Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Korrektur des Verkannten

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Der Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen bricht in seiner neusten Publikation allen weitverbreiteten Vorurteilen zum Trotz – schon im Vorfeld seines hundertsten Todestages – eine Lanze für Giacomo Puccini: „Zweifellos zählt Puccini zu den umsatzstärksten und wertbeständigsten Klassikern des internationalen Kulturbetriebs. La Boheme, Tosca, Madama Butterfly und Turandot gehören zum Kanon der abendländischen Kulturgeschichte.“ Puccini sei“ neben William Shakespeare, Giuseppe Verdi und Henrik Ibsen der meistgespielte Tragödienautor des Welttheaters. Dieser Befund unterliegt keinen kurzfristigen Moden und konjunkturellen oder regionalen Schwankungen, sