacci machen möchte, kann dies am Samstag, den 17. Dezember 2022, tun, wenn das Doppelkonzert mit einem Vorspiel (leider nur auf Dänisch) um 19.20 Uhr auf DR P2 übertragen wird. Knud Tommerup/ Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator

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Wilhelmine von Bayreuth, die älteste Tochter des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. von Preußen, ist heutzutage vor allem noch durch das von ihr initiierte Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth bekannt, das nach ihrer Heirat mit dem Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth dort errichtet wurde und seit 2012 zum Weltkulturerbe zählt. Mit zahlreichen Opernaufführungen verlieh sie der Stadt schon musikalischen Glanz, bevor Richard Wagner mit seinem Festspielhaus den Grundstein für das alljährliche Pilgern in die Stadt in Oberfranken setzte. Dabei war sie nicht nur als Kunstmäzenin und Opernintendantin tätig, sondern komponierte auch selbst Opern und verfasste Libretti, die sie von anderen Komponisten vertonen ließ. So entstand auch 1754 anlässlich eines Besuchs ihres Bruders Friedrich II. ein allegorisches Stück, das Wilhelmine auf Französisch unter dem Titel L’Homme verfasst hatte. Da die geplante festa teatrale allerdings auf Italienisch stattfinden sollte, ließ sie den Text von ihrem Hofdichter Luigi Stampiglia ins Italienische übersetzen und beauftragte anschließend Andrea Bernasconi, die Musik zu komponieren.

Andrea Bernasconis „Uomo“/ Titelblatt des Librettos/ Wikipedia

Erzählt wird die Geschichte von zwei menschlichen Seelen, Animia und Anemone, in denen die damaligen Zuschauer unschwer Parallelen zu Wilhelmine und ihrem Gatten erkennen konnten. Ein Buon Genio (guter Geist) und ein Cattivo Genio (böser Geist) streiten im Verlauf des Stückes um die beiden Seelen und wollen sie in ihr Reich der Tugend bzw. des Lasters führen. Amor tritt dabei in einer doppelten Gestalt auf, zum einen als Amor Ragionevole (vernünftige Liebe), zum anderen als Amor Volubile (flüchtige Liebe). Nachdem Buon Genio zunächst die Höllengeister vertrieben und für seine Tochter Negiorea (die Vernunft) einen Thron errichtet hat, erobert sich Cattivo Genio mit seinen lasterhaften Geistern den Ort zurück und versucht, Anemone und Animia zu verführen. Bei Anemone ist er auch zunächst erfolgreich und kann ihn mit Hilfe der Volusia (Wollust) verführen. Animia gibt sich wesentlich widerstandsfähiger und lässt sich nur die Eifersucht einpflanzen. Auf einen Seitensprung lässt sie sich jedoch nicht ein, auch wenn sie Anemone mit Volusia vor Augen geführt bekommt. Am Ende kann Negiorea Anemone einen Spiegel vorhalten, so dass er seine Vergehen erkennt. Doch nun glaubt er, Animias Liebe nicht mehr würdig zu sein. Erst als Animia seinen Verfehlungen großmütig vergibt, muss Cattivo Genio erkennen, dass er keine Macht mehr über das Paar hat. So kommt es zum Sieg des Guten über das Böse.

Bei den Tagen Alter Musik in Herne wird diese festa teatrale nicht rein konzertant geboten, sondern mit einigen Requisiten sowie von mimischen und szenischen Elementen unterstützt. So wird beispielsweise beim Einzug des Buon Genio mit seinem Gefolge die Bühne mit einer Girlande geschmückt. Die schlafenden Animia und Anemone erhalten ein weißes Band und einen Blumenkranz. Mit dem Auftritt von Cattivo Genio wird diese Harmonie zerstört. Die weißen Bänder werden durch lilafarbene ersetzt, die für das Laster stehen und der Blumenkranz ausgetauscht. Bei Animia gelingt das allerdings nicht. Amor trägt als flüchtige Liebe große Engelsflügel auf dem Rücken und tritt als vernünftige Liebe mit einem Herzen auf der Stirn auf. Buon Genio und Cattivo Genio lassen sich in einem weißen Gewand bzw. dunklen Anzug auch optisch gut zuordnen. Auch wenn die Solist*innen größtenteils vom Blatt absingen, setzen sie den gesungenen Text mit barocker mimischer und szenischer Gestaltung um, die Nils Niemann mit ihnen einstudiert hat.

Bernasconis „Uomo“ in Herne 2022/ Szene/ Foto Thomas Kost

Musikalisch bietet das Stück Barock vom Feinsten, wobei besonders die Accompagnato-Rezitative aufhorchen lassen, die die Dramatik des Werkes unterstreichen. Leider kann Alice Lackner die Partie der Negiorea nicht singen, was die Produktion vor ein paar Probleme stellt, da die Rolle inhaltlich nicht einfach weggelassen werden kann und man natürlich bei so einem selten gespielten Stück keinen Ersatz parat hat. Für die Aufführung in Herne hat man sich Folgendes einfallen lassen. Die Rezitative werden von Maria Ladurner und Johanna Falkinger übernommen. Die Singstimme bei den Arien wird von den Bläser*innen des Ensembles 1700 gespielt. Da Texthefte ausliegen, kann man während der Arie nachlesen, was Negiorea hier jeweils gesungen hätte. Lackner versucht, mit intensiver szenischer Darstellung dieses Manko auszugleichen. So lässt sich das Werk weiterhin gut nachvollziehen.

Die Partien sind allesamt gut besetzt. Da ist zunächst das Liebespaar Animia und Anemone zu nennen. Maria Ladurner begeistert als Animia mit leuchtendem Sopran und strahlenden Koloraturen. Einen Höhepunkt stellt ihre Arie „Fuggi, da me t’invola“ in der 15. Szene dar, in der sie sich der flüchtigen Liebe kampfbereit entgegenstellt. Hier punktet Ladurner mit flexiblen und halsbrecherischen Läufen und macht deutlich, dass die Laster bei dieser Frau keine Chance haben. Philipp Mathmann verfügt als Anemone über einen weichen Sopran, der den Wankelmut des jungen Mannes betont. In seinem kurzen Arioso „Sine al respiro estremo“ in der 14. Szene, in dem er sich der Volusia hingibt, wechselt er zwischen Kopf- und Bruststimme. Francesca Benitez verfügt als Buon Genio über strahlende Höhen, die die Reinheit der Figur unterstreichen. Für den Buon Genio hat auch Wilhelmine von Bayreuth zwei Kompositionen in das Stück eingefügt. Florian Götz gestaltet den Cattivo Genio mit dunklem Bariton. Simon Bode, Anna Herbst und Johanna Falkinger runden als Amor, Volusia und Incosia sowie als Chor der Geister das Ensemble wunderbar ab. Das Ensemble 1700 unter der Leitung von Dorothee Oberlinger punktet nicht nur mit absolut präzisem Spiel, sondern darf auch noch als Chor der Höllengeister in einer kurzen Szene sängerisch tätig werden. Oberlinger führt mit gewohnt souveräner Hand durch die Partitur und arbeitet die unterschiedlichen Nuancen differenziert heraus. Am Ende greift sie dann auch noch selbst zur Blockflöte.

Normalerweise gibt es bei konzertanten Opern keine Zugabe, aber wegen des großen Applauses lassen sich das Orchester und die Solist*innen verleiten, den Schlusschor am Ende noch ein zweites Mal zu präsentieren.

Fazit: auch wenn die Handlung mit den allegorischen Figuren reichlich abstrakt ist, bietet Bernasconis Musik barocken Glanz vom Feinsten, der vom Ensemble 1700 unter der Leitung von Dorothee Oberlinger und den Solist*innen wunderbar umgesetzt wird. Thomas Molke/ mit Dank an Online Music Magazin

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Als vorletzten Titel der Spielzeit 2022 des Teatro Filarmonico präsentiert die Fondazione Arena eine schöne und treffende Inszenierung von La Gioconda, ein Meisterwerk des aus Cremona stammenden Komponisten Amilcare Ponchielli, das seit dem Sommer 2005, als es in der Arena in der nüchternen und imposanten, damals von Pier Luigi Pizzi unterzeichneten Inszenierung aufgeführt wurde, nicht mehr in Verona zu sehen war. (…)

La Gioconda ist ein vielseitiges, facettenreiches Werk, das eine Inszenierung erfordert, die über Mittel und professionelle Fähigkeiten verfügt, um sich der Aufgabe zu stellen. Das ist der Arena und dem begabten Filippo Tonon mit Geschmack und Kompetenz gelungen. Die Handlung wurde in den 1870er Jahren verlegt – die Zeit, in der die Oper komponiert wurde -, und von Carla Galleris detailgetreuen Kostümen im Stil des Zweiten Napoleonischen Kaiserreichs unterstützt.

Filippo Tonon, der auch das Bühnenbild entwirft, wählt einen einfachen, aber sehr sachlichen Stil, der an das Weiß der Renaissance-Marmore in der Serenissima zu erinnern scheint. Eine klassische Regie, wenn man so will, aber kohärent, gut durchdacht und gut organisiert für eine insgesamt gelungene Aufführung, der man mit Vergnügen folgt.

In der Titelrolle war die junge kubanisch-amerikanische Sopranistin Monica Conesa zu hören, die mit einer bedeutenden Stimme, großer Energie und bemerkenswerter Bühnenglaubwürdigkeit ausgestattet ist. Mit den Ängsten und der Wut der Eifersucht, die die Sängerin Gioconda ergreift, tritt sie überzeugend hervor; allerdings fallen einige unorthodoxe Klänge und eine Tendenz zu nasalen Tonfällen in einigen Passagen auf. Angesichts des jungen Alters und des Talents der Sängerin wird es in ihrer Karriere sicherlich noch viel Raum für Verbesserungen geben.

Ponchiellis „Gioconda“ am Teatro Filarmonico Verona/ Szene/ Foto Ennevi

An ihrer Seite steht Samuele Simoncinis Enzo Grimaldo, der mit einem klingenden Timbre und einer sicheren und fesselnden Interpretation überzeugt, unterstützt von einer achtsamen und gelassenen Bühnenpräsenz. Auch für den Tenor aus Siena könnten einige Klänge mehr ‚laufen‘ und sich ausdehnen, jedoch ist der Sänger selbstbewusst, souverän und hoch professionell.

Laura war die polnische Mezzosopranistin Agnieszka Rehlis, in bester Form. Sie verfügt über eine homogene und timbrierte Stimme mit gemessenen Akzenten und ausgewogenen Phrasierungen, kann jedoch auch in blitzschnellen hohen Tönen aufsteigen. Mit ihrer langjährigen Bühnenerfahrung spielt sie einen gequälten und kummervollen Charakter. Eine meisterhafte Leistung von ihr.

Nicht zu vergessen Angelo Veccia, ein Barnaba mit subtiler Bosheit, gut kalibriert in seinem Auftreten und mit einer schlauen und bedrohlichen Präsenz. Stimmlich ist er in großartiger Form, mit einer Phrasierung, die auf Worte und Akzente zugeschnitten ist. Seine Stimme ist klar, aber mit gutem Timbre und leicht in den hohen Tönen. Eine mehr als überzeugende Leistung für ihn.

Simon Lim, Alvise Badoero, bestätigte sich als exzellenter Bass, der auf der Bühne ausreichend beweglich und mit einer markanten Stimme ausgestattet ist, die sich in ihren Akzenten dem Charakter des tückischen Unterdrückers anpasst. Agostina Smimmero ist ebenfalls überzeugend als Cieca. Die neapolitanische Mezzosopranistin verfügt über eine wichtige Stimme mit bemerkenswertem Brustresonator und lehrbuchmäßigen tiefen Tönen.

Der Tanz der Stunden wurde von drei Tänzerinnen – Evgenija Koskina, Tatiana Svetlicna, Mina Radakovic – in einer Choreographie von Valerio Longo präsentiert. Dem Choreographen gelingt es, einen unterhaltsamen Tanz zu kreieren, mit Bewegungen, die mal klassisch und mal zeitgenössisch sind. Die choreographische Darbietung wurde vom Publikum mit viel Applaus belohnt.

Francesco Omassini hat das Orchester der Arena di Verona gut dirigiert und das Verhältnis zwischen Orchestergraben und Bühne sorgfältig kalibriert, auch wenn seine Darbietung zuweilen nicht sehr theatralisch und nicht sehr persönlich war. Großer Erfolg am Ende der Aufführung für alle Darsteller. Raffaello Malesci (26 Oktober 2022)

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Späte französische Erstaufführung. Unter Hans Pfitzner hätten die Opern seines knapp zehn Jahre jüngeren Kollegen Franz Schreker keine Chance in Straßburg gehabt, wo Pfitzner ab 1908 die Konzerte der Philharmoniker leitete und bald darauf auch bis zur Rückgabe von Elsass-Lothringen an Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg der Oper vorstand. In seiner Streitschrift Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz hatte er um 1919 indirekt auch heftig gegen Schreker gewettert, der mit Der ferne Klang, Das Spielwerk und die Prinzessin und Die Gezeichneten längst zu einem der erfolgreichsten zeitgenössischen Komponisten avanciert war. 1920 folgte in Frankfurt, wo bereits seine anderen Opern uraufgeführt worden waren, Schrekers größter Erfolg: Der Schatzgräber; mehr als fünfzig Städte spielten die Oper bis 1932, wobei die Erfolgskurve bereits nach 1924 stark abflachte. Jetzt stellte die Straßburger Opéra National du Rhin, die vor zehn Jahren die französische Erstaufführung des Fernen Klangs nachgeholt und vor zwei Jahren Die Vögel von Walter Braunfels präsentiert hatte, Schrekers Oper in einem Vorspiel, vier Akten und einem Nachspiel erstmals in Frankreich vor.

Schrekers Oper „Der ferne Klang“ in Straßburg/ Szene/ Foto Alain Kaiser

Wie beim Fernen Klang mit Marko Letonja am Pult der Straßburger Philharmoniker, der nicht nur im opalisierenden Sinnenrausch der Liebesnacht von Els und Elis im 3. Akt deutlich machte, weshalb Der Schatzgräber und die darin zum Ausdruck gebrachte Sehnsucht nach einem märchenhaften Mittelalter zu Schrekers erfolgreichster Oper wurde. Bei aller Rätselhaftigkeit ist die Mischung aus Mittelalterrezeption, Zivilisationsflucht, Psychoanalyse und Traumdeutung eben auch ein einfaches Märchen, von dem der fahrende Sänger Elis am Ende spricht, „heimgefunden ins Märchenland: Prinz und Prinzessin, Elis und Els, die beiden Kinder von Traumkönigs Gnaden“. Und wenn der Narr erzählt, man habe den Sänger Elis, der mit seiner Wunderlaute verlorene Schätze aufspüren kann, gesucht, „wie die blaue Blume“, sind wir direkt beim Sehnsuchts-Symbol der Romantik angelangt. Auch dieses Märchen für Erwachsene beginnt mit einem „Es war einmal“: Es war einmal eine Königin, die sich ihrem Mann verweigert, weil ihr alter Schmuck verschwunden ist und sie darüber in Schwermut verfiel. Der König und das Volk jedoch erwarten dringend einen Erben. In der misslichen Situation rät der Narr dem König, sich an den Sänger Elis zu wenden, dessen Zauberlaute verborgene Schätze aufspüre. Und dann gibt es noch die skrupellose Wirtstochter Els, die ihre Liebhaber umbringen lässt, sich in den Besitz des Schmucks bringen will und dazu den Knecht Albi, den Narren und den Vogt in ihrem Sinn manipuliert. Els und Elis, die beiden Außenseiter und Ausbrecher, erleben eine wunderhafte Liebesnacht. Die Taten der Els werden aufgedeckt, sie soll hingerichtet werden, doch der Narr rettet sie vor dem Schafott, indem er sie zur Frau nimmt. Elis wendet sich von der Geliebten ab. Ein Jahr später liegt sie im Sterben, Elis eilt herbei und singt sie in den Tod, wobei der Narr in seinem Abschied, „Fahr‘ in Frieden dahin, du fremde Blüte, er wird dir verzeihh’n. Was auf Erden verwelkt in Entsagung und Gram, wird in Glück und Freude im Himmel gedeih’n“, nochmals das Blumenmotiv aufnimmt.

Schrekers Oper „Der ferne Klang“ in Straßburg/ Szene/ Foto Alain Kaiser

Wie eine weiße Blume drapiert Christof Loy die schöne stumme Königin auf dem Endlostisch im schwer-wuchtigen schwarzen Marmorsalon, den Johannes Leiacker als schräg angeschnittenes Einheitsbild auf die Bühne gewuchtet hat. Sowohl elegant und sinnlich als auch bedrohlich und trutzig taugt der dunkle Salon für die Hofgesellschaft ebenso wie für Gaststube und Galgen. Triebhaft aufgeladene Energien brodeln unter der smarten Lockerheit der Smalltalks, bei denen sich die eleganten Menschen bei einer Abendgesellschaft umkurven. Els ist als Servierkraft im kleinen Roten bereits dabei, auch der sich gockelnd in Positur werfende reiche Junker, den sie heiraten soll. Alle sind irgendwie immer präsent, auch wenn Els ihren Geliebten erwartet und wie eine Diseuse beim rührenden Schlaflied den Tisch zum Laufsteg macht („Schlaf, mein Elschen, schlaf ein“), hocken die Toten, Leidenden und Liebenden um sie herum. Loys feinfühlige, akribisch aufgefächerte Personenführung ist von hoher Raffinesse und Geschmeidigkeit – unterstrichen auch durch Helena Juntunens Verführungsakrobatik – und entwickelt einen sinnlichen Sog, der Schrekers schwerfällige Sprache, einen gewissen Überdruss durch die sich immer schwüler erhitzende Orchestersprache sowie die altbackene Holzschnitt-Dramaturgie in den Hintergrund drängt. Vom Märchenschloss im Prolog über die Orgie, wo sich in kalkuliertem Begehren wechselseitig Männer und Frauen finden, bis zum Epilog fügen sich alle Szenen in gefällig choreographierter Zwangsläufigkeit aneinander. Ein bisschen kühl und distanziert und ausgezirkelt, doch sehr sehenswert. Loy verliert keinen aus dem Blick, nicht den König des präzise artikulierenden und kraftstrotzenden Derek Welton, nicht den baritonal verführerischen James Newby, der als Junker rasch abgemurkst wird, aber als lebender Toter gegenwärtig bleibt. Nicht den Vogt, den der kurzfristig herbeigeeilte Thomas Johannes Mayer – Vorteil der mit der Deutschen Oper Berlin koproduzierten Aufführung – grobkörnig und robust und mit der Autorität eines Ortssheriffs singt und spielt. Auch nicht die wuselnden Hofschranzen oder den Els hündisch ergebenen Albi (Tobias Hächler). Durchaus eindrucksvoll Paul Schweinester, der den Narren mit bindfandendünnem, aber sicher platziertem Spieltenor markant gestaltet. Singend und spielend verausgaben sich Helena Juntunen und Thomas Blondelle – und bleiben doch ferne Märchenfiguren. Nach der Greta im Fernen Klang und der Salome fügt sich die Els konsequent in die Reihe von Juntunens Straßburger Frauen. In der Höhe hat Juntunen sich den feinen lyrischen-Koloraturglanz früherer Jahre bewahrt, was ihr an Breite in der Mittellage und in der Tiefe fehlt, macht sie durch Gestaltungswillen und Ausdruck wett. Auch Blondelle muss in der Vollhöhe etwas fingieren, die leisen Stellen eher andeuten als klanglich erfüllen, doch seine Balladen, wie „Am Ilsenstein in uralter Zeit“, und den Schlafgesang im Epilog erfüllt er mit klangvoller Autorität.  Rolf Fath

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Ohne jeden Zauber: In einer Dekoration, in der man alles und nichts spielen kann, verorten Regisseur Tilmann Köhler und Bühnenbildner Karoly Risz Albert Lortzings Romantische Zauberoper Undine an der Oper Leipzig. Auf der Drehbühne steht eine hohe Treppentribüne, auf deren Stufen oder vor ihrer hinteren Wand die Aktionen stattfinden. Die öde, phantasielose Szene entbehrt jedes romantischen Zaubers, besitzt weder lokales Kolorit noch einen zeitlichen Bezug auf die um 1450 angesiedelte Handlung in vier Aufzügen. Es wird auch kein einziger Schauplatz des Geschehens bedient, also sieht man keine Fischerhütte am See, keine Halle im Schloss, keine Landschaft nahe der Burg, auch nicht deren Hof und Festsaal. Einzig für die Hochzeitsfeste von Ritter Hugo mit Undine und später Bertalda, wo der Chor auf der großen Treppe die Paare links und rechts einsäumt, mag die Bühnenlösung funktionieren. Zur deprimierenden Optik tragen auch die scheußlichen Kostüme in wüstem Stil-Mix von Susanne Uhl bei. Sportanzüge und Billigklamotten sieht man neben Kleidern in geblümten Mustern oder aus Spitze und Lurex. Undines Gewänder, zuerst weiß und später blau, sind von schlichter Eleganz, ohne das übernatürliche Wesen der Figur zu verdeutlichen.

Lortzings „Undine“ an der Oper Leipzig/ Szene/ Foto Kirsten Nijhof

Der Regisseur schildert bei seinem Hausdebüt auch die Vorgeschichte der Handlung, zeigt den Fürsten der Wassergeister Kühleborn mit seiner Tochter, der kleinen Undine, die er Tobias und Marthe, einem Fischerehepaar, überlassen hat, nachdem er deren Kind Bertalda entführt und dem Herzog anvertraut hat. Köhler gelingt es nicht, den Spannungsbogen zwischen den gesprochenen Dialogen und den Gesangsnummern aufrecht zu erhalten. Das beeinträchtigt sogleich den 1. Aufzug mit Ritter Hugo und seinem Knappen Veit sowie Tobias (Sejong Chang) und Marthe (Karin Lovelius), zumal die Dialoge unter dem starken Akzent der Interpreten leiden. Dan Karlströms in der Höhe limitiertem Tenor fehlt es für den Veit an buffonesker Beweglichkeit. Im 3. Akt fällt ihm mit „Vater, Mutter, Schwestern, Brüder“ eine der berühmtesten Nummern des Werkes zu, die er angemessen liedhaft vorträgt. Das Duett im 4. Aufzug mit dem Kellermeister Hans (Peter Dolinsek szenisch präsent und vokal markant) lebt von der vitalen Aktion und beider munterem Gesang, wie auch der Zwiegesang mit Hugo „Im Wein ist Wahrheit nur allein. Matthias Stier in weißem Golfplatz-Outfit singt den Ritter mit potentem Zwischenfachtenor. Seine erste Romanze, „Ich ritt zum großen Waffenspiele“, geht er beherzt an und findet in der Arie zu Beginn des 4. Aufzuges, „Mir schien der Morgen aufgegangen“, zu kantablem Wohllaut, gerät im vehementen Schlussteil aber an Grenzen, die sich in gequälten Spitzentönen offenbaren.

Mathias Hausmann ist ein imposanter Kühleborn von stattlicher Statur und eleganter Aura. Er erscheint in mehrfacher Verkleidung – als Pater Heilmann im weißen Ornat, der Undine und den Ritter Hugo traut, und als Diplomat des Königreiches Neapel, der in abenteuerlichem Outfit im Gefolge Bertaldas auftritt. Der resonante Bariton könnte für den Wasserfürsten noch mehr dämonische Schwärze haben, doch ist sein Gesang „Nun ist’s vollbracht“ am Ende des 3. Aufzugs besonders klangvoll.

In der Premiere am 29. 10. 2022 gab es wegen Erkrankung mehrere Umbesetzungen, so auch in der Titelrolle, die nun von Olga Jelinková wahrgenommen wurde. Ihr Sopran wirkte anfangs etwas kleindimensioniert und entbehrte der lyrischen Fülle. In der großen Arie des 2. Aktes, „So wisse, dass in allen Elementen“,  hört man jedoch mehr klangliche Valeurs und auch zarte Nuancen, im jubelnden Schlussteil „Ich bin beseelt!“ strahlende Ausbrüche. Problemfall der Besetzung ist Olena Tokar als Bertalda, die sich zwar gewandt bewegt, mit ihrem in der Höhe schrillen Sopran und schneidend scharfen Spitzentönen aber für akustisches Unbehagen sorgt.

Glänzend präsentiert sich der Chor der Oper Leipzig (Einstudierung: Thomas Eitler-de Lint), der vom Regisseur zu oft an der Rampe platziert wird. In einer Jagdszene zu Beginn des 3. Aktes singt er „Auf, ihr Zecher!“ inmitten von auf dem Boden liegenden Bierdosen. Bei der Hochzeit von Hugo und Bertalda lässt er mit „Füllt die Pokale!“ das Paar hoch leben. Doch dessen Liebesglück ist nur von kurzer Dauer, denn unter Blitzen und Donnergrollen wird die Burg von eindringenden Wasserfluten zerstört. Alle versinken unter effektvollem Einsatz der Unterbühne in das Reich des Wassergeistes, auch Hugo, der auf ewig dort verbleiben muss.

Hat das Regieteam auf jeden romantischen Zauber verzichtet,  so ist dieser wenigstens im Spiel des Gewandhausorchesters zu erleben. Unter Leitung von Christoph Gedschold lässt es ein farbenreiches Klangbild mit vielen Schattierungen und wunderbaren instrumentalen Feinheiten hören. Das Publikum honorierte dies mit begeisterter Zustimmung, doch brachte es auch seinen Unmut über die Inszenierung zum Ausdruck. Lortzings 1845 Magdeburg uraufgeführte Zauberoper war erstmals in Leipzig zu sehen und bildet den Auftakt für einen geplanten Zyklus mit Werken des Komponisten. Bernd Hoppe

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Im Teatro Comunale Pavarotti Freni in Modena wurde eine Oper aufgeführt, die auf italienischen und europäischen Bühnen inzwischen fast eine Rarität geworden ist: Arrigo Boitos Mefistofele. Arrigo Boitos großartiges Werk, das bis in die 1970er Jahre ständig im Repertoire war – allein in der Arena di Verona wurde es bis 1979 45-mal aufgeführt – ist seitdem leider langsam in Vergessenheit geraten.

Es gibt mehrere mögliche Gründe dafür: zum einen der Mangel an großen italienischen Bässen, die die ‚partaccia‘ des Mefistofele bewältigen können, und zum anderen das imposante Orchester-, Chor- und Choreographie-Ensemble, das für die Inszenierung dieser Oper erforderlich ist, die man durchaus als italienische Version der französischen ‚grand opéra‘ bezeichnen könnte.

Boitos „Mefistofele“ in Modena/ Szene/Foto Rolando Paolo Guerzoni

Wie dem auch sei, Mefistofele war seit Jahren nicht mehr in Italien zu sehen, und Modena hat gut gemacht die Oper wieder aufzuführen, wenn auch in einer Bühnenfassung von 2016 vom Teatro di Pisa, die leider der theatralischen und spektakulären Seite der Musik nicht gerecht wird.

Gerettet wurde der Abend durch die gute Sängerbesetzung und die umsichtige Orchesterleitung von Francesco Pasqualetti, dem es gelingt, das Beste aus der Orchestra Filarmonica Italiana herauszuholen, die zwar nicht immer präzise und zusammenhängend ist, wobei er den wagnerianischen symphonischen Charakter der Musik ebenso hervorhebt wie die ironischen und innovativen Akzente des ‚scapigliato‚ Boito.

In Modena wurde Mefistofele von dem koreanischen Bass Simon Lim verkörpert, der über eine breite und timbrierte Stimme verfügt, locker in den hohen Tönen und gut kontrolliert in den tiefen Tönen, die von mehr Klangfülle profitieren würden. Alles in allem eine sehr gute Leistung für ihn. Der Künstler ist in der Tat mit einer gewissen Anziehungskraft und einer diskreten szenischen Leichtigkeit beschenkt, die ihn für die Rolle attraktiv und ausreichend überzeugend macht, selbst in einer sehr statischen Inszenierung wie der im Pavarotti Theater.

Eine echte Überraschung war der Auftritt von Paolo Lardizzone, der für den kranken Antonio Poli einsprang. In der Tat überraschte der sizilianische Tenor mit seinem Klang, seinem leichten Aufstieg zu den hohen Tönen und seinem gut projizierten Gesang, der immer auf dem Atem lag und es ihm ermöglichte, den Charakter des Faust angemessen zu verkörpern. Eine wirklich überzeugende Leistung für ihn, die tatsächlich mit viel Applaus begrüßt wurde.

Die Leistung von Marta Mari in der Doppelrolle der Margherita und Elena war ebenfalls überzeugend. Die Sopranistin aus Brescia verfügt über eine kalibrierte und gut geführte Stimme, sie mangelt jedoch an Charisma und Temperament, insbesondere in der klassischen Sabbath-Szene. Die anderen Darsteller waren professionell.

Regie, Bühnenbild und Kostüme sind von Enrico Stinchelli. Die finanziellen Einschränkungen der Inszenierung sind offensichtlich, aber der Regisseur schafft es nicht, sie mit sinnvollen Ideen zu überdecken. Er beschränkt sich darauf, die Anforderungen des Librettos mit der schwerfälligen Präsenz von projizierten Bildern, die größtenteils nur illustrativ sind, didaktisch zu verdeutlichen.

Während der ‚Prolog im Himmel‘ mit einer Abfolge von Bildern von Planeten, Sternen und Galaxien durchaus angenehm ist, gleiten Szenen wie ‚Ostersonntag‘, ‚Der Pakt‘ und ‚Der Garten‘ in die Banalität ab, ohne dass die groben Kostüme oder die überwiegend statische Regie in irgendeiner Weise zur Hilfe kommen.

Was die Ensembleszenen wie ‚Die Sabbath Nacht‘ und ‚Die Klassische Sabbath Nacht‘ betrifft, so ist das Auftreten von Chor und Sängern von absoluter Unbeweglichkeit geprägt, praktisch ein Kostümkonzert, bei dem die Ballette, die den herben jungen Studenten der MM Contemporary Dance Company anvertraut wurden, nicht zur Geltung kommen.

Eine verpasste Chance also, Boitos schöner und immer noch aktueller Partitur nicht nur gesanglich, sondern auch dramatisch Geltung zu verschaffen. Am Ende des Abends ein überzeugender Erfolg für alle Darsteller (9. Oktober 2022). Raffaello Malesci 

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Die assyrische Prinzessin als Galeristin: Das letzte Auswärts-Gastspiel der Deutschen Oper Berlin vor ihrer Wiedereröffnung Anfang November fand am 20./22. 10. 2022 im Haus der Berliner Festspiele statt. Die Aufführung von Rossinis Melodramma tragico Semiramide hätte den Anstrich des Sensationellen haben können (und man erinnert sich mit Wehmut an die Damen Takova und Podles nebst Bass-Bariton Alaimo tanti anni fa an der Deutschen Oper in der wüsten Geranien-Inzenierung von Intendantin Harms), wäre die für die Titelrolle ursprünglich vorgesehene Vasilisa Berzhanskaya auch aufgetreten. Für sie kam die georgische Sopranistin Salome Jicia zum Einsatz. Rossini-erprobt beim ROF in Pesaro, war sie optisch in grün glitzernder (und später schwarzer) Abendrobe eine attraktive Erscheinung, doch zeigte die dunkel getönte Stimme Verschleißerscheinungen in der Höhe, die sich in spröden, rissigen Passagen und grellen Spitzentönen offenbarten. Die große Arie „Bel raggio lusinghier“, vom Damenchor der Deutschen Oper Berlin (Jeremy Bines) klangvoll eingeleitet, ließ trotz des entschlossenen Vortrags ein Primadonnen-Format vermissen, da mehrere Löcher in der Gesangslinie zu erkennen waren. Zudem war sie von Philine Tiezel (Szenische Einrichtung der semikonzertanten Aufführung) angehalten, das Solo im Abendkleid in einer goldenen Empire-Badewanne zu singen. Es war dies eine von vielen absurden Ideen der Regisseurin, die aus der babylonischen Königin eine Kuratorin in der Kunstgalerie Babilonia machte. Im Rahmen einer Vernissage werden goldene Objekte des Künstlers Assur und Bilder des Malers Arsace präsentiert. Auf Spruchbändern im Hintergrund werden beide mit Introducing… und Special Guest angekündigt. Aus der assyrischen Prinzessin Azema (Maria Motolygina) wird eine Kunstmäzenin, aus dem Hohepriester Oroe (Bogdan Talos) der Geschäftsführer. Im 2. Akt profitierte Jicia von Passagen in der Mittellage, so in Semiramides schmerzlichem Gebet, in welchem sie durchaus zu berühren wusste. Aufhorchen ließ die Stimme der schottischen Mezzosopranistin Beth Taylor durch ihren androgynen, dunklen Klang und das üppige Volumen. Ihr Arsace muss fortwährend Porträts der geliebten Azema malen. Schon in der Auftrittskavatine („Eccomi alfine/Ah! quel giorno“) fielen die satte Tiefe und das reiche Timbre auf. Allerdings offenbarte die Sängerin Probleme in den vertrackten Koloraturläufen und hatte auch Mühe, ihre beiden großen Soli konditionell bis zum Schluss durchzustehen. Die fordernden Duette der Partie gestaltete sie gemeinsam mit der Sopranistin  souverän und führte sie zu Höhepunkten der Aufführungöh. Sogleich das erste („Serbami ognor“) ließ die perfekte Verblendung der beiden Stimmen erkennen, die auch in „Tu serena intanto“ zu vernehmen war.

Rosa Mariani war die erste Semirade Rossinis/ Wikipedia

Eine typische Rossini-Stimme mit viel Potential in der Extremhöhe und gewandtem Fluss setzte der südafrikanische Tenor Levy Sekgapane als Idreno ein. Nach seiner Arie „La speranza più soave“ und der bravourösen Cabaletta „Tu mia sposa“ wurde er lautstark gefeiert. Sorgfältig besetzt waren die Basspartien mit Riccardo Fassi als Assur mit gefährlicher Aura und machtvoller Stimme. In seinem dramatischen Duett mit Semiramide zu Beginn des 2. Aktes imponierte er mit viriler Potenz und auch Jicia konnte sich hier steigern. Dem italienischen Bass stand Talos in der kleineren Partie des Oroe kaum nach, überzeugte gleichfalls mit vokaler Autorität. Ihm fällt das erste Solo des Werkes zu („Sì, gran Nume“), in welchem er einen gewichtigen Akzent setzte. Danach erfreute der Chor, von der Regisseurin mit umständlichen Auftritten und Abgängen bedacht, in „Belo si celebri“ mit munterem, leichtfüßigem Gesang  konnte aber in den beiden großen Finali auch mit beeindruckender Klangfülle aufwarten.

Ursprünglich sollte Yi-Chen Lin, Kapellmeisterin am Haus, den Abend musikalisch leiten. Sie wurde durch Corrado Rovaris von der Opera Philadelphia ersetzt. Er setzte schon in der Sinfonia, welche einige Hauptmotive der Musik vorstellt, ein Achtungszeichen mit beherztem Tempo, martialischen forte-Schlägen und Atem beraubendem accelerando. Die Sänger, hinter dem Orchester auf einem Podest agierend, führte er kundig und inspirierend, erzielte mit ihnen und dem Chor imponierende Tableaus von majestätischer Größe. Bernd Hoppe

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Südseeklänge in der Berliner Philharmonie: Im Rahmen ihrer auswärtigen Auftritte während der Rekonstruktion des Orchestergrabens war die Deutsche Oper Berlin am 27. 9. 2022 in der Philharmonie zu Gast, um Léo Delibes’ Oper Lakmé in konzertanter Version aufzuführen. Die 1883 in Paris uraufgeführte Oper wird heute kaum noch gespielt, was zum einen orientalischen Sujet liegt, aber auch an dem virtuosen Anspruch, den das Werk an die Interpreten stellt. Vor allem für die Titelpartie ist eine bravouröse  Koloratursopranistin gefordert, die die berühmte „Glöckchenarie“ mit der gebotenen Bravour absolvieren kann, aber auch über lyrisches Potential verfügt. Mit Aigul Khismatullina war eine Sängerin aufgeboten, die schon in der Auftritts-Prière brillante staccati hören ließ, was auf eine optimale Darbietung des Air des clochettes hoffen ließ. Dieses war dann auch der vokale Höhepunkt des 2. Aktes, denn die Töne glitzerten ohne Makel und mit aparter Süße. Der glockenklare, bis in die Extremhöhe gerundete Sopran bezauberte auch mit zärtlichen piani und feinen lyrischen Valeurs, wovon die melancholische Berceuse im 3. Akt profitierte. Mit Mallika, Dienerin des Brahmanenpriesters Nilakantha, hat Lakmé eine der populärsten Nummern des Werkes zu singen – das Blumenduett „Viens, Mallika“, bekannt als Filmmusik und in Werbe-Spots. Mit dem substanzreichen Mezzo der Kanadierin Mireille Lebel und dem klangvollen Sopran der Khismatullina gab es optimale Voraussetzungen für einen schwelgerischen Zwiegesang. Dem kanadischen Tenor Josh Lovell fiel mit dem britischen Offizier Gérald die Liebhaber-Rolle des Stückes zu. Die Stimme verfügt über genügend lyrisches Potential, doch hätte man sich anfangs in seinem Vortrag dennoch mehr Duft und schwärmerischen Ausdruck à la Vanzo gewünscht. Im Duett mit Lakmé im 2. Akt, „Lakmé! C’est toi“, imponierte aber der emphatische Gesang, in der Cantilène des 3. Aktes der souveräne Gebrauch der voix mixte und im finalen Duo mit Lakmé, „Ils allaient deux à deux“, der ekstatische Ausdruck.

Die beiden Baritone bestätigten die hochrangige Besetzung der Aufführung: viril und energisch Dean Murphy als britischer Offizier Frédéric, kraftvoll Thomas Lehman als Nilakantha, in seiner Szene „Au milieu des chants“ im 2. Akt aber auch mit ausschwingender Kantilene. Der Chor der Deutschen Oper Berlin (Jeremy Bines) nahm  dieses Thema mit Wohlklang auf. Auch das turbulente Markttreiben zu Beginn des 2. Aktes, „Allons, avant que midi sonne“, untermalte er mit munteren Klängen, so wie er das prophetische Aktfinale, „ O Dourga“, mit majestätischem Gesang zum Hymnus erhob. Am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin stand die serbische Dirigentin Daniela Candillari, die schon im Prélude den schwelgerischen Rausch der Musik entfachte, im Entr’acte zwischen dem 1. und 2. Akt sphärische Klänge evozierte und auch die dramatischen Momente der Handlung effektvoll ausbreitete. Bernd Hoppe

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Das Festival de Radio France, das doch jedes Jahr für die Wiederentdeckung eines seltenen oder vergessenen Werkes bekannt ist. Hatte diesen Sommer den Hamlet von Ambroise Thomas auf dem Programm. Da war man doch vorher recht skeptisch. Denn die Oper von 1868, die zu ihrer Zeit ein großer Erfolg war, ist einem heutigen dem Publikum keineswegs unbekannt. In letzter Zeit gab es in der ganzen Welt Aufführungen, und an CD-Aufnahmen mangelt es nicht. Die alte EMI-Einspielung mit Thomas Hampson und van Dam ist trotz June Anderson immer noch ein Meilenstein, zudem ungekürzt mit Ballett und Alternativszenen.

Die angesagte Originalität des Projekts des Radio France Festivals bestand jedoch darin, die Originalversion der Oper, bevor sie 1868 dem Publikum der Pariser Oper vorgestellt wurde, zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorzustellen. Tatsächlich wurde die Rolle des Hamlet, in der viele Baritone glänzen können, ursprünglich für eine Tenorstimme gedacht und geschrieben. Es waren die Umstände der Uraufführung des Werkes, die über die Änderung der Stimmlage der Hauptrolle entschieden: Für den Direktor der Opéra schien kein ausreichend renommierter Tenor für die Rolle geeignet zu sein, und schließlich wurde der berühmte Bariton Jean-Baptiste Faure ausgewählt. So erklärte sich Thomas bereit, seine Partitur zu überarbeiten, damit sie der Stimme des Sängers, der unter anderem Verdis Posa/Don Rodrigue und Nelusko der Uraufführungen sang, entsprechen konnte.

Aber würde diese Rückbesinnung etwas ändern? Tatsächlich ist die Rolle, wie sie ursprünglich von Thomas geschrieben wurde, ziemlich furchteinflößend: Der Stimmumfang ist sehr zentral und erfordert einen Interpreten mit einer starken Mittellage und tiefen Tönen. Punktuell ist zu erkennen, dass die Gesangslinien der Tenorpartitur transponiert wurden, um sie an eine Baritonstimme anzupassen, aber einige Passagen sind fast völlig unverändert, und beim ersten Hören scheint es keine Tonartänderung zu geben. Die vielen angespannten Momente in der Höhe, die geschickt geschrieben sind, um dem dramatischen Ausdruck dieser oder jener Szene zu dienen, lassen die Rolle jedoch in eine andere Vokalität oder sogar einen anderen Stil übergehen, der vielleicht belkantistischer wirkt, aber vielleicht eine noch größere dramatische Wirkung birgt. Die Rolle des Hamlet erhält nun eine brillantere Farbe und erscheint kontrastreicher, weit entfernt von der dunklen und etwas monchromen Depressivität, in der die Baritonversion erscheint.

Es war also eine große Überraschung und Freude, eine Musik wiederzuentdecken, die man zu kennen glaubte, nicht nur dank der neuenj Edition des Bärenreiter-Verlages, sondern auch dank Michael Schønwandts feuriger Leitung des Orchestre national Montpellier Occitanie. An manchen Stellen hätte man sich mehr Tiefe und pulsierende Nervosität gewünscht, insbesondere bei den Streichern, aber die Leitung des Dirigenten war bewundernswert.

Thomas´“Hamlet“ mit John Osborn als Tenor/ Schlussapplaus/ Opéra National de Montpellier Occintanie

Und was soll man zu einer nahezu idealen Besetzung sagen, die dem Werk vollkommen gerecht wird und das Publikum zu Begeisterungsstürmen verführt? John Osborn ist Hamlet. Der amerikanische Tenor hat eine große stimmliche Reichweite- aber einiger seine hohen Noten werden hier sehr gefordert. Als großer Künstler nutzt er diese kleinen stimmlichen Schwierigkeiten, um einen Hamlet zu verkörpern, der am Rande der Zerreißprobe steht. Der Sänger bietet ein Französisch von beispielhafter Klarheit und dient Thomas‘ Rolle mit absoluter Musikalität, verleiht der Figur sowohl Zärtlichkeit als auch Feuer.

Jodie Devos als Ophelia beweist sie erneut, dass sie eine der brillantesten Sängerinnen der heutigen Opernszene ist. Die Stimme bleibt über den gesamten Tonumfang üppig, bis hin zu den aufregenden hohen Noten. Die Sängerin ist auch eine exzellente stimmliche Darstellerin von seltener technischer Virtuosität und Musikalität, die den Text mit Genauigkeit und Emotion herüberbringt, um am Ende ihrer Wahnsinnsszene Ophelias geistige und körperliche Verirrung zu verdeutlichen.

Clémentine Margaine war eine Gertrude von einsamer Klasse. Mit ihrem dunklen Timbre beeindruckt diese Königin ebenso wie sie bewegt. Einige Höhen klingen etwas angestrengt, aber das dramatische Engagement der Darstellerin hält alles wunderbar zusammen. Das Duett zwischen der Königin und Hamlet, das den dritten Akt beschließt und vielleicht der dramatische Höhepunkt der Oper ist, wird von Leidenschaft und Verzweiflung erfüllt. Julien Véronèses König zeigt das Alter der gesungenen Person. Die Rolle des Laërte ist recht kurz, aber Philippe Bou macht viel daraus (und man könnte ihn sich auch als Hamlet in der neuen Fassung vorstellen). Tomislav Lavoie und Rodolphe Briand verkörpern mit Gewinn Hamlets Freunde Horatio und Marcellus sowie die beiden Totengräber am Anfang des letzten Aktes. Dazu kamen Jérôme Varnier als gebührend dräuender Geist sowie Geoffroy Buffière als Polonius Der Chor des Théâtre national du Capitole füllte die Reihen des Chors der Opéra national Montpellier Occitanie auf. Das Konzert kommt wahrscheinlich beim Palazzetto Bru Zane in der Reihe Opéra francais heraus (27. 08. 22). Anja Hanke

PS.: Der Verlag Bärenreiter, bei dem Edition liegt, schreibt dazu: Appendix IV – The Role of Hamlet for Tenor: Soon after the first production of Hamlet, in the early 1870s, Heugel issued a vocal score of the opera with the title role arranged for tenor (355 pages, plate number H. 5185). This was presumably done with Thomas’s approval and probably arranged by the composer himself. Despite the worldwide popularity of the opera at the end of the nineteenth century, no productions or recordings are known to have cast the central role as a tenor.

The role was originally intended for a tenor voice, and Thomas’s earliest drafts show the part notated on the tenor clef. When it became known that Jean-Baptiste Faure would sing the role, the existing music was adapted for bass-baritone and the remainder written on the bass clef. In the autograph full score the original tenor version has survived in the following passages: / No. 12, bars 1-77, 101-159, 225-236 / No. 16, bars 36-71, 196-236 / No. 21, bars 91-114

The published tenor version coincides in many places with the original vocal line. Where it differs, the original version is shown above the stave as an ossia.

For certain sections of the opera Thomas decided to transpose the orchestral part as well as the vocal part in order to preserve the melodic line:

1( Nos. 9 and 10:   the music is transposed up a whole tone from bar 56 of no. 9 to the end of no. 10. Cors I-II change to C, Cors III-IV change to F, Cornets à pistons change to C.  The Chanson bachique is in C, not B flat.

2) No. 13: at the Adagio (‘Être ou ne pas être’) the tenor version is the same as the baritone version, with a few optional higher alternatives allowed. A footnote says: ‘If the monologue is too low for the tenor, the music may be transposed up a tone and a half at this point so that the Adagio is in E minor, in which case he will sing the lower notes when there are two.’ A supplement at the end of the tenor vocal score shows the complete monologue in the key of E minor.

In the event of transposition the cor anglais part will be played on the oboe, and the horns can keep horns in E, transposing up a minor third. A low tenor voice would be better not making such a transposition, the note adds.

3) No. 22:  in the tenor version the solo voice and the orchestral part are both transposed up a whole tone from bar 5 to bar 55. (Bärenreiter)

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Louise Bertin und Le loup garou an der Opera Southwest in Albuquerque: Die allgemeine Annahme, dass es kaum Komponistinnen und insbesondere keine Opernkomponistinnen gegeben habe, ist nicht richtig. Die Women’s Philharmonic Advocacy hat eine fortlaufende Liste von 847 Opern von Frauen veröffentlicht, beginnend im 17. Jahrhundert mit Francesca Caccinis La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina (1625). Viele dieser Frauen waren wohlhabende Aristokratinnen, die sich Privatunterricht leisten konnten oder durch Familie oder Heirat mit Männern verbunden waren, die selbst Komponisten waren: Caccinis Vater Giulio war ein Begründer der Oper als Kunstform; Pauline Viardot war eine berühmte Sängerin, deren Vater Lehrer, Sänger und Komponist war; Prinzessin Amalia von Sachsen (1794-1870) war eine Adlige, die mindestens 14 Opern schrieb.

Louise Bertin/ Aquarell von Victor Mottez/ Wikipedia

Louise Bertin (1805-1877 – ihre Esmeralda wurde nach Konzerten in Montpellier bei Accord herausgegeben) ist kein Name, den die meisten Opernliebhaber kennen werden, aber sie ist eine der bemerkenswertesten Frauen auf der Liste der Women’s Philharmonic Society. Sie war weder Aristokratin noch mit einem Komponisten verheiratet, aber stammte zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus einer fortschrittlichen und gut vernetzten Künstlerfamilie in Paris. Ihr Vater war Louis-François Bertin, der langjährige Herausgeber des Journal des débats, einer großen Pariser Wochenzeitung, die 1789 zur Zeit der Revolution ihren Anfang nahm. Diese hatte mehrere politische Entwicklungen durchlaufen, aber zu Louise Bertins Zeiten war es eine wichtige, wenn auch umstrittene Publikation, die bedeutende Mitwirkende aus Kunst, Politik und Kultur anzog. Hector Berlioz veröffentlichte darin Musikkritiken und Alexandre Dumas der Ältere und Victor Hugo gehörten zu seinen literarischen Mitwirkenden.

Louise Bertin selbst litt an einer Behinderung, wahrscheinlich die Folge einer Erkrankung im Kindesalter oder eines Unfalls, die es ihr erschwerte, längere Zeit zu gehen oder zu stehen; sie hat nie geheiratet. Sie zeigte ein solches Talent für Musik und Literatur, dass ihr Vater dafür sorgte, dass sie von den besten verfügbaren Lehrern, François-Joseph Fétis und Anton Reicha, musikalisch unterrichtet wurde. Fétis war Musikwissenschaftler, Kritiker und Komponist sowie Lehrer und eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Pariser Musikwelt des 19. Jahrhunderts; Reicha, Professor am Pariser Konservatorium, war ebenfalls ein Komponist und Theoretiker, der Berlioz, Liszt, Gounod und Pauline Viardot zu seinen Schülern zählte. Louise komponierte die erste ihrer vier Opern, Guy Mannering, nach einem Roman von Walter Scott, unter Anleitung von Fétis. Sie selbst schrieb das Libretto, und es wurde 1825, als Bertin erst zwanzig Jahre alt war, für die Familie privat aufgeführt – mit Rossini im Publikum. Im März 1827 gab Bertin ihr berufliches Debüt als Komponistin an der renommierten Opéra Comique mit Le Loup garou (Der Werwolf) zu einem Libretto in einem Akt von Eugène Scribe und Edouard Mazéres, die zu den bekanntesten Librettisten der damaligen Zeit gehörten. Bertin war 22.

Anthony Barrese: Dirigent, Komponist und Musikwissenschaftler/AB.

Noch bevor sie Le loup garou schrieb, hatte Bertin begonnen, an einer Oper zu arbeiten, die auf Goethes Faust basierte und zu dieser Zeit erstmals in französischer Übersetzung erschien. Dieses sah sie für das Théâtre-Italien vor, eines der drei bedeutenden Opernhäuser der französischen Hauptstadt, wo ausschließlich Werke in italienischer Sprache gezeigt wurden. Fausto, ein Melodrama semiseria, sollte der allgemeinen italienischen Tradition einer Frau folgen, die en travesti auftritt – das heißt, eine Mezzosopranistin, die die Titelrolle des Faust singt. Die geplante Sängerin war niemand Geringerer als Maria Malibran, damals die berühmteste Diva Europas. Bertin selbst hat das Libretto von Fausto in italienischer Sprache geschrieben. Aus unklaren Gründen wurde die Uraufführung um ein Jahr verschoben und Malibran war nicht mehr verfügbar, so dass Bertin die Rolle für den Star-Tenor Domenico Donzelli neu besetzte und die Uraufführung im März 1831 stattfand. Es war die erste französische Oper über Goethes Faust, fünfzehn Jahre vor Berlioz‘ La damnation de Faust und mehrere Jahrzehnte, bevor Gounod 1859 die Herausforderung mit seinem eigenen Faust annahm. Obwohl die Oper beim Publikum keinen Erfolg hatte, wurde sie von der Kritik gelobt;

Bertins letzte Oper, die 1836 an der Académie Royal de Musique (der Pariser Opéra) uraufgeführt wurde, war La Esmerelda mit einem Libretto von Victor Hugo nach seinem berühmten Roman Nôtre-Dame de Paris (Der Glöckner von Notre-Dame). Trotz Starbesetzung, spektakulärer Inszenierung und Hector Berlioz als Probenleiter scheiterte sie nach sieben Aufführungen aus Gründen, die nichts mit der Qualität der Musik zu tun haben. Bertin wurde beschuldigt, den Einfluss ihrer Familie genutzt zu haben, um die Oper zu produzieren, und viele (einschließlich Dumas der Ältere) dachten, dass die beste Musik wirklich von Berlioz sei (insbesondere die beliebteste Arie, die Aire des cloches (die Arie der Glocken). Die Produktion scheiterte an der Abneigung gegen die Politik der Familie Bertin und die politischen Tendenzen ihres Journal des débats. Bertin war erst 31 Jahre alt, und obwohl sie noch vier Jahrzehnte lebte, schrieb sie nie wieder eine Oper. Bis jetzt ist La Esmerelda die einzige von Bertins Opern, die eine moderne Aufführung erlebte – 2009 in Montpellier –, und eine CD-Aufnahme; diese ist auf YouTube verfügbar.

So wagte eine Frau – zudem eine mit einer schweren Behinderung – alle drei Arten von Opern herauszufordern, die ihr im Paris ihrer Zeit zur Verfügung standen: eine Opéra comique mit gesprochenem Dialog, eine italienische Opera semiseria für das Théâtre Italien und eine Grand opéra für die Académie Royal. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert schrieben (und inszenierten) einige andere Frauen in Paris komische Opern, aber soweit ich weiß, war Louise Bertin einzigartig darin, eine tragische große Oper für das Haupttheater von Paris und ein italienisches Melodram für die Italiener zu produzieren.

.Le loup garou hatte im September 2022 sein Debüt in moderner Zeit an der unternehmenslustigen Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico, die dritte von Maestro Anthony Barreses Ausgrabungen unbekannter Opern aus dem 19. Jahrhundert. Zunächst sollten wir anmerken, dass es in Der Werwolf keinen Werwolf gibt. Stattdessen könnte das Libretto von Eugène Scribe und Edouard Mazères als Satire auf die damals in Deutschland und Großbritannien so beliebte romantische gotische Tradition von Geistern, Vampiren und Werwölfen angesehen werden, die mit gallischer Ironie belächelt wird und auf den Aberglauben abzielt. Die Deutschen mögen „übernatürliche“ Opern wie Der Freischütz (1821) und Der Vampyr (1828) hervorgebracht haben, aber die französische Antwort auf den deutschen Spuk war so etwas wie La dame blanche (1825) oder Le loup garou (1827), wo das „Übernatürliche“ auf natürliche Weise erklärt wird.

Eugène Scribe war zur Zeit dieser Oper der renommiertesteLibrettist der Welt, und sein häufiger Mitarbeiter Edouard Mazères war ein produktiver Dramatiker. Bertin hatte Zugriff auf das Beste, aber das Libretto wurde bei der Uraufführung kritisiert. Trotzdem mochte das Publikum die Musik gut genug und die Oper erlebte 27 Aufführungen – die meisten aller neuen Werke in diesem Jahr an der Opéra Comique und eine längere Auflage als eine neue Oper von Bertins Lehrer Fétis.

Opera Southwest apprentice artists rehearse „Le Loup-garou,(The Werewolf,)“ a comic opera by Louise Bertin/ Foto Robert Browman/ abgjournal

Es gibt eine lange und schöne Ouvertüre mit Themen, die man später in der Oper wiederhört. Alice’s Romance in der zweiten Szene ist das einzige Solostück des Werkes. Die gesamte übrige Musik findet in Ensembles statt, von denen viele auf überraschende Weise gehandhabt und von zwei Sängern auf drei oder mehr erweitert werden. Die Melodien sind anmutig und nach ein paar Mal Anhören sogar einprägsam und größtenteils ziemlich einfach. Die Gesangslinien sind im Vergleich zur zeitgenössischen Musik von Rossini oder sogar Komponisten wie Hérold und Auber schmucklos. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass Bertin ihr Handwerk verstand; die Ensembles sind geschickt und gut entwickelt. Rossini kannte Bertin und sie kannte sicherlich viele seiner Opern, aber mit ein paar Ausnahmen klingt dieses Werk nicht sehr nach Rossini, obwohl die Strukturen mit seinen kurzen Einaktern verglichen werden können, die meist früh in seiner Karriere geschrieben wurden. Das konzertante Ensemble, das etwas mehr als die Hälfte des 75-minütigen Werks durchläuft, ist Rossini-ähnlich, insbesondere die Stretta und ein geschickt synkopiertes Duett zwischen dem Tenor Albéric und Alice gegen Ende könnten in einer Rossini-Komödie zu Hause sein. Bertin hat jedoch ihre eigene Stimme, ihren „Sound“, in der klagenden Romanze und anderswo. Es mag ein Klang gewesen sein, der sich 1827, als sie erst 22 Jahre alt war, in einer Entwicklungsphase befand, aber es ist ihr Klang.

Die Produktion der Opera Southwest war schlicht – keine Kulissen, wenige Requisiten und einfache Kostüme. Zum Glück wurde es unverfälscht gespielt, wie Scribe und Mazéres es beabsichtigt hatten. Der umfangreiche gesprochene Dialog schien nicht gekürzt zu sein und wurde auf Englisch mit Verstärkern für die Außenumgebung wiedergegeben, während die Musiknummern auf Französisch und ohne Mikrophon gesungen wurden. Das vollbesetzte Publikum bei den ersten beiden von drei Vorstellungen schätzte die Witze und lachte, wie es sich gehörte. Bei der ersten von zwei Aufführungen (am 10. September) sahen wir während der gesamten Aufführung einen heftigen Wind, der die Sänger und das Orchester bis zu einem gewissen Grad aus dem Gleichgewicht brachte, aber sie machten weiter. Die Aufführung am Sonntagabend (11. September 2022) – ohne Wind – war viel besser.

Louise Bertins „Loup garou“: Klavierauszug von Adolphe Nibelle/ OBA

Maestro Anthony Barrese hatte die Partitur vorbereitet und die Sänger und das Orchester  einstudiert; er dirigierte mit seiner gewohnten Wertschätzung für die lyrischen Momente. Seine Erfahrungen mit Rossini zeigten sich im Schwung der Allegros und der mit Crescendos versehenen Ensembles. Die Sänger waren alle Auszubildende. Yejin Lee (Alice) hatte sichere hohe Töne und einen angenehmen Klang, und sie war lebhaft, wenn sie es sein musste. Melanie Ashkar (Catherine) nutzte ihre tiefen Töne gut aus und Thomas Drew (Bertrand) sowie Miguel Pedroza (Rambaud) waren schlichtweg gut. Michael Rodriguez als Comte Albéric/Hubert alias le loup garou hatte eine süße, aber kraftvolle Tenorstimme und konnte manchmal einen wirklich sanften Klang erzeugen. Obwohl die jugendlichen Sängerinnen und Sänger sich nicht immer wohl darin fühlten, gesprochene Dialoge zu führen, und kaum in dem übertriebenen Sprechstil geübt waren, den das Publikum der Opéra Comique erwartet hätte, kamen die Zeilen klar rüber.

Dazu kam ein achtköpfiger Chor. Elizabeth Margolius hat die Produktion effektiv genug inszeniert, die minimale Beleuchtung kam von Patricia Goodson und Alyssa Salazar war für die einfachen Kostüme verantwortlich, obwohl ich wünschte, jemand hätte Bertrand einen Wolfskopf gegeben, wie es im Libretto gefordert wird. Ein weiterer Leckerbissen war Denise L. Boneau, die ihre Ph.D.-Dissertation über Bertin bei Phillip Gossett an der University of Chicago schrieb. Boneau war nach Albuquerque gekommen, damit sie endlich das Werk hören konnte, von dem sie seit vielen Jahren geträumt hatte, es live zu hören; sie hielt vor der Aufführung einen informativen Vortrag über Bertin.

Die Spielzeit der Opera Southwest geht weiter mit einer neuen Oper, Zorro von Héctor Armienta (die Fort Worth Opera hat die Oper letzten Januar in einer abgespeckten Version mit Klavier und Gitarre uraufgeführt, aber dies wird die erste vollständig inszenierte und orchestrierte Version sein) und Rossinis Le Comte Ory. Es ist kaum eine Standardsaison voller Bohèmes und Carmens, aber das Publikum in Albuquerque scheint das Ungewöhnliche zu genießen. Charles Jernigan/ Übersetzung Daniel Hauser

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Double-Bill im Berliner Konzerthaus: Was ist los, wenn man eines Morgens aufwacht und der Himmel scheint blauer, die Luft klarer, die Stimmung besser zu sein als am Tag zuvor? Es fällt einem blitzschnell ein: Man hat ein verstörendes Opernerlebnis überstanden und überwunden, und ein Opernerlebnis, an das man mit den schönsten Erwartungen herangehen kann, steht unmittelbar bevor. Seit nunmehr zwölf Jahren erfreut die Berliner Operngruppe das Publikum einmal im Jahr mit der halbszenischen Aufführung einer bisher in Berlin noch gar nicht oder nur selten aufgeführten italienischen Oper, beginnend 2010 im Radialsystem V am Spreeufer, seit 2013 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, und auch Corona konnte das verdienstvolle Unternehmen nicht stoppen, da wich man erfolgreich auf von der Pandemie nicht so stark betroffene Monate aus, konnte im Februar 2020 mit Mascagnis Iris, im September 2021 mit Donizettis Rita und nun bereits wieder im Juni 2022 mit zweit Einaktern, Mascagnis Zanetto und Wolf- Ferraris Il Segreto di Susanna, ein zahlreiches, treues Publikum in den Großen Saal locken. Iris ist inzwischen bei Oehms Classics erschienen, wurde für Opus Klassik und für die International Classical Music Awards  2022 nominiert und stand auf der Bestenliste der Deutschen Schallplattenkritik, der Spiritus Rector des Unternehmens und Dirigent Felix Krieger wurde für den Opus Klassik als Dirigent des Jahres 2021 nominiert.

Mascagnis „Zanetto“: Tempera-Entwurf von Giuseppe Bacci, ca 1870/ Wikipedia

Bewusst wurde für dieses Jahr die Kombination zweier Werke gewählt, die zwar beide um die Jahrhundertwende entstanden, ansonsten aber eher eine Art Kontrastprogramm zueinander darstellen: der in der Renaissance spielende, eine schwüle Atmosphäre atmende Zanetto des Nationalisten Mascagni wird gefolgt von der heiteren Oper des Weltbürgers Wolf –Ferrari, die übrigens ihre Uraufführung in deutscher Sprache in München erlebte. Vorbildlich wird  im Programmheft das Publikum an die Hand genommen und in die in Berlin noch nie oder vor langer Zeit einmal aufgeführten Werke eingeführt, nicht nur mit einer ausführlichen Inhaltsangabe, sondern auch mit einer musikalischen Analyse, einer musikhistorischen Einordnung, was sich zusätzlich als besonders nützlich erwies, da eine der beiden Sängerinnen, die für Zanetto engagiert worden waren, kurzfristig absagen musste. Die Einspringerin konnte von Regisseurin Isabel Ostermann in deren szenische Einrichtung nicht mehr eingewiesen werden, stattdessen gab es einen kurzen Vortrag vor dem Beginn der Vorstellung , bei der die einspringende Sängerin am Notenpult verharrte, während ihre Partnerin, so gut es nun noch ging, die Regieanweisungen ausführte. In Zanetto geht es um die kurze Begegnung zwischen einer florentinischen Kurtisane namens Silvia mit einem fahrenden Sänger, genannt Zanetto, der auf der Suche nach seiner großen Liebe ist, die sie ihm trotz oder gerade wegen ihrer Zuneigung zu ihm nicht sein kann. Zwei ganz hervorragende Sängerinnen waren für die beiden Partien gewonnen worden, die außer durch ihre Stimmen auch durch eine höchst attraktive optische Präsenz für sich einnehmen konnten. Die Taiwan-Chinesin Yajie Zhang verfügt über den ebenmäßigsten, wärmsten und rundesten Mezzosopran, den man sich denken kann, da gibt es keine unangenehmen brustigen Töne in der Tiefe und keinen Farbverlust in der Höhe, sondern eine Stimme wie aus einem Guss in der eine feine Melanchonie mitzuschwingen scheint, die berühmte lacrima nella voce, die zu berühren vermag. Apart timbriert ist der Sopran der Armenierin Narine Yeghiyan, eine leichte Emission der Stimme, ihr Reichtum an Farben, ihr agogikreicher Einsatz und die Bereitschaft, verismogerecht auch einmal über den reinen Schöngesang hinauszugehen, machten sie zu mehr als nur einem Ersatz für die erkrankte Kollegin. Nur in dieser Oper hatte auch der Chor einen Einsatz als textlose Einstimmung auf das Geschehen.

Nach der Pause konnte die Regie beweisen, dass man auch mit wenigen Mitteln eine Atmosphäre zaubern kann, wobei ausgerechnet eine stumme Rolle, die des eilfertigen Dieners Sante, der mit viel Deodorant und großem gestischem und mimischem Einsatz das Laster seiner Herrin, das Rauchen, zu verbergen sucht, sich aktionsreich hervortut . Guido Lamprecht  setzte dazu vielfältigste Mittel ein und stellte damit sogar den Sänger des zu Unrecht eifersüchtigen Ehemanns, gesungen vom Bariton Omar Montanari, in den Schatten. Nicht gelingen konnte ihm das mit der Sopranistin Lidia Fridman, der man nicht nur den Sieg bei Germany‘s next Topmodel zutrauen würde, sondern die auch einen hochinteressanten, weich-flirrenden Sopran, der kapriziös zu funkeln schien, ins Feld führte.

Aber was wäre der Abend ohne Felix Krieger am Dirigentenpult gewesen, der sein offensichtlich hoch motiviertes, hoch professionelles Orchester gleich sicher, inspiriert und inspirierend, durch die veristische Farbopulenz wie durch die heitere Durchsichtigkeit der Komödie zu führen wusste. Ab heute beginnt die Vorfreude auf die nächste unbekannte italienische Oper (14.6.2022).  Ingrid Wanja      

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Noch eine Ausgrabung in Hildesheim: Wieder ist es dem Generalmusikdirektor am Theater für Niedersachsen (TfN) Florian Ziemen gelungen, eine echte Rarität auszugraben, The Belle of New York, passend übersetzt mit „Die Schönste von New York“ von Gustave Adolph Kerker (1857-1923). Wer kennt schon den Komponisten dieses auch als Musical bezeichneten Werks, von dem es in Hildesheim zwei konzertante Aufführungen gab?

Der Komponist Gustav Kerker/ Wikipedia

Die Eltern des in Herford geborenen Gustav emigrierten mit ihrem hochmusikalischen Sohn 1867 in die USA nach Louisville (Kentucky). Der Junge bekam ein amerikanisierendes „e“ an seinen Vornamen gehängt und machte dort mit seinem musikalischen Talent auf sich aufmerksam. Als Cellist spielte er bald in einem Orchester und in der lokalen „Deutschen Oper“, dirigierte mit 16 Jahren Webers „Freischütz“ und begann zu komponieren. 1879 kam sein komischer Opernerstling „Cadets“ zur Aufführung, der nur mäßigen Erfolg hatte. In der Folgezeit lernte Kerker in verschiedenen Stationen als Dirigent das Repertoire kennen und landete schließlich am Broadway in New York, wo er Werke anderer Autoren adaptierte, arrangierte und darin – wie damals üblich – auch eigene Musiknummern unterbrachte. Nun begann er auch, selbstverfasste musical comedies aufzuführen. Ab 1888 war er  musikalischer Leiter des Casino Theaters, einer der wichtigen Broadwaybühnen der Zeit; bis 1912 schuf er insgesamt 29 Musicals, von denen die meisten am Broadway uraufgeführt wurden. Sein 1897 uraufgeführtes Musical „The Belle of New York“ nach dem Libretto von Hugh Morton konnte am Broadway mit 64 Aufführungen nur einen Achtungserfolg erringen, brachte es aber am Shaftesbury Theatre in London auf 697 Vorstellungen. Das war Kerkers internationaler Durchbruch; zahlreiche europäische und amerikanische Bühnen spielten das Werk in den folgenden Jahren nach. Auch für Wien schrieb Gustave Kerker Operetten (1904 Die Eisjungfrau und 1910 Schneeglöckchen); 1906 hatte er mit The Tourists noch einen nennenswerten internationalen Erfolg. In späteren Jahren litt er unter den „Machwerken der Wiener Operette“, wie er sie nannte, die in der Folge von Franz Lehárs Lustiger Witwe in den USA sein eigenes Schaffen verdrängten. 1923 verstarb er in New York an den Folgen eines Schlaganfalls. Seine Werke gerieten trotz ihrer ganz eigenen Qualität schnell in Vergessenheit, sodass die Hildesheimer Wiederentdeckung der Belle of New York mehr als nur beachtlich ist.

In seinen musical comedies bot Kerker, orientiert  an den Erfolgen Jacques Offenbachs oder des viktorianischen Autorenteams Gilbert & Sullivan, beste zeitgenössische Unterhaltungsmusik. Dabei war ihm wichtig, dass die Stücke einprägsame, nachsingbare Musiknummern enthielten, die möglichst tänzerisch-rhythmisch ausgeführt werden sollten.

Frontespiece vom Klavierauszug der „Belle of New York“ von Gustav Kerker/ Wikipedia

Kurz zum Inhalt des reichlich überdrehten Spaßes: Es geht um einen verschwenderischen Dandy namens Harry Bronson, der mit der leichtlebigen Cora Angelique verlobt ist, diese jedoch wegen anderer von ihm begehrten Frauen noch nicht heiraten will. Als sein vermögender Vater Ichabod, Anführer einer Tugendbrigade, die einen Feldzug gegen Alkohol, Nikotin und anderes führt, vom lasterhaften Leben seines Sohnes erfährt, beschließt er, diesen zu enterben. Stattdessen soll sein gesamtes Geld Violet, ein herzensgutes Mädchen der Heilsarmee und Tochter eines alten Freundes, erhalten. Violet findet das allerdings nicht gerecht – sie möchte, dass Harry das Vermögen erhält, das ihm zusteht. Nun geht Harry in sich, findet eine Arbeitsstelle und verliebt sich ernsthaft in Violet. Nach einigen Verwicklungen steht dem selbstverständlichen Happyend nichts mehr im Weg.

Erwähnenswert ist vielleicht noch, dass sich Hollywood des Stoffes angenommen hatte und 1952 mit Fred Astaire einen Musik- und Tanzfilm mit identischem Titel herausbrachte,  allerdings mit nur wenig Erfolg. Dabei fällt auf, dass der Handlungsablauf und die Namen der Akteure stark verändert wurden.  Auch der Komponist Gustave Adolph Kerker wurde – möglicherweise aus urheberrechtlichen Gründen – nicht genannt, sondern die Musik sollte von Adolph Deutsch, Conrad Salinger und Alexander Courage stammen, bekannt von anderen Hollywood-Filmen. Zu den Drehbuchautoren gibt es einen versteckten Hinweis auf den Librettisten der Operette, nämlich den Namen Charles Morton Stewart McLellan, der das Libretto der Operette unter dem Pseudonym Hugh Morton geschrieben hatte.

Nun aber zur Aufführung in Hildesheim: Die halbszenische Aufführung machte von Beginn an, von der schmissigen Ouvertüre mit schmetterndem Blech über die vielen manchmal sentimentalen, häufig walzerseligen Songs und Ensembles, viele davon gemeinsam mit dem Chor, bis zu den jeweiligen auftrumpfenden Akt-Finali durchweg großen Spaß. Das lag ganz wesentlich an dem stets vorwärtsdrängenden Dirigat von Florian Ziemen, der das kleine, aufmerksame Orchester, den klangmächtigen, gut ausgewogenen Chor (Achim Falkenhausen) und die ungemein spielfreudigen Mitglieder aus dem Opernensemble und der Musical-Company zu sängerischen und darstellerischen Bestleistungen antrieb. Wer die Akteure vor dem Orchester szenisch und auch choreografisch betreut hat, war dem Programmheft leider nicht zu entnehmen; die passenden Kostüme stammten von Marlee van Goor. Mit lebhaftem Spiel und prägnantem Tenor gab Julian Rohde den anfangs nur „Wein, Weib und Gesang“ (so der Titel eines seiner Songs) liebenden Harry Bronson. Die zunächst schüchterne Violet gab Robyn Allegra Parton mit großem, höhensicherem und mühelos die Ensembles überstrahlendem Sopran. Großartig war die Leistung von Uwe Tobias Hieronimi, der als Ichabod Bronson mit seiner enormen Bühnenpräsenz punktete. Der prächtige Mezzo von Neele Kramer passte aufs Beste zu Cora Angelique (Heiraten ist mein Hobby), deren zahlreichen Verehrer Gelegenheit zu witzigen, skurrilen Szenen gaben. Da gab es mit Count Ratsi Rattatoo (Johannes Osenberg) und Count Patsi Rattatoo (Daniel Wernecke) Zwillinge aus Portugal, deren gleichgeschaltetes Auftreten zum Brüllen komisch war. Mit angenehm timbriertem Bariton fiel Felix Mischitz auf, der als lispelnder Kenneth Mugg bei Cora keine reelle Chance hatte. Klarstimmig war Kathrin Finja Meier die Harry anhimmelnde Französin Fifi Fricot.

Hildesheims GMD und musikalischer Archäologe: Florian Ziemen/ Foto IVA KLjuce/ ORCA

Teilweise urkomisch und tänzerisch hinreißend gefiel die quirlige Lara Hofmann in einer Doppelrolle (Mamie Clancy/Kissie Fitzgarter). Selten hört man einen so schönen, mit weichem Legato geführten Bariton wie den von Eddie Mofokeng als Blinky Bill, der zuerst den Titel-Song von der Belle of New York singen durfte. Jeweils überzeugend in Darstellung und Gesang gab William Baugh den korrekten Diener Mr. Twiddles und den betrunkenen Matrose der US-Navy Billy Breeze. Schließlich funkte GMD Florian Ziemen persönlich in der Sprechrolle des Karl von Pumpernick, eines früheren deutschen Verehrers von Cora Angelique, ständig dazwischen, um einen Mr. Bronson (von dem es mit Vater und Sohn zwei gab) zu töten, was ihm trotz Sprengstoff-Einsatzes natürlich nicht gelang – diese in die irrwitzige Handlung zusätzlich eingefügte Figur war dann doch ein bisschen des Guten zuviel.

Im Ganzen bedauerte man wegen des funkensprühenden Spiels aller Beteiligten nicht, dass es „nur“ eine konzertante Aufführung war. Das Publikum war zu recht enthusiasmiert und spendete starken und lang anhaltenden Beifall (Konzertante Vorstellung am 26. Mai 2022). Gerhard Eckels

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Carl Nielsens Maskarade in Leipzig: Vom Ballsaal in die Sauna.  Die Oper Leipzig ist bekannt für ihren Mut, auch Opern abseits des gängigen Repertoires aufzuführen – man denke nur an Wagners Frühwerke Die Feen, Das Liebesverbot und Rienzi. Nun wurde am  Haus Carl Nielsens Komische Oper Maskarade inszeniert, die 1906 in Kopenhagen ihre Uraufführung erlebte und als dänische Nationaloper gilt. Das Stück fußt auf dem gleichnamigen Schauspiel von Ludvig Holberg und erzählt von den beiden Geschäftsfreunden Jeronimus und Leonard, die ihre Kinder Leander und Leonora verheiraten wollen. Diese haben sich bei einem Maskenball allerdings in andere Partner verliebt. Zu Beginn sieht man Leander und seinen Diener Henrik nach der durchzechten Nacht in einer Herrensauna – die leeren Sektflaschen in den Armen, die bunten Spitzhütchen noch auf den Köpfen. Cusch Jung hat die Geschichte mit leichter Hand inszeniert und dabei seine Erfahrungen als Chefregisseur der Musikalischen Komödie Leipzig eingebracht. Ausstatterin Karin Fritz stellte dafür sehr unterschiedliche Szenen auf die Drehbühne – die Sauna, einen Kosmetiksalon, in dem sich Jeronimus’ Gattin Magdelone pflegen lässt, das Arbeitszimmer des Gatten mit Landkarte, Tisch und Stühlen, eine nüchterne Hafenlandschaft mit zwei hohen Container-Wänden und schließlich der Ballsaal mit einem roten Samtvorhang und extravaganter futuristischer Deckenbeleuchtung aus unzähligen Glasflaschen. Opulent sind die Kostüme, vor allem beim Ball, wo es bunte Roben, Federschmuck und aufwändigen Kopfputz mit Insekten und Blüten zu bestaunen gibt. Die flotte Choreografie von Oliver Preiß hat großen Anteil an der starken Wirkung des 3. Aktes und die drei Tänzer Elisa Fuganti Pedoni, Germán Hipólito Farias und Davide De Biasi bringen sich mit viel Lust und Können in die frechen Travestie-Nummern und homoerotischen Episoden ein. Auch der Chor der Oper Leipzig (Einstudierung: Thomas Eitler-de Lint) ist mit Spaß und Temperament bei der Sache.

Carls Nielsens komische Oper „Maskarade“ feierte am 23. April 2022 in Leipzig Premiere/Foto Tom Schulze

Nicht zuletzt sichert Dirigent Stephan Zilias am Pult des Gewandhausorchesters der 3. Aufführung am 15. 5. 2022 den Erfolg, indem er Nielsens Musik mit ihrem geistreichen Witz, ihrem sprühenden Esprit, den wirbelnden Turbulenzen und lyrischen melodischen Inseln mit Schwung, Delikatesse und dabei stets großer Umsicht ausbreitet.

Nicht ganz ausgewogen ist die Besetzung, welche Patrick Vogel als Leander mit lyrischem Tenor anführt. Sein schwelgerisches Duett mit Leonora, seiner Angebeteten, markiert den musikalischen Höhepunkt, denn mit Magdalena Hinterdobler steht dem Tenor eine Sängerin von hoher Kunstfertigkeit und substanzreicher Stimme zur Seite. Das zweite Paar des Stückes erreicht dieses Niveau nicht. Das liegt vor allem an Marek Reichert, der als Henrik mit gutturalem Bariton wenig Eindruck macht. Matt klingt besonders die Mittellage und die nötigen Falsett-Töne stehen ihm nicht zu Gebote. Einzig im forte in der oberen Lage gibt es zufrieden stellende Momente. Henriks Interesse gebührt Leonoras Zofe Pernille, die Sandra Janke mit gebührenden Soubretten-Tönen ausstattet. Die Nebenrolle der Magdelone (mit wüster Frisur) füllt Barbara Kozelj mit strengem Mezzo und exaltiertem Auftritt solide aus.

In zwei Charaktertenor-Partien bewähren sich Sven Hjörleifsson als wunderlicher Leonard, der zuweilen an den Franz aus Offenbachs Hoffmann erinnert, und Dan Karlström als Arv, der neben den geforderten Buffotönen auch über lyrische Valeurs verfügt. In zwei  weiteren Partien wetteifern Bässe um die Publikumsgunst – Magnus Piontek als Jeronimus mit ausladender Stimme, aber auch schlichtem Empfinden für so eine schlichte Weise wie „Schön war es in alten Tagen“, und Sejong Chang, der den Nachtwächter mit solch profunder Stimme singt, dass man die Kürze seine Partie bedauert.  Ein flotter Kehraus in Gesang und Tanz beendet das Stück, denn Leander und Leonora sind glücklich vereint. Bernd Hoppe

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Guirauds Fredegonde in Dortmund: Anderorts wären diese Raritäten Anlass für ein Festival der französischen Oper. Zum Beispiel in Paris, wo der Palazzetto Bru Zane im Juni mit Francks Hulda und Saint-Saëns opéra comique Phryné sein neuntes Festival ausrichtet. An der Oper Dortmund ergibt es sich ganz zwanglos, dass an einem Wochenende zwei Opern mit komplizierter Werkgeschichte aufeinanderfolgen: die deutsche Erstaufführung von Ernest Guirauds fünfaktigem Drame lyrique Frédégonde und Spontinis Fernand Cortez. Zweifellos eine Großtat. Zu verdanken der Phantasie und Initiative des Dortmunder Opernintendanten Heribert Germeshausen, der den kommenden Konwitschny-Ring mit derlei Raritäten schmückt. Dazu soll bald auch La Montagne noire, das 1895 an der Pariser Opéra uraufgeführte Hauptwerk der César Franck-Schülerin Augusta Holmès gehören.

Der Komponist Ernest Guiraud/Wikipedia

Guiraud (1837-92), Schüler von Halévy und Martontel, ist bekannt durch seine Vervollständigung von Offenbachs Les contes d’ Hoffmann sowie die Rezitative, die er für die Carmen seines Freundes Bizet schuf, mit dem er sich zu Beginn der 1860er Jahre in Rom aufhielt, nachdem beide den Prix de Rome gewonnen hatten. Neben seiner Lehrtätigkeit am Conservatoire schrieb Guiraud zwei Handvoll Bühnenwerke. Als letztes die bei seinem Tod unvollendet gebliebene Frédégonde, die sein zwei Jahre älterer, ihn fast um dreißig Jahre überlebender Freund Camille Saint-Saëns fertigstellte; die Instrumentation der ersten drei Akte übernahm Guirauds Schüler Paul Dukas.

Frédégonde war ein Misserfolg, so muss man es wohl sagen, und wurde nach ihrer Uraufführung im Dezember 1895 an der Pariser Opéra nach wenigen Aufführungen abgesetzt. Vollendet hatte Saint-Saens die in ferner Merowinger Zeit, exakt 577 in Paris, spielende Oper während eines mehrmonatigen Aufenthaltes im Süden Vietnams, wo man sich 2017 im kleinen Opernhaus von Saigon an die Königin des Westreiches erinnerte. Jetzt also Dortmund, wo die Oper bereits im November des Vorjahres Premiere hatte und zwei Aufführungen erlebte.

Frédégonde ist wie ein Ableger von Reyers Sigurd (Brüssel 1885) oder Lalos Le roi d’ Ys (Paris 1888) und folgt in der Beschäftigung mit mittelalterlichen Stoffen oder alten Legenden einer gewissen französischen Mode dieser Zeit. Ausgangspunkt von Louis Gallets Libretto, das er zuerst Saint-Saens angeboten hatte, bilden der in der Tradition Scotts stehende Roman Erzählungen aus den merowingischen Zeiten des Historikers Augustin Thierry. Im Zentrum eines jahrzehntelang anhaltenden blutigen Familienstreits stehen dabei Brunhilda und Frédégonde, die Königinnen der Merowinger-Reiche von Austrasien, östliches Reich, und Neustrien, Westreich. Brunhilda will sich für den Tod ihrer Schwester rächen, die auf Betreiben des neustrischen Königs Hilpéric und seiner einstigen Mätresse und jetzigen Königin Frédégonde ermordet wurde. Brunhilda wird entmachtet und nach Rouen ins Kloster verbannt, wohin sie der Hilpéric-Sohn Mérowig bringen soll.

Ernest Guiraud/ Camille Saint-Sains: „Fredegonde“ in Dortmund/ Szene/ Foto Bjoern Hickmann

Pikanterweise handelt es sich bei Hilpéric um den Bruder von Brunhildas gefallenem Mann und früheren Gatten ihrer Schwester; Mérowig ist ihr Neffe aus einer früheren Ehe Hilpérics mit Audovera. Hilpéric und Brunhilda verlieben sich, lassen sich vom Bischof von Rouen trauen und planen, die Macht zurückzuerobern. Mérowigs und Brunhildas Truppen werden geschlagen, Mérowig auf Veranlassung seiner Stiefmutter Frédégonde zu ewiger Verbannung verurteilt, worauf er sich selbst ersticht und in Brunhildas Armen stirbt. Verständlich, dass die Oper als Brunhilda konzipiert wurde und erst später in Frédégonde geändert wurde, um eine Verwechslung mit Wagners nordischer Brünnhilde zu vermeiden.

Geblieben ist der durchaus wagnerische Zuschnitt der Partie, eine gewaltige Herausforderung für die südkoreanische Sopranistin Anna Sohn, deren leichter Stimme es für die gewichtigen Rezitative in der Mittellage an Fülle und Aussagekraft fehlt, die dabei etwas lasch und langweilig bleibt und der konventionellen Machart wenig Leben einhaucht. Überzeugender gelingen ihr die kleinen ariosen Einsprengsel oder Teile des zentralen und bemerkenswert schönen Duetts mit Mérowig, das den zweiten Akt ausfüllt. Es wirkt, obwohl man ihm gerne eine Nähe zum zweiten Akt des Tristan attestierte, in seiner delikaten, rauschhaften Sinnlichkeit wie eine Kompilation aller Liebesduette der französischen Oper. Kräftiger dagegen Hyona Kim, die der Frédégonde mit ihrem robusten Mezzosopran etwas durchaus Zupackendes gibt und im vierten Akt, als sie Hilpéric zwingt, nicht Mérowig, sondern ihre Söhne als Erben des Reiches einzusetzen, die wilde Stimme zu einer ansprechenden Gesangslinie dimmt. In Marie-Eve Signeyroles Inszenierung stehen sich die Königinnen als Gegnerinnen in einem Schachspiel gegenüber. Origineller die Grundsituation der Inszenierung, die aus der Not der pandemischen Einschränkungen einen letztlich doch überzeugenden Abend kreierte. D.h. der Chor singt verteilt im Parkett, die Zuschauer sitzen nur auf den Rängen des Dortmunder Opernhauses, das Orchester spielt auf der Bühne, die reduzierten Aktionen finden an einem langen Tisch auf der Vorderbühne statt, wo die sechs eingedeckten Plätze erst am Ende des ersten Aktes besetzt sind (Bühne: Fabien Teigné, Kostüme: Yashi). Wichtiger ist der Film, der auf der oberen Hälfte der Bühne, das Orchester nahezu verdeckend, abläuft und die überaus komplizierte Vorgeschichte der Familienfehde und die Ereignisse im aktuellen Merowinger-Zwist in den Räumen von Schloss Bodelschwingh in symbolhaft zwingenden Bildern nachstellt. Hochzeit, Ermordungen, Liebesszenen, heftige Zwiste, die das berühmte Wasserschloss, seine Räume und Parks und den See in schwelgerischen Bildern festhalten, sich in den reduzierten Aktionen am Tisch spiegeln oder völlig andere Einsichten gewähren. Die Verschmelzung von filmischer Darstellung und szenischem Spiel ist durchaus animierend, verlangt dem Zuschauer einiges ab, um die Brechungen aufzunehmen, wobei Signeyrole Handlung und historische Daten als Zwischentexte auf der Leinwand zeigt und durch zusätzliches Filmpersonal und stumme Rollen in die Tiefen der Merowinger-Geschichte dringt. Auf der rechten Vorderbühne wird das Schachspiel derweil von den Doubles der Königinnen während des gesamten Abends fortgesetzt und manchmal – inklusive des Tee servierenden Lakaien – auf der großen Leinwand dupliziert. Letztlich keine besonders originelle Idee, die Signeyrole so ähnlich als Ausgangspunkt ihres Don Giovanni an der Straßburger Rheinoper wählte, wo der Titelheld an einem Tisch sitzend seinen Opfern in die Augen blickte.

Ernest Guiraud/ Camille Saint-Sains: „Fredegonde“ in Dortmund/ Szene/ Foto Bjoern Hickmann

Die Dortmunder Frédégonde ist Signeyrole in ihrer Adaption historischer Stränge und Verbindung von Film und Live-Aktion und dem großartigen Raumkonzept überzeugender gelungen. Gleiches gilt für Motonori Kobayashi, der mit den Dortmunder Philharmonikern die stilistische Heterogenität geschmeidig aufnahm und die patriotischen Chöre, Märsche und Prozessionen, „Alerte!“-Rufe, und Bläser-Signale, also das große höfische Zeremoniell der grand opéra, im aufregenden Raumklang wirkungsvoll umsetzte. Bravourös klang der Opernchor, der an diesem Abend (7. Mai 2022) den Coronabedingten Ausfall einer Hälfte seiner Mitstreiter zu kompensieren hatte. Als Mérowig hatte Sergey Romanovsky offenbar keinen guten Abend, sein Tenor klang belegt, unausgeglichen, angestrengt in den Übergängen und in der Höhe, wobei ihm grundsätzlich die Tessitur der zwischen José und Werther pendelnden Partie zu liegen scheint. Mit den Stanzen des Fortunatus, des historisch belegten Dichters am Hofe Brunhildas, machte Sungho Kim Eindruck, ebenso wie Danis Velev als der Brunhilda und Mérowig entgegen aller politischen Vernunft trauende Bischof Prétextat mit seinem wirkungsvollen Arioso im dritten Akt. Während sich Guiraud vom Wagner-Skeptiker zum Vertreter eines französischen Wagnérisme wandelte, was sich in Frédégonde nicht nur in der orchestralen Fraktur, sondern auch in der Behandlung eines guten und bösen Paares mit den hohen und tiefen Stimmen niederschlägt, ging der frühe Wagner-Verfechter Saint-Saëns angesichts des starken Wagner-Einflusses auf die französische Musik den umgekehrten Weg. Wobei ich nicht sagen möchte, dass der vierte und fünfte Akt, die bei der Uraufführung besser wegkamen, spannender seien. Im Gegenteil, die Saint-Saëns-Akte wirken, trotz des vierten Aktes mit dem Grand duo Frédégondes mit Hilpéric (Mandla Mndebele) und dem schönen Terzett zu Beginn des fünften Aktes mit Fortunatus, Brunhilda und Mérowig etwas schematisch. Die ersten Akte mögen, trotz vieler Längen, durch instrumentale Details und das impressionistische Flair einnehmen (Fotos folgen). Rolf Fath

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Beeindruckende Musiktheater-Erlebnis in Braunschweig: Mit der 2000 in San Francisco uraufgeführten Oper Dead Man Walking von Jake Heggie wird den Zuschauern einiges zugemutet. Es geht um die Todesstrafe allgemein und um die Problematik der Vollstreckung in den Vereinigten Staaten. Die Oper beruht auf dem Buch der Ordensschwester Helen Prejean, die bis heute eine der einflussreichsten Aktivistinnen gegen die Todesstrafe ist. Ihr Buch trägt ebenso wie der entsprechende Film von 1995 mit Sean Penn und Susan Sarandon den Titel Dead Man Walking; das wird in US-amerikanischen Gefängnissen gerufen, wenn ein zum Tode Verurteilter seinen letzten Weg zur Hinrichtung gehen muss.

Zum Inhalt der Oper: Joseph de Rocher ist wegen Vergewaltigung und Mord, zum Tode verurteilt. Als besonders harter Auftakt wird das Verbrechen gezeigt: Unbemerkt von einem jungen Liebespaar schleichen sich die Brüder Joseph und Anthony De Rocher heran und vergewaltigen das Mädchen. Anthony erschießt den Jungen mit einem einzigen Kopfschuss. Als das Mädchen zu schreien anfängt, greift Joseph nach einem Messer und erdolcht sie. Im Todestrakt hatte er bisher schon brieflichen Kontakt mit Sister Helen. Als der Tag seiner Hinrichtung näher rückt, bittet er sie um ein persönliches Treffen. Diese Bitte beschäftigt sie, während sie mit Kindern aus armen Familien das Kirchenlied He will gather us around einstudiert. Gegen den Rat ihrer Mitschwester Rose und später des Gefängnis-Geistlichen Father Grenville (klarstimmig Fabian Christen) sowie des Direktors George Benton (prägnant Rainer Mesecke) sucht sie den Verurteilten auf. Im Todestrakt bittet Joseph sie um Unterstützung beim Begnadigungsausschuss, seiner letzten Chance. Als er seine Unschuld beteuert, erklärt ihm Helen, dass es nicht ihre Aufgabe sei, über seine Schuld zu urteilen. Während der Anhörung beim Begnadigungsausschuss in Gegenwart Helens sowie der Familien der Mordopfer fleht Josephs Mutter um Gnade für ihren Sohn. Im Gespräch mit Joseph über die Ablehnung seiner Gesuche beim Ausschuss und auch beim Gouverneur versucht Helen vergeblich, ihn davon zu überzeugen, seine Schuld zuzugeben, damit er Vergebung erlangen könne. Später gesteht Joseph gegenüber Helen doch seine Schuld ein. Unmittelbar vor der Hinrichtung bittet er die Eltern seiner Opfer um Vergebung; die Oper endet mit Josephs Tod und als versöhnliches Zeichen mit dem von Helen gesungenen He will gather us around, das in Braunschweig leider gestrichen ist.

„Dead man walking“ in Braunschweig/ Szene/ Foto: © Thomas M. Jauk

Dead Man Walking ist inzwischen eine der meistgespielten neueren amerikanischen Opern; international wurde sie bis heute von mehr als 70 Opernhäusern aufgeführt. In Deutschland gab es sie nach der Dresdener Erstaufführung 2006 in Hagen, Schwerin, Bielefeld, Erfurt, Oldenburg und 2022 in Koblenz und Braunschweig. Das Orchestervorspiel besteht aus einem langsamen fugierten Motiv, das stetig an Intensität gewinnt und im weiteren Verlauf der Oper mehrfach wieder auftaucht. Typisch amerikanische Stilelemente wie Blues, Rock oder Gospel kennzeichnen die Komposition ebenso wie die differenzierte Charakterisierung der verschiedenen  Personen in Ariosi und Ensembles. Auch nicht-musikalische Klänge  wie das Öffnen und Schließen der Türen oder Josephs Herzschlag während der Hinrichtung verstärken die Dramatik des Stücks. Neben den sehr komplexen, teilweise allzu massigen, vielstimmigen Teilen wie beispielsweise im 1. Akt das wie ein großes Opern-Finale wirkende Sextett mit den beiden Protagonisten, den Eltern der Opfer und Chor sprechen die leiseren Szenen unmittelbar an. So tauschen Helen und Joseph in ihrem  letzten Gespräch Erlebnisse mit Elvis Presley aus, wo dann natürlich auch entsprechende Zitate von dessen Songs erklingen.

In Braunschweig gibt es kein naturalistisches Gefängnis mit Todes-Zellen, sondern die nur äußerst sparsam möblierte Bühne wird durch hohe, eher abstrakte und durch die Drehbühne veränderbare Gitter beherrscht (Ausstattung: Adriana Westerbarkey), in denen sich die à la Guantanamo gekleideten Gefangenen bewegen. Ein besonderes Licht auf die Eintönigkeit des Gefängnisalltags wirft der im Hintergrund sich fast ständig auf einem Laufband bewegende namenlose Gefangene. In der kargen Umgebung erwies sich die Kunst der Regisseurin Florentine Klepper, alle sehr glaubwürdig und nachvollziehbar agieren zu lassen. Gerade in den schon erwähnten leiseren Abschnitten zeigte sich das herausragende Vermögen des gesamten Ensembles. So fesselten die Gespräche von Sister Helen und dem Todeskandidaten Joe über die bevorstehende Hinrichtung und das von Helen immer wieder erbetene Geständnis in besonderer Weise. Mit ihrem großvolumigen, sicher durch alle Lagen geführten Mezzosopran und einer gut nachvollziehbaren Darstellung bewältigte Isabel Stüber Malagamba die große, ungemein fordernde Partie der in ihrer hoffenden Zuversicht auf Gottes allen vergebende Güte unermüdlichen Helen. Joseph war Michael Mrosek, der einen stets durchschlagskräftigen Bariton hören ließ und die Nachdenklichkeit des Todeskandidaten differenziert gestaltete.  Milda Tubelyte, eine der Braunschweiger Publikumslieblinge, zeichnete ein anrührendes Porträt von Josephs Mutter. Wie sie unerschütterlich an ihren Sohn und dessen Unschuld glaubte und dies mit ihrem schönstimmigen, kultivierten Mezzo verdeutlichte, das hatte ganz hohes Niveau. Als Sister Rose war für Jelena Bankovic die norwegische Sopranistin aus Kassel Margrethe Fredheim eingesprungen, die mit vollem, höhensicherem Sopran gefiel. Jeweils ansprechend charakterisierend und sängerisch überzeugend waren Ekaterina Kudryavtseva und Maximilian Krummen sowie Rowan Hellier und Kwonsoo Jeon als die Eltern der Opfer. In weiteren kleineren Rollen ergänzten ohne Fehl neben einer ganzen Reihe von Chorsolisten Zachariah N. Kariithi als Polizist und 1. Gefängniswärter sowie Ross Coughanour als 2. Gefängniswärter. Mit dem in allen Gruppen ausgezeichneten Staatsorchester war Braunschweigs 1. Kapellmeister Mino Marani am Pult den Sängerinnen und Sängern eine durchgehend zuverlässige Stütze. Klangvolles leisteten der Chor (Georg Menskes, Johanna Motter) und der von Mike Garling  einstudierte Kinderchor. Das tief beeindruckende Musiktheater-Erlebnis ließ auch im Publikum offenbar niemanden unberührt, was sich in begeistertem, lang anhaltendem Beifall mit Bravo-Rufen für alle Mitwirkenden zeigte (29. April 2022). Gerhard Eckels

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Schreker an der Deutschen Oper Berlin: Triumph für das Ensemble. Seine Affinität zu Opernwerken des beginnenden 20. Jahrhunderts hat  Regisseur Christof Loy an der Deutschen Oper Berlin mit Korngolds Das Wunder der Heliane und Zandonais Francesa da Rimini schon eindrucksvoll bewiesen. Nun knüpft er mit der Inszenierung von Franz Schrekers Der Schatzgräber am selben Haus an diese Tradition an und kann damit einen weiteren großen Erfolg erzielen.

Schrekers 1920 in Frankfurt am Main uraufgeführte Oper erzählt eine märchenhafte, im Mittelalter verortete Handlung von einer Königin, die seit dem Raub ihrer Juwelen an einer seltsamen Krankheit leidet. Die Tänzerin Doke Pauweis gibt die stumme Rolle in ätherischer Zerbrechlichkeit und unnahbarer Gefühlskälte. Am Hof berichtet der Narr von einem fahrenden Sänger, der mit Hilfe seiner Laute verborgene Schätze finden kann. Der König verspricht ihm die Erfüllung eines Herzenswunsches, wenn er diesen Mann ausfindig machen kann. Vom Königshof wechselt der Schauplatz in ein Gasthaus, wo die Tochter des Wirtes Els sich von ihrem jeweiligen Bräutigam die Juwelen der Königin stehlen und die Freier dann von ihrem Knecht Albie ermorden lässt.

Franz Schrekers „Schatzgräber“ an der DOB/ Szene/ Foto Monika Rittershaus

Diese Frau, die zur skrupellosen Mörderin wird, aber auch Opfer ihrer Begierden ist, und vom Komponisten im Epilog des Werkes von ihrer Schuld freigesprochen wird, rückt der Regisseur in den Mittelpunkt des Geschehens. Und er hat mit der schwedischen Sopranistin Elisabet Strid eine Interpretin, die den Zwiespalt der Figur eindrücklich zu vermitteln vermag und mit totalem Körpereinsatz auch darstellerisch überzeugt. Kostümbildnerin Barbara Drosihn kleidet sie vom Serviermädchen mit weißer Schürze bis zur Dame im schwarzen Abendkleid. Der warme, leuchtende Sopran bewältigt die Partie, welche stratosphärische Höhenflüge fordert, in souveräner Manier. Die Stimme mit ihrem gleißenden Klang kann sich mühelos gegen die Orchesterfluten durchsetzen. Els’ wirkliche Liebe gehört dem Sänger Elis, den sie vor dem Galgen rettet, an dem er wegen des Verdachtes auf Raubmord enden sollte, und ihm eine Liebesnacht gewährt. Der Schwede Daniel Johansson ist der Sopranistin stimmlich ein ebenbürtiger Partner, meistert mit seinem Zwischenfach-Tenor die gleichfalls anspruchsvolle Partie bravourös. Sein leidenschaftliches Duett mit Els in der Liebesnacht des 3. Aktes ist in der ekstatischen Steigerung ein musikalischer Höhepunkt der Aufführung. Diese zeichnet sich durch eine ausgewogene Besetzung aus mit Tuomas Pursio als König, der einen resonanten Bassbariton hören lässt, Patrick Cook als Albie, der mit prägnantem Charaktertenor und sogar heldischen Tönen aufwartet, Thomas Johannes Mayer als Vogt, der einen robusten Bariton einsetzt, und Stephen Bronk als Wirt, der einen gebührend reifen Bass mitbringt. Dem Narren mit der Schellenkappe verleiht Michael Laurenz eine starke Aura und kann ihm mit seinem charaktervollen Tenor, der gleichermaßen über lyrisches Potential verfügt, auch vokal markantes Profil geben.

Großen Anteil an der Faszination der Aufführung hat Bühnenbildner Johannes Leiacker, der die Handlung in die Entstehungszeit des Werkes verlegt und einen schwarz/grau marmorierten Raum mit zwei hohen Türen und blindem Spiegel über dem Kamin erdacht hat. In diesem Mausoleum voller Grabeskälte und morbider Atmosphäre, aus  dem es scheinbar keinen Ausweg gibt, inszeniert Loy lebendige Gesellschaftsszenen, welche die dekadente, schwül-laszive Stimmung am Hof widerspiegeln, in ihrer aufgeheizten erotischen Atmosphäre aufregend, doch nie peinlich sind. Neben der Statisterie kann sich hier der Opernchor des Hauses (Einstudierung: Jeremy Bines) bewähren. Loy vermag auch die intimen Bilder berührend zu zeichnen – so die wehmütige  Stimmung im Epilog mit einer gebrochenen Els, die mit dem Narren ihr Glück nicht finden konnte und nun von Elis in den Todesschlaf gesungen wird.

Den schwelgerischen Rausch der Musik, ihr sphärisches Schillern, aber auch die gigantische Klangblöcke bringt Marc Albrecht mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin in ausgewogener Balance zum Klingen. Die Produktion legt ein imponierendes Zeugnis vom Leistungsvermögen des Hauses ab, was das Premierenpublikum am 1. 5. 2022 angemessen zu honorieren wusste. Bernd Hoppe

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Franz Schrekers Irrelohe an der Opéra National de Lyon: Den Grundeinfall für seine sechste Oper, Irrelohe, hat Franz Schreker auf reichlich ungewöhnliche Weise erhalten: Der Titel entspringt dem Namen eines Bahnhof auf der Strecke von Dresden nach Nürnberg (Irrenlohe). Als der Komponist diese Station ausrufen hörte, erstand vor seinem inneren Auge aus dem suggestiven Namen der Kern einer neuen Opernhandlung. Die Fabel und, falls es eine gibt, die Moral von Irrelohe sind gradliniger, weniger komplex als in seinen vorangegangenen Werken: Die Grafen von Irrelohe sind erblich mit einem feurigen Temperament geschlagen und kommen aufgrund eines Fluches alle früh um. Der gegenwärtige Graf Heinrich fürchtet dieses Erbe und lebt zurückgezogen im Schloss und beschäftigt sich mit Büchern. Lola, Wirtin im Dorf unterhalb, prophezeit, dass sich der Fluch auch an ihm vollziehen wird. Der Frage ihres Sohnes Peter, wer sein Vater sei, weicht sie hingegen aus. Vom vagabundierenden Geiger Christobald hört Peter, dass vor 30 Jahren der vorherige Graf an seinem Hochzeitstag eine Frau aus dem Dorf vergewaltigt hat – Lola. So erfährt er entsetzt, dass er Heinrichs Halbbruder ist. Damit nicht genug: Eva, mit der er seit ihrer Kindheit befreundet ist, sucht ihn auf und erzählt ihm, dass sie Heinrich kennengelernt und sich in ihn verliebt hat – Peter empfindet für sie aber weit mehr als freundschaftliche Gefühle. Christobald wiederum war Lolas Verlobter und ist nach ihrer Vergewaltigung geflohen – nun ist er zurückgekommen, um Schloss Irrelohe in Brand zu stecken, seine Rachegelüste sind nicht mehr rational. Eva belauscht ihn und seine drei Helfer Ratzekahl, Fünkchen und Strahlbusch und eilt aufs Schloss, um Heinrich zu warnen. Er macht ihr einen Heiratsantrag.

Peter findet sich in der Zwischenzeit mit großer seelischer Anstrengung damit ab, dass Eva einen andern heiraten wird, untersagt ihr aber, bei ihrer Hochzeit mit dem Grafen zu tanzen. Natürlich tut sie es dennoch; als Peter sich daraufhin auf sie stürzt, vom auch ihm vererbten Temperament überwältigt, verteidigt Heinrich Eva und tötet dabei seinen Halbbruder. Gleichzeitig geht das Schloss in Flammen auf, Christobald triumphiert. Eva vergibt Heinrich, und sie bekennen einander noch einmal ihre Liebe.

Franz Schrekers „Irrelohe“ an der Opéra National de Lyon/ Szene/ Foto © Stofleth

David Bösch erfreut wie schon vor einigen Jahren am selben Haus bei den Gezeichneten mit einer schnörkellosen, die Charaktere präzise und differenziert fassenden Inszenierung (Mitarbeit: Andreas Weirich), in der kleine Gesten (etwa wie Lola den zurückgekehrten Christobald erst einen Moment mustert, bevor sie ihn erkennt und erschrickt) ebenso sorgfältig gestaltet sind wie große, effektvolle. Den kongenialen Rahmen dafür bildet die an allen Schauplätzen düstere, atmosphärische Bühne von Falko Herold: „Lola’s Treff“, ein Kiosk mit Bierausschank (oder umgekehrt), wo es Irreloher Urpils und ein paar Plastikstühle für Gäste gibt; eine Waldgegend voller kahler (schon verbrannter?) Bäume; der Raum des Schlosses, den wir sehen, ist ein verlotterter Wintergarten voll vertrockneter Pflanzen (was hinter Heinrichs Aussage, er habe hier viele Blumen, schon leichten Wahnsinn erkennen lässt). Die passenden, teils eleganten, teils abgewetzten, teils (bei den Brandstiftern) einschüchternden Kostüme stammen von Moana Stemberger. Das Schloss selbst ist in den andern Bildern am Horizont sichtbar, leicht an Bates‘ Motel erinnernd, was wohl kaum Zufall ist. Die Inszenierung macht die Nähe des Stücks zu Schauerfilmen sicht- und fruchtbar: Zu den Orchestereinleitungen der Akte werden Stummfilmsequenzen und manchmal entsprechende Texttafeln projiziert, die teils die Vorgeschichte andeuten, teils in die Köpfe der Figuren (v.a. Peter) blicken lassen – ein gelungener Kunstgriff, in seiner Aesthetik im Einklang mit der übrigen Bühne. Zudem gibt es recht viel Nebel – oder ist es schon Rauch, ohne den es ja kein Feuer gibt? Am Ende sieht man übrigens nicht nur das Schloss, sondern den ganzen Horizont brennen – schrecklich schön!

Den von Träumen und Obsessionen verfolgten Peter gibt Julian Orlishausen mit intensivem, stets glaubwürdigem Spiel. Auch in den dramatischen Momenten behält sein Bariton Rundung und nobles Timbre; die saubere Linie wirkt musikalisch wie sprachlich immer natürlich, und die Verständlichkeit ist ausgezeichnet. Bei ihm ist sorgfältige Personenführung von Details wie dem Abwischen der beim Weineinschenken benetzten Hand bis zu den sich steigernden Seelenqualen besonders augenfällig. Ambur Braid ist eine impulsive Eva mit einer Prise Exaltierheit, die durchaus in der Figur und ihrer fixen Erlösungsidee angelegt ist. Mit aufblühendem, in der Höhe besonders große Leuchtkraft entfaltendem Sopran, den die fordernde Partie offensichtlich nicht an seine Grenzen bringt, gestaltet sie auch vokal beglückend. Die Diktion ist ordentlich, auch wenn die Konsonanten noch prägnanter sein könnten. Ihren Heinrich stattet Tobias Hächler mit einem ähnlichen Pathos aus, aber auch mit einer gewissen Steifheit des sich vor dem Familienfluch geradezu pathologisch verkriechenden Grafen, der lange vor jeder Berührung mit Eva zurückschreckt. Vokal kann er mit schöner Mittellage und ebenfalls guter Diktion punkten; in der hohen Lage verliert die Stimme leider oft an Schmelz und Rundung und wird kehliger. Eva wie Heinrich sind spätestens am Ende traumatisierte Menschen; dass Bösch so dem (in Schrekers Opernschaffen ohnehin sehr seltenen) Happyend nicht traut und es nur als Wahnvorstellung geschehen lässt, während Eva sich die Pulsadern aufschneidet und Heinrich paralysiert am Boden bleibt, leuchtet daher unmittelbar ein. Peter ist tot, der vollends wahnsinnige Christobald zieht Lola mit sich weg, und zu den letzten Takten wird noch ein Video des Lyoner Opernhauses eingeblendet. Ein bildkräftiges Ende für die Schauermär – Brandstifter gibt es überall…

Franz Schrekers „Irrelohe“ an der Opéra National de Lyon/ Szene/ Foto © Stofleth

Als rachezerfressener Christobald ist Michael Gniffke mit tiefliegenden Augen und vermeintlich harmloser Exzentrik goldrichtig. Die feinen Passagen seiner Partie singt er mühelos leise und legato, in den Ausbrüchen hört man einen gesunden und klangvollen Charaktertenor. Seine Hilfspyromanen Peter Kirk (Fünkchen), Romanas Kudriašovas (Strahlbusch) und Barnaby Rea (Ratzekahl) sind als unflätige Rockband „Burn“ so trefflich besetzt, dass man sich dabei ertappt, wie einem die üblen Gesellen Spaß machen. Lioba Braun ist eine eindrückliche Lola, patente Wirtin und besorgte Mutter, von der ich lange dachte, dass sie von allen am ehesten mit ihren Nöten umzugehen gelernt habe. Braun legt den Wahnsinn schleichend and, der sich am Ende darin äußert, dass Lola im eigenen blutigen Brautkleid zum Showdown erscheint – das wirkt umso mehr. Und in ihrem Lied „Einst war ich jung, einst war ich schön“ ist die Vergewaltigung ja verklausuliert enthalten. Das singt sie mit durchschlagskräftiger, ebenmäßiger Stimme, deren leichte Schärfe zur Figur gut passt. Auch bei ihr ist die Verständlichkeit zu loben. In kleineren Partien ergänzen kompetent Kwang Soun Kim mit feinem Humor als Priester, Piotr Micinski als Evas Vater, der Förster, Paul-Henry Vila als Müller, Antoine Saint-Espes als Heinrichs Faktotum Anselmus und Didier Roussel als Lakai. Der Chor (Leitung: Benedict Kearns) absolviert seine nicht allzu umfangreiche Aufgabe tadellos – oft aus dem Off, aber auch als Geister des Schlosses mit glühenden Augen und Maske.

Das Orchester ist bei Schreker immer ein Protagonist – Irrelohe hat darin eine Art Zwischenstellung zwischen den permantenten Klangwogen im Fernen Klang und den Gezeichneten und der kantigeren, rezitativartigeren und kontrapunktfreudigeren Klangwelt der späteren Werke bis hin zum Schmied von Gent. Das Fugato zu Beginn des 3. Aktes klingt zu Beginn geradezu nach Schostakowitsch. Bernhard Kontarsky am Pult breitet diese zwei Aspekte ganz wunderbar aus, auch in den ekstatischen Aufschwüngen z.B. der Liebesduette bleiben im opulenten Klang verschiedene Schichten plastisch. Die Feuermusik, unüberhörbar von Wagners Ring herstammend, aber raffiniert weiterentwickelt, funkelt schauerlich; an manchen Stellen ist es wohl unmöglich, die Singstimmen mit Schrekers Orchester nicht zuzudecken oder schlecht verständlich zu machen – sie sind in Kontarskys Dirigat aber selten, obgleich er Spannungsbögen über ganze Szenen legt, dass man gebannt im Sessel klebt. Alles in allem: Ein Meilenstein auf dem Weg zurück ins Repertoire für Schrekers Gesamtwerk ( 25.03.22). Samuel Zinsli

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Oper Frankfurt – Christof Loys Fedora als großes Kino: Die Stücke Victorien Sardous, mit denen er dem Erfinder der Pièce bien faite Scribe nacheiferte, sind so gut gemacht, dass ihr ausgeklügeltes Räderwerk schon wieder verdächtig erscheinen muss. Mit seiner 1882 uraufgeführten Fedora trieb er seine akribische Recherchearbeit auf die Spitze. Kein Wunder, dass George Bernard Shaw nach einem Besuch des Stücks recht griesgrämig war, „Die Verabredungen per Post und Telegramm, die Machenschaften der Polizei, die Namen und Adressen, die Stunden und Jahreszeiten, die Stammbäume, die Eisenbahn- und Schiffsfahrpläne, die Ankünfte und Abfahrten, dieses ganze Durcheinander von Bradshaw (gemeint sind die nach George Bradshaw benannten Eisenbahnfahrpläne und Reiseführer) und Baedeker, Adelsführer und Adressbuch, das um einen unglaubwürdigen kleinen Bühnenmord wirbelt und schließlich in einem Schluck unmöglichen Bühnengifts untergeht – das alles ist eine Art Unterhaltung, die zu chaotisch ist für einen Menschen, der seinen Verstand noch nicht ganz verloren hat“. Und dabei hat Shaw noch nicht das ganze Personal aus Nihilisten und Attentätern, Spitzeln, Agenten, Detektiven und Spionen genannt, das Fürstin Fedora Romazow einspannt, um den Tod ihres Geliebten Wladimiro zu rächen. Da ahnt sie freilich noch nicht, dass er sie nur ihres Geldes wegen heiraten wollte. Sarah Bernhardt hat die Figur überall gespielt. Auch der junge Umberto Giordano hat sie erlebt und sich unsterblich in das Stück verliebt, das er auf der Stelle vertonen wollte. Erst im dritten Anlauf, nachdem er durch Andrea Chenier und eine gute Heirat an Geld und Reputation zugelegt hatte, erteilte Sardou seine Zustimmung.

Giordanos „Fedora“ in Frankfurt/ Szene/ Foto Barbara Aumüller

Es ist ein Wunder, wie Giordano den vielen Text und die komplizierten Zusammenhänge, in die Arturo Colautti das Schauspiel gebracht hatte, in einer schier atemlos parlierenden Hektik unterbringt und es dem Zuschauer, der für das Lesen einer detaillierten Inhaltsangabe fast so lange wie für das Hören der Oper benötigt, unmöglich macht, Fedoras Rachefeldzug zu folgen, der sie von St. Petersburg über Paris bis in Berner Oberland führt. Geschweige denn, das Spinnennetz aus Intrigen und Briefen zu durchschauen, in dem sie zugrunde geht. Doch da hat sie sich längst in den Mörder verliebt, der ihren Wladimiro umgebracht hat, weil ihn dieser mit seiner Frau betrog. Der edle Mörder ist Graf Loris Ipanow, der sich seinerseits heftig in die Fürstin verliebt und zu spät erkennt, dass Fedoras Machenschaften zum Tod seiner Mutter und seines Bruders beitrugen. Diplomaten und Kommissare sind darin verwickelt, eine große Dienerschaft, ein echter Pianist, der sich als Spion herausstellt, und als perlender Gegensatz dazu Fedoras sich kopflos in Abenteuer stürzende Gräfinnen-Cousine Olga. Mit großer Geste setzt Giordano alles in Musik um. Oscar Bie bringt es so auf den Punkt: „André Chenier und Fedora haben eine resolute Musik, die vor keiner Komponierbarkeit scheut. Kühle, geistreiche Stimmungen und dann wieder dankbare Gesangsausbrüche, interessante Kombinationen von Klavierkonzerten und Liebesduetten und wieder pikante Details im Orchester“. Das scheint mir mehr auf Fedora als auf Andrea Chenier zuzutreffen, wobei die komponierende Allzuständigkeit bei nachlassender Motorik auch rasch langweilig wird.

Zeit zum Nachdenken lassen dem Zuschauer weder Giordano noch Christof Loys in pausenloser Spielfilmlänge gegebene Inszenierung, die den Vorwurf, der Verismo und das Werk bediene eine Geschmacksrichtung, die von Film und Krimi befriedigt werde, umkehrt. Fedora als großes Kino. Wie Roger Michell seinen Star Julia Roberts in Notting Hill in Szene setzte, lässt Loy seine Fedora das Set betreten und über die Hinter- und Seitenbühne eilen, bevor sie dann tatsächlich im breiten Saal ankommt, den Herbert Murauer für alle drei Orte vorgesehen hat. In Stockholm stand Loy Asmik Grigoriam zu Verfügung, in Frankfurt tritt Nadia Stefanoff an ihre Stelle (Grigorian wird nur die letzten beiden Aufführungen singen). Stefanoff ist eine außerordentlich vielseitige, elegant wandlungsfähige und stilsichere Sängerin, die ich gerne als Martinus Juliette, Smareglias La falena oder Hubays Anna Karenina gehört habe. Für die Fedora, die im ersten Akt eigentlich nur herein- und vorüberrauscht, fehlt es ihrem biegsamen Sopran erkennbar an Italianità, an Volumen und Rundung in der Tiefe und Mittellage, um das strapaziöse Dauerparlando effektvoll zu platzieren. Das ist oftmals apart, oftmals auch unerheblich. Fedora ist auch keine wirklich sympathische Figur. Wenngleich ihr Selbstmord – mittels eines Gifts, das sie im byzantinischen Kreuz ständig um den Hals trägt – tragisch ist, umso mehr als es durch das melancholische Sennerlied des kleinen Savoyarden einen Trauerrand erhält. Stefanoff hat die Partie genau austariert, steigert sich im intensiven Liebesduett am Ende des zweiten Aktes und hat für den dritten hinreichend moribunde Zwischentöne zu Verfügung. Für den Zweiminüter Amor ti vieta fehlt es Jonathan Tetelman offenbar an Anlaufzeit, wodurch die sanft pianoumnebelte Liebeserklärung uninteressant bleibt. Erst im folgenden Dauerespressivo und -Forte scheint er sich wohl zu fühlen. Großartig ist der energische Nicholas Brownlee, der dem Diplomaten De Sirex mit farbigem Bassbariton und ausgefeilter Spielfreude fast übergroße Präsenz verlieht. Bianca Tognocchis sauber gesungene Olga bleibt als Figur wuschig.

Giordanos „Fedora“ in Frankfurt/ Szene/ Foto Barbara Aumüller

Der Newcomer Lorenzo Prasserin dirigierte die Partitur wie aus einem Guss und so spannend, dass die Leute selbst in der ganz kurzen Pause zwischen zweitem und drittem Akt vergaßen aufs Handy zu schauen. Da klingt Fedora eleganter als man sie in Erinnerung hatte – man denke an Bies „geistreiche Stimmungen“ – wie gekonnt und faszinierend ist doch der Empfang im zweiten Akt mit den Walzer-Konversationen, der Canzonetta russa und der Canzonetta francese, dem Verhör, dem Fedora ihren Neu-Geliebten Loris unterzieht, derweil Starpianist Lazinski ein Klavierkonzert spielt usw. bis zur Alpen- und Abschiedsstimmung des dritten Akts. Und alles ganz knapp. Eleganz zeichnet auch Loys Inszenierung aus, die Sinn für kleine Gesten im Durcheinander hat und ein Faible für pathetische Close-Ups, die Fedoras Mimik und den Wechsel ihrer Kostüme und Haarfarben einfängt und ihr in die Nebenräume folgt. Großes Kino in erschöpfenden 105 Minuten.  Rolf Fath

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Wiedereröffnung der Budapest Staatsoper mit Erkel Hunyadi László: Es riecht auch zehn Tage nach der fünfjährigen Schließung und Jahr um Jahr verschobene Wiedereröffnung nach Farbe. Tatsächlich geben zwei Handwerker den Türrahmen den letzten Feinanstrich. Wurden ausgerechnet die Eingangstüren vergessen? Dabei sieht alles schönstens aus, das Gold ist goldner, die Statuen der Komponisten auf der oberen Brüstung sind fast marmorweiß, die Malereien in der Loggia, in den äußeren kleinen Wölbungen und Kuppeln von zarter Kraft, auch in den Foyers und im Zuschauerraum ist alles dezent aufgefrischt und restauriert. Dabei war es hier nicht von Nöten. Miklós Ybls 1884 eröffneter Prachtbau war und ist eines der schönsten Opernhäuser Europas. Das Wesentliche sieht man nicht. Das spielte sich hinter der Bühne ab, wo vermutlich auch das meiste Geld aufgewendet wurde, um die aus den Jahren der letzten Sanierung vor vierzig Jahren stammende  DDR-Maschinerie zu ersetzten, die zum Verdruss von Regisseuren und Zuschauern altersschwach stöhnte und röchelte. Ebenfalls entfernt wurde der im Orchestergraben verbaute Beton. Beides kann man hören. Die Maschinerie ist lautlos, der Orchesterklang ungemein füllig und präsent. Ohnehin ist das Haus, das angeblich auf Befehl Kaiser Franz Josephs auf keinen Fall größer als die Wiener Oper sein durfte, mit seinen 1000 Plätzen für eine Hauptstadtoper geradezu intim; allerdings wurden auch zweihundert Plätze geopfert und die breiten Reihen im Parkett – also ohne die Zwischengänge, wie man es aus italienschen Theatern kennt – sind zwar mit ausgesprochen bequemen Sesselstühlen ausgestattet, aber auch ein bisschen unpraktisch. Allein bis die Zuschauer alle an ihren Plätzen sind! Aber das sind Nebensächlichkeiten.

HSO: Erkels „Hunyadi Laszlo“ in Budapest/ Szene/ Photo Attila Nagy

Eröffnet wurde mit einem bunten Programm, bei dem sich auch Placido Domingo bei drei Nummern als Dirigent die Ehre gab. Doch das Hauptaugenmerk galt am Abend darauf Ferenc Erkels Hunyadi Laszlo von 1844, der mehr noch als der 17 Jahre später uraufgeführte Bank Ban als die ungarische Nationaloper gilt; vermutlich einfach deshalb, weil er die erste von Erkels beiden großen und in Ungarn regelmäßig gespielten Opern ist. In der in Jahren 1456/57 spielenden Handlung geht es um die Konflikte zwischen den ungarischen Adelsgeschlechtern und den Gefolgsleuten des habsburgischen Königs Ladislaus Postumus, der als Ladislaus bzw. László V. König von Ungarn war, wo die Regierung in den Händen der ungarischen Stände und des von ihnen gewählten Verwesers Hunyadi János bzw. János Hunyadi lag. Die in Belgrad, Temesvár und Buda angesiedelte Handlung setzt nach dem Tod des Hunyadi János – In Ungarn wird der Nachname immer vorangestellt – und dem Sieg über die Türken ein. Die Parteien der Hunyadis wollen Hunyadis Sohn László an die Macht bringen, die Habsburger verfolgen ebenso wie Ulrik Cillei, der ungarische Statthalter und Berater des Ladislaus V., eigene Ziele. Ein politisches Ränkespiel, das mit dem Tod des Hunyadi László endet, da sich der Habsburger König täuschen ließ. Darin eingebettet ist die Liebesgeschichte zwischen László und seiner Verlobten Maria Gara, deren Vater, der Palatin Miklós Gara, seinen Schwiegersohn ohne mit der Wimper zu zucken opfert und seine Tochter an den Habsburger König verschachern würde, um selbst Macht zu erringen. Die packendste Figur ist zweifellos János Hunyadis Witwe Erzsébet Szilágyi, die das Unheil kommen sieht, das ihren ältesten Sohn verschlingen wird. Diese Partie für einen dramatischen Koloratursopran hatte Erkel zu Ehren der 1850 in Budapest gastierenden französischen Sopranistin Anne de la Grange im zweiten Akt um die bravouröse sog. La Grange-Arie (Nagy ég! Remegek!) erweitert; ebenfalls zu diesem Zeitpunkt fügte Erkel im dritten Akt den adeligen Palotás-Tanz bei Laszlós und Marias Hochzeit ein.

Hunyadi László ist ein gewaltiges und mit zwei Pausen langes Werk. Vier Stunden. Eine veritable grande-opéra. Das Vorbild von Meyerbeers Les Huguenots scheint ständig durch: rivalisierende und sich bekämpfende politische Gruppierungen vor einem fest umrissenen historischen Hintergrund, zwei virtuose Sopranpartien, dazu die Hosenrolle von Hunyadi Lászlós jüngerem Bruder Mátyás, viel Chor, Schwur-, Kerker- und Hochzeitsszene, Ballett und Prozession und ein düsteres Finale. Das sind Äußerlichkeiten, doch Erkel macht bereits im breiten Panorama der viertelstündigen Ouvertüre klar, dass er Ungarn einen festen Platz im europäischen Opernleben sichern wollte. Was ihm nicht gelang. Der Klaviervirtuose und Kapellmeister Erkel kennt sich aus. Die Mischung aus französischer grand-opéra und dem Elan des frühen Verdi, vermischt mit dem magyarischen Verbunkos-Grundton, wirkt in Hunyadi László allerdings, so finde ich, noch sehr gewollt, ein bisschen staksig und elaboriert, nicht so schwungvoll und einheitlich wie im Bank Ban.

HSO: Erkels „Hunyadi Laszlo“ in Budapest/ Szene/ Photo Attila Nagy

Balázs Kocsár und das Orchester der Staatsoper spielen das wie eine Herzensangelegenheit, vollmundig, mit Gefühl und Leidenschaft. Gewählt wurde die kantigere, vielleicht auch sprachlich holprigere Urfassung, die auch der CD von 2012 zu Grunde liegt, auf der Domonkos Héja das Budapest Philharmonic Orchestra und Sänger der Staatsoper dirigierte. Einige von ihnen sind auch bei dieser Aufführung dabei. So Dániel Pataky, der den hier sehr verweichlicht gezeichneten König Ladislaus mit elegantem, lyrisch schmachtenden Tenor singt. Ebenfalls bereits auf der CD dabei die immer noch mit blitzsauberen Koloraturen und Höhen aufwartende Erika Miklósa als Mária und der formidable Gábor Bretz mit seinem edel lasierten, schlank beweglichen Bass als ihr zwielichtig Vater Miklós Gara, dessen Arie im vierten Akt ein bisschen an den effektvollen Huguenots-Marcel erinnert. Als Mátyás begegnen wir auch wieder Gabriella Balga, die dem späteren ungarischen König Matthias Corvinus ihre Stimme lieh bzw. in wechselnden Kostümen verwirrenderweise zur Seite stand, während ein Schauspieler den 13jährigen Renaissance-Jüngling darstellte. Dazu Szabolcs Brickner als sympathischer, etwas gesichtsloser Titelheld, András Palerdi als Opernbösewicht Ulrik Cillei, aber vor allem Klára Kolonits als Erzsebét, deren feurig und dramatisch gezündeten Koloraturen immer von lyrisch noblem Edelmaß bestimmt sind.

Meine Begleitung meinte, die Aufführung sehe vermutlich genauso aus wie vor vierzig Jahren, als ich das Werk hier erstmals gesehen hatte. Das könnte sein. Dem erstmals Regie führenden Intendant Szilveszter Ókovács war offenbar vor allem daran gelegen, die sinnvolle Verwendung der rund 150 Millionen Euro Sanierungskosten offenzulegen und die technischen Errungenschaften voruführen. Wenn die Ungarn die Habsburger verhöhnen, kommt die Hebebühne zum Einsatz und die gegnerischen Gruppen stehen sich auf zwei Ebenen unversöhnlich gegenüber – bei so viel Habsburger-Dissens stellt das ein finsteres Kapitel der Wiener Hofburg thematisierende Mayerling-Ballett am nächsten Tag eine Art Wiedergutmachung dar. Die Hebebühne wird auch im Finale bei der Köpfung des László effektvoll vorgeführt, zwischendurch wird für den auf einem Pferd – Applaus! – hereinreitenden König die gesamte Tiefe der Bühne offengelegt, dazu die Drehbühne, die in einem Rahmen flugs eine komplette Hochzeitsgesellschaft herbeizaubert. Bei so viel Pomp und technischen Spielereien wird es oft reichlich eng auf der vollgepackten Bühne. Feinstriche sind beim dem ungarischen Geschichts-Fresko nicht möglich, dazu sind die Figuren auch nicht hinreichend individualisiert, doch Ókovács liefert ordentliche Routine. Unter den bedrohlich über die Szene gekippten Burgsegmenten von Kristina Listopád sind vor allem die prachtvollen Kostüme der schwer behängten Ungarn, der feschen Husaren und habsburgischen Höflinge zu bestaunen. Wie sehr man noch mit den Tücken der neuen Technik zu kämpfen hat, zeigte zwei Tage darauf Die Frau ohne Schatten, für deren halbstündige Verspätung sich der Intendant aus seiner Loge heraus entschuldigte. Um sein Publikum muss er indes nicht buhlen. Kein Hinweis vor oder in dem Haus, was aktuell gespielt wird, kein Tages-, Wochen- oder Monatsprogramm. Rolf Fath

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Im Original, aber … Es ist der Deutschen Oper Berlin zweifelsohne als großes Verdienst anzurechnen, für ihre Neuinszenierung von Verdis 1855 in Paris uraufgeführter Grand Opéra Les Vêpres Siciliennes die französische Originalversion gewählt zu haben. Denn fast immer wird das Werk in der italienischen Übersetzung aufgeführt, wo die berühmte Ballettmusik Les quatre saisons gestrichen ist. Im 19. Jahrhundert war eine ausgedehnte Balletteinlage in einer Pariser Opernaufführung unverzichtbar und auch heute erwartet man diese, wenn die französische Urfassung zu sehen ist. Umso größer war die Enttäuschung, dass Dirigent Enrique Mazzola die viersätzige Komposition drastisch gekürzt hatte und nur einen Teil, L’hiver, erklingen ließ. Und es machte auch misstrauisch, dass der Besetzungszettel keinen Choreografen auswies. Sollte kein Tanz zu sehen sein? Die Ouverture aber ließ noch hoffen, denn ein Schar von Ballerinen in langen Tutus (vom Opernballett der Deutschen Oper Berlin unter Leitung von Silke Sense) ergeht sich in klassischen Posen, zeigt später sogar den Tanz der Kleinen Schwäne und Fragmente aus Giselle, bis es zur Vergewaltigung der Tänzerinnen durch die französischen Besatzer kommt. Beim Fest in Montforts Palast agiert eine Ballgesellschaft in prachtvollen schwarzen Krinolinen; an der Rampe verblüffen Tänzer in Soldatenuniformen mit gewagten Überschlägen. Im kurzen Ausschnitt aus der Ballettmusik im 3. Akt aber ist kein Tanz zu sehen – da wird der Boden von einer Putzfrau gewischt, was kürzlich erst in der neuen Götterdämmerung zu sehen war, werden französische Fahnen geschwenkt und haben Soldaten ihren Spaß, wenn sie mit einem abgetrennten Kopf Fußball spielen. Das gehört zu den absurden und peinlichen Momenten der Inszenierung, für die man sich als Zuschauer fremd schämt. Dabei hätte die Drehbühne des Ausstatters Pierre-André Weitz mit einer verrußten Straßenschlucht, einem Reiterstandbild, einer Palme und einer Stacheldrahtbarrikade durchaus einen idealen Aufführungsort für das Ballett geboten, denn sie zeigt auch ein historisches Theater mit Bühne und Logen in blattgoldener Patina.

Den Schauplatz der Oper, welche ein historisches Ereignis von 1282 beschreibt, den blutigen Aufstand der Sizilianer gegen die Fremdherrschaft der Franzosen, wollte Regisseur Olivier Py in die Zeit des Algerienkriegs Mitte des vorigen Jahrhunderts verlegen. Das bleibt bloße Behauptung, denn die szenischen Verweise auf diese Idee beschränken sich auf ein buntes Bild in naiv gemalter Manier auf dem Vorhang (Épisode de la conquête de l’Algérie), das Schwarz/Weiß-Foto einer Straßenschlucht in Algier und Khaki-Uniformen der Soldaten. Mehrfach werden Episoden gezeigt, welche die Vergangenheit heraufbeschwören, so in der Ouverture die Exekution von Hélènes Bruder, Friedrich von Österreich. Dessen Tod zu rächen ist das Trachten der Herzogin. Mit einem patriotischen Freiheitsgesang, „Du couràge“, versucht sie, ihre Landsleute gegen die verhassten Franzosen aufzuwiegeln. Ihren Auftritt begleitet ein Tänzer mit nacktem, weiß geschminktem Oberkörper mit pantomimischen Kampfesgesten. Es ist der Geist des verstorbenen Bruders, der durch das gesamte Stück geführt wird, wie auch die Mutter des jungen, in Hélène verliebten Sizilianers Henri, die mit einem schwarzen Kinderwagen durch die Szenen geistert und zudem  noch bizarre Verrenkungen auf einem Tisch absolvieren muss. Sogar die Figur des Todes ist omnipräsent. Das blutige Finale inszeniert Py auf einem Podest mit der französischen Trikolore, welche durchsichtig wird und als Schattenriss kämpfende Soldaten mit Bajonetten sehen lässt. Procida, Anführer des Widerstandes gegen die Franzosen, reißt den Vorhang herunter und Hélène, Henri und Montfort werden blutig  niedergemetzelt.

Enrique Mazzola, der auf das Repertoire der französischen Grand Opéra spezialisiert ist und an der Deutschen Oper Berlin bereits Meyerbeers Le Prophète dirigiert hat, bringt schon die Potpourri-Ouverture mit ihren vielen Motiven, die später in den Arien und Duetten wieder erklingen, zu effektvoller Wirkung, ob in den munteren Allegro-Themen, den martialischen Attacken oder den ätherischen Streicherpassagen. Die großen Ensembles, in denen auch der Opernchor und der Extra-Chor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Jeremy Bines) mit machtvollem Gesang überzeugen, szenisch allerdings kaum gefordert sind, hält er souverän zusammen und führt die Solisten sicher und engagiert.

„Les vêpres siciliennes“ an der DOB/ Szene/ Foto Barbara Braun

Hulkar Sabirovas Koloratursopran mangelt es in ihrem ersten Solo  an dramatischer Substanz und interessanter Farbe. Auch die zweite Arie, ihr Liebesgeständnis für Henri, klingt eher larmoyant denn passioniert. Die durchschlagende Höhe und Flexibilität ihrer Stimme kommen jedoch in der berühmten Sicilienne im letzten Akt, deren Rhythmus dem spanischen Bolero folgt, zu starkem Effekt. Piero Pretti leiht ihrem Geliebten Henri seinen lyrischen spinto-Tenor, dem im Vortrag zuweilen die Noblesse fehlt und der in der exponierten Höhe grell tönt. Thomas Lehman als sein Vater Guy de Montfort lässt einen virilen Bariton hören, der über dramatischen Aplomb und differenzierte Schattierungen verfügt, seine große Arie, bei der drei Lüster pausenlos auf und ab schweben, leider in Unterwäsche absolvieren muss, bevor er die prächtige Uniform anlegen darf. Auch dies zählt zu den beschämenden Szenen der Aufführung. Vokal ähnlich imposant ist der Procida von Roberto Tagliavini, der mit einem Koffer auftritt und sein großes Solo „Et toi Palerme“ mit gewaltigem Bass am Reiterstandbild singt, das die Putzfrau vom Staub befreit. Die Cabaletta ertönt mit Verve und lässt ihn endgültig den Spitzenplatz in der Besetzung einnehmen. Die Premiere am 20. 3. 2022 wird vom Publikum begeistert aufgenommen. Nur beim Auftritt des Regieteams kommt es zu ablehnenden Reaktionen, weil es diesem nicht gelungen ist, einen großen Spannungsbogen aufzubauen und durchzuhalten, weil es der Konzeption an einer überzeugenden Lesart fehlt und weil mehrere Einfälle die Grenze der Peinlichkeit überschreiten. Bernd Hoppe

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An der Komischen Oper Berlin – Hitler und Stalin in der Hölle: Unvergessen ist Axel Köhlers phantasievoll-lebhafte Inszenierung von Weinbergers Volksoper Schwanda, der Dudelsackpfeifer an der Semperoper Dresden. Jetzt bringt die Komische Oper das Werk in der Regie von Andreas Homoki heraus. Der ehemalige Intendant des Hauses setzt nicht auf märchenhafte Poesie, wie sie in Dresden zu sehen war, sondern nutzt Metaphern, um Bezüge zur Entstehungszeit des Werkes (Uraufführung 1927 in Prag) herzustellen. Dazu gehören die sattsam bekannten Fluchtkoffer, mit denen im 2. Bild Exilanten an einer Reling zu sehen sind, offenbar auf der Reise ins Gelobte Land.  Das Schiff hat die Form einer Schraube, den Windungen des New Yorker Guggenheim Museums ähnelnd (Bühne: Paul Zoller). Im Inneren des Oberseedampfers sieht man eine Treppe, die Homoki und Choreograf Otto Pichler für eine Revue-Einlage nutzen, welche die Nähe zum Broadway herstellt. Klaus Bruns’ raffinierte Kostüme mit viel Federputz und Glitzereffekten im Stil der 1930er Jahre bedienen diesen Aspekt. Auch ein dekorativer blau-goldener Vorhang im Art-Déco-Design, der mehrfach zu Einsatz kommt, hat diese Anmutung. Arg überzeichnet ist das Höllen-Bild, wo aus mehreren, rot glühenden Bodenluken spukhafte Gestalten herausschauen, darunter Hitler und Stalin, die vom Teufel (stimmlich markant Philipp Meierhöfer in ordensgeschmückter Generalsjacke über schäbiger Unterwäsche) mehrfach erschossen werden und sich auch selbst ein Pistolenduell an der Rampe liefern. Wenn Schwanda auf seinem Dudelsack noch einen Abschiedstanz spielt, tanzen und stampfen die Insassen der Hölle in einer wilden Orgie, die der sich schließende Vorhang gnädig beendet. Neben den Tänzerinnen und Tänzern sind auch die Chorsolisten des Hauses daran beteiligt und daher in dieser Produktion darstellerisch besonders gefordert. In der Einstudierung von David Cavelius singen sie lebhaft und mit großem Engagement, wobei die Soprane in der oberen Lage recht grell tönen.

Weinbergers „Schwanda“ an der Komischen Oper Berlin/Szene/ Foto Jaro Suffner/KOB

Schwanda ist der Sympathieträger des Stückes. Daniel Schmutzhard gibt ihm sympathische Kontur mit agiler Darstellung und seinem jungmännlichem Bariton. Man glaubt ihm seine Liebe zu Dorotka (Kiandra Howarth im geblümten Kleid mit einem Sopran von strengem Vibrato und schriller Höhe), aber auch seine Abenteuerlust, hinaus in die Welt zu ziehen. Wenn er am Ende schwärmerisch von seiner Geliebten singt und die Musik einen hymnischen Anflug nimmt, entfaltet sich seine Stimme auf das Schönste. Zu seiner Reise verführt hat ihn der Räuber Babinsky, den Tilmann Unger im abgetragenen roten Anzug glaubhaft spielt, doch mit seinem Tenor in der oberen Lage an Grenzen stößt. Einzig in der Szene, wo er seine Liebe zu Dorotka gesteht, fließt die Stimme in strömender Kantilene. Babinsky hat Schwanda mehrfach aus prekären Situationen gerettet, so vor einer Hinrichtung im benachbarten Königsreich. Dessen Königin (Ursula Hesse von den Steinen in schwarz/silberner Robe mit charaktervollem Mezzo) will vom Magier (Jens Larsen im violett glitzernden Frack und Zylinder mit dröhnendem, in der Tiefe brummigem Bass) ihr Herz wiederhaben, das sie einst für die Macht eintauschte. Als ihre Absicht, Schwanda zu heiraten, sich durch das Auftauchen Dorotkas zerschlägt, soll die Guillotine Schwandas Strafe sein. Nur Babinsky vermag das zu verhindern, so wie er auch Schwanda aus der Hölle befreit. Am Ende ist der Musikant zurück in seiner ländlichen Idylle, mit Dorotka vereint auf blühendem Rasenstück unter belaubtem Baum.

Mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin entfaltet Ainärs Rubikis Jaromír Weinbergers Musik in ihrer ganzen Vielfalt und dem reichen Klangspektrum. Schon die ausgedehnte, muntere Ouvertüre mit grummelnden, aber auch jauchzenden Momenten sowie ihren lyrischen Inseln ist ein stimmungsvoller Einstieg in den Abend. Effektvoll breitet der Dirigent die sinnlichen Klänge beim Auftritt der Königin aus, ebenso die geheimnisvoll-gläsernen Akkorde im Umfeld  des Magiers. Prägnant herausgearbeitet werden die Anklänge an Kurt Weill in der Gerichtsverhandlung wie auch die Anleihen von Smetana in der Spielszene und der Jubel über Schwandas wiedererlangte Freiheit. Schon in der zweiten Aufführung am 11. 3. 2022 war das Haus nur schwach besucht und der Applaus enden wollend. Das Stück aber ist – durch seine Musik – eine dringende Empfehlung wert. Bernd Hoppe

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Märchenoper für alle in Hildesheim. Seit ein paar Jahren ist das Theater für Niedersachsen (TfN) immer wieder gut dafür, weithin Unbekanntes auszugraben und aufzuführen. So konnte man jetzt die Premiere der lyrischen Märchenoper in drei Akten Aladin und die Wunderlampe von Nino Rota mit dem Libretto von Vinci Verginelli erleben (19.02.2022). Rota verstand sich sein Leben lang als klassischer Komponist; laut Wikipedia war er ab 1939 am Konservatorium in Bari Professor für Harmonielehre, dann für Komposition; 1950 wurde er Direktor des Konservatoriums. Dennoch wurde er vor allem bekannt für seine überaus zahlreichen Filmmusiken, wie z.B. Der Pate (mit dem Oscar 1975 für Der Pate – Teil II), Tod auf dem Nil oder ganz besonders für die Filme von Federico Fellini, mit dem er ab 1952 zusammenarbeitete (u.a. La strada und La dolce vita). Weniger bekannt ist er als Komponist für das Konzertpodium und die Bühne; so umfasst sein Werk zehn Opern, davon drei auch für Kinder, 23 Ballett- und Bühnenkompositionen, drei Sinfonien, eine Reihe von Konzerten für verschiedene Solo-Instrumente sowie Klaviermusik und mehrere Chorwerke.

In der 1968 in Neapel uraufgeführten Kinderoper Aladin und die Wunderlampe werden die Zuschauer (ab 8 Jahren) in die geheimnisvolle Welt der Märchen aus 1001-Nacht geführt. Für alle, denen der Inhalt der märchenhaften Erzählung nicht mehr geläufig ist, sei er hier kurz skizziert: Aladin treibt sich am liebsten mit seinen Freunden auf der Straße herum und träumt davon, schnell reich zu werden, um dann später einmal die schönste Prinzessin zu heiraten. Ein böser Zauberer schenkt ihm einen magischen Ring, mit dessen Hilfe er eine Wunderlampe in seinen Besitz bringen kann. Sie verleiht große Macht und Reichtum, bringt aber auch sein Leben in Gefahr. Doch der Zauberer hat nicht mit dem Ideenreichtum Aladins, der klugen und raffinierten Prinzessin Badr-al-Budùr sowie den Geistern des Ringes und der Lampe gerechnet, sodass die drei freien Wünsche des Lampenbesitzers nach mehreren aufregenden Abenteuern schließlich doch zum Happy End führen.

Nino Rotas „Aladin und die Wunderlampe“ in Hildesheim/Szene/ Foto © Falk von Traubenberg

Nino Rota hat seine spätromantische, stets illustrierende Komposition mit dezent orientalischer Melodik angereichert, lässt mit schroffen Bläsern und Schlagwerk unheilvolle Atmosphäre entstehen und schafft im Kontrast dazu mit Flöten, flirrenden Geigen und Chorgesang heitere Stimmung. Außerdem verdeutlicht er die Handlung mit wiederkehrenden Motiven für Aladin, den bösen Zauberer und die Geister des Ringes und der Wunderlampe.

Mit scherenschnittartiger Optik und bunten Kostümen hat die Ausstatterin Sandra Linde eine orientalische Welt auf die Bühne gebracht, wo die Regisseurin Petra Müller das Ensemble, Chor, Kinder- und Jugendchor des TfN ausgesprochen lebhaft und plausibel agieren ließ. Am Anfang hatte der erstaunlich klangvolle Kinderchor einführende und ganz am Schluss resümierende Worte. Bereits hier wurde ein Manko der Produktion offenbar: Es gab zwar arabische (!) Obertitel, aber leider keine deutschen, so dass das Verständnis der Übersetzung des italienischen Originals von Ralph Mundlechner erheblich erschwert war. Auch war die teilweise für die Solostimmen zu aufdringliche Instrumentierung nicht ganz glücklich und dem Verstehen des Textes nicht gerade zuträglich, zumal der als Chordirektor auch für die Einstudierung der Chöre verantwortliche Achim Falkenhausen das Orchester vielfach zu sehr lärmen ließ. Insgesamt gab es passable stimmliche Leistungen am Premierenabend: Ein sehr munterer Aladin war Yohan Kim, der seinen kräftigen Tenor mühelos über die Orchesterfluten führte. Die begehrte  Prinzessin war bei Robyn Allegra Parton gut aufgehoben; sie gefiel durch saubere Führung ihres prächtigen Soprans, mit dem sie auch schöne Piano-Passagen zu präsentieren wusste. Dagegen hatte Eddie Mofokeng als der geheimnisvolle Zauberer aus Maghreb und als Großwesir so einige Schwierigkeiten, sich mit seinem schön timbrierten Bariton durchweg im Gesamtklang zu behaupten; hier wäre mehr Einfühlung aus dem Orchestergraben nötig gewesen. Mit in allen Lagen abgerundetem Mezzosopran gefiel wieder Neele Kramer als besorgte Mutter Aladins. Uwe Tobias Hieronimi gab den korrupten Sultan als Karikatur eines Herrschers. In jeweils fantasievoller Kostümierung war mit profundem Bass Jesper Mikkelsen der stets mit einigem Bühnenzauber auftretende Ring- und Lampengeist, während Julian Rohde klarstimmig einer der Freund Aladins war. In weiteren kleineren Rollen bewährten sich Chorsolisten. Wie immer in Hildesheim überzeugten die Chöre durch Klangausgewogenheit; das Orchester beherrschte die ungewohnte Partitur in jeder Beziehung einwandfrei.

Das Premierenpublikum, dabei leider nur wenige Kinder, für die die Aufnahme des Ganzen sicher nicht einfach war, bedankte sich bei allen Mitwirkenden mit starkem, lang anhaltendem Beifall.  Gerhard Eckels

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Hubays Oper „Der Geigenbauer von Cremona“ in Budapest/ Szene/ Foto Valter Berecz

In den Eiffel Art Studios der Budapester Oper: Drei Komödien aus dem Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: an einem Abend Hubays Einakter Der Geigenbauer von Cremona von 1894 und Dohnányis Einakter Tante Simona von 1913, sodann Ede Poldinis Hochzeit im Fasching von 1924. in den neuen Spielstätten der Budapester Oper (davon nachstehend Ausführliches).  Fast scheint es, als habe Jenö Hubay sich mit dem auf einem französischen Libretto basierenden Geigenbauer von Cremona eine Art Cremoneser Meistersinger vorgenommen. Bereits die Werkstatt auf der Vorbühne lässt an die Schusterstube des Hans Sachs denken, doch es handelt sich um die Geigenbauerwerkstatt, in der Filippo sein Meisterstück vollendet. Großzügig verspricht der Bürgermeister vor der versammelten Bürgerschaft demjenigen seine goldene Amtskette, der beim bevorstehenden Wettbewerb um die beste Geige den Sieg davonträgt. Der Geigenmeister Ferrari gibt noch einen drauf und verspricht dem Gewinner die Hand seiner Tochter und sein Haus. Giannina ist darüber wenig erfreut, liebt sie doch Sandro. Der bucklige Filippo hat wenige Chancen. Zwar kommen Giannina die Tränen, als er ihr ein Probestück auf seiner Geige vorspielt, aber sie macht ihm keine Hoffnung. Großherzig verzichtet Filippo auf sein Liebesglück und vertauscht sein Meisterstück mit dem des Freunds und Konkurrenten Sandro. Dieser ist gerührt ob der großherzigen Tat und gesteht reumütig, dass er selbst heimlich die Geigen vertauschte. Zu spät. Filippo gewinnt, schlägt die Hand Gianninas aus und zieht in die Welt. In Hubays beliebtester Oper, in der er gelegentlich selbst das prominente Violinsolo übernahm, ist die Welt des 18. Jahrhunderts noch irgendwie in Ordnung. Nur der Bucklige bleibt ein Außenseiter. Zwar besitzt er die Sympathien des Ferrari, aber auf der Straße wird er malträtiert, als er sich für einen geschlagenen Hund einsetzt. In der Schmach, dem Ungemach und begierigen Aufbegehren, der unerbittlichen Liebe und dem umso großherzigeren Verzicht des Filippo weht ein Hauch von Verismo durch die komische Oper, die so komisch gar nicht ist, ein wenig d’ Albert, grelle und heftige Töne stören die Feiertagsstimmung. Doch insgesamt schlägt der phantasievoll romantische und spätromantische Muster verwendende Hubay einen versöhnlichen Ton an; italienische oder französische Komödienleichtigkeit findet man nicht. Auf den vornehmlich als Geiger und Begründer einer der führenden Violinschulen bekannten Hubay wurde ich erst vor Jahren durch die Braunschweiger Ausgrabung (2014) seiner 1923 in Budapest uraufgeführten spätromantisch sinnlichen Anna Karenina nachdrücklich aufmerksam; es waren die Jahre, als in Braunschweig unter Generalintendant Klement und Operndirektor Kochheim u.a. Falena von Smareglia und Zandonais Giulietta e Romeo wiederentdeckt wurden.

Der Komponist Jenö Hubay/Wikipedia

Erfolgreicher als Anna Karenina war Der Geigenbauer von Cremona, der es als erster internationaler Erfolg der ungarischen Oper auf mehr als 70 Bühnen schaffte und neben Goldmarks Königin von Saba als zweite ungarische Oper sogar bis jenseits des Atlantiks 1897 nach New York gelangte. Die Budapester Aufführung in den Eiffel Art Studios erinnert an den geschmackvollen Musiker und Grandseigneur, der in seinem Palais auf der Budaer Seite einen bedeutenden Musiksalon unterhielt und mit den gastierenden Musikstars auf vertrautem Fuß stand. Das ist alles von schönster Gediegenheit, wohl gesetzt in den Chorszenen, den Arien und Duetten, manchmal herzerwärmend, doch letztlich auch etwas blutleer und sentimental. Mit prächtigem Bassbariton setzte sich Csaba Sándor für den gequälten Filippo ein, ging die leidenschaftlichen Steigerungen mit plastischer Diktion und großer Tonschönheit an. Sehr sympathisch war mit charaktervoll nachdrücklichem Bass Krisztián Cser als Geigenmeister Ferrari. Außerdem Ninh Duc Hoang Long als eitler Konkurrent Sandro, Agnés Molnar als Giannina und András Kiss als Bürgermeister, dazu der große Chor, der wenig individuell eingesetzt war.

Dohnányis Oper „Tante Simona“ in Budapest/ Szene/ Foto Valter Berecz

Wenn der Abend ein Wettstreit gewesen wäre, hätte Dohnányis Tante Simona – zumindest für mich – den Sieg davongetragen. Freilich ist die ebenfalls in Italien spielende Geschichte an Harmlosigkeit nicht zu übertreffen: Tante Simona wurde einst von ihrem Geliebten verlassen. Um ihre Nichte Beatrice vor solcher Schmach zu schützen, hält Simona alle Männer von dem Haus fern. Eine Ausnahme stellt der taube Gärtner dar, hinter dem sich der verkleidete und gar nicht taube Graf Ghino verbirgt. Als Beatrice in ihm den Mann ihrer Sehnsüchte erkennt, ist es um sie geschehen. Keine Rede mehr davon, dass sie sich von Tante Simona ins Kloster schicken lässt. Zur Unterstützung der jungen Liebenden taucht Graf Florimo, der einstige Übeltäter, auf. Simona und er schwelgen in Erinnerung an Liebe und Jugendglück. Mit einer heiteren Vaudeville-Moral endet das kaum einstündige Werk, das Ernst von Dohnányi in der Rolle eines ungarischen Richard Strauss ausgesprochen farbig und effektvoll ausrollt, mit einer Überfülle an musikalischen Einfällen und einer instrumentalen Macht, in der sich die Singstimmen gelegentlich hymnisch steigern. Viel zu viel für das leichte Stück. Aber was soll’s, wenn Oliver von Dohnányi, ein entfernter Verwandter des Komponisten – Ernő Dohnányis Großvater und Oliver von Dohnányis Urgroßvater waren Brüder – dieses reizvolle Konversationsstück mit seinen markanten ariosen Ruhepunkten und Ensembles so generös ausbreitet. Der Ton ist ein anderer als in von Dohnányis Satire auf bürgerliche Standesdünkel in Der Tenor. Einerseits frisch, anderseits melancholisch und nostalgisch, bestens eingefangen von den jungen Donát Varga und Adrienn Miksch als Ghino und Beatrice, altersklug von Antal Cseh und Lúcia Megyesi Schwartz als Simona; als Zofe und Hausmeister waren Orsolya Sáfár und Bence Pataki für das Drumherum zuständig.

Der Komponist Ernö Dohnanyi/ Wikipedia

Was Hubay für die Geige war Ernst von Dohnányi für das Klavier, einer der bedeutendsten Pianisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ein großer Pädagoge, zeitweise Direktor der Budapester Liszt-Akademie, seine Variationen über ein Kinderlied für Klavier und Orchester gehören zum eisernen Bestand des Konzertrepertoires in Ungarn. Er hatte Ungarn 1944 vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen verlassen, wurde zum Kriegsverbrecher erklärt und erst in 1970er Jahren rehabilitiert. 2014 hatte die Ungarische Staatsoper Dohnányis dritte und letzte Oper Der Tenor von 1929 (nach Sternheims Bürger Schippel) rehabilitiert. Nun folgte von Dohnányis erste Oper, der im Januar 1913 in Dresden nach einem Text von Viktor Heindl uraufgeführte Einakter Tante Simona. Ebenfalls in Dresden war 1910 sein Mimodrama Der Schleier der Pierrette nach Schnitzler herausgekommen; außerdem schrieb von Dohnányi noch eine ungarische Oper Der Turm des Wojwoden (Budapest 1922). So liebevoll wie die beiden Einakter musikalisch aufbereitet waren, so sorgfältig hatte sie Bence Varga in Szene gesetzt: Hurtig zugespitzt, ein bisschen schräg und sentimental Tante Simona, etwas hilfloser den stilistisch etwas unentschiedenen Geigenbauer. Entsprechend satirisch überzeichnet war Anna Feketes Simona-Bühne mit dem Haus der Tante Simona als riesigem Vogelkäfig, der im zweiten Teil zur Geigenbauer-Werkstatt umfunktioniert wird, in der, wenn schon nicht der Himmel, so doch die Wände voller Geigen hängen (18. Februar 2022).

Poldinis Oper „Hochzeit im Fasching“ in Budapest/ Szene/ Foto Valter Berecz

Das Stück der Stunde könnte Ede Poldinis Hochzeit im Fasching sein. Zumindest, was den äußeren Rahmen angeht. Starke Schneestürme machen jedes Reisen unmöglich, verbannen die Leute in häusliche Quarantäne oder zwingen sie, unterwegs bei Freunden, Bekannten oder andernorts unterzuschlüpfen. Der Fernsehmoderator spricht immer wieder eindringliche Warnungen aus, während Einsatzkräfte gegen die Schneemassen kämpfen. Was sich Ede Poldini und Ernö Vajda für ihre in den 1910er Jahren fertiggestellte, aber kriegsbedingt erst 1924 an der Budapester Oper uraufgeführte komische Oper Farsangi Lakodalom/ Hochzeit im Fasching ausdachten, erinnert nur von ferne an die heutige Quarantäne-Gegebenheiten, wenngleich die Fernsehansagen, die bei der Premiere in den Eiffel Art Studios (19. Februar) zu hören waren, beklemmend aktuell ausfielen und mit den Sturmwarnungen aus Deutschland zusammenfielen. Aber der Schneesturm erschüttert unsere Hausfrau weniger als die offenkundig gefährdete Verlobung ihrer Tochter Zsuzsa mit dem Schwiegermuttertraum Jonas. Die ohnehin träge Zsuzsa hat überhaupt keine Lust auf den ausgewählten Mann und ist wütend. Derweil läuft die Mutter zu großer Form auf, hat sie doch Ochsen und Truthähne, Schweine und Hühner und noch viel mehr braten oder zu Pasteten verarbeiten lassen, um die Verlobungsgesellschaft zu bewirten. Hat man anfangs noch gedacht, dass Poldinis Konversationston etwas allgemein und schwerfällig und routiniert klingt, ein bisschen à la Intermezzo, so ist man, wie in dieser großen komischen Verzweiflungsarie der Hausfrau, schnell fasziniert, wie geschickt er die Komödie am Laufen hält. Wie er für jeden der im wahrsten Sinn des Wortes hereinschneienden Gäste, die Gräfin und den Soldaten, das Ehepaar Domokos und die Sängerin Stanci und ihre Tanztruppe, einen unverkennbar eigenen Ton findet und sie durch ein elegantes Parlando in Arien, Duetten, einem entzückenden Quartett oder Ensembles zusammenschweißt. Als Triebkraft und Schmiermittel fungiert der Verbunkos. Nie aufdringlich als ungarischer Tanz, sondern elegant in die Konversation eingewoben.

Vor allem ist die Geschichte durchaus witzig, kurzweilig und unterhaltsam. Man hat sofort eine Filmkomödie der 1930er Jahre vor Augen. Der Eindruck täuscht nicht. Vajda, der 1886 als Ernö Weisz geboren wurde und 1904 seinen Namen in Ernö Vajda änderte, war ein fleißiger Verfasser von Komödien und Musikromanzen, der nach dem ersten Weltkrieg u.a. mit seinem ungarischen Landsmann Alexander Korda zusammenarbeitete, Mitte der 1920er Jahre nach Hollywood ging, sich ein Pseudonym zulegte und u.a. als Co-Autor mehrerer Lubitsch-Filme erfolgreich war. Mit seinem Textbuch zu Farsangi Lakodalom hatte er einen von Miklós Bánffy ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen. Die namenlose Hausherrin ist eine herrliche Figur. Wie sie nach dem Erscheinen des Studenten Kálmán sofort die von ihm ausgehende Gefahr wittert und die Folgen für die von ihr geplante Verlobung abschätzt, ist schönster Filmkomödien-Stoff. Dass dies auch auf der Opernbühne erstaunlich leicht funktioniert, ist Poldini zu danken. Wie sie ihrem Ehemann wegen seiner Unbekümmertheit die Hölle heiß macht und ihm das zufällig gefundene Liebesgedicht des Studenten mit naiver Kleinmädchenstimme vorliest, wie sie den Soldaten und die Gräfin, die gerade eine zarte Leidenschaft für einander fassen, für ihre Zwecke einspannt und zwischen Furor, Durchtriebenheit und Sturheit changiert, ist feinstes musikalisches Komödientheater. Die im Dohnányi-Einakter etwas blässliche Adrienn Miksch singt die Hausfrau mit tragikomischem Ernst und Haltung, lyrisch leidenschaftlich und mit Wärme. Kaum weniger überzeugend ist in seiner raumgreifenden Gefasstheit Csaba Sándor als ihr Gatte Peter. Es gibt viele sehr schöne Momente, darunter die junge Liebe zwischen Zsuzsa und Kálmán, die Spielszene, bei der Lose wahlweise gegen Küsse eingetauscht werden dürfen, naseweise Einwürfe der in übergroßer Zahl tätigen Bediensteten – à la Don Pasquale – und schließlich fast eine Orgie, als die geräumten Straßen ein Ende der schwerelos entrückten Abgeschiedenheit verheißen. Noch einmal geben sich alle dem Augenblick hin. Am nächsten Tag erscheint die Mutter des Jonas, was der großstimmigen Bernadett Wiedemann als Bükkyné die Möglichkeit zu einem Grandezza-Auftritt gibt, und verkündet, dass ihr Jonas sich anderweitig verlobt habe. Die Hausherrin vergeht fast vor Wut, reagiert aber auch hier wieder sofort und verkündet, dass ihre Zsuzsa längst mit Kálmán verlobt sei. Natürlich ist die Lustspielhandlung auch durchsetzt von tiefen, kaum ausgesprochenen Gefühlen. Die Gräfin reist weiter nach Wien zu ihrem Gatten und Sohn, dem Soldaten lässt sie zum Abschied einen Ring. Ein bisschen Melancholie und Resignation als Referenz vor dem Rosenkavalier. Das machen Andrea Meláth und Attila Dobak so schön und anrührend, dass man die sängerischen Blässe gerne übersieht. Während die gestrandeten Gäste zur Feier bleiben, erschießt sich der Soldat am Ende. Eine Pointe von András Almási-Toth, der als künstlerischer Leiter des Hauses und Allzweckwaffe seit 2018 viele Raritäten eingerichtet hat. Zusammen mit dem von Balázs Fügedi geschmacksicher wie ein Berghotel eingerichteten Haus, aus dessen Bauhaus-Innenraum die Drehbühne geschickt Schwenks auf die Terrasse erlaubt, und den nicht immer so geschmackssicheren Kostümen von Márk Kiss, realisierte Almási-Toth einen feinsinnigen Abend: revuehaft schrill und bunt in den Auftritten der Sängerin (Rita Rácz) und ihrer lockeren Entourage und komödienhaft leicht wie die Schneeflocken vor den Panoramafenstern.

Poldinis Instrumentation wurde neu gefasst und ein wenig reduziert. Dennoch hatten manche Stimmen – Gyula Ráb als aufreißerischer Student Kálmán und Réka Kristof als Zsuzsa – Probleme über das von Szabolcs Sándor sehr umsichtig geleitete, aber immer noch sehr vollmundig klingende Orchester zu dringen.

Der Komponist Ede Poldini/ Wikipedia

Poldini ist kaum noch bekannt. Selbst Fritz Kreislers Transkription seines Klavierstücks La poupée valsante für Violine, die einst zu Poldinis berühmtesten Werken gehörte, kennt keiner mehr. Neben Kinderopern mit Texten von Max Kalbeck (Aschenbrödel, Dornröschen, Die Knusperhexe) entstand sein in Dresden 1916/17 unter Fritz Reiner und mit Richard Tauber aufgeführter Einakter Der Vagabund und die Prinzessin. Sein Hauptwerk ist der Dreiakter Hochzeit im Fasching/ Farsangi Lakodalom, der mit mehr als 100 Aufführungen zu den großen Erfolgen einer komischen ungarischen Oper wurde. Dazu trugen die zigeunerischen und verbunkosartigen Materialien, die biedermeierliche Atmosphäre – das Stück spielt eigentlich zu Beginn des 19. Jahrhundert auf einem ungarischen Adelssitz – und die Anklänge an die gute alte Zeit bei; tatsächlich trägt eine Operette Poldinis aus dem Jahr 1926 den Titel Die gute alte Zeit. Durch Almási-Toths sensible Inszenierung geriet die mit ersten Kräften besetzte und musikalisch aufpolierte Ausgrabung zur Ehrenrettung eines eineswegs altmodischen Zeitstücks. Rolf Fath

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Und nun die neuen Eiffel-Art-Studios der Budapester Oper: Es soll in Budapest alles etwas größer und prächtiger als anderswo sein. Das Parlament beispielsweise, das nicht nur das größte Gebäude des Landes, sondern das drittgrößte Regierungsgebäude der Welt ist. Auch der große Ring und die Radialstraße, die heutige Andrássy út, unter der seit 1896 die erste Untergrundbahn auf dem europäischen Kontinent fährt. Zumindest Wien sollte übertroffen werden, was in den Jahren nach dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn und der Jahrtausendfeier der ungarischen Nation, also zwischen 1867 und 1896, zu einem Bauboom ohnegleichen führte, der Budapest zur am schnellsten wachsenden Stadt Europas machte. Eine gewisse Überspanntheit liegt darin, gekränkter Stolz, sagte doch der Schriftsteller Péter Esterházy einst so treffend, „Wir sind ein kleines, phantastisches und bedeutungsloses Land“.  In den Jahren der hypertrophen Bautätigkeit errichtete Gustave Eiffels Pariser Büro 1874-77 auch den imposanten Westbahnhof, bei dem er spezielle Träger verwendete, mit denen sich weite Bahnhofshallen überspannen ließen.

Die Budapester Eiffel-Art-Studios/ Foto Reiner Knäbel.

Der prestigeträchtige Name Eiffel muss auch bei dem neben der Sanierung und Modernisierung des historischen Opernhauses, dessen Wiedereröffnung kurz bevorsteht, wichtigsten Bauvorhaben der Ungarischen Staatsoper herhalten, den Eiffel Art Studios. Wobei sich der großzügig ausgeborgte Name einzig auf die von Eiffel später auch beim Eiffel-Turm verwendete Stahlbogen-Technologie bezieht, die nahezu vollständig intakt geblieben ist. Der Komplex führt uns aber wieder zu Eiffels Budapester Bahnhof zurück. Entstanden sind die Eiffel Art Studios nämlich in einer ehemaligen Reparaturhalle der Nordbahn, hinter der die Gleise entlang eines öden Industriegürtels zum Ostbahnhof, Keleti palyáudvar, führen. In den zwischen 1884 und 1886 errichteten fünf Bahnhallen konnten fast 100 Dampfloks gleichzeitig repariert werden. 120 Jahre waren die Gebäude in Gebrauch, bevor man sie 2011 zum Nationaldenkmal erklärte und auf bemerkenswerte Weise die Umnutzung der dreischiffigen historischen Substanz für die Ungarische Staatsoper in Angriff nahm. Art Studios trifft es, denn der revitalisierte Industriebau soll alles bieten. Hinreichend Platz für die Herstellung von Dekorationen und Kostümen, Lagerung der 400.000 Kostüme, Raum für Bühnen- und Orchesterproben, eine Probebühne in den Maßen der Staatsopernbühne, einen Bühnen- und einen Aufnahmesaal (das Ferenc Fricsay-Studio), eine grüne Oase samt Fitnessgeräten für die Mitarbeiter – und nicht zuletzt ein Besucher- und Schulungszentrum. Viele Wände sind dekorativ mit Moos bepflanzt. „Wir sind im 21. Jahrhundert angekommen. Alles ist nachhaltig“, freut sich György Javorszky, der uns vor der Tour darauf hinweist, dass man für die mindestens 7000 Schritte Zeit mitbringen muss. Alles ist riesig und groß dimensioniert, so wie es Bahnhofshallen entspricht. Über den hellen und lichten Hallen schwebt gut sichtbar die alte Stahlkonstruktion. Mit 25.000 qm ist der fußballfeldergroße Komplex größer als das Parlament. Allein das Foyer ist hoch und breit genug, dass ein Salonwagen einer historischen MAV-Dampflok von 1912 darin wie ein kleines Dekorationsstück wirkt.

An den Bühnenraum, benannt nach Miklós Bánffy (genauer Graf Miklós Bánffy von Losoncz), den ehemaligen Opernintendanten, Bartók-Förderer und Verfasser einer nach 2010 auch wieder in deutscher Übersetzung vorgelegten Roman-Trilogie, schließen sich Hallen für Schreinerei, Schlosser, Großskulpturen und Dekorationsteile an. In den Flügelhallen befinden sich Umkleiden, Garderoben, Räume für allerlei Workshops und Kurse, Kammermusik, kleine Produktionen, in einem weiteren Gebäue Kostüme, Schusterei usw. Ein Opern-Campus für Kinder sowie Absolventen der Akademie ist geplant. In einer eingezogenen Zwischenetage im Eingangsbereich kann man eine sehenswerte Ausstellung mit Figuren und Bühnenmodellen berühmter ungarischer Regisseure und Ausstatter besichtigen.

Die Budapester Eiffel-Art-Studios/ Foto Reiner Knäbel.

Sinnvoll und zweckmäßig und ausgesprochen flexibel sind Altes und Neues verbunden: Bühne und der stark ansteigende Zuschauerraum des Bánffy-Saals lassen sich an alle Aufführungserfordernisse anpassen und verwandeln. Mit 400-500 Plätzen ist der nach einer sanften Eröffnung ab 2019 im November 2020 offiziell von der Oper wie dem Ballett in Besitz genommene Theaterraum eher übersichtlich geraten, immerhin groß und technisch fit genug, dass man im Vorjahr sogar daran dachte, ein nicht eben kleines Werk wie Die Frau ohne Schatten dort aufzuführen, was Corona bedingt dann nicht passierte. Manches habe ich mittlerweile dort gesehen: eine moderne La Boheme ebenso wie Les entfants terribles von Philip Glass oder Janos Vajdas neue Oper, die musikalisch und inhaltlich spritzige Molière-Bulgakov-Adaption Der eingebildete Kranke (Vajdas Mario und der Zauberer nach Thomas Mann von 1988 gehört zu den dauernden Erfolgen der neueren ungarischen Oper). Rolf Fath

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Späte französische Erstaufführung: Die Opéra National du Rhin in Straßburg zeigt Die Vögel von Walter Braunfels. An dem lyrisch-phantastischen Spiel nach Aristophanes hänge ich besonders. Es gehört sozusagen zu den Kindheitserinnerungen. 1971 fand in Karlsruhe die erste Wiederaufführung der Oper eines nahezu gänzlich vergessenen Komponisten statt, die seit ihrer Münchner Uraufführung 1920 unter Bruno Walter zu den vielgespielten Werken in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gehörte und deren Aufführungen 1933 mit dem Arbeits- und Aufführungsverbot des Komponisten ein Ende fanden. Erst Ende des vorigen Jahrhunderts haben sich die Bühnen wieder an Walter Braunfels erinnert, der sich an den Bodensee in die innere Emigration zurückgezogen hatte, nach 1945 von Konrad Adenauer wieder mit der Leitung der Kölner Musikhochschule, die er bereits ab 1925 innegehabt hatte, betraut wurde, ohne als Komponist an frühere Erfolge anknüpfen zu können. Klaus Kirschners schwarze, parabelhaft düstere Inszenierung 20 Jahre später in Bremen (unter Ira Levin) zeigte Deutungsmöglichkeiten jenseits des nur phantastisch-märchenhaften allegorischen Spiels zwischen Menschen, Vögeln und Göttern auf. Lothar Zagroseks 1994 entstandene Berliner Einspielung (für die Entarte Musik“-Serie der Decca) bereitete dem ausgesprochen schönen Werk schließlich den Weg für Aufführungen beispielsweise in Los Angeles und Cagliari, an der Wiener Volksoper, in Erl und in Genf, aber auch in Osnabrück, zuletzt in München und zum zweiten Mal in Köln. Und jetzt zum ersten Mal in Frankreich, an der Opéra National du Rhin in Straßburg (16.1.22).

Bereits während des romantisch-sehnsuchtsvollen Vorspiels, das in die Welt der Nachtigall führt, sehen wir als Gegenentwurf dazu ein Großraumbüro, in dem die Angestellten träge in ihren Kojen vor PCs hocken und bisschen herumlümmeln. Soll das der Sehnsuchtsort sein, in den die Stadtflüchtlinge Hoffegut und Ratefreund entkamen? Ersterer aus enttäuschter Liebe, zweiter aus Groll über den Verfall der Kunst. Hoffegut und Ratefreund reihen sich mit beigen Faltenhose und Krawatte und Kurzarmhemd und Socken samt Sandalen ganz vortrefflich ein. Plötzlich stacheln sie die Kollegen zum Aufstand an: Revolution im Großraumbüro.

Das hatte sich Walter Braunfels in seiner Oper Die Vögel möglicherweise etwas anders vorgestellt. Am neuen Sehnsuchtsort bringen die Aussteiger die Vögel dazu, sich ihrer einstigen Macht zu besinnen, zwischen Himmel und Erde eine eigene Stadt zu bauen und die Götter herauszufordern. Allgemeine Begeisterung. Als das vollendete Werk mit einer Taubenhochzeit gefeiert wird, warnt Prometheus vor der Auflehnung gegen die Götter. Prompt lässt Zeus ein Unwetter aufziehen und die Stadt zerstören. Die Vögel fügen sich. Und die Stadtflüchtlinge? Ratefreund freut sich auf häusliche Gemütlichkeit, Hoffegut sinnt den Gesängen der Nachtigall nach, die ihm eine Sehnsucht nach überirdischer Schönheit eingab.

Walter Braunfels: „Die Vögel“ an den Opéra du Rhin Strasbourg/ Szene/ Foto Klara Beck

In Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg wurde im allegorischen Spiel vor allem der Triumph des Schönen über das Hässliche gefeiert; in Frankreich mag man im vielgeteilten Chor und der tirilierenden Aufregung von einem Halbdutzend Vogelstimmen einen Vorgriff auf Messiaen und seine Saint François-Oper erblicken. Auch wenn das Parlando schwerfälliger als beim Kollegen Strauss daherkommt, Witz und Satire der antiken Vorlage fehlen, ist die hochindividuelle Musik von Braunfels in ihrer aufgefächerten Pracht von ätherischer Magie, welche Sora Elisabeth Lee und das Orchestre wie Luft aus einer anderen Welt einsogen. Lee, die nach seinem positiven Corona-Test kurzfristig für den neuen Chef der Straßburger Philharmoniker Azis Shokhakimov einsprang, realisierte einen Abend, von dessen Sehnsuchtston sich das Publikum fesseln ließ. Die Nachtigall der Marie-Eve Munger, die hier Rossignol heißt, besaß selbst in den extremen Koloraturen noch einen lyrische Herzenston, der Hoffeguts Enflammiertheit verständlich erscheinen lässt; beider Duett zu Beginn des zweiten Aktes ist von tristanhafter Versunkenheit. Die Autorität des Wiedehopfes versah Christoph Pohl mit noblen Linien und plastischer Deklamation als gäbe er den Wolfram, die Herkunft des Prometheus aus Wagners Götterhimmel unterstrich Josef Wagner mit wuchtigem Bariton, die Partie ist freilich etwas eindimensional angelegt. Mit silbrig vorwärtsdrängendem, am Ende etwas müdem Tenor gab Tuomas Kata Jala den traumverlorenen Hoffegut. Wäre Cody Quattlebaum als Ratefreund nicht so spielfreudig, wäre sein dumpfer Bassbariton nicht aufgefallen. Außerordentlich gefallen hat der selbst im großräumigen ornithologischen Durcheinander der Ensembles noch hochmusikalisch aufleuchtende Sopran der Julie Goussot als Zaunschlüpfer.

Unberührt von modernen Strömungen hat Braunfels das eskapistische Märchenspiel und den Traum von einem anderen Leben in spätromantische Farben getaucht, durch die ständig Wagner und gelegentlich Strauss schimmern. Ein Fluchtweg. Und vielleicht gerade deshalb so sensationell erfolgreich. Ted Huffman hat, wie ich finde, die Allegorie ungemein verkürzt und in seiner auf den ersten Blick aparten und schicken, letztlich aber enttäuschenden Umdeutung, jeglichen Konfliktstoff aus den unterschiedlichen Sphären getilgt hat. Den Vögeln die Federn gerupft und den Erdlingen ihre Herkunft genommen. Am Ende werden aufgetürmten Büromöbel und entleerte Schredder wieder peinlichst sauber auf- und weggeräumt (Bühne: Andrew Liebermann). Die Büroangestellten haben das Fliegen und Flattern nie gelernt. Die Tagträume im Büro sind geplatzt.  Rolf Fath

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Im neuen musikalischen Gewand: Bellinis Zaira am Stadttheater Giessen. Vor etwas mehr als vier Jahren erlebten wir im Komödienhaus Wilhelmsbad in Hanau eine faszinierende Aufführung von Carlo Coccias Caterina di Guisa durch I Virtuosi ambulanti. Im beengten  Orchestergraben saßen die Mitglieder der Camerata Mainzer Virtuosi, insgesamt nur fünf Streicher und zehn Bläser, dazu eine Harfenistin.

Daran erinnerte ich mich, als ich die Ankündigung des Stadttheaters Giessen für seine Produktion von Zaira las: „Ein Bellini stilistisch gerecht werdendes Klangbild garantiert die eigens für Gießen entstandene Orchestrierung von Herbert Gietzen“. Gietzen, Komponist und  Arrangeur, erläutert sein Konzept so: “Mein musikalischer Ansatz ist nicht nur praktisch [Corona lässt grüßen], sondern auch historisch begründet: Ein paar Jahrzehnte vor der Uraufführung von Zaira wurden die Secco-Rezitative – wie größtenteils in meinem Arrangement – ja noch von Klavier plus Solocello begleitet“. Und so finden wir im Giessener Orchestergraben neben dem Dirigenten dreizehn Musiker: Neben einem „Streichquartett“ aus zwei Violinen, Violoncello und Kontrabass sind Oboe (Englischhorn ad lib.), Flöte, Klarinette, Horn, Fagott und Schlagwerk sowie als „Joker“ Klavier, Harmonium und Harfe beteiligt. Das funktioniert durchaus, gibt dem Klang aber eine rhythmische Härte und stößt in den Chor- und Ensembleszenen an seine Grenzen.

Bellinis „Zaira“ am Stadttheater Gießen/ Szene/ Foto Wengst

Dass Bellinis fünfte Oper bei ihrer Uraufführung am 16. Mai 1829 im hiermit neu eröffneten Teatro Ducale in Parma (dem heutigen Teatro Regio) ein Misserfolg war, ist hinlänglich bekannt, wenn auch nicht     vollständig geklärt. Der diese Produktion begleitende Dramaturg Samuel C. Zinsli hat hierzu einen informativ-unterhaltsamen Beitrag im Programmheft geschrieben. Zu diesen komplexen Versuchen einer Analyse gehört sicher auch die hingeworfene Bemerkung des Librettisten Felice Romani in seinem „Vorwort des Autors“, in dem er selbst eigene Schwachstellen seiner Arbeit (Stil, unnötige Wiederholungen) bemängelt und dann summarisch konstatiert, dass „Dichtung und Musik in weniger als einem Monat geschrieben wurden“.

Bellini reagierte auf diesen Reinfall in seiner Karriere, indem er wesentliche Bausteine und Melodien in seine nächste Oper übernahm.  Dieses sein neuestes Werk I Capuleti e i Montecchi erblickte nur ein knappes Jahr später das Bühnenlicht und wurde sofort ein großer Erfolg. Unter den meist nur partiell „parodierten“ Stücken finden sich u.a. Corasminos Cavatina, Zairas Cavatina und Cabaletta, das Duett Zaira/Nerestano (alle im 1. Akt); Nerestanos Rondo und Cabaletta, Zairas Arie und Cabaletta (alle im 2. Akt). Bellini selbst fasste diese Prozedur in die Worte: “Zaira ist durch I Capuleti e i Montecchi gerächt worden.“

Quelle für Romanis Libretto war Voltaires 1732 geschriebene fünfaktige Tragödie Zaire, die Grundlage für insgesamt 13 Opern werden sollte, deren bekannteste neben Bellinis Misserfolg vielleicht das gleichnamige Melodramma tragico von Mercadante aus dem Jahre 1831 mit dem weitgehend identischen Libretto von Felice Romani sein dürfte. Ausschnitte hiervon konnte man in konzertanter Form 2006 im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier  hören.

Romani betont in seinem „Proemio dell’autore“ ferner, dass – trotz der Gattungsbezeichnung tragedia liricaZaira nicht eine Tragödie, sondern ein Melodrama sei. Er habe auch die Zurschaustellung philosophischer Themen, die zur Zeit der Entstehung von Voltaires Zaire im Schwange waren, zugunsten der Sprache der Leidenschaft beiseitegelassen. Wieviel dem französischen Aufklärer dieses Stück bedeutete – er nannte es „die einzige zärtliche Tragödie, die ich geschrieben habe“ – wurde in Giessen durch den gelungenen mehrmaligen Auftritt des alternden Voltaire als Puppe (Francesco Rescio) sichtbar, dessen Originaltexte aus dem Off rezitiert wurden, deren Übersetzung auf Vorhänge projiziert den Handlungshintergrund verdeutlichten.

Dass diese Aufführung auch ein Fest für die Augen wurde, lag an dem großartigen Bühnenbild von Lukas Noll, der auch für die stilvollen prächtigen Kostüme ( u.a. aus goldenen Brokatstoffen) verantwortlich zeichnet. Videotechnisch unterstützt und erweitert mit Spiegeleffekten beherrschen orientalische Muster und Spitzbögen sowie farbenprächtige Ornamentik den Sultanspalast, der auf zwei Ebenen mit einer Vielzahl ineinander verschachtelter kleiner Gemächer (von Corasminos Amtszimmer bis zum Gefängnis) bespielt wird. Umso packender wirkt dann die durch ein wunderschönes Oboensolo eingeleitete dramatische Finalszene, wenn auf leerer, völlig dunkler Bühne die Protagonisten von Lichtkegeln begleitet im Quintett fast statisch das tragische Ende heraufbeschwören. Regisseur Dominik Wilgenbus hatte sich dafür entschieden,  dass Orosmane nach der Ermordung seiner Geliebten sich nicht das Leben nahm, sondern – abweichend vom Librettotext – mit dieser Schuld weiterleben musste – vielleicht ein schlimmeres Schicksal!? So saß er am Ende da wie ein Häufchen Elend, mit dem Hochzeitskleid Zairas in Händen.

Bellinis „Zaira“: Theaterposter für die Uraufführung in Parma/ Wikipedia

Dieses Bildertheater und die Soloarien, Duette und Tableaus erzählen uns nachvollziehbar die Geschichte und Gefühlswallungen rund um diese letztlich gescheiterte Liebe zwischen dem muslimischen Sultan Orosmane und seiner christlichen Sklavin Zaira zur Zeit der Kreuzzüge. Eine bewegtere und  präzisere Personenführung wird so nicht wirklich vermisst, und man stört sich auch nicht am ab und zu unverhohlen präsentierten Rampensingen, wenn die vokalen Leistungen so beeindrucken wie an diesem Abend.

Die in Länge und Tessitur enorm anspruchsvolle Titelpartie sang Naroa Intxausti, die in Giessen u.a. schon als bezaubernde Linda di Chamounix zu hören war. Koloratursicher bot sie  insgesamt eine hervorragende Leistung, auch wenn sich in der Höhe eine gewisse Schärfe nicht überhören ließ. Leonardo Ferrando (Corasmino) brillierte in seiner hoch liegenden Tenorpartie als Wesir und intrigierender Berater des Sultans von Anfang an: in seiner Auftrittsarie (mit glänzendem finalem Acuto) ebenso wie in seinem koloraturgezeichneten Duett mit Sultan Orosmane. In dieser Rolle als liberal-toleranter muslimischer Herrscher überzeugte der wunderbar kraftvolle Bass-Bariton Marcell Bakonyi mit beweglicher Stimmführung. Eine veritable Entdeckung war für mich die begeistert vom Publikum gefeierte Mezzosopranistin Na’ama Goldman als Bruder und vermeintlicher Liebhaber Zairas mit warm tönender Tiefe ebenso wie mit dramatischen Ausbrüchen in der Höhe. Die einzige historisch greifbare Figur des dramatischen Geschehens ist  Lusignano – der 1194 gestorbene ehemalige christliche König von Jerusalem Guy de Lusignan -,  eindrucksvoll gestaltet vom Bassisten Kouta Räsänen. Zairas christliche Sklavenfreundin und kritische Mahnerin Fatima sang und spielte überzeugend Sofia Pavone, und in weiteren Nebenrollen waren  Kornel Maciejowski als französischer Ritter Castiglione und Josua Bernbeck als Meledor, Beamter des Sultans, zu hören. Beide sind Mitglieder des von Jan Hoffmann einstudierten Chores, der mit seinen 14 Sänger(inne)n  prächtig und kraftvoll sang. Sein Auftritt in der 3. Szene des 2. Aktes, eine der genialsten Chormelodien Bellinis (ursprünglich für Bianca e Fernando komponiert und dann nochmals in Norma eingesetzt), war ein Ohrenschmaus. Jan Hoffmann war auch ein umsichtiger Leiter dieser kleinen Besetzung im Orchestergraben und sorgte für den belcantesken Klangzauber der Bellinischen Melodien.

Das Fiasko der Uraufführung der Zaira hatte insofern direkte Folgen, als nach den angesetzten Folgeaufführungen nur noch Aufführungen 1836 in Florenz stattfanden. 140 Jahre später gab es dann die erste neuzeitliche Wiederaufführung in Catania, der weitere Produktionen ebendort (1990) sowie in Gelsenkirchen (2006), Montpellier (2009) und Martina Franca (2016) folgten. Nach dieser glänzenden Vorstellung im Stadttheater Giessen, einer weiteren Perle in seiner Kette von Belcanto-Raritäten,  bleibt zu hoffen, dass diese ältere Schwester von I Capuleti e i Montecchi auch wegen ihrer Thematik bald das Repertoire weiterer Bühnen bereichern wird (Besuchte Vorstellung: Premiere am 18. 12. 21.). Walter Wiertz 

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Barocktage 2021 an der Staatsoper Berlin: Frankreich im Brennpunkt. Fünfzig Jahre vor Mozarts Dramma per musica wurde in Paris André Campras Tragédie en musique Idoménée uraufgeführt. Der Komponist steht noch immer im Schatten der beiden Großmeister des französischen Barock Lully und Rameau – seinem Vorgänger und Nachfolger. Umso verdienstvoller ist es, dass die Staatsoper das Werk ins Zentrum ihrer diesjährigen Barocktage gerückt hat, zumal diese als Motto Die Musiknation Frankreich zur Zeit des Sonnenkönigs haben. Mit Emmanuelle Haïm stand eine Dirigentin am Pult von Le Concert d’Astrée, die mit dem musikalischen Idiom eng vertraut ist. Sie war der Motor der Berliner Premiere am 5. 11., sorgte für ein faszinierendes Klangbild voller Energie, in welchem der Einsatz des Dudelsacks (Musette) im 4. Akt noch einen zusätzlichen akustischen  Reiz einbrachte. In den orchestralen Passagen und zahlreichen Tanzszenen wie Sarabande, Menuet, Rigaudon, Passepied und Bourrée war der rhythmische Drive elektrisierend. Zu Recht wurden Haïm und das Orchester am Ende euphorisch bejubelt.

Auch das Inszenierungsteam, die katalanische Künstlergruppe La Fura dels Baus unter Leitung von Álex Ollé, empfing viel Beifall für eine Aufführung mit effektvollen Bildern. Die Künstler sind bekannt  für ihre Installationen in Inszenierungen, welche sich freilich nicht selten verselbständigen. Diesmal hielt sich das Kollektiv eng an die Handlung, erzählte diese stringent und illustrativ. Bestimmt wurde die Optik von Emmanuel Carliers Videos, welche vor allem die Sturm- und Unwetterszenen spektakulär ausmalten. Auf Platten aus zerstörtem Plexiglas werden lodernde Flammen, herabstürzende Wasserfluten und ertrinkende Menschen projiziert. Im Kontrast dazu stand höfische Pracht, die mittels einer gespiegelten und vervielfachten Montage aus barocken Bilderrahmen, Kassettendecken und Proszeniumseinfassungen veranschaulicht wurde. Im Bühnenbild von Alfons Flores fanden sich zudem Versatzstücke wie ein Bettgestell für Ilione, ein Felsplateau für Neptune und ein goldener Tisch mit weißen Lilien für den Tempel des Meeresgottes. Der Chor von Le Concert d’Astrée (Leitung: Denis Comtet) konnte hier als Priester in weißen Gewändern stimmlich glänzen („Triomphez, remportez“). Für die zehn Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie Dantzaz erdachte Martin Harriague eine lebendige, teils queer überdrehte Choreografie mit exaltiertem Bewegungsvokabular und stupenden Körperskulpturen.

Campras „Idoménée“ an der Berliner Staatsoper/ Szene/Foto: Simon Gosselin/Staatsoper Berlin

Obwohl die beiden Werke von Campra und Mozart auf unterschiedlichen Libretti fußen, finden sich viele identische Handlungsvorgänge. Ein gravierender Unterschied besteht in der Existenz eines Prologue bei Campra, wie dieser üblich war in der Barockoper. Darin disputieren der Gott der Winde, Éole (Yoann Dubruque mit resonantem Bass), und die Göttin der Liebe, Vénus (Eva Zaïcik mit klarem Sopran), über die im Trojanischen Krieg von den Griechen besiegten Trojaner. Idoménées Rückkehr nach Kreta soll durch einen Sturm vereitelt werden. Dessen Gelöbnis, bei seiner Rettung den ersten Menschen zu opfern, der ihm begegnet, ist der Grundkonflikt des Stückes, denn es ist kein anderer als sein Sohn Idamante. Der griechische Bass-Bariton Tassis Christoyannis verkörperte den Titelhelden mit starker Präsenz und expressivem Gesang. Der britische Tenor Samuel Boden als jünglingshafter Idamante blieb dagegen darstellerisch blass, wirkte im Spiel geradezu unbeholfen. Aber man hörte eine kultiviert geführte Stimme von exquisitem Timbre, das mit seiner weichen, zärtlichen Struktur die Gefühle für die trojanische Prinzessin Ilione ideal auszudrücken vermochte. Die schweizerisch-belgische Sopranistin Chiara Skerath war das vokale Zentrum der Aufführung. Ihre apart dunkel getönte, füllige Stimme fesselte gleichermaßen mit lyrischem Wohllaut wie dramatischen Ausbrüchen. Mit Idamante hat sie im 4. Akt ein großes Duett, in welchem sich beide Sänger zu harmonischem Klang vereinten und für einen gesanglichen Höhepunkt des Abends sorgten.

Wie bei Mozart ist auch bei Campra ein zweiter Konflikt programmiert, denn Prinzessin Électre, die Tochter Agamemnons,  liebt gleichfalls Idamante und setzt alle Mittel ein, um sich gegen die Rivalin Ilione zu behaupten. Die renommierte französische Sopranistin Hélène Carpentier war in attraktiver, Körper betonter weißer Robe (Kostüme: Lluc Castells) ein Mittelpunkt der Szene, reizte auch die Musik der Figur in allen Facetten aus. Furios und bis zum Keifen oder hysterischem Lachen ihre Rachegesänge, bei denen sie die personifizierte Eifersucht herbei ruft (der Bariton Victor Sicard in einem bizarren Travestie-Auftritt in schwarzer Korsage und Strapsen). Aber Carpentier weiß auch Électres Gefühle mit lyrischem Melos („Que mes plaisirs sont doux!“ und „Calmez le vastes mers“) glaubwürdig zu vermitteln. Im letzten Akt, als Idomenée zugunsten seines Sohnes schon auf die Herrschaft verzichtet hat, vermag sie das Geschehen mit einem Vergeltungsschwur noch einmal herumzureißen. Von der Rachegöttin Némésis mit Wahnsinn geschlagen, tötet der König seinen Sohn – ein entscheidender Unterschied zu Mozarts mildem lieto fine. Die Koproduktion mit der Opéra de Lille hat erstmals ein Werk Campras nach Berlin gebracht und ist als große Tat einzustufen. Bernd Hoppe

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Deutsche Erstaufführungen in Annaberg: Das Eduard-von-Winterstein-Theater spielt Ralph Benatzkys Stück mit Musik Der reichste Mann der Welt und Erich Zeisls Opern-Lustspiel Leonce und LenaPünktlich zum Martinsgansessen wird in Annaberg-Buchholz das passende Stück serviert. „Ohne Gans kein Gänseklein“ singt das ungarische Magnaten-Fräulein Ilka in Ralph Benatzkys „Stück mit Musik“ Der reichste Mann der Welt, das jetzt im Eduard-von-Winterstein-Theater erstmals seit seiner Uraufführung 1936 in Wien wieder zu Gehör gebracht wird. Und somit erstmals auf einer deutschen Bühne.

Das ist insofern erstaunlich, als das Stück „wirklich hübsche und eingängige Musik“ enthält, wie der durchaus zu rigider Selbsteinschätzung fähige Benatzky sagte. „Presse durchwegs ausgezeichnet“ notierte er nach der Premiere. Die Zeiten waren es nicht. 1933 wurden in Deutschland Aufführungen seines Weißen Rössl verboten. 1938 folgte Benatzky einer Einladung von Metro-Goldwyn-Mayer und reiste nach Hollywood, kehrte aber bald in die Schweiz zurück, wo er sich bereits 1932 am Thuner See ein Heim geschaffen hatte und emigrierte, nachdem er sich in der Schweiz vergebens um die Einbürgerung bemüht hatte, mit dem lenzten von Genua nach New York auslaufenden Schiff in die USA. In den Jahren nach dem Aufführungsverbot in Deutschland hatte sich Benatzky 1933 bis 1937 auf die Wiener Bühnen konzentriert und wie am Fließband musikalische Lustspiele, darunter Bezauberndes Fräulein, Das kleine Cafe, Der König mit dem Regenschirm oder Axel vor Himmelstür, der Zarah Leander den Durchbruch brachte, fabriziert: „Die Musik zu dem Lustspiel Der reichste Mann der Welt umfasst 22 in sich geschlossene Musikpiecen. .. Diese stehen auf 107 Klavierauszug- und 274 Partiturseiten. Eine ad hoc herausgegriffne Klavierauszugseite hat 811 Noten. Es hat somit der Klavierauszug ca. 59.634 Noten. Die Partitur deren ca. 84.000. Der reichste Mann der Welt ist mein 77. abendfüllendes Bühnenwerk. Die Durchschnittszahl der Noten dieses Werkes mit der Zahl der Stücke multipliziert ergibt 8.515.918 Noten…“.

Benatzskys Operette „Der reichste Mann der Welt“ in Annaberg/Szene/Dirk Rückschloß / Pixore Photography

Hübsch und eingängig ist nicht nur der Schlager mit dem Gänseklein, sondern bereits das Auftrittslied der Ilka, das sie als selbstbewusste junge Frau zeichnet, wie sie Benatzky etwa in Meine Schwester und ich oder Bezauberndes Fräulein beispielhaft für einen modernen Frauentypus entworfen hatte: „Ich lass mich nicht verloben, ich trag den Kopf nach oben“. Der Gutsbesitzer-Papa Thassilo von Györmrey hat durch die Abhängigkeit von einem Wiener Großindustriellen und Bankier sein Vermögen verloren. Um die Familie zu sanieren, soll die Tochter nach dem Plan der Schwiegermutter Philippine, Schorsch, den Sohn ebenjenes Ludwig Reingruber heiraten. Ilka ist empört. Um ihm die Meinung zu sagen, reist sie im Schlafwagencoupé nach Wien – „Man fährt ins Abenteuer“. Auch Schorsch („Ich bin der Sohn des reichsten Manns der Welt“) setzt sich in den Zug, um die ihm unbekannte Braut kennenzulernen. Irgendwie treffen sie im Zug nach Venedig aufeinander, da ihre Schlafwagenabteile nebeneinander liegen. Beide verlieben sich. Doch vor der werkdienlichen Verlobung erfolgt noch Schorschs Bühnendebüt, das Benatzky zu einer seiner beliebten Opernparodien inspiriert, in der Schorsch mit dem sehr an Abrahams schöne Tangolita aus dem Ball im Savoy erinnernden Pasodoble-Uhrwurm „O Arabella“ glänzt. Auf diesen Backstage-Abstecher folgt noch eine existenzbedrohende Szene, in der Vater Reingruber durch eine gefährliche Spekulation sein Vermögen zu verlieren droht, was Schorsch durch schlichtes Nichtstun vereitelt. Happy End? Nicht ganz. Mit Feuerrauch und Klirren wie nach der Reichskristallnacht erinnert Christian von Götz daran, dass es nicht für alle gut weiterging, so auch nicht für Benatzkys Librettisten Hans Müller, dessen Werke verboten wurden. Dann wieder Operette. Alles gut, denn „Wer ist der reichste Mann der Welt? – Der seinen Schatz im Arme hält!“ Diese treuherzige magyarisch-wienerische Geschichte im alten Stil könnte sich, trotz der Requisiten der neuen Zeit, siehe Schlafwagen und Börse, arg possierlich und konstruiert ausnehmen. Benatzky legte nach der Kostümprobe die Finger auf die Wunde: „Die Schwächen des Stückes.…die rückratlose Stilmischung des Stückes, das oszilliert zwischen derbster Posse und abitionösem Zeit-Stil und Lustspiel mit Anzengruberpathetik …kommen jetzt umso krasser heraus“. In Annaberg lässt Christian von Götz den Zuschauern keine Zeit, sich Gedanken über dramaturgische Holprigkeiten zu machen und inszeniert in eigener Ausstattung einen ebenso bunten und grellen Stilmischmasch mit weißgeschminkten Lustspieltypen mit aufgemalten Bäckchen rot und groß wie Tomaten, lässt das Männerquartett auf Melkschemeln singen, die Zensi und die Juliska die rosafarbene Brecht-Gardine (darauf aus Eine Frau, die weiß, was sie will von Straus/Grünwald: Einen Hut will ich tragen im ersten Akt, mit wallenden Federn im zweiten Akt, und drei Toiletten im dritten Akt, und im vierten Akt, da komme ich nackt) bedienen und wirft das exaltierte Personal auf ein bunt schraffiertes Türenkarussell. Und wenn er nicht weiterweiß, kraxeln Ilka und Schorsch in Spielkisten statt Coupés, müssen der Industrielle und die Schwiegertochter in spe um die Wette Sackhüpfen, schlagen Schorsch und sein Adjudanterl Graf Bronsky Purzelbaum, stellen sich die Liebenden auf Inlineskater oder schwingt sich Reingruber mit Tarzanschrei über die Szene. Ein riesiger Kindergeburtstag. Das Ensemble u.a. mit Judith Christ-Küchenmeister, Bettina Grothkopf, Lászlo Varga, Jason-Nador Tomory und Leander de Marel hat Spaß daran.

Der Komponist Ralph Benatzky/Wikipedia

Für einen Augenblick ist man perplex, doch dann wird man mitgerissen vom Elan des Herrn von Götz, dessen Blödelei Methode hat. Zudem gibt die von Wolfgang Böhmer recht ordentlich bewältigte Neuorchestrierung dem Komponisten recht, „die Musik ist… empfunden und gut, vielleicht sehr gut!“ Unter Leitung von Jens Georg Bachmann klingt die Erzgebirgische Philharmonie Aue in diesem Kammerspiel zunächst etwas vorlaut und die Balance zwischen Musik und Sprechen, Gesang und Singsprechen ist ein bisschen unausgewogen. Insbesondere Madelaine Vogts forsche Ilka wirkt anfangs zu opernhaft hochtourig und knallig im Sprechen, doch dann legen sich Ecken und Kanten. Ganz ausgezeichnet gelingt dieses beiläufige Singen Richard Glöckner, dessen Schorsch den Drang zu Bühne aus jeder Pore schwitzt, ein Setzkasten-Tenor mit Backfisch-Strahlen, der nichts falsch machen kann, der singt und tanzt und hüpft, sich schwingt und wiegt, erzählt und flüstert, dabei nie die perfekte Diktion und den rechten Augenaufschlag unter der Goldlockenperücke vergisst. Glöckner gibt den Tenorschlager „Ich hab mich verliebt“ wie ein Heilsversprechen und charmiert, nachdem sich Vogt im „Ohne Gans kein Gänseklein“ als ekstatische Ballerina locker gemacht hat, im Liebesduett mit Ilka, wo Benatzky die alte k. u. k.-Welt durch kurze Anklänge an die Blaue Donau und den Fledermaus-Czárdás feiert. Überhaupt liebt es Benatzky, Bekanntes anzustimmen und dann einen Haken zu schlagen, so dass die Musik zwischen wohlgefälliger Routine und melodiös dahinfliegendem Sprechsingen hinreichend Überraschungsmomente besitzt, die die Zeit der Martinsgänse überstehen sollte.  

Ein Jahr nach Benatzkys und Müllers Der reichste Mann machten sich, ebenfalls in Wien, Erich Zeisl und Hugo von Königsgarten an ein Lustspiel mit Musik – nach Georg Büchners Leonce und Lena. Mit der deutschsprachigen Erstaufführung holte Moritz Glogg nicht nur eine weitere ausgesprochene Rarität nach Annaberg, sondern setzte in der klugen Wechselwirkung zu Benatzky einen bemerkenswerten Akzent zu Beginn seiner Tätigkeit als Intendant. Aufführungen von Zeisls Leonce und Lena waren für das späte Frühjahr 1938 in Schönbrunner Schlosstheater unter dem später an der San Francisco Opera tätigen Kurt Herbert Adler geplant. Zuvor überschlugen sich die Ereignisse. An eine Aufführung war nicht mehr zu denken: einen Tag nach dem vom 11. auf den 12. März 1938 erfolgten Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland floh der 1904 in Brünn geborene, einer wohlhaben jüdischen Familie entstammende Hugo von Königsgarten nach England, wo er als Lehrer und Literaturwissenschaftler bis zu seinem Tod 1975 lebte. Im Herbst des selben Jahres emigrierte der 1905 als Kind jüdischer Eltern in Wien geborene Erich Zeisl über Paris in die USA; seine Eltern wurden in Theresienstadt umgebracht. In Kalifornien versuchte sich Zeisl auf Vermittlung Hanns Eislers zunächst als Filmkomponist, bevor er auf Empfehlung Strawinskys Mitte der 50er Jahre eine Stelle als Kompositionslehrer in Los Angeles antrat, wo er 1959 starb. Weder mit den als frustrierend empfunden Arbeiten für den Film noch mit seinen klassichen Kompositionen konnte der u.a. von Joseph Marx ausgebildete Zeisl an die Wiener Erfolge in den 30er Jahren anknüpfen. Zeisls farbige, handwerkliche bestens ausgearbeitete Musik hat bei allem Witz und quecksilbrigen Hurtigkeit einen durchaus melancholisch, romantisch schwermütigen Zug, „Es ist ein sehr fröhliches, unbeschwertes kleines Werk, aber ich sehe jetzt, dass viel von meiner damaligen Traurigkeit in die Musik eingeflossen ist. Es war das letzte, was ich schrieb, bevor ich Wien verließ“. Mit der Zwölftontechnik seines Kollegen Schönberg konnte Zeisl sich nie anfreunden: „Ich glaube nicht, dass melodisch altmodisch ist. Überhaupt, was ist falsch daran, romantisch zu sein?“ Mit Schönberg bleibt Zeisls Name insofern verknüpft als seine Tochter Barbara 1965 Schönbergs Sohn Ronald heirate; deren Sohn Eric Randol Schoenberg hat sich übrigens als Anwalt einen Namen gemacht u.a. im Rechtsstreit zwischen Maria Altmann und der Republik Österreich, der mit der Rückgabe von fünf Gemälden Gustav Klimts an Altmann endete. Dieses und vieles mehr ist biografisch und im Hinblick auf den Künstlerkreis um Zeisl hochinteressant.

Erich Zeisls „Leonce und Lena“ in Annaberg/Szene/Dirk Rückschloß / Pixore Photography

Lenken wir den Blick zurück auf das Opern-Lustspiel Leonce und Lena, das 1952 an Zeisls Wirkungsstätte, dem City College Los Angeles, in einer englischsprachigen Fassung von Zeisls Wiener Freund, dem Schriftsteller und Hollywood-Drehbuchautor Hans Kafka zur Uraufführung gelangte. In Annaberg kam nun erstmals die von Renate Publig erarbeitete deutsche Textfassung zum Einsatz, die das nur fragmentarisch erhaltene Originallibretto von Hugo von Königsgarten ergänzt und dabei auch die in Amerika vorgenommenen Änderungen berücksichtigt. Die Oper hält sich, so der Eindruck, stark an Büchner, verlangt von den Sängern aber eine sichere Sprachbehandlung, da den Autoren ein Stück in der „Art eins Singspiels mit gesprochenen Dialogen und Musik“ vorschwebte. Das Ergebnis ist eine federleichte Preziose für Studio-, Zweit- oder ambitionierte Hochschulbühnen, in der sich ausführliche Sprechpassagen mit filigranen instrumentalen Vor- und Zwischenspielen, kurzen Gesangssequenzen, Liedern, ariosen Teilen, kleinen Duetten, Quartetten und vielen Melodramen abwechseln.

Erich Zeisl/ Wikipedia

Der Ton ist zwar auch mal, so im zentralen „Traumduett“ der Königskinder Leonce und Lena, spätromantisch üppig à la Korngold oder Strauss, doch vornehmlich durchsichtig, dabei leicht schwermütig und notturnohaft angeleuchtet in Leonce‘ Gedankengängen. Neben dem schlichten Volksliedton bei Lena („…das alte Lied“) steht die tarantellafeurige Koloratur im Lied von Leonce‘ Geliebter Rosetta (Bridgette Brothers). Die höfischen Szenen erklingen als Parodie auf sämtliche Väter- und Königsansprachen bei Wagner oder anderen (mit Lászlo Varga als König Peter) und sind mit kecken Fanfarenmärschen und Aufzügen des Staatsapparates à la Prokofjew buntscheckig wie ein Kinderbuch. Es gibt ein pralles Trinklied des Valerio, in dem der auch in anderen Partien umtriebige Jason-Nandor Tomory seinen gepflegten Kavaliersbariton zeigen kann, ein kleines Couplet für die Gouvernante, dazwischen Richard Glöckner mit knabenhaft schwärmerischem Tenor als Leonce und Bettina Grothkopf mit gefühlvollem Agathen- oder Paminenton als Lena. Der über hinreichend Kabarett- und Kleinkunst-Erfahrung verfügende Dieter Klug brachte das Stück, das mich ein wenig an den ungarischen Familienopern-Klassiker Des Königs neue Kleider von György Ránki aus dem Jahr 1952 erinnert, mit der Erzgebirgischen Philharmonie Aue zu schöner Wirkung. Auf der Bühne der Charme der 1960er Jahre: Vor einer der kindlich naiven Naturszenen, die sich Henri Rousseau erträumte, rollte Ausstatter Martin Scherm eine grüne Spielweise aus, auf der sich die Königskinder aus den Reichen Pipi und Popo (Inszenierung: Jasmin Sarah Zamani) ihre Welt aus Würfelelementen zurechtbasteln.  Rolf Fath

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Osnabrück: Theater am Domhof – Karol Rathaus’ Zeitoper Fremde Erde. Das Schicksal seiner Landsleute, die einer ungewissen Zukunft wegen ihre Heimat verließen, beschäftigte Karol Rathaus seit seiner Kindheit. Sie gaben Dörfer und oft auch Familien auf und fanden statt Geld und Reichtum oftmals nur den Tod, „Naive und gutmütige Ost-Menschen, oft falsch informiert, jedenfalls nicht in der Lage, zu ermessen, dass jeder von ihnen dem furchtbaren Prozess der „Entwurzelung“ bedingungslos ausgeliefert ist“. Als 1930 an der Berliner Staatsoper seine einzige Oper Fremde Erde uraufgeführt wurdeahnte Rathaus nicht, dass er einmal ihr Schicksal teilen würde. 1932 ging der 1895 im ostgalizischen Tarnopol geborene Jude Rathaus nach London, zwei Jahre später nach Paris, bevor er 1938 Europa endgültig verließ und nach Amerika emigrierte, wo er bis zu seinem Tod 1954 an New Yorker Queens College unterrichtete, „in dem Lande, wo ich (glücklich übrigens) lebe, bin ich ein „Non-Native“. Die Begriffe „Heimat“, „Fremde Erde“ tauchen immer wieder in der Oper auf, die Sehnsucht nach der Heimat wird zum treibenden Element. Der Text zu seiner Oper stammt von der ehemaligen Sängerin und Gesangslehrerin Kamilla Palffy-Waniek, die damit einen von der Universal-Edition ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen hatte. Rathaus, der von Wien aus einem Lehrer Schreker nach Berlin gefolgt war, hatte 1927 mit seinem von George Szell an der Staatsoper uraufgeführtem Ballett Der letzte Pierrot nachdrücklich auf sich aufmerksam gemacht, worauf ihm Erich Kleiber den Auftrag zu einer Oper gab. In jenen Jahren, als Kroll- und Staatsoper um Novitäten rivalisierten und Kollegen wie Korngold, Krenek, Weill, Brand, Hindemith, Schönberg und andere den Begriff „Zeitoper“ mit unterschiedlichen Inhalten füllten, eine ehrenvolle Aufgabe, die Rathaus offenbar gut bestand. Die Staatsoper bot die besten Kräfte auf. Kleiber, der Anfang 1930 Milhauds Christophe Colombe herausgebracht hatte, dirigierte selbst, Oberregisseur Franz Ludwig Hörth inszenierte, Emil Pirchan schuf die Bühnenbilder, Rose Pauly sang die Partie der Südamerikanerin Lean Branchista, mit Herbert Janssen und Fritz Soot waren weitere Stars des Hauses im Einsatz. Das Publikum schien mehr angetan von dem Auswandererschicksal als die Presse. Immerhin wurde Fremde Erde noch in Mannheim und Dortmund gegeben, dann erst wieder 1991 unter dem entdeckungsfreudigen John Dew während seiner für die Opern der 1920er und 30er Jahre so wichtigen Ära in Bielefeld. Schwer zu entscheiden, weshalb es dennoch so still um Rathaus und seine Fremde Erde blieb.

Der Komponist Karol Rathaus/Wikipedia

Der Inhalt ist anrührend – auch naiv und sentimental – und schildert die Überfahrt litauischer Auswanderer im Unterdeck eines Auswandererschiffes. Unter ihnen Semjin, zusammen mit seiner Verlobten Anschutka und deren Vater Guranoff. An Deck feiern und tanzen die Reichen, darunter Lean Branchista, die aus Europa zurück zu ihrer Hacienda und ihren Mimen nach Südamerika reist. Semjin will ebenfalls Geld und Mach erringen, will alles haben, „will Herr sein wie sie“. Die Branchista ist angetan von Semjin und weist ihren Agenten Rosenberg an, den jungen Mann um jeden Preis zu verpflichten. Die Hitze und Entbehrungen in der südamerikanischen Wüste und die Arbeit in den Salpeterminen setzen den Auswanderern zu. Viele sterben. Obwohl Lean bereit ist, ihnen eine Woche Urlaub zu gewähren, peitscht ihr Verwalter Esteban die Leute mit großer Brutalität zur Arbeit an. Im aufsässigen Anführer Semjin erkennt Esteban schnell seien Nebenbuhler. Als Lohn für die Hingabe, mit der er Leans Reichtum mehrte, fordert er ihre Liebe. Sie weist ihn ab. Der zum Liebhaber beförderte Semjin verfällt Leans Faszination und lässt die wie Manon in der Wüste dürstende Anschutka und ihren Vater den Rückweg in die Heimat antreten. Seine Heimat ist hier. Bei einem Ausflug zum Salpeterwerk stößt Semjin Lean auf die Missstände und die Toten und bittet sie, seine Landsleute freizugeben. Lean ist gelangweilt, verweist auf die Gesetze des Stärkeren und des Dschungels und flüchtet zu Esteban. Semjin schlägt sich schließlich nach New York durch, trifft auf die völlig entkräftete Anschutka, die in seinen Armen stirbt. Neuerlich taucht der Agent Rosenberg auf, der ihm ein Angebot unterbreitet („Kannst werden ein Millionär“), doch Semjin will nur noch eine „Arbeit wo ich am schnellsten krepier!“

Das Libretto verbindet also packendes Aus- und Einwandererschicksal mit einem sexuell aufgeladenen Beziehungsgeflecht ohne die dezidiert sexualpathologischen Abgründe, die der Rathaus-Lehrer Schreker bloßlegte. Der Text ist die Schwäche. Anfangs mag man den poetischen Bildern noch glauben, die Palffy-Waniek zu Störchen, Steppe und Heimat einfallen, doch zunehmend ist man angeödet von den schiefen Bildern und Vergleichen, von pathetischen Floskeln und papierenen Empfindungen und den „veilchenblauen Bergen“ und „Müde Hände sinken in das dürre Grab“. Ganz anders die unsentimentale Wahrhaftigkeit der Musik, vor allem die instrumentale Bravour, mit der Rathaus den Orchesterapparat einsetzt, Flöten, Blechbläser und Xylophon solistisch herausstellt, dann die Streichefülle untermischt und vorsichtig Jazz begibt und die Selbstverständlichkeit, mit der er traditionelle Formen vom Rondo bis zur Toccata und Passacaglia bediente. Das Lauernde und Pochen, die Intensität der Vor- und Zwischenspiele des vierten Aktes gehören zu den Qualitäten der Musik. Freilich gibt es auch viel Deklamation und Sprechgesang, die in den Solopassagen der Anschutka kraftlos auf der Stelle treten, viel Gutgemeintes in den Reden des Semjin und chorische Betroffenheit. Hier und dort ein paar Längen. Bereits im ersten Akt umflirrt Rathaus die Auswanderer durch Leans Lied mit südamerikanischen Gefühlen, die sich in „Wellen, Wellen, meine Mutter ist das Meer“ jazzig und ein bisschen charlestonhaft geben, im Gesang von Leans Dienerinnen zu Beginn des zweiten Aktes diskrete Rumba andeutet und in den Amerika-Stimmungen auch an Weill erinnert. Susann Vent-Wunderlich darf als Lean die Wandelbarkeit ihres jugendlich-dramatischen Soprans in rauchigen Jazz-Applikationen und wollüstig herausgeschleuderter Geilheit zeigen und im zweiten Akt ein ekstatisches Duett mit Semjin anstimmen, einer der wenigen leidenschaftlichen Momente der Oper.

Karol Rathaus: „Fremde Erde“ in Osnabrück/Szene/Foto Stephan Glagla

James Edgar Knight spielt den Bösewicht Esteban mit raumfüllender Autorität und sing mit dunkel bohrender, fast heldentenoraler Leidenschaft. Der lyrische Bariton Jan Friedrich Eggers muss sich als Semjin weitgehend mit trockener Deklamation begnügen und Olga Privalova als Anschutka ihren wendigen Mezzosopran zu Leidensgesten reduzieren; Erik Rousi als Vater Guranoff, Julie Sekinger als berechnende Dienerin Rosette und vor allem Mark Hamman als Rosenberg, ein tenoraler Kraftmeier in der Reihe von Bergs Tambourmajor und Strauss‘ jungem Elektra-Diener, ragen aus dem breiten Ensemble heraus. Die Aufführung (26. Oktober 2021) wurde nachdrücklich beklatscht, was auch auf das Konto des 40jährigen, seit 2012 als GMD wirkenden Andreas Hotz geht, der die kantige Modernität der Musik bis zum drehorgelhaften „Yankee-Doodle“-Schlusspunkt gestochen scharf akzentuiert und ihre Herkunft von Wagner und Strauss nicht völlig ausblendet. Durchaus eine Entdeckung. Mit nur wenigen Zeichen, Möbeln und Tafeln – und suggestiver Beleuchtung – gelingt es Markus Meier die Orte der vier Akte zu umreißen und die jeweiligen Situationen zu verdichten: ein breiter Containerverschlag für das Zwischendeck, Werbetafeln für Coke-Becher, Burger und Fritten für den amerikanischen Traum in der südamerikanischen Wüste, ein Rohrbogen, aus dem die gefährliche Dämpfe entweichen, für das Salpeterwerk und zuletzt eine zum Revuegirl verkommene Lady Liberty als Adieu an New York. Die zwingende und klare Inszenierung von Jakob Peters-Messer enthält sich einer Aktualisierung und wirkt umso überzeugender.  Rolf Fath

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Siegfried Wagner hatte keinen leichten Weg, das gilt für seine Werke noch weit mehr als für sein persönliches Lebensglück. Dabei trifft ihn zugleich das Schicksal des „Frühvollendeten“, mithin also jener Denker- und Schöpfer*innen, denen gleich zu Beginn ihrer produktiven Phase Maßstäbliches, gar Meisterliches gelingt – und die fortan nur daran noch gemessen werden. Während die Welt um sie herum permanent weiter sich dreht und entsprechend gewandelte Erwartungen hervorbringt, geraten solche Genies dann leicht ins Abseits des Fortschrittskarussels und seiner Gier nach ständig-Neuem. Hat Siegfried Wagner bereits in seinen ersten Bühnenwerken seinen Personalstil gefunden – der 1900 auf der Höhe von Zeitgeschmack, entwickeltem Anspruch und theaterpraktischer Betriebstauglichkeit lag – so war es für weitere Erfolge wenig hilfreich, dass Wesen und Charakter späterer Stücke als nahezu entwicklungslos wahrgenommen wurden, da ein forcierter Fortschritt des Materialstandes kaum zu finden ist.   Wozu auch? Für den wesentlichen Gehalt seiner Sujets – allesamt selbst entwickelt! – hatte er ja das passende Format in identischer Autonomie bereits gefunden. War „Der Bärenhäuter“ op. 1 von 1898 noch Kassenschlager vieler Opernhäuser im gesamten Reich, so sanken die Aufführungszahlen in späteren Jahren rapide ab und kamen ab 1914 fast vollständig zum Erliegen und auch nach Kriegsende kaum je wieder in Fahrt.   Auch „Der Friedensengel“ op. 10 bildet hierin keine Ausnahme, ist klassischer Siegfried Wagner at his best und folgt auch inhaltlich dem Muster dunkler Stoffe, welches seelische Tiefen und Untiefen auslotet, ohne dabei zu psychologisieren: weder fachlich im Guten noch gefällig im Schlechten. Seine Figuren agieren selten klar motiviert, ihre Handlungen folgen kaum erklärlichen Mustern, und deren Ursachen sind den Handelnden selbst oft ebenso unklar. Auch der uralte Konflikt des nach Freiheit strebenden Individuums mit den verhärteten Strukturen einer starr-lieblosen Gesellschaft mündet in keinen revolutionairen Befreiungsschlag. Es gibt für ihn keine fassliche Vision einer besseren Zukunft, die zu konkreter Aktivität motivieren würde. Stattdessen leiden die Handlungsträger an Lasten der Vergangenheit, an Flüchen und verborgener Schuld: sie gehen voll auf im geistigen Kosmos jenes Mittelalters, in dem fast alle Stücke situiert sind.

Willfried will aus seiner unglücklichen Ehe mit Eruna heraus, was schwerlich an Eruna liegen kann, so dass seine Motivation eher unklar bleibt. Willfrieds Friedenswillen darf man indessen kritisch beäugen, denn auch zur Jugendliebe Mita hat er kein konstruktives Verhältnis: als Mita seinen Plan zum gemeinschaftlichen Selbstmord zurückweist, fällt ihm nichts Besseres ein, als sich alleine umzubringen. Die übermächtige Mutter Kathrin und andere Vertreter der örtlichen Strukturen zeigen wenig Verständnis, weder für die eine noch die andere Seite, sind aber gerne bereit zu flotten Schuldzuweisungen an Unbeteiligte, z.B. an Mita, die nun, als Willfrieds Mörderin bezichtigt, zum Opfer des Fehmegerichtes wird, um jenen Selbstmord zu vertuschen, der Mutter Kathrins drängendstem Anliegen im Wege   steht: den Leichnam Willfrieds unter kirchlichem Segen in „geweihter Erde“ zu begraben.   Am Ende fliegt der Schwindel auf, der rasende Mob ist nicht zu stoppen, nur ein stummer Friedensengel als deus ex machina verkündet am Grabe finalen Frieden, von dem dann keiner mehr was hat.

Während Siegfried Wagners Vater Richard seine Konzeption eines Dramas über „Jesus von Nazareth“ als Sozialrevolutionär nicht zur Ausführung brachte, hatte Siegfried Wagners Großvater Franz Liszt „Christus“ als Oratorium komponiert – und in Siegfried Wagners Opus 10 tritt jener final als „Heiliger Christ“ auf und gibt so der zehnten Oper den Titel.

Oft sind es jene Außenseiter und düsteren Gestalten, denen Siegfried Wagner dankbare Aufgaben anvertraut. Da ist Ruprecht als Anführer jener wilden Meute, der gerade in seiner unappetitlichen Raserei reichlich Gelegenheit zu finsterem Glanz erhält, die Reuben Scott gekonnt aufgreift und stimmmächtig umsetzt; und da ist Andries Cloete als ein rücksichtslos Männlein und Weiblein begehrender Lebemann, dem man eine frühere, echte Beziehung zu Mita so gar nicht abnehmen will. Reinholds verschlissen glänzender Morgenrock unterstreicht kaschierend, wie sehr er aus Zeit und Sinn gefallen ist. In dessen lustvoller Gestaltung geht Cloete aber so hingebungsvoll auf, dass es eine helle Freude ist, ihn zu erleben. Und da ist nicht zuletzt auch Uli Bützer als Balthasar, dessen Ansprache auf einer beiläufigen Hochzeitsfeier zur Generalabrechnung mit der gesamten Institution Ehe gerät, womit er die geplante Feierlichkeit an den Rand des Scheiterns bringt.  Verglichen damit hat Julia Reznik als Eruna eher wenig Chance zum Glänzen, die sie aber entschlossen nutzt. Bleibt noch Mita: hier erleben wir Rebecca Broberg auf der Höhe ihres Schaffens! Wenn man das Glück hat, sie in ihrem nun schon länger als zwei Jahrzehnte währenden Einsatz für das Werk Siegfried Wagners und seiner Zeitgenossen zu begleiten, so ist es eine Freude zu sehen, wie weit sie hier gekommen ist.

Siegfried Wagners Oper „Der Friedensengel“/ Szene von der Premiere 2021 in Bayreuth in der Inszenierung von Peter P. Pachl/Foto Martin Modes

Peter P. Pachl als Inszenator nutzt geschickt die Topik jenes Ortes, der seit drei Jahren die Avantgarde-Bühne der Bayreuther Festspiele darstellt. Pachls Regie löst zum einen Siegfried Wagners Vorgaben und zumeist sogar dessen Regieangaben minutiös ein, führt sie aber durch die Lesart seiner Inszenierung weiter. Da der Aufführungsort „Kulturbühne Reichshof“ (am 21. August 2021) ein ehemaliges Bayreuther Lichtspiel-Theater ist, in dem auch Siegfried Wagner wiederholt Filmaufführungen besucht haben soll, arbeitet diese Produktion (wie auch schon die vorangegangene, „Sonnenflammen“ op. 8; auf DVD bei Naxos: MP 2.220007), mit Ausschnitten aus historischen Stummfilmen. So ist etwa bei der Klage über das zu lange Angelus-Glockenläuten des Mesners, das die Potentaten vom abendlichen Schoppen abhält, das lustvolle Läuten des Glöckners von Notre-Dame zu sehen. Insgesamt aber ist die Opernhandlung in die nahe Zukunft verlegt: in „Star Wars“-Manier arbeitet die Projektion von Robert Pflanz mit den Jahreszahlen 1914 (Vollendung der Oper / Beginn des Ersten Weltkriegs), 1984 (George Orwell) und 2024 (geplanter erster Passagiere-Flug zum Mars). Schon beim Vorspiel erleben Menschen in weißen Raumfahrtanzügen (Kostüme: Christian Bruns) in raschen Bildsequenzen die unheilvolle Geschichte der Erde – mit diversen, sich als fatal herausstellenden politischen Heilsbotschaften und vermeintlichen Friedensfürsten, Kriegen, Verwüstung und Zerstörung – also genau das, was der Komponist in seiner eigenen Deutung des Vorspiels als „Hass allwärts!“ umreißt. Mit sich genommen haben diese Raumfahrer das gesammelte Wissen der Erde und persönliche Erinnerungen in Buchform. Diese Bücher-Stapel bilden im Laufe des Abends die einzigen Dekorationsteile. Im Raumschiff lassen sich Türen öffnen zu Räumen der Erinnerung, die sich aber zumeist als Schreckensörtichkeiten erweisen, Folterkammern der Wissenschaft und des sozialen Lebens.

Wer will, darf’s Zufall oder Fügung nennen, dass ausgerechnet Siegfrieds Sohn Wieland Wagner für eine nie realisierte Aufführung des „Friedensengel“ Bühnenbildentwürfe entwickelt hat, die überliefert und erhalten sind und die affirmationsfrei-dekonstruktionistisch – gewissermaßen als zweite Ebene – in diese Inszenierung eingeflossen sind.

In diesen ereignet sich die eigentliche Opernhandlung. Mit elektronischen Mitteln der Bildverfremdung leert der Bühnenbildner diese Illusionsräume kontinuierlich, lässt die Gegenstände sich beleben, die bürgerliche Welt erbeben oder auf dem Kopf stehen. Dazu dann in einer runden Vignette eine Fülle von Assoziationsketten filmischer Art, bis hin zum Wrestling bei der Auseinandersetzung der Rivalinnen Mita und Eruna und zu masochistischen Experimenten an den Körpern der Nonnen im Kloster. Der vermutlich von Büchners „Woyzeck“ hergeleitete Doctor (Chunho You) vollführt seine schlimmen Experimente an Willfried (dem Heldentenor Giorgio Valenta), transportiert mit hoher Textverständlichkeit; dazu überspannen Robert Pflanz‘ Projektionen den Bogen in die jüngste Vergangenheit mit Filmsequenzen des Gesundheitsministers Spahn und dem zu einem medizinischen Schädel-Schaubild mutierenden Gesundheitsexperten Lauterbach.

Spätestens hier kippt das Ganze: amtierende Politiker und Verantwortungsträger filmisch in eine Reihe zu setzen mit Gewaltherrschern aller Zeiten und Länder überschreitet definitiv die Grenze zur Geschmacklosigkeit und liefert obendrein ohne jeden deutungsrelevanten Mehrwert billige Munition ins Lager der Corona-Leugner! Selbst noch der Sinn eines Mitschnitts für DVD-Zwecke wird hier um des kurzweiligen Effektes willen beschädigt, weiß doch bei deren Beschau in 20 Jahren vermutlich kaum noch jemand, wer „das“ denn gewesen sein soll. Weniger wäre hier eindeutig mehr gewesen!

Doch zurück ins Geschehen: Ein Triumvirat von lokaler Politik (Bürgermeister Balthasar von Kronach), Wissenschaft und Kirche (Robert Fendl als lavierend pastoral-basstonaler Pfarrer) bildet auf der Grundebene der Erzählweise auch die Führungsmannschaft des eingeblendeten Raumschiffs – und Balthasar ist es offenbar nicht recht, dass so viele Bücher mitgenommen wurden, die er zugunsten rein elektronischer Informationen lieber verbrannt sähe. Mita wird auf Fahndungsplakaten als „Mörderin Mita Rot-Mainhoff“ gesucht. Von der Domina Gerta (nomen est omen), einer neureichen Frau beim Kirchweihfest des zweiten Aktes, wird Mita mithilfe von SM-Clips und eines abgerissenen Buchdeckels das Schild „Hure“ umgehängt. (Rafaela Fernandes interpretiert die Gerta-Partie mit gebotener Schärfe ihres dramatischen Soprans.)

Die Fehme trifft sich nächtlich am Kraftfeld der Staffelsteine: sie ist eine Gesellschaft mit Spitzmützen á la Ku-Klux-Klan, und wieder sind die drei Potentaten die Anführer dieser illegalen Justiz. Der Fronbote (Bassist Di Guan) setzt Zeichen mit Brandmalen, weshalb Siegfried Wagner diesen Ort denn auch als „Malstatt“ bezeichnet. Dem ein halbes Jahr unschuldig zwangsinhaftierten Knecht Rudi – ganz wunderbar gespielt und gesungen von dem jungen Bassbariton Jakob Ewert – wurde von der Folter offenbar die Zunge abgeschnitten, so dass er vor Gericht nur noch lallen kann. Ankläger ist der – in dieser Inszenierung vom Bürgermeister dafür bezahlte – Ruprecht. Auf dem Friedhof wird er Eruna brutal vergewaltigen, die er ursprünglich doch hatte ehelichen wollen.

Siegfried Wagner mischt gerne die Ebenen Musik, Gesang, aleatorische Geräusche und frei gesprochenes Wort von „vernehmbaren Stimmen“. In solchen Momenten, wie in den wenigen chorischen Einwürfen sind auch die Solisten Anna Ihring (auch Braut Gundel) Lars Tappert (auch Bräutigam Anselm) Angelika Muchitsch (auch die schlampige Trina) und Marie-Luise Reinhard (Bäckermädel) zu erleben.

Für den Zuschauer gibt es viel zu verarbeiten, einiges davon wird sich wohl erst beim wiederholten Betrachten der geplanten DVD dieser Produktion entschlüsseln lassen. So erscheint das Graumännlein in Erunas Wahnsinnsanfall nicht konkret, sondern ist – in der Psychose der sexuell unterforderten Gattin Willfrieds –ein personifiziertes Hemd, welches gewaltsam in sie eindringt; Julia Reznik spielt und singt diese Szene besonders eindrucksvoll und nachhaltig.
Nicht zu ersparen bleibt die Kritik, dass die immense Materialschlacht insbesondere in den filmischen Einblendungen entschieden mehr stört als bereichert. Es muss doch bewusst sein, dass keineR der ZuschauerInnen das Stück jemals live gesehen hat, dass also alle vollauf damit beschäftigt sind, zu verstehen, was da überhaupt abgeht. Wer aber ums Erfassen der ohnehin schon reichlich verzwickten Ursprungshandlung bemüht ist, wird aus dem überbordenden Assoziationsmaterial wenig mitnehmen und im übrigen die störende Ablenkung beklagen.

Aber was sind all diese Eindrücke gegen die scheinbar schwerelos schwebende Utopie von Frieden und Freiheit, wie ihn Rebecca Broberg als Mita im Friedensgesang heraufbeschwört, der als konterkarierende Arie ihrem Monolog im Kloster folgt, umschlossen von jenem puccinesken Naturbild mit seinen ungewöhnlichen Tonartwechseln, das Siegfried Wagners kompositorische Freude am konservativen Experiment zeigt. Hier erblüht es unter der musikalischen Leitung von Ulrich Leykam durch den spitzenmäßig koordinierten Klangkörper „The Bayreuth Digital Orchestra“.

Ich hatte ich kurz Gelegenheit, mir von Leykam selbst erläutern zu lassen, was und wie er da gesammelt hat; auch scheint mir dieses Teilthema einer besonderen Würdigung wert, da ich wohl kaum der Einzige bin, der sich darunter nur schwer etwas vorstellen kann.
Beim „Digitalen Orchester“ handelt es sich um eine Eigenentwicklung von Ulrich Leykam. Zu diesem Zweck hat er in kaum fassbarer Mühe originale Tonspuren akustischer Instrumente in sämtlichen Tonhöhen und -Charakteren aufgenommen, die unter seinem „Dirigat“ verschmolzen werden derart, dass dabei eine manuell beeinflusste Synthese nicht-synthetischer Klangquellen sich ergibt, die hinsichtlich Tempo und Volumen je neu entsteht und dadurch dem realen Verlauf der je eigenen Aufführung variabel angepasst werden kann.
Der so entstehende Sound  gelingt freilich nicht in sämtlichen Klangrichtungen gleich gut; sind Bläser und Harfen von realen Instrumenten kaum zu unterscheiden, so ist dummerweise der Gruppen-Streicherklang bislang die hörbarste Abweichung zum Original. Hier wünschen wir Leykam eine glückliche Hand, um diese verbliebenen Defizite auch noch abzubauen! Denn so eine Art der Klangerzeugung bietet ja kaum erschöpfliches Potential zur Lösung vielfältiger Problemlagen des Aufführungsbetriebes: wo überall kein normales Orchester in üblicher Stärke auftreten kann, weil entweder der Saal zu klein ist oder das Portmonee, auch aber unter pandemie-relevanten Beschränkungen: dort bietet das Digitale Orchester zwar noch keinen vollgültigen Ersatz, wohl aber eine echte Alternative zur Ermöglichung des ansonsten Unmöglichen.

Vor- und Zwischenspiele sind voll bebildert und inszeniert, was freilich zu Deutlichkeit und Deutung wenig beiträgt. Im Zwischenspiel zum Schlussbild des Friedhofs löst sich ein Clou der Inszenierung ein: denn als ein männliches Pendant zu Mita wurde als pantomimische Figur ein Freund Mitja hinzuerfunden, über dessen Funktion man zuvor länger gerätselt hatte. Der in den Bildern der Opernhandlung zwischen Jüngling und Mädchen lavierende Knabe (charismatisch der Gymnasiast Mathis Bargel) wird hier vom Mob als tote Mita auf Willfrieds Grab gefunden; sie belebt sich in den letzten Takten der Oper und outet sich nach dem Ablegen ihres Unterrocks als Jesus.

Was aber passiert mit der singenden Mita? Bei jenem nicht unproblematischen Schluss einer himmlischen Heilsbotschaft durch einen weiblichen Chor von Engeln, der aus dem Inneren der verschlossenen Kirche tönt, wird sie hier in eine mit fünf Solostimmen ausgeführte Gruppierung integriert, die dem Hass der Welt die Liebe in jeder Form entgegensetzt. Ralf-Jochen Ehresmann

Für Enzyklopädiker

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Claudio Abbado war im Laufe seines 80 Jahre währenden Lebens immer wieder für Überraschungen gut. Er ließ sich in kein Schema und keine gängige Schublade pressen – weder hinsichtlich seiner beruflichen Karriere, noch seines musikalischen Repertoires. Seine Wahl zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker 1989, kurz nach Herbert von Karajans Rücktritt, war gewiss eine Überraschung – für alle Beteiligten: für den Dirigenten, das Orchester, die kulturpolitischen Instanzen und das Publikum. Eine noch größere Überraschung war vielleicht Abbados Entscheidung, über das Jahr 2002 hinaus auf eine Verlängerung seines Vertrages zu verzichten. Seine Erklärung, er wolle frei(er) sein, sich intensiver dem Studium der Musik, dem Lesen von Büchern und anderen schönen Dingen des Lebens widmen, ist nicht die ganze Wahrheit (die sicher nur ganz wenige Lebende noch kennen und diskret für sich behalten mögen).

Seine Zeit bei und mit den Berliner Philharmonikern bot eben auch wieder Überraschungen. Nicht nur lernte man die große Breite und Vielfalt seines Repertoires kennen, Werke der Klassik, Romantik, des 20. Jahrhunderts und ganz aktuelle zeitgenössische Komponisten, seine Leidenschaft für die Oper und sein Wirken für kunstsparten-übergreifende Programme (thematische Zyklen), für die er geschickt die Protagonistinnen und Protagonisten anderer Künste „ins philharmonische Boot“ holte und sich und dem Haus große Anerkennung erwarb. Schließlich überraschte er auch in der Rolle des Chef-Dirigenten. Er war der künstlerische Leiter auf seine Art, „Chef“ wollte er nicht sein, er prägte einen offenen, verantwortungsvollen Umgang aller Beteiligten miteinander. Gleichwohl wusste er mit „sanfter Gewalt“ doch seine Vorstellungen und Konzepte umzusetzen. Ulrich Eckhardt, lange Intendant der Berliner Festspiele und enger Vertrauter, ja Freund des Dirigenten, charakterisierte Abbado einmal so: „Als behutsamer Sachwalter motiviert er die ihm anvertrauten, sich ihm anvertrauenden Orchestermitglieder durch Kollegialität; denn seine Autorität erweist sich in der Sache, ohne persönliche Eitelkeit. Er praktiziert als Dirigent einen Stil antiautoritären, demokratischen Musizierens. Für ihn ist Musik eine Sprache für Menschen i, und er ist überzeugt von der Notwendigkeit der Freiheit des einzelnen, gepaart mit dem wechselseitigen Respekt vor der Würde und Leistung des anderen… Er ist glaubwürdig, weil er die Musik lebt, in sich trägt, nicht vor sich herträgt… Und am Schluss tritt kein Triumphator oder Priester ab, sondern ein Diener oder Mittler, der die Erschöpfung nicht verbirgt, wenn er sich verausgabt hat.“

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Abbado hat ein beträchtliches Oeuvre auf Tonträgern hinterlassen. Davon zeugt die imposante Edition der DG, die mit 257 CDs Dimensionen einer Diskothek hat. Der Begriff „complete recordings“, sämtliche Aufnahmen ist allerdings fragwürdig und marktschreierisch. In etlichen Fällen bieten so annoncierte Editionen im Bereich der Tonträger nur bedingt das, was sie suggerieren oder versprechen. Vielfach finden Afficionados oder Archivexperten dann doch noch etwas das fehlt und entlarven eine großspurige Ankündigung. Im vorliegenden Fall sind die Aufnahmen, die unter Abbados Leitung für die Deutsche Grammophon Gesellschaft und Decca in einer umfangreichen Edition zusammengefasst bzw. präsentiert. Immerhin wird im Impressum des großformatigen Begleitbuchs doch von den Herausgebern darauf hingewiesen, dass aus urheberrechtlichen Gründen einige wenige Aufnahmen fehlen müssen, die früher zeitweise unter dem DG-Label erschienen waren.

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Was die Box mit 257 CDs und 8 DVDs bietet, ist zunächst eine „einschüchternde“ Quantität. Neu ist davon nichts, diese Aufnahmen sind allesamt bekannt, Sammler, Kenner und Musikfreunde haben sie in ihren Regalen, kennen und schätzen sie. Erfahrungsgemäß sind einige Produkte dann nach Jahren nicht mehr zu haben oder nur noch in digitaler Form. Doch da greift man vermutlich nicht zu einer Box dieser Größe, die ja auch ihren stattlichen Preis (rund 760 Euro, 2023) hat. Das sind auf die Objekte gerechnet knapp 2,90 € pro Stück, also handelt es sich (noch) um ein günstiges Angebot.

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Kommen wir zur Bedeutung der Edition. Sie hat einen unschätzbaren Vorteil insofern, als sie die Karriere des Dirigenten Claudio Abbado von den Anfängen, als noch weniger bekannter Interpret, bis zu den späten Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern sowie den von Abbado gegründeten oder maßgeblich geförderten Orchestern (Lucerne Festival Orchestra, Mahler Chamber Orchestra oder Orchestra Mozart) abbildet. Und natürlich ist seine Zusammenarbeit mit dem Teatro alla Scala Milano, mit dem London Symphony und dem Chicago Symphony Orchestra, den Wiener Philharmonikern, dem Chamber Orchestra of Europe berücksichtigt, sind aber auch „Ausflüge“ zur Staatskapelle Dresden und dem Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks dokumentiert. In seinen letzten Jahren erschienen CDs oder DVDs meist als Mitschnitte von Konzerten – vor allem mit den Berliner Philharmonikern (bei EMI und im Eigenlabel des Orchesters) aber auch mit dem Lucerne Festival Orchestra oder dem Simon Bolivár Symphony Orchestra aus Venezuela.

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Mancher Konzert- oder Opernmitschnitt vermittelt gut, dass Abbado – darin ähnlich Wilhelm Furtwängler, seinem Vorvorgänger bei den Berliner Philharmonikern – in einer Live-Aufführung mehr wirkte und bewirkte als in einer minuziösen Studioproduktion. Im Konzert wirkte er direkter, suggestiver, vermochte das Publikum zu ergreifen, zu fesseln, ja zu überwältigen, freilich ohne Gewalt. Man denke nur exemplarisch an seine Interpretationen der Neunten Symphonie von Mahler mit den Berliner Philharmonikern und dem Luzerner Festspielorchester. Kaum auszuhalten ist die ungeheure Spannung am Schluss, den meisten Zuhörern stockte der Atem. Hier werden wirklich letzte Dinge verhandelt: der Abschied, nicht nur der des von Krankheit und Tod gezeichneten Komponisten, sondern auch Abbados, der seine schwere Krebserkrankung nicht überwinden konnte.

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Manchmal ist es aufschlussreich unterschiedliche Interpretationen bzw. Aufnahmen ein und desselben Werkes mit verschiedenen Ensembles zu hören. Genannt sei exemplarisch nur ein schlagendes Beispiel: Rossinis witzige Oper „Viaggio a Reims“ ist um Längen besser in der – allerdings für Sony eingespielten – Berliner Produktion von 1992, bei der die Berliner Philharmonie buchstäblich kochte, als die später entstandene DG-Aufnahme mit dem Chamber Orchestra of Europe.

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Höhepunkte von Abbados Aufnahmekarriere bei DG und Decca sind und bleiben: frühe Einspielungen von Prokofjews Dritter Symphonie (mit unglaublicher Vehemenz, Expression und Modernität; das hätte man gern im Konzertsaal gehört), der Skythischen Suite oder der Leutnant Kije-Suite; die kongeniale Einspielung des Klavierkonzertes G-Dur von Ravel und des dritten Klavierkonzerts von Prokofjew mit Martha Argerich; der Zyklus der Brahms-Symphonien mit den Berliner Philharmonikern, Mahlers Erste (Mitschnitt seines „Antrittskonzertes“ als Chefdirigent der Berliner 1989), die Fünfte, Siebte und Neunte; der frühe Zyklus der Mendelssohn-Symphonien mit dem LSO, eine Reihe von Mozart-Klavierkonzerten mit dem unvergesslichen Rudolf Serkin und dem LSO.

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Bei aller Fülle der DG- und Decca-Produktionen sei doch noch an einige Aufnahmen erinnert, die bei anderen Labels erschienen, vor allem an die Sony Aufnahmen aus den Jahren 1990 bis 1997 mit den Berliner Philharmonikern. Sie erschienen zunächst einzeln und wurden danach in drei Boxen wieder veröffentlicht: Mussorgskijs Oper Boris Godunow und die Lieder und Tänze des Todes, Tschaikowskys Fünfte Symphonie, das Erste Violinkonzert von Schostakowitsch mit Midori, Mendelssohns Sommernachtstraum-Musik und anderes mehr. 2014 waren sie Bestandteil der aus 39 CDs bestehenden „Complete RCA and Sony Album Collection“ mit Werken von Bach bis Nono – ein gutes Beispiel für die Weite von Abbados Repertoire. Schließlich sind zu nennen Hindemiths Kammermusiken und ein viel gelobtes Verdi-Requiem für EMI (heute Warner). Helge Grünewald

Halléns „Waldemarsskatten“

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„Das Gold, das uns Gott gegeben hat, leuchtet nicht mehr im Meer“, singt die eine. „Wir bewachten das leuchtende Gold vor der List des Diebes“, die andere. Und „Es leuchtet auf der Spitze des Kirchturms und schützt den Schatz vor den Rössern des Seegottes“, die dritte. Vorbild für Agirs Töchter Dufna, Unna und Dröfn, die den Raub ihres Schatzes beklagen und zu denen sich später als vierte noch Bylgia gesellt, sind unverkennbar die Rheintöchter. Kein Zufall. Als 19jähriger konnte der 1846 in Göteborg geborene Andreas Hallén, dessen musikalisches Talent früh erkannt wurde, durch die Unterstützung wohlhabender Verwandte seine Ausbildung in Leipzig aufnehmen, wo er nicht nur mit den konservativen, sondern im Kreis um Liszt und Wagner auch mit modernen Musikströmungen in Berührung kam. Zu seinen Lehrern gehörte Carl Reinicke, der Generationen nicht nur skandinavischer Komponisten den Weg gewiesen hatte, später in München Joseph Rheinberger und in Dresden Julius Rietz. Zurück in Göteborg machte sich Hallén ab 1872 an die Neuorganisation des Musiklebens seiner Geburtsstadt, kehrte zwischenzeitlich nach Deutschland zurück, wo sich der Wagner- und Liszt-Einfluss erstmals in seinen Kompositionen zeigte und sein Opern-Erstling Harald, der Wikinger auf Liszts Empfehlung 1881 in Leipzig unter Arthur Nickisch zur Uraufführung gelangte. Im Beiheft zu Waldemarsskatten heißt es zur Wikinger-Oper, „Harald the Wiking was the first Swedish musical drama in the Wagner style“.

Andreas Halléns Oper „Waldemarsskatten“: Der Komponist/ Wikipedia

Ab 1884 bis zu seinem Tod 1925 lebte Hallén, unterbrochen von einem fünfjährigen Aufenthalt in Malmö, in Stockholm und wurde sowohl in Malmö wie in Stockholm in zahlreichen Funktionen zum wesentlichen Motor des schwedischen Musiklebens. Seine ursprünglich für die Eröffnung des neuen Königlichen Theaters 1898 in Stockholm geplante und nach Harald der Wikinger und Hexfällan dritte Oper Waldemarsskatten/ Waldemars Geheimnis kam im April 1899 mit John Forsell, dem langjährigen Bariton-Star des Hauses und späterem Direktor, in der Titelrolle zur Uraufführung. Waldemars Geheimnis, das auch 1903 in Karlsruhe gegeben wurde, blieb bis 1924 im Repertoire des Königlichen Theaters, wo es mit über 60 Aufführungen zu den meist gespielten schwedischen Opern gehört. Dann verschwand die Oper.

Kein großer Verlust, wie der von Bengt Tommy Andersson mit dem Swedish Radio Symphony Orchestra und dem Radio Choir 2000 und 2001 in der Stockholmer Berwald Hall unternommene Versuch einer Ehrenrettung zeigt, der jetzt in der zehnten Ausgabe von The Romantic Opera in Sweden (Sterling CDO 1131/1132-2 wie stets hervorragend ausgestattet mit englisch-schwedischem Libretto und dto. Artikeln)) nachzuerleben ist. Die historischen Ereignisse um den dänischen König Waldemar IV. Atterdag und seine Invasion der schwedischen Insel Gotland, die im Juli 1361 mit der Niederschlagung des Bauernaufstandes und der Kapitulation der Stadt Visby endete, wird im Libretto des Forschers und Schriftstellers Axel Klinckowström mit fantastischen Elementen und einer Liebesgeschichte zwischen Waldemar und Ava ummantelt, der Tochter des reichen Bürgers Ung Hanse, die von Waldemar überredet wird, die Tore von Visby für die dänischen Soldaten zu öffnen. Der Ton ist im kurzen Prolog mit den Seegeistern dunkel raunend. Das Beste am Werk. Auch in der eigentlichen Oper ist in der Verwendung unendlicher Melodien und Leitmotive gelegentlich die Wagner-Nähe unverkennbar, doch nur noch als ferner Nachklang, der sich mehr und mehr verliert.

Andreas Halléns „Waldemarsskatten“: John Forsell als Valdemar Atterdag & Axel Elmblad als Abboten ich Valdemarsskatten, Königliches Theater 1899 Stockholm/ Ipernity

Auffallend ist in dem Vierakter vielmehr ein spätromantisch webender Klang, der das martialisch dröhnende ferne Mittelalter gefällig umkleidet, in den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen selten an dramatischer Schärfe gewinnt und vor allem in den Tanz- und Feierszenen des zweiten Aktes während des Mittsommerfestes vor den Toren Visbys einen originären Klang schwedisch sommerlich schwebender Leichtigkeit annimmt. Schwedische Heiterkeit, wie wir sie auch in den schönsten Szenen von Wilhelm Stennhammars ebenfalls in dieser Reihe vorliegendem Das Fest auf Solhaug finden. Übrigens war auch Stenhammars erste Oper zuerst in Deutschland herausgekommen. Atmosphärisch dicht breitet sich im dritten Akt von Waldemars Geheimnis die Szene vor der Kathedrale in Visby mit den Mönchen und den tiefen Stimmen von Bürgermeister (Stig Tysklind), Ung Hanse (Lars Arvidsson) und Abbot Klemens (Anders Lorentzon) aus.

Dazu viel länglich rezitativische Fleißarbeit, der B. Tommy Andersson immer wieder Akzente verlieht. Waldemar Atterdag ist eine schöne Partie für einen Kavaliersbariton. Der 1969 geborene Anders Larsson brachte zum Zeitpunkt der Aufnahme erste Erfahrungen mit Mozart- und leichteren italienischen Partien mit und gestaltet mit festem Ton einen jugendlich beherzten Eroberer. Weniger profiliert und ein wenig harsch und scharf klingt Lena Hoel als Ava, deren Kerkerszene mit Gebet nahezu den ganzen vierten Akt ausmacht und kein Ende zu nehmen scheint. Die kraftvoll zupackenden Chöre sind als Meerjungfrauen, Nymphen, Mönche, Krieger und Bevölkerung von Visby stark im Einsatz, bevor die Meerjungfrauen (Christina Green, Karin Ingebäck, Martina Dike, Ingrid Tobiasson) mit „Heil“-Rufen das zurückgewonnene Gold bejubeln.  Rolf Fath

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Zum Inhalt: Die Oper Waldermarsskatten ist eine Fantasie um ein reales historisches Ereignis auf der Insel Gotland an der Ostküste Schwedens, „Der Valdemar Atterdag, der Visby 1361 als Lösegeld erpresst“. Der Ostseehandel wurde beherrscht von dem deutschen Handelsmonopol der Hanse Liga, die von 1150 bis 1650 bestand. Die Stadt Visby gehörte zu diesem Verband. Nach einer Pestepidemie in den nordischen Ländern in den den 1350er Jahren, dem so genannten „Schwarzen Tod“, an dem ein Drittel der Bevölkerung starb, wollte der dänische König Valdemar Atterdag von den reichen Kaufleuten der Hanse für eine Erneuerung ihrer Handelsprivilegien ihrer Handelsprivilegien bezahlen. Valdemar machte sich auf den Weg nach Visby Ende Juli mit etwa dreißig Schiffen nach Gotland Juli 1361. Es kam zu Gefechten, zunächst an der Küste dann an der Stadtmauer von Visby, und insgesamt sollen etwa 1800 Schweden sollen ihr Leben verloren haben, während die Dänen etwa 300 Menschen verloren. Ein unfairer Kampf, könnte man meinen, denn das dänische Heer bestand aus deutschen Söldnern bestand, während Gotland von zivilen Bauern verteidigt wurde.

Andreas Halléns „Waldemarsskatten“: John Forsell som Valdemar Atterdag 1899 Musik-och teaterbiblioteket.Helledays Samling. kabinettsportträt

Es gibt nur wenige historische Quellen über diese Ereignisse. Einer Legende zufolge sollen sich die Einwohner von Visby sich ergeben und die Stadttore für Valdemar und seine Männer geöffnet Stadttore für Valdemar und seine Männer geöffnet, die dann Reichtümern plünderten. Die wahrscheinlichste Version ist jedoch, dass die Bürger von Visby beschlossen, Valdemar Atterdag als neuer Herrscher von Visby und Gotland anzuerkennen , um das Überleben der Stadt zu sichern. Was geschah, war keine Plünderung, sondern eine sogenannte Brandschatzung (ein Brandschatzung, d. h. die Bürger zahlten eine Bürger zahlten eine hohe Summe, ein Lösegeld, um zu verhindern dass Visby geplündert und niedergebrannt wurde. Dies ist ähnlich wie die italienische Mafia, die „Pizzo“ einfordert, Patronatsgelder, mit blutigen Konsequenzen für diejenigen, die sich weigern zu zahlen.

Valdemar Atterdag unterzeichnete am 29. Juli 1361 einen Privilegienbrief, der die früheren Privilegien der Stadt bestätigte, woraufhin er und seine Soldaten Gotland verließen.

Hallén hatte den ersten Kontakt mit dem Thema mit dem Thema in einem Gedichtzyklus, Gotländska sägner, Kung Valdemars skatt (Visby, 1891) von Algot Sandberg (1865-1922), der ihn bereits im 1891 dazu veranlasste, eine Orchestersuite der Fabeln über Ung-Hanses Tochter und ihren Ung-Hanses Tochter und ihren Verrat, sowie wie König Waldemar Atterdag Visby besteuert. Diese Suite mit dem Titel Ur Valdemarssagan, mit vier Szenen aus der Geschichte (Morgonväckt i St. Nikolaus; Valdemarsdansen; Ung-Hanse’s dotter; Svarthäll), wurde einige Jahre vor Waldemarsskatten geschrieben, aber die Musik wurde teilweise in der Oper wiederverwendet.

Andreas Hallén: Wer sich für Hallén interessiert, sollte unbedingt auch diese CD haben. Seine „Gustaf Wasa Saga“ unter dem Hallén-Champion Christopher Fifield bei Sterling (CDS 1070-2) vereint diese spannende, spätromantische Tondichtung mit weiteren atmosphärischen Klangbildern.
Und im geistlichen Bereich wird der Interessierte bei Halléns interessanter „Missa Solemnis“ für kleine Besetzung am Klavier bei der Swedish Society (SCD 1178) fündig (alle über Naxos). Der in Deutschland absolut unbekannte Hallén erschein damit doch greifbarer, zumal auch Blick zu youtube weitere Informationen ermöglicht. G. H.

Eine weitere Inspiration für die Oper war das berühmte Gemälde Der Valdemar Atterdag, der Visby zu erpressen (Valdemar Atterdag brandskattar Visby) von 1881 von Carl Gustaf Hellqvist (1851- 90), das sich im Nationalmuseum in Stockholm befindet. Es war zu seiner Zeit sehr beliebt und wurde häufig reproduziert, vor allem als Schulplakat im Geschichtsunterricht verwendet. Es hat das Bild vieler Generationen von Schweden von dem Ereignis in Visby im Jahr 1361 in gleichem Maße geprägt wie sich Gustaf Cederströms (1845-1933) das Gemälde Der Trauerzug Karls XII (Karl XII:s likfärd) (1878) in das nationale Bewusstsein in das nationale Bewusstsein eingebrannt hat. Diese beiden Gemälde repräsentieren den nationalistischen Zeitgeist des späten 19. Jahrhunderts.

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Erster Akt. Die Handlung der Oper hat mehrere Ebenen als die rein historische. Der erste Akt spielt an einem Meeresufer mit Stora Karlsö im Hintergrund. Wir werden von vier Meeresbewohnern empfangen, Ägirs Töchter“ (Bylgia, Dufva, Unna, Dröfn)13, die sich beschweren, dass ihr Schatz gestohlen wurde. In der nordischen Mythologie war Ägir ein Riese, der über über das Meer herrscht. Er bläst zu einem Sturm auf. In der Oper kommt Valdemar nicht mit seinem Heer in Gotland an, sondern als einziger Überlebender nach einem Schiffbruch. Als die Töchter von Ägir herausfinden, wer er ist, erkennen sie, dass er ihre Rettung sein könnte, um ihren Schatz zu bergen. Sie haben einen Pakt mit Valdemar geschlossen. Er wird die Macht über alle drei nordischen Länder bekommen, wenn er ihnen ihren Schatz zurückholt.

Zweiter Akt. Mittsommerfest auf einem freien Platz vor dem Hofes des reichen Bürgers Ung-Hanse in der Nähe von Visby. (In der der deutschen Fassung der Oper heißt er Peder Brand.) Alle amüsieren sich und tanzen. Es wird gemunkelt, dass die Dänen Visby angreifen werden. Valdemar erscheint, als Hirte verkleidet, und nimmt an der Feier teil. Keiner weiß, wer wer er ist, aber die junge Ava (Tochter von Ung-Hanse) interessiert sich für den geheimnisvollen Fremden. Sie ahnt, dass er kein einfacher Hirte ist, denn während des Tanzes sah sie zufällig eine Ritterkette unter seinem abgetragenen Gewand. Er gibt zu dass er ein Ritter ist, aber er behauptet, er sei in Verkleidung gekommen, um eine Braut zu finden, was Ava glaubt. Valdemar begreift, dass die Lüge nicht von Dauer sein kann und dass er enttarnt werden könnte, also macht er sich an Ava heran und schafft es, sie sie zu verführen (Intermezzo für Streicher und Harfe). Danach drücken sie ihre Liebe zueinander aus im Duett „Brenn Stern, brenn“. Unvermittelt gesteht Valdemar Ava, dass er gehen muss, aber er verspricht, zurückzukommen und ihr und ihrem Volk zu helfen wenn die Stadt von den Dänen umzingelt ist. Alles Ava muss nur das Stadttor öffnen, wenn er das das Zeichen gibt.

Andreas Halléns „Waldemarsskatten“: Carl Gustaf Hellqvists Gemälde von 1875, „Valdemar Atterdag raubt Visbys Lösegeld“ 1361, prägte das Geschichtsdenken ganzer Generationen in Schweden/ Foto oben ein Ausschnitt daraus/ Stockholmer Nationalmuseum/ Wikipedia

3. Akt Der dritte Akt findet am folgenden Tag statt, am frühen Morgen auf dem Platz in Visby mit der St. Katharinenklosterkirche auf der rechten Seite. Zunächst scheint alles ruhig zu sein, aber nach einer Weile hört man in der Ferne die Trompeten der Dänen. Bewaffnete Bürger kommen aus den Häusern. Ava bricht zusammen und merkt, dass sie betrogen wurde. Als sie das Tor öffnete, wurde sie von einem Wald von Speeren und dänischen Soldaten begrüßt, die hereinstürmen. Die Bürger von Visby nennen sie bereits eine Verräterin. Unmittelbar danach erfährt sie, dass ihr Vater, Ung-Hanse, gefallen ist. Der Platz ist gefüllt mit dänischen Soldaten und schließlich Valdemar in voller Rüstung. Ava erkennt nun, wer er ist. Valdemar grüßt sie ganz frech mit „Ha! Der Schlüssel zu meiner neuen Schatulle“. Sie beschimpft ihn und verlässt den Platz. Ein Herold verliest die Forderungen: Drei leere Weinfässer sind auf dem Platz aufgestellt und müssen bis mittags mit Gold und Edelsteinen gefüllt sein, sonst wird Visby zerstört. Alle helfen, aber die Fässer werden nicht gefüllt. Das Volk verlangt, dass der Schatz der Kirche und das Kloster abtransportiert werden, um die die geforderte Summe zu sammeln. Abt Klemens erzählt uns, dass der Kirchenschatz in den Besitz des Klosters kam als Pfand für schreckliche Verbrechen eines Fischers. Er hatte den Schatz Ägir mit Hilfe aller Heiligen gewonnen, aber bevor er starb, drohte er demjenigen, der den Schatz raubte mit einem schrecklichen Fluch. Als dies klar wird, flehen sowohl die Einwohner von Visby, aber auch die Dänen, Valdemar an, den Schatz nicht zu nehmen, da sie den Fluch fürchten. Aber Valdemar weigert sich, denn er versteht nun, dass es genau dieser Schatz ist, den die Töchter von Ägir wollten, und er will ihn nicht hergeben. Abt Klemens exkommuniziert ihn.

Andreas Halléns Oper „Harold Viking“, 1912 Stockholm: Szene mit Julia Claussen som Drottning Bera, Åke Wallgren som Gudmund, Martin Oscàr som Erik, Anna Oscàr som Sigrun, David Stockman som Harald m.fl, Operan 1912/ Schwedisches Theatermuseum/ Swedisch Musical Heritage

4. Akt Im Jungfernturm, einem quadratischen Turmzimmer ohne jede Art von Dekoration. Auf beiden Seiten des Turms kann man die Stadtmauer sehen, mit Gängen, etc. Die unglückliche Ava wurde vom Rat und vom Volk wegen Hochverrats und Vatermordes dazu verurteilt, im Jungfernturm zum Sterben eingemauert zu enden. Der Bürgermeister, Abt Klemens und viele der Bürger haben sich angeschlossen. Nachdem sie eingemauert worden ist, singt sie eine lange Szene, die zum Teil ein Gebet an Gott ist und zum Teil eine Betrachtung über ihr Schicksal ist. Gegen Ende bittet sie Gott, sie zu rächen. In einer Vision sieht sie die dänischen Schiffe, die vor der Küste von Stora Karlsön bei Svarthällarna in einen Sturm geraten. Ava versteht, dass es Valdemars Schiff ist, das vom Blitz getroffen wird und in die Tiefe stürzt. Nun wandeln sich ihre Gefühle für ihn von Hass zu Mitleid und sie betet zu Gott, sein Leben zu retten. Sie hat gerade noch Zeit zu erkennen, dass Valdemar gerettet ist, bevor sie selbst leblos zu Boden sinkt. Der Sturm legt sich, und ein rosiges Leuchten strömt aus der Tiefe. Valdemar überlebt, verliert aber seine Beute an Ägirs Töchter, die so ihren Schatz zurückerhalten. Die Oper endet mit einem Chor von Ägirs Töchtern und Meeresnymphen, die sich über den wiedergefundenen Schatz freuen, aber gleichzeitig all die Sünden beklagen, all die Qualen, Tränen und Blut, die er verursacht hat./ B. Tommy Andersson, Januar 2023/ Übersetzung G. H.

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Die Inhaltsangabe entnahmen wir mit Dank dem Beiheft zur Sterling-Ausgabe der Oper. Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier.

Irina Lungu im Gespräch

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Bei unserem letzten Gespräch im Jahr 2015 hatten Sie gerade Ihre 100. Traviata gesungen. Wie viele Violettas sind es mittlerweile?  Eine meiner Vorstellungen jetzt in Berlin war die 250., aber ich habe nach 200 Vorstellungen nicht mehr wirklich genau gezählt. (lacht)

Wie hat sich Ihr Blick auf Violetta und damit Ihre Interpretation dieser legendären Opernfigur in den letzten Jahren verändert? Ich habe Violetta mittlerweile in derselben Spielzeit wie Lucia gesungen, und jetzt diese Saison singe ich sie gleich nach der Mimì. In der nächsten Spielzeit kommt Amelia in „Simon Boccanegra“. Violetta ist meine stetige Begleiterin während meiner gesamten Reise durch verschiedenes Sopranrepertoire. Meine Interpretation von Violetta ändert sich nicht etwa jedes Jahr, sie ändert sich bei jeder Aufführung. Ich lebe eine derartige Symbiose mit dieser Figur, dass es sehr von meiner jeweiligen Stimmung abhängt. Wenn ich einen melancholischen Tag habe, werden sicher die melancholischen Seiten stärker betont, und wenn ich super gelaunt und fröhlich bin, ist der erste Akt brillanter. Aber ich habe da keinen Schaltplan. Ich kenne Violetta derart gut und ich liebe sie so sehr, dass ich mich einfach von dem Moment mitreißen lasse und wenn ich mich an einem Abend so fühle und an einem anderen Abend anders, dann gehört das einfach zum Leben eines Künstlers. Deshalb liebe ich sie so sehr, weil sie der Sängerin verschiedene Möglichkeiten bietet, in den verschiedenen Aspekten des Charakters dieser Figur sie selbst zu sein.

Irina Lungu als Violetta in der Arena di Verona/ Foto Ennevi / Fondazione Arena di Verona

Was sind die größten Herausforderungen dieser Rolle? Ich werde nicht genauer auf die stimmlichen Ansprüche eingehen. Es ist stimmlich eine wirklich anspruchsvolle Rolle und um sich ihr zu stellen, braucht man ein sehr solides Fundament, man muss fast eine „Assoluta“ sein. Aber die eigentliche Herausforderung dieser Figur besteht darin, während der gesamten Aufführung intensiv zu sein. Intensiv, kohärent und überzeugend, denn es ist eine sehr intensive Rolle, die auf wirklich brillante Weise geschrieben ist. Jede Silbe, jedes Wort, jeder Ton bedeutet etwas und man darf sich nie ablenken lassen, nicht abschalten und man muss immer seine eigene Linie haben, vom ersten bis zum letzten Ton. Nicht einmal ein einziges Wort darf automatisch kommen, auch nach 250 Vorstellungen. Denn sie hat viele verschiedene Facetten. All ihre Stimmungen muss man durch die eigene Seele, das eigene Herz und die eigene Stimme ausdrücken. Ihrer Seele muss in jeder Sekunde, in jeder Silbe und in jedem Ton eine Stimme gegeben werden. Für mich ist genau das die eigentliche Herausforderung der Violetta.

2015 sagten Sie, dass Sie gerne Amina in „La sonnambula“, Elvira in „I puritani“ und die Titelrolle von „Anna Bolena“ singen würden. Wenn man Ihre Biografie liest, scheint es, als hätten Sie die letzten beiden gesungen. Gibt es einen Grund, warum es nicht zur Amina gekommen ist? Ja, seit 2015 habe ich viele Belcanto-Debüts gegeben. Einige Opern habe ich in verschiedenen Produktionen gesungen, etwa „L’elisir d’amore“ oder „I puritani“. Ich bin sehr glücklich, dass ich diese wunderschönen Stücke dieses Repertoires, das mir besonders am Herzen liegt gesungen habe. Nur die Amina in „La sonnambula“ habe ich tatsächlich nicht gesungen, und das wird vielleicht das sein, das ich in meiner Karriere am meisten bedauern werde. Aber sag niemals nie, oder?

Irina Lungu vor der Berliner Staatsoper/ Foto Weiler

Vor kurzem haben Sie Ihr Repertoire um Rollen wie Imogene in „Il pirata“ und Alice Ford in „Falstaff“ erweitert: War das ein erster Schritt in Richtung eines neuen Repertoires? Diese Debüts als Imogene in „Il pirata“ und Alice Ford in „Falstaff“ habe ich jeweils letztes Jahr gegeben, beide am Opernhaus Zürich. In „Falstaff“ hatte ich zuvor immer Nannetta gesungen. In der nächsten Saison werde ich mein Debüt als Amelia in „Simon Boccanegra“ geben. Ich sage es so: Ich ändere mein Repertoire nicht, sondern erweitere es und bin nun etwa auch endlich bereit, die Norma zu singen. In dieser Rolle würde ich furchtbar gerne debütieren und wir schauen schon, wo ich sie erstmals singen könnte.

Welche anderen Rollen würden Sie abgesehen von der Norma gerne singen? Abgesehen von der Norma fühle ich mich bereit für weitere Debüts im Belcanto-Fach, wie etwa „Roberto Devereux“, „Lucrezia Borgia“ und andere vielleicht weniger bekannte Werke. Ich habe mich sehr über „Il pirata“ gefreut, da dieses Stück absolut meiner stimmlichen und künstlerischen Persönlichkeit entspricht. Wenn wir von Verdi-Debüts sprechen, dann sprechen wir wie gesagt von meinem Debüt in „Simon Boccanegra“ dieses Jahr und die nächste Verdi-Rolle wäre dann sicher die Desdemona in „Otello“. Aber es gibt auch viele Rollen, die ich gerne in meinem Repertoire behalten würde, wie zum Beispiel einige französische Partien, zu denen ich gerne die Thaïs hinzufügen würde. Ich werde in der nächsten Saison mein Debüt als Nedda in „Pagliacci“ geben und dann schauen wir, wohin mich meine Stimme und mein künstlerischer Weg führen werden.

Irina Lungu als Bellinis Imogene beim Konzert in Zürich/ Foto Weiler

Erst im vergangenen März hatten Sie einen großen Erfolg als Mimì und Musetta in „La bohème“ an der Mailänder Scala und waren dabei die erste Sopranistin, die dort diese beiden Rollen in derselben Saison interpretiert hat. Was waren die größten Herausforderungen bei diesem Unterfangen? Es handelt sich um ein sowohl anregendes, als auch ungewöhnliches Projekt. Wenige andere Sopranistinnen haben in ihrer Karriere diese beiden Rollen in derselben Vorstellungsserie gesungen. Mein Konzept zu diesen beiden Frauen ist eine Art Austauschbarkeit der beiden Rollen. Die große Renata Scotto [die selbst Mimì und Musetta in derselben Serie an der Met gesungen hat] hat über Mimì und Musetta gesagt, dass es sich bei ihnen eigentlich um dieselbe Frau handelt, nur dass eine krank ist und die andere nicht. Und ich glaube, dass es sich wirklich um dieselbe Frau handeln könnte, in verschiedenen Lebensphasen, so wie auch ich in manchen Momenten meines Lebens Musetta und in anderen Mimì war. Ich verstehe also beide, ich liebe beide und könnte nicht auf eine von ihnen verzichten. Für mich stehen diese beide Rollen nicht im Konflikt miteinander. Es war eher eine Genugtuung und Erfüllung in künstlerischer Hinsicht als eine Herausforderung. So vielseitig und unterschiedlich sein zu können und in ein und derselben Produktion so interessante Impulse zu finden war einfach wunderbar.

Irina Lungu als Mimì an der Mailänder Scala/ Foto Brescia e Amisano / Teatro alla Scala

Natürlich will ich nicht sagen, dass es gar keine Herausforderung ist, die beiden Rollen zu singen. Auch wenn man sie nicht zusammen in derselben Serie singt, handelt es sich nicht um zwei einfache Rollen und einfache Charaktere. Ich wollte gegen das Klischee ankämpfen, dass Musetta von einer bestimmten Art von Stimme und Mimì von einer anderen Art von Stimme gesungen werden muss. Weil die Glaubwürdigkeit der Charaktere nicht von der Art der Stimme abhängt. Beispielsweise kann Musettas Koketterie auch dann ausgedrückt werden, wenn sie keine Koloratursopranistin ist, so wie ich keine Koloratursopranistin bin. Diese beiden Charaktere stehen für Künstler mit Sensibilität nicht im Widerspruch.

Wo werden wir Sie in Zukunft auf der Bühne sehen können? Gleich nach „La traviata“ und „Rigoletto“ an der Berliner Staatsoper geht es für mich nach Florenz zum Maggio Musicale, wo ich Alice Ford in „Falstaff“ unter Daniele Gatti singen werde. Anschließend gebe ich mein Debüt am Teatro Colón in Buenos Aires als Fiorilla in „Il turco in Italia“, gefolgt von meinem Rollendebüt als Amelia Grimaldi in „Simon Boccanegra“ am New National Theatre Tokyo. Kommende Spielzeit singe ich außerdem mein erstes Verdi-Requiem in Angers und Nantes und habe verschiedene Projekte in Italien, unter anderem an der Mailänder Scala. Das Interview führte Beat Schmid (Foto oben: Irina Lungu als Bellinis Imogene im Konzert in Japan/ Foto Weiler)

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Die unendliche Geschichte …

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Mit bewundernswertem Engagement setzt naïve ihre Vivaldi-Edition fort, die mittlerweile auf 70 Ausgaben angewachsen ist. Jüngste Veröffentlichung, die Serenata a tre, ist eine besondere Rarität, sind von Vivaldis acht Serenate doch nur drei erhalten. Die vorliegende Komposition wurde in einer einzigen Handschrift in Turin aufbewahrt. Es handelt sich um eine dramatische Kantate, die Vivaldi für die Hochzeit eines Freundes schrieb. Dieser französische Aristokrat heiratete 1718 eine einfache Frau aus dem Volke, doch musste dieses Liebesbündnis wegen des sozialen Unterschiedes der Eheleute heimlich und in privatem Rahmen geschlossen werden. Vermutlich erklang das Werk erstmals im Frühjahr 1719 in oder bei Venedig anlässlich einer Hochzeitsnachfeier.

Die Serenata a tre ist einer arkadischen Welt angesiedelt und vereint (gemäß dem Titel) drei Protagonisten – die Nymphe Eurilla, die sich von der Schönheit des Schäfers Alcindo bezaubern lässt, und Nice, die ihre Freundin Eurilla vor dem leichtfertigen und zynischen Mann warnt.

Vivaldis Musik ist delikat, leichtfüßig und sehr virtuos. Dem Orchester hat der Komponist farbige Klänge zugeordnet, wozu Oboen, Fagotte und Trompeten beitragen. Am Cembalo leitet Andrea Buccarella die Einspielung mit dem Abchordis Ensemble und sorgt für ein vibrierendes, kontrastreiches Klangbild.

Das Solistentrio führt die Sopranistin Marie Lys als Eurilla an, die bereits erfolgreich in der Vivaldi-Edition von naïve mitgewirkt hat. Sie beginnt die Komposition, welche keine Ouvertüre hat, mit der maßvollen Aria „Mio cor“ und bezaubert sogleich mit ihrer leuchtenden Stimme und dem innigen Ausdruck. Auch die zweite Aria des Werkes, „Con i vezzi lusinghieri“, ist ihr zugeteilt, und die Sängerin kann in dieser bewegten Nummer mit lebhaftem Vortrag wiederum reüssieren. „Se all’estivo ardor cocente“ ist dagegen ein Ruhepunkt von lieblichem Anstrich. Von Blechbläsern wird „Alla caccia  d’un core spietato“ martialisch eingeleitet und Lys kann hier vehement auftrumpfen. Kokett tupft sie „La dolce auretta“ in der Parte Seconda, während sie im letzten Solo der Komposition, „Vorresti lusingarmi“, mit schier endlosen Koloraturläufen noch einmal ein bravouröses Glanzlicht setzen kann.

Die Mezzosopranistin Sophie Rennert gibt die Nice und mit dem lebhaften „Digli che miro almeno“ einen überzeugenden Einstand. Die Stimme ist obertonreich und kultiviert. Am Ende der Parte Prima kann sie bei „Ad inflammar quel seno“, das von einem virtuosen Violinsolo begleitet wird, mit langen Koloraturgirlanden brillieren. Energischen Anstrich hat das „Di Cocito nell’orrido regno“ in der Parte Seconda, im Mittelteil aber einen betörend lyrischen Einschub, und die Sängerin kann hier überzeugend ihre Vielseitigkeit demonstrieren.

Der Tenor Anicio Zorzi Giustiniani komplettiert die Besetzung als Alcindo. Sein Auftritt „Mi sento in petto“ ist von buffoneskem Duktus, die folgende Aria „Nel suo carcere ristretto“ dagegen von stürmischer Art. Kontrastreich auch seine Soli in der Parte Seconda – dem wiegenden „Acque placide“ folgt ein energisches „Dell’alma superba“.

Die Einspielung entstand im Juni 2022 in Riehen/Schweiz und wurde auf einer CD veröffentlicht (OP 7901). Bernd Hoppe

Frei nach Fontane

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Vor dem Tangermünder Rathaus steht seit den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts eine Statue: eine junge Frau in Fesseln, die mit gebeugtem Haupt ihrem  Ende auf dem Scheiterhaufen entgegen schreitet. Es ist eine Art Wiedergutmachung an Grete Minde, die zu Unrecht der Brandstiftung beschuldigt, schrecklich gefoltert und hingerichtet wurde. Das geschah im Jahre 1617, also ein Jahr vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, der ganz Deutschland in Schutt und Asche legen und seine Bevölkerung dezimieren sollte. In dieser Zeit lag die der Blüte der Stadt bereits zweieinhalb Jahrhunderte zurück, denn im 14. Jahrhundert hatte Kaiser Karl IV.  erwogen, sie zu seiner Hauptresidenz zu erheben, entschied sich dann aber doch für Prag. Immerhin spielte Tangermünde innerhalb des Kurfürstentums Brandenburg noch eine bedeutende Rolle, wovon der Besuch des Fürsten in Theodor Fontanes Novelle Grete Minde Zeugnis ablegt. Der Schriftsteller musste davon ausgehen, dass Grete Minde schuldig war, erst spätere Untersuchungen brachten die Wahrheit ans Licht, aber trotzdem ist sie eine Romanheldin, denn ihr Handeln wird  als nachvollziehbar dargestellt, so wie auch Kleist seinen Michael Kohlhaas als zunächst Unschuldigen schuldig werden lässt.

Als Tochter des Kaufmanns Minde und seiner zweiten, aus Spanien stammenden und damit katholischen Frau wird Grete nach dem Tod ihres Vaters vom Stiefbruder und dessen Frau so lange schikaniert, bis sie mit dem ihr ergebenen Vantin flieht, sich mit ihm einer Schauspielertruppe anschließt, nach wenigen Jahren ihren nun Ehemann durch eine Krankheit verliert und nach Tangermünde zurückkehrt, um zunächst für sich und ihr Kind um Aufnahme im Elternhaus zu bitten. Als ihr diese verweigert wird, verlangt sie ihr Erbe, das ihr verwehrt wird, da ihr Stiefbruder vor der Ratsversammlung einen Meineid schwört. Danach setzt Grete die Tangermünder Stephanskirche in Brand, in dem sie selbst mit ihrem Kind und dem ihres Stiefbruders umkommt.

Dieser Stoff interessierte den Berliner Kaufmann Eugen Engel, der neben seinem Beruf komponierte und den die Arbeit zu dieser seiner einzigen Oper über Jahrzehnte hinweg beschäftigte. Der Librettist ist Hans Bodenstedt, der auch das Buch für Franz von Suppés Leichte Kavallerie schrieb, eine Übersetzung von Offenbachs Orpheus in der Unterwelt  und  der den zu seiner Zeit höchst populären Funkheinzelmann zu verantworten hat. Schlimmer ist, dass er auch Herausgeber mehrerer streng nationalsozialistischer Printerzeugnisse war, aber da hatte Hitler längst die Macht ergriffen und der Jude Eugen Engel hatte jede Hoffnung verloren, sein Werk in Deutschland aufgeführt zu sehen. Auch Bittschreiben an mehrere Dirigenten, darunter an Bruno Walter, führten zu keinem Erfolg, Engel emigrierte im Januar 1939 zu seiner Tochter Eva in die Niederlande, bemühte sich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen um eine Einreise in die USA oder nach Kuba, wurde jedoch verhaftet und starb im März 1943 im Gas. Seine Tochter hatte in ihrem Gepäck einen Koffer ihres Vaters, den jedoch erst die Enkel öffneten und darin unter anderem die Partitur und einen Klavierauszug von Grete Minde fanden. Als in der Berliner Charlottenstraße, dem letzten Wohnsitz des Komponisten vor seiner Ausreise, Stolpersteine im Andenken an die Familie Engel verlegt wurden, kam die Partitur nach Deutschland zurück, und die Oper wurde endlich im Jahre 2022, fast 90 Jahre nach ihrer Vollendung und 80 Jahre nach dem Tod ihres Schöpfers, in Magdeburg uraufgeführt. Sie wurde vom Deutschlandfunk Kultur übertragen, und es gibt nun eine Doppel-CD vom Label Orfeo (dazu auch Die vergessene Oper 172 hier bei oprralounge.de)

Eigentlich ist Theodor Fontane in seiner gallisch-preußischen, eher unter- als übertreibenden Nüchternheit kein Opernstofflieferant. Daran ändert auch nichts, dass es zum Fontanejahr mit Effi Briest und Oceane zwei Vertonungen gab. Der eher holzschnittartige Chronikstil der Grete Minde scheint sich eher einer Vertonung, gar zu einer Oper, zu widersetzen, als diese zu befördern.

Vergleicht man Novelle und Libretto miteinander, so fällt auf, dass die Szenen zwischen Grete und Vantin in der Oper sehr knapp gehalten sind, dass vieles wegfällt zugunsten von Volksszenen und solchen der Schauspielertruppe für den Chor . Glaubt man der Oper, dann verlassen Grete und Vantin als 13- bzw. 14jährige nach dem ersten Streit mit Trud, der Schwägerin Gretes, die Stadt, während bei Fontane Jahre vergehen, ehe dies geschieht. Die aufschlussreichen Szenen im Forst, in dem sich die Beiden verlaufen, die Floßfahrt, die die erste Etappe der Flucht bildet, kommen nicht mehr vor, der Besuch Gretes im Nonnenkloster in Arendsee entfällt ebenso wie ihr Auftreten vor der Bürgerschaft. Die feinsinnigen Schilderungen der  Vertreter der einzelnen Religionsgruppen sind so gut wie vollständig unterschlagen worden, dafür gibt es eine durchaus verzichtbare Auseinandersetzung zwischen der Trud und ihrem Ehemann. Manches ist ohne ersichtlichen Grund verändert, so wenn Grete nun nicht mehr ihren Neffen mit auf den Kirchturm nimmt, sondern das Haus seiner Eltern in Brand setzt und ihn darin umkommen lässt. Die meisten Änderungen sind nicht den besonderen Bedürfnissen eines Musikdramas geschuldet, sondern scheinen reine Willkür zu sein. Im Vergleich der zum Glück zahlreichen wörtlichen Zitate aus Fontane mit dem von Bodenstedt stammenden Text stellt man fest, dass es eine starke Diskrepanz des Fontane-Textes zur streckenweise auftretenden Schwülstigkeit  des Librettisten gibt. Ebenfalls, aber hier gerechtfertigt, stehen einander liedhafte Schlichtheit und spätromantischer Klangrausch in der Partitur gegenüber. Am Schluss wird man mit der Wendung von der klanggewaltigen Untergangsmusik zur Verklärung in lichtem Dur an die Götterdämmerung erinnert.

Dirigentin Anna Skryleva leistet mit der Magdeburgischen Philharmonie Erstaunliches und wird volksliedhafter Schlichtheit wie überbordendem Klangrausch gleichermaßen gerecht. Der Opernchor des Theaters Magdeburg überzeugt im derben Trinklied ebenso wie im Schreckensszenario des Brandes oder in der turbulenten Vorfreude auf die Puppenspieler.

Ein Glücksfall, auch optisch, wie die Fotos beweisen, ist die Besetzung der Titelpartie mit Raffaella Linti, mit frischem, mädchenhaftem Sopran, der auch dem dramatischen „in Ekstase“ standhält, schön aufblüht in „frei“ und der den innig schlichten Volksliedton einschließlich den des Wiegenlieds genau trifft und auch in der „Schlussansprache“ nie schrill wird. In ihrer Rolle als Engel bei den Komödianten klingt die Stimme wie ein filigranes Gespinst. Angemessen schärfer ist er Ton der Trud von Kristi Anna Isene, weicher und wärmer klingt die Emrentz von Jadwiga Postrozna, zart bis schrill die Zenobia von Na’ama Shutman, keine 95 Jahre in der Stimme lässt Karina Repova als Domina vernehmen.

Mit textverständlicher Emphase geht Zoltan Nyani den Valtin an, dessen Tenor recht eng und scharf klingt. Gut tragend und durchdringend ist der Tenor von Benjamin Lee, der als Hanswurst  viel zu singen hat und dessen Parlando fein akzentuiert ist. Markant klingt der Puppenspieler von Johannes Wollrab, ebenso und dazu noch warmherzig der Gigas von Paul Skeltris, dessen Begegnung mit Grete und Trud in der Oper viel zu kurz kommt. So ergeht es auch dem Bürgermeister Guntz von Johannes Stermann, dessen Bass man nur in einem kurzen Auftritt hören kann. Abgründig tief ist die Stimme von Frank Heinrich, der den Wirt singt.         

Die Oper Grete Minde von Eugen Engel hört man sich mit Interesse und Sympathie an, die Novelle von Theodor Fontane muss man einfach lieben (Orfeo 2 CD  260352). Ingrid Wanja

Offener Brief an den rbb

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Wir von operalounge.de unterstützen diesen Aufruf!

Streik und wieder Streik und immer noch keine Tarifeinigung in Sicht. Warum? Die rbb-Geschäftsführung will keine soziale Abstufung bei den Tarifsteigerungen, obwohl die Einkommensschere mit den Jahren zwischen oben und unten im rbb immer größer geworden ist. Die Gehälter der rbb-Führung sind nach wie vor extrem hoch, obwohl der rbb durch das massive Fehlverhalten seiner Führung in die Krise gekommen ist. Wir Mitarbeiter*innen sollen die Suppe auslöffeln, die wir nicht versalzen haben. Das ist unfair. Und das können wir nicht akzeptieren!

Argument gegen eine soziale und nachhaltige Komponente bei den Tariferhöhungen von Seiten der rbb-Verhandlungsführer: Die Mehrverdienenden hätten ja auch höhere Ausgaben: Kosten für ein Haus, eine Privatschule oder eine Privatkita zum Beispiel. Das ist zynisch! In Zeiten, in denen Mitarbeiter*innen der unteren Gehaltsstufen und viele unserer Beitragszahler*innen beim Einkaufen überlegen müssen, was in den Korb kann. Es ist zynisch in Zeiten, in denen freie Mitarbeiter*innen um ihre Jobs bangen müssen, weil die rbb-Geschäftsführung sich nicht zu einem Bestandsschutz für arbeiternehmerähnliche Freie durchringen kann. Es ist zynisch in Zeiten, in denen Programm weggespart wird! 2,8 % mehr für Gutverdienende ebenso wie für die unteren Einkommensstufen kann also in diesen Zeiten nicht die Lösung sein!

Unsere Interimsintendantin Katrin Vernau möchte Intendantin des rbb bleiben. Sie zeigt uns, die wir seit Jahren und Jahrzehnten das Programm dieses Senders machen, aber keine Wertschätzung! Will sie wirklich unsere Intendantin bleiben?! Sie begründet ihre Härte bei den Tarifverhandlungen damit, dass der rbb kein Geld habe. Geld für überhöhte Führungsgehälter ist aber nach wie vor da! Warum bekommt die Intendantin des rbb nach wie vor mehr Geld als die politische Führung unserer Bundesländer? Das ist keiner Beitragszahlerin, keinem Beitragszahler zu vermitteln. Das ist der Politik, die über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks entscheidet, nicht zu vermitteln. Und uns Mitarbeiter*innen, die wir an einer Zukunft unseres Senders hängen, auch nicht!

An die rbb-Geschäftsführung: Zeigen Sie uns, dass Sie bereit sind, selbst den Gürtel enger zu schnallen. Wie wäre es mit dem Verzicht der oberen Gehaltsbezieher*innen auf die tariflichen Lohnsteigerungen? Damit die anderen Mitarbeiter*innen eine an ihrem Gehalt bemessene und der Inflation entsprechende Erhöhung ihrer Gehälter bekommen. Damit wir beim Honorarrahmen für Freie endlich den Zielhonorarrahmen erreichen. Damit endlich ernsthaft über einen Bestandschutz für alle Freie im rbb geredet werden kann.

Wir glauben an die Zukunft des rbb. Einen anderen rbb. Wir glauben an die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Einen anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zeigen Sie uns, dass Sie das auch tun! Bewegen Sie sich!

Ihre Mitarbeiter*innen des rbb

Mehr als eine Chronik

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Ein durch und durch seriöses, allein den Fakten verpflichtetes Buch ist Teresa Hrdlickas Das kaiserliche Sommertheater in Bad Ischl mit dem Untertitel Operette und Oper unter Kaiser Franz Joseph I., auch wenn Kaiser und Ischl in manchem Leser die Assoziation Kaiser und Katharina Schratt wach rufen mag. Es ist zugleich ein Buch, dass sich auch Beschränkungen anderer Art auferlegt, denn nicht nur die Musik, sondern auch das Sprechtheater, vertreten allerdings vorwiegend durch die Posse, diente der Unterhaltung der Kurgäste. Heute ist in Ischl die Operette zu Hause mit einem alljährlichen Festival, das für 2023 bereits Madame Pompadour, Der Vogelhändler und Schön ist die Welt angekündigt hat und damit der Operette und nur ihr treu blieb, während das andere den Österreichern zu verdankende Operettenfestival in Triest neben einer Principessa della Czarda auch ein Phantom der Oper anbietet.

Wie der Untertitel kundtut, endet das Buch mit dem Tod des Kaisers 1916 mitten im Ersten Weltkrieg, nachdem 1914 die Ermordung des Kronprinzen und seiner Frau nur eine dreitätige Unterbrechung der Lustbarkeiten verursacht hatte. Davor hatte der Kaiser, beginnend mit 1849, 66 Mal Ischl und die dortigen Aufführungen besucht. Im Jahre 1945 dann, das mag sie nicht unerwähnt lassen, war der Großvater der Verfasserin der älteste Kurgast in Ischl.

Das Buch ist nach den Direktoren des Festivals in neun Kapitel gegliedert, gewährt einen interessanten Einblick in die Entwicklung des Theaterwesens generell, wobei geschildert wird, wie in den ersten Saisons die Intendanten noch mit ihrem Vermögen für den Erfolg der jeweiligen Spielzeit garantieren  und eine Kaution hinterlegen mussten, dass häufig die Verbindung zu einem Wiener Theater bestand, dessen Produktionen im Sommer nach Ischl wanderten und dass bereits 1823 eine Wandertruppe für die Unterhaltung der Sommergäste gesorgt hatte.

Die Quellen für das informationsreiche Buch sind Kritiken der damaligen Presseorgane, Theaterzettel, Programmhefte, Auszüge aus Biographien und vieles anderes mehr. Ein Plakat zeigt in riesigen Lettern die Namen von Kaiser und Kaiserin, die erwartet werden, sehr viel kleiner den  Titel Ernani und winzig klein den Namen des Komponisten Josef Verdy (!). Beeindruckend ist nicht nur die Zahl der Künstler, die im Verlauf der Jahrzehnte in Ischl auftraten, sondern auch die Tatsache, dass die Bevölkerung von Ischl sich ein im Stil eines griechischen Tempels gehaltenes Theater mit vier Rängen und 600 Plätzen leistete. Oft noch prominenter als die Künstler waren die Sommergäste, zu denen 1848 Meyerbeer gehörte, Schnitzler mit seiner skandalbereiten Geliebten Adele Sandrock, Brahms, Wolf, Nikisch und viele, viele andere, darunter natürlich auch die Komponisten, die jeweils aufgeführt wurden und zum Teil ihre Werke selbst dirigierten.

In chronologischer Reihenfolge marschieren die Intendanten auf: Während der Direktion Kosky muss dieser auch mal den Kassierer oder Souffleur machen, der Direktion Jenke ist die Gasbeleuchtung zu verdanken, damals dominiert Offenbach die Operettenbühne, nach dem Börsenkrach von 1873 gibt Jenke auf. Während der Direktion Müller weilen Brahms und Clara Schumann in Ischl, wird Boccaccio zum ersten Mal aufgeführt. Die Direktion Dorn verbindet Linz und Ischl miteinander, führt die elektrische Beleuchtung ein und wagt sich trotz des verheerenden Brandes mit Hunderten von Toten in der Wiener Staatsoper an den anspruchsvollen Hoffmann. Zweimal leitet Ignaz Wild das Sommertheater von Ischl. Er ist Theateragent und kann sich über den Erfolg von Eine Nacht in Venedig, Gasparone und Zigeunerbaron freuen, der sogar vor Wien in Ischl gezeigt wird. Als eine Erzherzogin heiratet, spielt Bruckner die Orgel, die Verfasserin ist so diskret wie die damalige Presse, was „die teure Freundin Kaiser Franz Josephs“ angeht, und der Leser freut sich darüber, dass offensichtlich eine tiefe Freundschaft zwischen den Angehörigen beider Geschlechter möglich war, die sogar von der Gattin Kaiserin Elisabeth gefördert wurde. Interessiert nimmt er zur Kenntnis, dass die Stimmung des Orchesters einen halben Ton höher war als die in Wien und so manchen Sänger in Verlegenheit brachte und dass die Solisten, soweit nicht auf der Bühne, aus den Kulissen heraus den Chor mit seinen sechzehn Mitgliedern unterstützen mussten.

Die vielen Kritiken aus der jeweils abgehandelten Zeit sind auch insofern wertvoll für den Historiker, als sie Auskunft über die damalige Sicht auf künstlerische Leistungen geben.  „Die Regie des Herrn Friese war nicht immer eine glückliche zu nennen“, klingt allerdings gar nicht so altertümlich. Bei Sängern genügt oft ein „reizend“, „gefällig“ oder „vorzüglich“ ohne nähere Begutachtung.

Auch vor 125 Jahren gab es schon Hochwasser und eine Benefizveranstaltung für die Opfer, und was heute Kaufmann und Netrebko sind, waren damals Mizzi Günther und Louis Treumann, wobei auffällt, dass ungewöhnlich viele Sängerinnen und nicht nur die Soubretten putzige Namen trugen.

Nach der Goldenen Ära mit Johann Strauß kommt auch in Ischl die Silberne mit Lehar, Kálmán, Fall und Oscar Straus, kommen die Direktionen Door und Door-Müller sowie ein Skandal, der Adele Sandrock als Marguerite heißt, während eine bereits angesetzte Carmen mit ihr gerade noch verhindert werden kann. Lilli Lehmann als Traviata ist da willkommener.

Ischl wird offiziell „Bad“, Die lustige Witwe erobert auch das Kurbad, aber noch erfolgreicher ist hier Straus`Ein Walzertraum. Unter der Direktion Erich Müller genießt man in Ischl ein Wagner-Konzert, Maria Jeritza ist Dauergast und dann steht zum Stirnrunzeln animierend über eine Gruppe: „1937 verlieren sich die Spuren…..“ , wird aber festgestellt, dass ein großer Teil des Publikums aus Angehörigen des jüdischen Großbürgertums bestand . Lange vor dessen Vertreibung verfasst Kaiser Franz Joseph noch in Ischl das Manifest „An meine Völker“, und der Krieg und als seine Folge die Auflösung des Vielvölkerstaats sind nicht mehr fern. Aber bereits 1917 hat man kein Geld und 1918 gibt es nur Sprechtheater. Im „Ausklang“ wird er Leser noch über das Schicksal der in Ischl vertretenen Komponisten unterrichtet.

Das ist so kenntnisreich, so sachlich, dabei so interessant geschrieben, dass man sich von der Verfasserin noch eine Fortsetzung der Geschichte der Operette in Ischl bis zum heutigen Tag wünscht.

Im Anhang finden sich: Chronik der Direktionen, Besetzungen erster Rollen in Operette und Oper, Chronik der Operetten-Erstaufführungen, Bildnachweis und Quellen- und Literaturnachweis (Teresa Hrdlicka: Das kaiserliche Sommertheater in Bad Ischl – Operette und Oper unter Kaiser Franz Joseph I; 186 Seiten  LIT Verlag; Wien 2022; ISBN 978 3 643 51122 5). Ingrid Wanja

Technisch eindrucksvoll

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Seit langem den Opernfreunden bekannt ist das niederländische Label Pentatone und zwar beginnend mit dessen Aufzeichnung des konzertanten Ring in der Berliner Philharmonie unter der Stabführung von Marek Janowski. Aber auch die Krönungsfeierlichkeiten des holländischen Königs Willem Alexander fanden die Aufmerksamkeit des Labels, das inzwischen zur großen NaxosFamilie gehört und das 2022 in Dresden eine Studioaufnahme, wie von ihm gewohnt im Multi-Channel-Verfahren, von Giuseppe Verdis La Traviata mitten in der Corona-Krise wagte.

Ans Dirigentenpult hatte man mit Daniel Oren einen wenn auch ganz speziell und in jedem Jahr seit nunmehr Jahrzehnten unverzichtbar in der Arena di Verona wirkenden Dirigenten gerufen, der sich voller Elan mit rasanten bis frenetisch wirkenden Tempi in das Fest bei Violetta stürzt und auch bei dem von Flora alles andere als zimperlich ist, der aber auch ein kompetenter und rücksichtsvoller Sängerbegleiter ist und der aus der Dresdner Philharmonie sehr viel Italianità heraus zu kitzeln weiß. Der Sächsische Staatsopernchor Dresden ist natürlich erfahren genug, den Orchestermitgliedern darin keineswegs nachzustehen.

An vielen großen Opernhäusern hat inzwischen Lisette Oropesa die Violetta gesungen, und sie verfügt durchaus über die drei unterschiedlichen Stimmen, die die Partie verlangt. Das Timbre ist apart, und in ihrer großen Szene im ersten Akt weiß die Sängerin angemessen zu wechseln zwischen fein Hingetupftem und hektisch Rasantem, Im È strano hat sie für l’amor einen sehr schönen Schwellton und generell ein feines Legato, dem allerdings stellenweise die Konsonanten geopfert werden. Genüsslich reizt sie die Extreme aus, lässt duftige Leichtigkeit mit frenetischem Aplomb in der Cabaletta einander abwechseln, erfreut den Hörer mit einer  reichen Agogik und kostet die sicher erreichte Extremhöhe genüsslich aus. Wie schwebend klingt im zweiten Akt das Dite alla giovine, auffallend generös wird im Morrò phrasiert und im Amami, Alfredo ein reiches Farbspektrum ausgebreitet. Ihre Klage im zweiten Bild des zweiten Akts zeichnet sich durch weitgespannte Bögen aus. Im dritten Akt vermeint man streckenweise Veristisches zu vernehmen, aber  ganz zart ist das Addio del passato mit einem schön ersterbenden Schlusston. Etwas unausgeglichen klingt das Parigi, o cara, was aber auch der Tenor zu verantworten hat, Prendi: quest’ è l‘immagine ist angemessen dumpf verhangen, der Schluss hoch dramatisch. Insgesamt ein überzeugendes Rollenportrait, das Lust darauf macht, diese Violetta auch auf der Bühne zu erleben.

Überhäuft mit Preisen wurde seiner Vita zufolge der amerikanische Tenor mit kubanischen Wurzeln René Barbera, dessen Stimmfarben ihn für Donizetti und Co. prädestinieren. Er verfügt über ein apartes Timbre, das zu dem seiner Partnerin passt, klingt allerdings etwas flach im Duett im ersten Akt, und die Stimme verliert an Farbe, wenn sie ins Piano wechselt. Immerhin weiß er sein Croce e delizia effektvoll zu singen, fällt in der Arie im zweiten Akt durch eine recht unruhige Stimmführung auf und hat in der tiefen Lage angenehm viel Substanz. Er singt beide Strophen der Cabaletta, wie später auch sein Vater, und auf dem sicher erreichten Spitzenton ruht er sich so genüsslich wie effektvoll aus. Im Forte wird die Stimme eher scharf als voluminös. Seine Leistung lässt nicht jubeln, aber auch nicht verzweifeln.

Eine gewaltige Baritonstimme, die allerdings durch ein eher dumpfes, gaumig klingendes Timbre irritiert, setzt Lester Lynch für den Giorgio Germont ein, und die italienische Diktion ist nicht perfekt. Pura siccome un angelo singt der Amerikaner in gut beherrschter mezza voce, er hält sich genau an die Anweisungen des Komponisten, was ihm hoch anzurechnen, weil nicht selbstverständlich ist. La provenza klingt empfindsam verhangen, die schwierige Cabaletta und sein Auftritt in der zweiten Szene des zweiten Akts haben die notwendige vokale Autorität, für die zweite Strophe der Cabaletta findet die Stimme feine Variationen.  Eine scharfzüngige Flora ist Ilseyar Khayrullova, eine sanfte Annina Menna Cazel und ein milder Grenvil Alexander Köpeczy. Ein in das Werk einführender Artikel und ein dreisprachiges Libretto erleichtern den Einstieg in die Oper (PIC 5186 956). Ingrid Wanja   

Grace Bumbry

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Grace Ann Melzia Bumbry (* 4. Januar 1937 in St. Louis, Missouri) starb am 7. Mai 2023 in Wien. Sie studierte an der Boston University, an der Northwestern University in Evanston (Illinois) und von 1955 bis 1958 an der Music Academy of the West in Santa Barbara (Kalifornien). In der internationalen Musikwelt erlangte sie ihren Durchbruch 1961 bei den Bayreuther Festspielen in der Rolle der Venus in Richard Wagners Tannhäuser. Aufgrund ihrer Hautfarbe wurde sie als „Schwarze Venus“ tituliert. Neben vielen Wagner- und Verdi-Rollen sang sie auch sehr erfolgreich die Rolle der Bess in George Gershwins Porgy and Bess. Grace Bumbry war die Tochter eines Eisenbahnangestellten und einer Hausfrau. Aufgewachsen in St. Louis (Missouri), wurde Grace Bumbry von ihren Eltern auf die Charles Sumner High School geschickt (die erste afroamerikanische High School westlich des Mississippi River).

Während ihrer Jugend sang Grace Bumbry im Kirchenchor. Im Alter von 17 Jahren gewann sie zum ersten Mal bei einem Radiowettbewerb, nachdem sie die Arie der Eboli „O don fatale“ aus Verdis Don Carlos vorgetragen hatte. Sie gewann dabei auch ein Studium am St. Louis Institute of Music, das sich jedoch weigerte, Grace Bumbry aufzunehmen, da man wegen der Rassentrennung in den Südstaaten keine schwarzen Kursteilnehmer wollte.

Ein Auftritt beim Talent Scout Programm von Arthur Godfrey brachte ihr ein Stipendium für die Northwestern University in Evanston (Illinois) ein, das durch zwei Mäzenfamilien gefördert wurde. Danach besuchte sie die Boston University. Auf Einladung der in der Zeit des Nationalsozialismus emigrierten deutschen Sopranistin Lotte Lehmann, deren bedeutendste Schülerin sie wurde, wechselte Bumbry zur Music Academy Santa Barbara.

1958 war sie zusammen mit der Sopranistin Martina Arroyo Siegerin der Hörproben in der Metropolitan Opera und gab in Basel ihr Bühnendebüt, ein Jahr später ihr Konzertdebüt in London. 1960 sang sie an der Pariser Oper die Amneris in Verdis Aida. Anschließend engagierte Wieland Wagner sie für die Bayreuther Festspiele. Mit der Rolle der Venus in Wagners Tannhäuser von 1961 hatte sich Grace Bumbry in Europa etabliert. Als erste „schwarze Venus“ bei den Bayreuther Festspielen (mit der Venusberg-Choreografie von Maurice Béjart) löste sie den von Wagner einkalkulierten Pressewirbel aus. Später wurde sie von Jacqueline Kennedy eingeladen, im Weißen Haus zu singen. Ihre wirklich zahllosen Auftritte im Mezzo- und Soppranfach (in Bellinis Norma zum Besispiel alternierend mit Shirley Verrrett als Norma und Adalgisa, In Paris zur Eröffnung der neuen Oper als Cassandre und Didon in der Troyens) verschafften ihr einen  breiten Ruhm und eine gewisse Notorität. Sie hatt zudem viele Plattenaufnahmen hinterlassen.

Bumbry trat 1997 vorläufig von der Opernbühne ab. 2007 sang sie Lieder- und Arienabende u. a. in Kiel, Hamburg, London, Paris, Moskau, Wien und Tokio. Im Frühjahr 2010 kehrte sie nach 13 Jahren auf die Opernbühne zurück. Grace Bumbry sang die Partie der Monisha in Scott Joplins einziger Oper Treemonisha an der Seite von Adina Aaron und Willard White im Théâtre du Châtelet in Paris. Hier trat sie im Frühjahr 2012 erneut mit einem Liederabend mit ausgewählten Titeln amerikanischer Komponisten auf. Kurz darauf, im März 2012, gab Grace Bumbry in der konzertanten Premiere der Oper Candide von Leonard Bernstein an der Deutschen Oper Berlin die Rolle der Old Lady an der Seite von Simone Kermes. Im Januar 2013 sang sie erstmals die Gräfin in Tschaikowskis Pique Dame an der Wiener Staatsoper.

Grace Bumbry gab weltweit Meisterkurse. Zudem hatte sie zahlreiche Verpflichtungen als Jurorin bei Gesangswettbewerben sowie als Gründerin der Vokal- und Opernakademie an der Berliner Universität der Künste. (Quelle & Fotoi Wikipedia)

Le Marbre vive

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Spontinis Oper La Vestale – muss ich gestehen – war für mich stets eine hoch respektable, aber zutiefst langweilige Angelegenheit, sowohl in der traditionellen italienischen wie originalen französischen Fassung. Oh diese unendlich scheinende Eröffnung, diese langen, quälend hohen Sopranpassagen im ersten Akt, bevor es endlich im zweiten – beim Verlöschen der ewigen Flamme im Vesta-Tempel – zur Sache geht. All das ließ mich ein wiederholtes Abspielen der verfügbaren Aufnahme fürchten.

Meine erste Begegnung mit dem Werk war die mit Maria Vitale in der alten Cetra-Aufnahme von 1951 in der Übersetzung von Giovanni Schmidt, die ich nur wegen der von mir so sehr geschätzten Vitale im Regal stehen hatte. Und selbst sie ging mir auf die Nerven. So wie spätere. Da war 1974 die Janowitz bei der RAI mit gleichem Effekt (sogar in Französisch, wenngleich um sie herum doch das Italo-Idiom durchschlug). Da war dann recht früh Riccardo Mutis dto. französische und schwerblütige Sony-Aufnahme mit der greinenden, weißstimmigen Karen Huffstodt (die Scala-Besucher 1993 waren nur von ihren flammend-roten Haaren verzaubert) nebst Kollegen aus dem internationalen Fach. Da war die muffige Kuhn-Aufnahme bei 1991 Orfeo mit der ungeeigneten und dto. im Internationalem verhafteten Rosalind Plowright und Münchner Crew (Gisella Pasino sang Mamma Lucia…), nicht wirklich belebend und schwerblütig, wenngleich ebenfalls in der Originalsprache und deshalb verdienstvoll.

Von Leyla Gencer, Renata Scotto und anderen nella versione italiana will ich absehen, das waren Irrtümer in langer Tradition, denn die Oper hielt sich wie andere Titel des napoleonischen Kanons am Buonaparte-Bruder-Hof in Neapel und dann in Italien sehr lange, eben in der italienischen Übersetzung von Giovanni Schmidt, dem darin Tüchtigen, der Libretti für Rossini & Co. verfasste. Und selbst die von mir stets geliebte Maria Callas 1954 an der Scala in nicht wirklich frischer Live-Akustik konnte mich, trotz Corelli und Stignani an ihrer Seite, nicht vom Werk überzeugen.

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Gaspare Spontini: „La Vestale“/ Gallica BNF

Aber die neue Vestale beim Palazzetto, dem Konzert im Juni 2022 in Paris folgend, belehrte mich eines Besseren und macht aus mir einen lobpreisenden Paulus. Das rasante Orchester unter Christophe Rousset fetzt durch die Ouvertüre und die machtvollen Chöre, pulsiert in den Arien der Solisten und treibt die sonst so öden Rezitative in einem action-drama mit elektrisierender Spannung voran. Spannung ist überhaupt das Wort. Emphase, Inhalt, Drama – das hätte ich der Vestale bis dahin nicht unterstellt. Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich je eine Lobeshymne auf Marina Rebeka schreiben würde, deren Norma oder Imogene/Pirata mich nicht erwärmen konnten und deren Stimme ich bis jetzt als mir zu scharf auf der Höhe und viel zu hell für die dramatischen Partien empfunden hatte. Liegt es nun an Rousset oder dem eingehenden Studium der Partie: Frau Rebeka ist hier schlicht eine Wucht. Dunkel getönt mit bester, absolut bester französischer Diktion durchmisst sie die sonst so unendlich langen Passagen des ersten Aktes mit überspringendem Engagement, bleibt stets diszipliniert in der Stimmführung, zeigt Emphase und Empathie und gibt ein wirklich bemerkenswertes Rollenporträt einer jungen Frau in extremis. Und bis auf eine Mitwirkende sind die übrigen Solisten derselben Wirkung. Stanislas de Barbeyrac ist ein sexy-viriler Licinius mit schöner Tiefe und heldisch-hellen oberen Noten, eine Pracht an französischer Mittelklasse-Stimme, ganz wunderbar auch er in der Diktion. Ebenso Tassis Christoyannis, stets von mir geschätzt und – wie von Alexandre Dratwicki nachstehend ausgeführt – als dunkler Bariton für den Cinna eingesetzt, auch er eine Besetzung vom Feinsten. Nicolas Courjol, akklamierter Teufel jüngst im Meyerbeerschen Robert beim Palazzetto, macht einen bedrohlichen, unversöhnlichen Pontifex. Die Szene zwischen ihm und de Barbeyrac/ Luicinius im dritten Akt zeigt – wie manche andere Momente der neuen Einspielung – Vor-Echos eines späteren Verismo, action pur. Und David Witczak schließlich stützt mit Gewinn in den kleineren Partien.

Spontinis Oper „La Vestale: der Librettist Victor-Joseph Étienne de Jouy/ Wikipedia

Bleibt nur die Grande Vestal in akustischer Gestalt von Aude Extremo. Ihr brustiger Carmen-Dalila-Amneris-Mezzo franst für mich wie  elektrisches Flimmern an der Rändern aus und hat einen unangenehmen, faserigen Klang (und dabei bleibt sie auch noch recht wortunverständlich, eigentlich  überraschend für eine Französin; aber ihre Périchole, Grande Duchesse   oder auch Venus im französischen Tannhäuser 2017 in Monte-Carlo ließen bereits dieselben Defekte  hören).

Der Flämische Radio Chor (Flore Merlin, und Thomas Tacquet) ist eine absolute Wucht an Präzision und Artikulation. Dazu kommen Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset in atemberaubender Form und ebenso atemberaubender Dynamik, dass einem beim Hören auch mal fast schwindlig wird. So spannend und rasant kann Spontini sein (verfügbar ab dem 12. Mai 2023). G. H.

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Ein Überblick vorab: Die in den 1760er Jahren von Gluck durchgeführte Opernreform, die auf ein Prinzip der dramatischen Einheit und Plausibilität abzielte, hatte entscheidende Auswirkungen auf die französische Opernszene. In den 1780er Jahren komponierten Lemoyne, Salieri und Vogel, obwohl sie aus dem Ausland stammten, lyrische Tragödien, die sich direkt daraus ableiteten. Bis etwa 1810 (also Auftritt Spontini) zeigten sich vor allem Cherubini und Méhul, aber auch Catel, Le Sueur und Berton als Gluck-Jünger in Werken, in denen der italienische Einfluss sehr begrenzt blieb. Mit La Vestale (1807) wurde Spontini zu einem der großen Vertreter der Tragédie lyrique. Mit Aubers La Muette de Portici (1828) wurde das Genre der „Grand opéra“ in diesem gluckistischen Erbe geboren. BerliozLes Troyens (1863) ist aufgrund seines mythologischen Themas und seiner dramatischen Konzeption ein Wiederaufleben des von Gluck propagierten Ideals. Erwähnenswert sind auch die Werke anderer Komponisten wie Joncières oder Reyer. Letzterer gipfelt in Salammbô (1890), einer der letzten Ausprägungen des Gluck’schen Erbes, diesmal verwässert durch die Wagner’sche Konzeption des Dramas im romantischen Jahrhundert. (Palazzetto Bru Zane)

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Spontinis Oper „La Vestale“/ Tempel der Vesta/ Bühnenbild von Friedrich Schinkel für die Berliner Hofoper 1813/ Wikipedia

Zum Werk: Spontinis Oper La Vestale war ein großer Erfolg und erlebte bis 1830 allein in Paris mehr als 200 Aufführungen, die Spontini enormen finanziellen Gewinn brachten. La vestale (Die Vestalin) ist eine „tragédie lyrique“ in drei Akten von Gaspare Spontini mit einem Libretto von Victor-Joseph Étienne de Jouy. Spontini stellte die Partitur im Sommer 1805 fertig, musste zunächst aber gegen Intrigen rivalisierender Komponisten-Kollegen und führender Mitglieder der Opéra kämpfen. Die Premiere wurde durch Spontinis Gönnerin, die Kaiserin Joséphine, ermöglicht. Am 15. Dezember 1807 wurde La vestale an der Pariser Académie impériale de Musique uraufgeführt. Dabei sangen Étienne Lainez (Licinius), François Lays (Cinna), Henri Étienne Dérivis (Pontifex maximus), Duparc (Anführer der Wahrsager), Caroline Branchu (Julia) und Marie-Thérèse Maillard (Hohepriesterin). Spontini überreichte der Kaiserin als Dank für ihre Unterstützung eine Partitur.

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Spontinis Oper „La Vestale“/Stich nach einem Entwurf von Bignami in der L’Illustrazione Italiana, Anno 3, No 6, Dic. 5, 1875/ ital. Wikipedia

Dazu Alexandre Dratwicki im Beiheft zur neuen Ausgabe beim Palazzetto Bru Zane: Dennoch muss man zugeben, dass das Libretto, die Musik und das Bühnenbild nicht ausgereicht hätten, um einen Triumph zu erzielen, wenn sie nicht von einer erstklassigen Sängerbesetzung getragen wurden. Manchmal wurden Marie-Thérèse Maillard, François Lays, Étienne Lainez, die manchmal für ihren rauen, erzwungenen Gesangsstil verspottet. François Lays, Étienne Lainez und Henri-Étienne Dérivis fanden in Cinna, Licinius und dem Pontifex Rollen, die ihren Fähigkeiten angemessen waren, in denen ihre Technik bei dieser Gelegenheit eine großartige Widerspiegelung fand. Wenn diese Künstler so hell leuchten, dann auch deshalb, weil Spontini viele Details seines seines ursprünglichen Konzepts für sie überarbeitet hatte. Es gibt zahlreiche Diskrepanzen zwischen dem autographen Manuskript und der von Érard gedruckten Endpartitur. Die Transpositionen und Varianten für Mlle. Maillard als Obervestalin lassen sich durch die Besonderheit einer Sopranstimme erklärt werden, die sich einst in einer hohen Tessitura wohlgefühlt hatte, sich aber im Laufe der Jahre ein extrem tiefes Register und hohe Töne von erschütternder Kraft dazugewann: War sie nicht als ‚Mlle Braillard‘ (Fräulein Schreihals) bekannt?

Der Musikwissenschaftler und Prinzipal des Palazetto, Alexandre Dratwicki (Palazetto Bru zane)

Der Fall von Cinna und Licinius ist wesentlich komplexer. Der römische Feldherr sollte ursprünglich von Lays gesungen werden, den Spontini – trotz der Unentschiedenheit seiner Stimme – als Bariton betrachtete, während die Rolle des Cinna von Lainez gesungen werden sollte (daher die heroische Tenor-Tessitura). Die Ankunft von Louis Nourrit in der Gesangsszene von Paris, dessen Status normalerweise dazu geführt hätte, dass er in naher Zukunft die Rolle des Licinius übernommen hätte, und – vor allem – die Proteste von Lainez, der die Rolle des premier ténor amoureux (romantische Tenorrolle) beanspruchte, die er in der Vergangenheit immer gesungen hatte, zwangen Spontini dazu, die Rollen teilweise umzuschreiben. Lainez sang nun Licinius, und Lays übernahm den Cinna. Doch die endgültige Druckfassung trägt noch immer die Narben der Umarbeitung, die auch heute noch den Intendanten bei der Besetzung der Rollen Kopfzerbrechen bereiten.

Spontinis Oper „La Vestale“/ Caroline_Branchu als Julia/Gallica BNF

Wenn es eine Sängerin gab, für die La Vestale einen glücklichen Wendepunkt in ihrer Karriere darstellte, dann war es zweifellos die Sopranistin Caroline Branchu, die 1798 an die Opéra gekommen war und die Berlioz noch in den 1820er Jahren mit Lorbeeren überhäufte (sie wurde im Juli 1825 pensioniert). Die Rolle der Julia war ihr auf den Leib geschrieben und ermöglichte ihr sowohl ihre Sensibilität in verinnerlichten Momenten als auch ihre Kraft in dramatischen Ausbrüchen. Ihre Stimme, „so rein und so melodiös“ (Le Publiciste), erblühte in Momenten zu einem stark kontrastierenden Charakter. Die große Szene „Toi que j’implore… / Impitoyables dieux…‘, im zweiten Akt, ist wahrscheinlich der längste – oder jedenfalls der anspruchsvollste – Monolog, der bis dahin für einen Sänger der Opéra komponiert wurde. Aber mit dem Rückblick auf zwei Jahrhunderte sind es vor allem die ariosi „Ô des infortunés“ und „Toi que je Toi que je laisse sur la terre“, die bemerkenswert innovativ erscheinen: Hier nimmt Spontini die romantische Morbidität der italienischen Oper vorweg und schafft einen orchestralen Stil, der die cantabili von Donizetti und Bellini beeinflussen sollte.

Die Tatsache, dass Caroline Branchu in der Lage war, ihre Technik und stimmlichen Gewohnheiten an diese Neuerung anzupassen, wurde als erwähnenswert erachtet. Diese „neue Art zu singen“ zeigte sich in einem zunehmend forcierten Stil einer zunehmend forcierten Stimmbildung, einer tiefen Lage, die wir heute als „veristisch“ bezeichnen würden, und eine Vereinfachung der angespanntesten Passagen, um sie so bequem wie möglich zu gestalten (Spuren davon finden sich in einigen der späteren Vokalpartituren des Werks).  Alexandre Dratwicki

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Zu Spontinis „Vestale“/ „Bildnis einer Dame als Vestalin“ von Angelica Kaufmann, 1781-2/ Wikipedia

Bald verbreitete sich Spontinis Ansehen auch im Ausland. Noch 1810 wurde sie in Brüssel und (auf Deutsch) in Wien (EA am 7. November 1810 in der Übersetzung von Seyfried, Obervestalin: Katharina Buchwieser, Licinius: Giuseppe Siboni, Cinna: Johann Michael Vogl, Julia: Therese Fischer), 1811 in Berlin, 1812 in München und anschließend im ganzen europäischen Raum sehr erfolgreich gegeben. Zahlreiche Rezensionen schwärmten von der Beliebtheit der Oper. Ein Klavierauszug wurde im März 1811 in Dresden veröffentlicht, gefolgt von weiteren Fassungen (Ouvertüre, Duett etc.). In Italien erschien La vestale zunächst 1811 in Neapel (übersetzt von Giovanni Schmidt) und hatte entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der neueren Opera seria. 1844 leitete Richard Wagner eine Einstudierung in Dresden mit Spontini als Dirigenten, dem vom begeisterten Publikum Kränze zugeworfen wurden (Übersetzung wie in Wien von Ignaz Seyfried/1776-1841). La vestale verschwand im Gegensatz zu den anderen Opern Spontinis nie völlig von den Bühnen, sondern wurde in regelmäßiger Folge in Europa und Amerika gespielt.

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Spontinis Oper „La Vestale“/Étienne Lainez (der in der UA den Licinius sang) als Rameaus Dardanus/ Gallica BNF

Dokumente: 1926 nahm Rosa Ponselle die Arien „Tu che invoco“ und „O nume tutelar“ nach ihrem  europäischen Gastspiel als Giulia beim Maggio Musicala Florenz 1933 und vorher an der Met 1925/6 erstmals im Tonstudio auf (RCA). Die tapfere italienische Radioanstalt RAI spielte die Oper – erstmals in ihrer Gänze im Nachkriegs-Europa – bereits 1951 in der traditionellen italienischen Version als Live-Konzert mit Maria Vitale in der Titelrolle in Turin ein, Renato Gavarini und Elena Nicolai waren die Partner unter Ferdinando Previtali; das Ganze erschien wenig später als LP bei Cetra (nun auf CD immer noch eindrucksvoll in Italienisch/Warner). Maria Callas nahm die zwei Arien der Giulia 1955 bei EMI auf (Callas alla Scala), nachdem sie ein Jahr zuvor bereits die Titelpartie in der bekanntesten modernen Produktion übernommen hatte: Mit der Callas wurde La vestale an der Mailänder Scala im Dezember 1954 zur Saisoneröffnung unter der Regie von Luchino Visconti zum Jubiläum von Spontinis 180. Geburtsjahr herausgebracht. Diese Aufführung war zugleich das Scala-Debüt Franco Corellis. 1969 reanimierte der Dirigent Fernando Previtali dieselbe Produktion mit der Sopranistin Leyla Gencer und dem Bariton Renato Bruson (Myto u. a.). Sony brachte eine Live-Aufnahme in der Folge der Produktion an der Mailänder Scala (im Dezember 1993) unter Riccardo Muti heraus (Karen Huffstodt erwies sich als unzureichende Titelbesetzung, und auch die übrigen singen eher Verdi/Puccini – Spontini internation, möchte man sagen, das hat sich bis heute kaum geändert). Denn die „jüngste“ Einspielung von Orfeo/ 1991 weist ebenfalls ein wenig geeignetes Personal unter Gustav Kuhns ambitionierter Leitung auf (Rosalind Plowright, Francisco Araiza u. a.).

Dazu schreibt Alexandre Dratwicki: Erst etwa dreißig Jahre nach Callas begann das Werk gelegentlich in seiner ursprünglichen französischen Sprache zurückzukehren. Doch andere grundsätzliche Fragen sind bis heute nicht geklärt, angefangen bei der Unterscheidung zwischen den Stimmlagen von Licinius und Cinna, mal Tenor, manchmal Bariton. (..) Die französischsprachige Fassung, die das Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Gustav Kuhn im Jahr 1991 (bei Orfeo) aufgenommen wurde, zwei italienisch anmutende Tenöre mit blechernem Timbre.  (…) Das Ergebnis unterscheidet sich nur wenig von der Aufführungspraxis, für die Riccardo Muti heute wahrscheinlich der bedeutendste noch lebende Vertreter ist (Scala/ Sony).

Zumal die veröffentlichte Partitur, selbst in der kritischen Ausgabe von Ricordi aus den 1990er Jahren, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Merkwürdigkeiten beibehält: Die Anordnung der Solostimmen ist irreführend, und die Besetzung der Chöre lässt die hautes-contre (ersten Tenöre) von 1807 außer Acht und contralti zu, die in eine fast unerreichbare untere Lage gedrängt werden. Selbst solche Details wie die ossias für die Obervestalin erwecken Skepsis hinsichtlich ihrer Herkunft und Legitimität. Die Verwendung von historischen Instrumenten war die naheliegende Wahl für die neue Aufnahme, um zu der prägnanten Energie und den halsbrecherischen Tempi zurückzukehren, die von den Kritikern der damaligen Zeit erwähnt werden. Christophe Rousset und Les Talens Lyriques haben diesen Stil dank ihrer langjährigen Vertrautheit mit anderen Werken aus der Zeit verinnerlicht, darunter Cherubinis Médée, Renaud von Sacchini, Uthal von Méhul und Les Danaïdes von Salieri. Der Flämische Radio-Chor glänzt einmal mehr mit seiner akribischen Herangehensweise an die der Partitur.  Es war auch – und vor allem – notwendig, eine Besetzung von Sängern zusammenzustellen die bereit waren, dieses Repertoire mit Eifer und Inbrunst zu interpretieren hinsichtlich der Intonation und der Präzision eines perfekt prononcierten Textes.

So verjüngt, zeigt La Vestale paradoxerweise einen weniger revolutionären, aber nicht weniger interessanten Aspekt als das Werk, das wir bisher kannten. Außerdem kann die Musik nun mit anderen Opern aus der gleichen Zeit verglichen werden: Opern aus derselben Zeit, die erst in den letzten Jahren auf Schallplatte Jahren erschienen sind: Sémiramis und Les Bayadères (Catel), Uthal und Adrien (Méhul), Phèdre (Lemoyne), La Mort d’Abel (Kreutzer), Les Abencérages (Cherubini, alle im Kanon des Palazzetto), und andere. Wenn man sie in diesen neuen Kontext stellt, werden die Momente offensichtlicher Modernität deutlich. Die Passagen, die beispielsweise Bellini vorwegnehmen, und die Verbindungen zwischen Glucks französischen Werken und La Vestale sind offensichtlich. Alexandre Dratwicki

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Zu Spontinis „Vestale“/ Szene aus der Parodie „La Marchande des Mode“ aus der Feder von Librettist Victor-Joseph Étienne de Jouy zur Musik von Spontini, 1807/ Gallica BNF

Verbreitung: Bereits einen Monat nach der Uraufführung in Paris gelangte mit La marchande des modes (Die Modehändlerin) eine erste Parodie der Oper am Théâtre du Vaudeville auf die Bühne, gefolgt von einer weiteren, Cadet Buteux à l’opéra de la Vestale von Marc-Antoine Madeleine Désaugiers.

Der Erfolg der Oper inspirierte Carl Guhr zu einer eigenen Version (UA 1814) am Hoftheater Kassel. Saverio Mercadantes Oper La vestale wurde 1840 am Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt und im selben Jahr in Berlin unter Anwesenheit Spontinis, der dort einer von drei Generalmusikdirektoren war, als Gastspiel auf Italienisch gegeben. Weitere Aufführungen erfolgten in Rom unter geänderten Titeln: Emilia (1842) und San Camillo (1851).

Die Aktivitäten im 20. Jahrhundert wurden bereits erwähnt, und die jüngste – vor der des Palazzetto – war die von Jeremy Rhorer 2015 an der Pariser Oper, wie sie auf youtube nachzuerleben ist, ebenfalls – wie die nun von Christophe Rousset – auf Originalinstrumenten, aber nicht auf CD gebannt, was eigentlich unverständlich war. Aber seine Besetzung kann in der Titelrolle nicht mit Rousset mithalten, wenngleich die von mir nie sonderlich geschätzte Béatrice Uria-Monzon der neuen Oberrpiesterin Aude Extremo ungleich vorzuziehen ist. Die Männerpartien sind ebenfalls exzellent und sehr französisch in Farbe und Diktion.

Zu Spontinis „Vestale“/ Szene aus der Oper von Moritz von Schwind im Wiener Opernhaus/ Wikipedia

Frühere Bemühungen um die Oper in der Originalsprache sind eher wenig dokumentiert. Die inzwischen verblichene Firma Gala brachte eine Aufführung aus Paris von 1976 unter Roger Norrington heraus mit Michelle Le Bris und der wunderbaren Nadine Denize in den weiblichen Hauptrollen. Bereits 1964 gab es ein Konzert im französischen Rundfunk mit Renée Manzeller, Micheline Grancher und Jan Mollien unter Jean-Paul Kreder, festgehalten bei Chant du Monde. Gundula Janowitz war 1974 bei der RAI (BJR und andere) die freudlose Julia unter Jesus Lopez-Cobos neben Ruza Baldani und der stentoralen Gilbert Py. 2015 nahm sich Alessandro de Marchi der Oper in Brüssel an: Alexandra Deshorties, Yann Beuron und die imposante Sylvie Brunet (-Grupposo) bestritten das Werk am Monnaie, durchaus erfolgreich, wenngleich nicht mit dem Drive der neuen Aufnahme. Die Aufführung in Wien 2019 hatte zumindest alle Ballette. Und die Mitwirkung von Michael Spyres als Licinius setzte der müden Angelegenheit Glanzlichter auf, aber weder Elza van den Heever noch die stumpfe Claudia Mahnke noch der trockene Sébastien Guéze konnten über das Funktionale hinaus punkten. Ebenfalls 2015 dann – wie erwähnt – machte Jeremy Rhorer mit seiner Interpretation der Oper in Paris von sich reden, aber auch hier ist der Bessere der Feind des Guten, denn die unruhige Stimme von Emonela Jaho ist nicht in der Liga von Marina Rebeka als Julia, wenngleich Jean-Francois Borras als Cinna und Andrew Richards als Licinus durchaus ihre Momente haben. Dennoch – der Palazzetto hat mit dieser neuen und erstmals auf CD mit originalen Instrumenten eindeutig die Nase vorn. Geerd Heinsen

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Wie schon oft hat ein Artikel bei uns auch diesmal verschiedene Väter, einer davon ist Alexandre Dratwicki, Musikwissenschaftler von Rang und Künstlerischer Direktor des Palazzetto Bru Zane, operalounge.de-Lesern nur zu bekannt. Aus dem Booklet zur Buch-CD-Ausgabe der Vestale (BZ BZ 1051) entnahmen wir mit Dank die gekennzeichneten Passagen in unserer eigenen deutschen Übersetzung. Einiges in dem übrigen Artikels beruht auf Angaben von Wikipedia, ebenfalls mit Dank. Und wir haben uns bewusst im Bericht über verfügbare Aufnahmen der Oper auf die originalsprachigen beschränkt, daher werden Sänger wie Caballé und Co. nicht berücksichtigt (nur um Reklamationen vorzubeugen)/ Abbildung oben Carl Friedrich Deckler: „Vestalin mit Efeugirlande“, 1856, Dorotheum/ Wikipedia/ 05 05 23. G. H.

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Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier

Von Strauss zu Hollaender & Weill

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So begeistert von der Zusammenarbeit mit der finnischen Sängerin Camilla Nylund bei den Proben zum Rosenkavalier an der Berliner Staatsoper war André Heller, dass er danach gleich noch ein neues Projekt mit ihr mit dem Great American Songbook startete, das bei Naxos als Blu-ray in Schwarz-Weiß erschienen ist. Wer nur das Audio-Erlebnis zu schätzen weiß, der ist mit der ebenfalls vorhandenen CD gut bedient. In Wahrheit handelt es sich um eine Auswahl von „masterpieces“, und so sehr American sind diese nicht, denn es handelt sich zum Teil um Werke von Friedrich Hollaender aus seiner deutschen Zeit wie „Ich bin von Kopf bis Fuß“ oder um Kurt Weill, allerdings aus dessen amerikanischer Zeit. Die extra für die Sängerin geschaffenen Arrangements stammen von Florian Sitzmann, Christoph Unterberger und Leonard Eröd.

Als erstes konstatiert der Hörer, dass der Sopran seine Opernstimme verleugnet, bereits in Cole Porters Ev’ry Time we say Goodbye nur das obere Register zu bemühen scheint, die Stimme kleiner und mädchenhafter erscheinen lässt, als man von ihren Bühnenauftritten gewohnt ist. Dadurch gewinnt der Vortrag auch eine besondere Intimität, zudem erfreut ein langes Nachspiel den Hörer. In Michel Legrands What are you doing the rest of your life geht das ORF Vienna Radio Symphony Orchestra unter Marin Alsop in die Vollen, steuert auch die Harfe Poetisches zum Klangbild bei und La Nylund lässt ihren Sopran in For all we know strahlen, ein schönes Vibrato für „Can’t help lovin‘“, danach exakte Synkopen vernehmen und auf „Love“ viel Süße in die Stimme einfließen , ehe ein lange gehaltenes „You“ den Vortrag beendet. Bewusst nicht einer der vielen Interpretinnen, darunter Ella Fitzgerald nacheifernd, weiß die Nylund ihren eigenen Zugang zu diesem Musikstück zu finden, reizvoll unterstützt vom sie begleitenden Saxophon. Angemessen verhangen klingt „ If I loved you“, und in Falling in love again vermeidet der Sopran jede Art der Nachahmung, bleibt immer nett und unschuldig bei viel Sinnlichkeit im Orchester und kann es doch nicht vermeiden, dass man Marlenes Ich bin von  Kopf bis Fuß nicht aus dem Sinn bekommt. Einen großen Teil des Reizes von I’ll be seeing you macht die begleitende Mundharmonika aus, für When I fall in love wird eine Gitarre bemüht, während die Stimme in schöner Nachdenklichkeit verharrt, „with you“ wie einen unendlichen Laut verhauchen lassend.

Das Fagott und die ausladende Gestik unterstreichen in They cant take von George Gershwin den vokalen Übermut und ein entschlossenes „No“ lässt keinen Zweifel an der Charakterstärke der Singenden aufkommen. Wenn es um die Liebe zu einem Taugenichts wie in Can’t help loving geht, kann auch einmal Rauch vorbeiziehen, eher kitschig als stimmungsfördernd wirkt das Eingreifen der Wiener Sängerknaben in The book of love. Wild bewegt geht es schließlich im Orchester zu bei Kurt Weills September Song, und wie ein Schluchzer klingt „tonight“ in Coots‘ For all we know, nachdem Ziehharmonika, Klavier und Saxophon für viel Stimmung in Hollaenders Illusions gesorgt haben.

Optisch wirkt, nicht zuletzt weil durchgehend schwarzweiß gehalten, alles wie ein Film aus den Zwanzigern, in denen auch viele Texte geschrieben wurden und viel von der Musik entstand. Akustisch findet die Sängerin ihren ganz eigenen Zugang zu den Songs, und die Aufnahme wird zusätzlich interessant durch die sehr abwechslungsreiche Instrumentierung (Naxos NBDO162V). Ingrid Wanja

Soňa Červená

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Die tschechische Opernsängerin und Mezzosopranistin Soňa Červená (* 9. September 1925 in Prag; † 7. Mai 2023 ebenda) ist tot. Die Kammersängerin starb im Alter von 97 Jahren in ihrer Geburtsstadt Prag, wie das Prager Nationaltheater mitteilte. Nach ersten Erfolgen in ihrer Heimat ging Cervena 1958 in die DDR an die Berliner Staatsoper Unter den Linden.

Nach dem Mauerbau floh sie in den Westen und fand neue Engagements an der Deutschen Oper Berlin, der Oper Frankfurt und dem Opernhaus in San Francisco. Sie bestritt zahlreiche Gastauftritte in Westeuropa.

Ihr Rollenspektrum reichte von der Carmen in der gleichnamigen Oper über die Ulrica in Verdis „Ein Maskenball“ bis hin zur Brangäne in Wagners „Tristan und Isolde“. Auch als Schauspielerin war Cervena aktiv. Zuletzt war sie 2017 in der ZDF-Serie „München Mord“ zu sehen. Cervena erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter die tschechische Verdienstmedaille und den Ehrentitel „Dame der tschechischen Kultur“. Noch im vorigen September trat sie – kurz nach ihrem 97. Geburtstag – in der Lateranbasilika in Rom bei einem Konzert aus Anlass der damaligen EU-Ratspräsidentschaft Tschechiens auf.

Ihre Lebenserinnerungen erschienen 1999 unter dem Titel „Heimweh verboten – mein Stück Theater- und Weltgeschichte“. Sie verfasste zudem eine Biografie ihres Großvaters, des im 19. Jahrhundert bekannten Instrumentenbauers Vaclav Frantisek Cerveny. Geboren wurde Sona Cervena am 9. September 1925 in Prag, am Sonntag verstarb sie ebenda (Foto Wikipedia). (Quelle und nachzuhören: Sendung rbb24 Inforadio)

Feuilletonistisches

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Nicht in die falsche Richtung führen lassen solle sich der Leser vom zweideutigen Titel Das Vorspiel, und der Untertitel Begegnungen mit Musik in 15 Variationen klärt auch sofort darüber auf, dass es sich bei Carolin Pirichs Buch nicht um Handreichungen für ein glückliches Liebesleben handelt, sondern um klassische Musik. Nicht ganz nachvollziehbar ist die Gliederung des Buches in fünf Teile, von denen die drei mittleren umrahmt werden von Das Konzert I und Das Konzert II und aus vier oder sechs Kapiteln bestehen, die inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, außer dass ihnen jeweils ein Zitat eines Musikers vorangestellt ist. Die Rahmenhandlung schildert Vorbereitung und Durchführung eines Konzerts zu Corona-Zeiten auf einer Insel im Berliner Wannsee, wobei die Verschiffung des Flügels und dessen Transport auf einem Boot eine besondere Herausforderung darstellen und anschaulich geschildert werden. Diese wie auch die anderen Texte scheinen weniger die einer Journalistin als die einer Schriftstellerin zu sein, ganz besonders diejenigen mit dem titelgebenden Das Vorspiel oder mit Klassischer Krimi. In ihnen wird Spannung erzeugend mit Zeitsprüngen zwischen aktueller Handlung und Rückschau gespielt, auch in Konzert I wechseln Handlung und Reflexion einander ab und machen den jeweiligen Text zu einer so spannenden wie aufschlussreichen Lektüre.

Zweideutig ist er Titel Gegen den Strich, wird die Neugier des Lesers geweckt, auch indem mit einem „sie“ begonnen wird, erst später der Name Franziska Pietsch fällt. Da wird mit ebenso viel Sachlichkeit wie Empathie das Schicksal des musikalischen Wunderkinds geschildert, dessen Solistenkarriere wegen der Republikflucht des Vaters ein jähes Ende nahm. Im Konzerthaus am Gendarmenmarkt spielt die titelgebende Geschichte, die zugleich einfühlsam die seelische Gemengelage eines von 25 zum Vorspiel geladenen Kontrabassisten schildert, wie sie kundig Deutschland als Sehnsuchtsland von klassischen Musikern aus der ganzen Welt mit den verheerenden Folgen für deutsche Künstler beschreibt. Um die Mutter, die Autorin und ein in Hamburg 1940 gebautes Klavier geht es im Kapitel Vom Mut, zu viel zu sein, um einen Programmheftverkäufer in der Deutschen Oper Berlin in Vor dem Vorhang und der bis dahin so gutwillige wie gutgläubige Leser stutzt, denn aus erster Quelle, von der um den sterbenden Giuseppe Sinopoli  gemeinsam mit ihrem Arztkollegen bemühten Krankenschwester der Herzklinik weiß er, dass alles etwas anders war als geschildert, und auch  sonst tauchen Unstimmigkeiten auf wie eine Deutsche Oper, die angeblich keine Logen, dafür aber ein Restaurant oberhalb des Ersten Rangs haben soll. Hätte der befragte Logenschließer noch einige Jahre früher seinen Dienst angetreten, hätte er vom Schicksal seines Kollegen berichten können, der dem Tenor William Pell den Zutritt zum 1. Rang verwehrte, weil die Premiere der Walküre bereits begonnen hatte, und der sich so sehr aufregte, dass er an Ort und Stelle an einem Herzinfarkt verstarb.

Igor Levit steht im Mittelpunkt von Ich will nicht nur der Mann sein, der die Tasten drückt, und die Verfasserin sieht in ihm eine Art Grönemeyer der Hochkultur  und lobt seine Twitter-Tätigkeit wie seine politischen Aktionen. Stillstand stellt die Dirigentin Joana Mallwitz in den Mittelpunkt, handelt vom Wandel der Dirigentenrolle, der mit dem des weiblichen Taktgebers auf die Bühne oder vielmehr in den Orchestergraben einsetzt. Der schwärmerische Text lässt vermuten, dass die Autorin dem Gegenstand ihrer Betrachtungen sehr nahe steht und dieser wiederum Gustav Mahler, so dass die einzelnen Kapitelüberschriften den Tempoanweisungen einer Sinfonie des Komponisten gleichen. Anschließend wird über die Tätigkeit der Verfasserin für das Ensemble für zeitgenössische Musik berichtet, in Auf beiden Saiten anspielungsreich, vorsichtig und taktvoll das Abgleiten des Geigers David Garrett in das Showgeschäft, ins Cross over beklagt. Kulturmanager Peter Schwenkow dürfte sich mit seinem „sex sells“ nicht gern zitiert sehen.

Ein Zitat des Geigers Christian Tetzlaff wird dem dritten Block vorangestellt, in dem über den im Garten vergrabenen Koffer des polnischen Komponisten Ludomir Rózycki berichtet wird, von der Handschrift seines Konzerts in der Uni-Bibliothek, wo die Verfasserin auch mit der Urenkelin des Musikers zusammentraf, eine Begegnung, die sie nicht in journalistischer Kühle, sondern mit poetischer Wärme beschreibt. Vom Lärm der Zeitenwende handelt von der Änderung eines Konzertprogramms in der Berliner Philharmonie nach dem Angriff Putins auf die Ukraine, Zum Leben erweckt wird Mozarts Geige von Christoph Koncz, und Die dunkle Seite der Sonate beschreibt John Cages‘ vier Minuten und 33 Sekunden dauerndes Opus absoluter Stille.

Das vielseitige und mit viel Liebe für die klassische Musik und ihre Interpreten geschriebene Buch ist eine anregende und bereichernde Lektüre (Berenberg Verlag 216 S.; ISBN 9783949203527) . Ingrid Wanja 

Fundstück

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Nanu, eine Aufnahme von 1976 aus der nicht prominenten Abteikirche Marienfeld mit dem nicht prominenten Bachchor Gütersloh unter der Stabführung des ebenfalls nicht allzu prominenten, inzwischen verstorbenen Dirigenten Herman Kreutz auf einer nagelneuen CD?! Wie kann es dazu kommen? Die Deutsche Grammophon hat es sich mit dem neuen Label MDG Preziosa zur Aufgabe gemacht, bisher  nicht auf CD veröffentlichte Aufnahmen zugänglich zu machen, ohne klangverändernde Manipulationen. „Das Ziel ist die unverfälschte Wiedergabe mit genauer Tiefenstaffelung, originaler Dynamik und natürlichen Klangfarben.“ „Größte Natürlichkeit und Lebendigkeit“ soll damit erreicht werden und werden so auch Rossinis Petite Messe solennelle in beeindruckender Weise zuteil. Eigentlich hatte man im fernen Jahr 1976   nur an einen Testfall gedacht, war dann aber von dem Ergebnis so überzeugt und außerdem glücklich darüber, dass die Messe auf zwei Seiten einer Langspielplatte passte, die in der Presse auf große Zustimmung stieß. Auf eine CD allerdings passt das Werk mit 96 Minuten Länge nicht, und deswegen wurden auch alle diesbezüglichen Pläne zu den Akten gelegt.

Wie Verdis Requiem war auch Rossinis Stabat Mater dem Vorwurfe ausgesetzt gewesen, es klinge zu opernhaft, sei eigentlich keine geistliche Musik, umso weniger, wenn noch bereits aus Opern bekannte Melodien dafür recycelt wurden wie Almavivas „Ecco ridente il cielo“. Erst dreißig Jahre nach seiner letzten Oper, Guglielmo Tell, setzte sich Rossini noch einmal an das Klavier, um seine „leider letzte Todsünde seines Alters“ zu komponieren. Dies geschah 1863 innerhalb von nur zwei Monaten und war eigentlich nur für die Aufführung in einer Privatkapelle gedacht, in der nicht ein ganzes Orchester, sondern stattdessen nur zwei Klaviere und ein Harmonium sowie vier Solisten und acht Chormitglieder Platz hatten. Obwohl Rossini später noch eine Orchestrierung vornahm, schätzte er wohl weiterhin die erste Fassung seiner Messe mehr als die erweiterte, von der man annimmt, er habe sich die Mühe damit nur gemacht, um zu verhindern, dass sie durch andere Komponisten entstellt werden würde.

Die Pianisten Marie-Theres Englisch und Christian de Bruyn fangen etwas zögerlich an, werden aber zunehmend zupackender, ja erscheinen stellenweise etwas vorlaut, als wollten sie ein ganzes Orchester ersetzen, aber das ist nur der erste, schnell revidierte Eindruck. Der Chor klingt bereits im Kyrie sanfter und frommer als ein italienischer, zeichnet sich durch ein schönes Anschwellen des Klangs aus und klingt im Gloria einfach engelsgleich. Geläufig, mit instrumentalem Klang wird das Sanctus absolviert, machtvoll das Credo, und ein Amen, das akustisch die ganze Welt zu umarmen scheint, beschließt die Messe.

Bemerkenswert ist das Solistenquartett. Sanft und hell leuchtet der Sopran von Gerda Hagner, keusch und innig im Crucifixus und von schöner Reinheit. Ehe sie einer der führenden Wagnersoprane wurde, hatte Gabriele Schnaut bereits eine Mezzokarriere hinter sich. Warm, vollmundig und wie aus einem Guss und mit viel Entschlossenheit in der Stimme führt sie die Messe mit dem Agnus Dei zum Schluss- und Höhepunkt. Sehr jung starb der in Brasilien als Sohn italienischer Eltern geborene Tenor Aldo Baldin, der mit bemerkenswert schönem Timbre und viel Sinn für Dramatik das Domine Deus singt. Ebenfalls bereits verstorben ist inzwischen der Bass Karl Fäth, der mit kraftvoller Höhe, in der Tiefe etwas grummelig, ein nachdrückliches Sanctus zu Gehör bringt. Auf weitere Ausgrabungen von MDG Preziosa kann man gespannt sein (MDG 102 0003-2). Ingrid Wanja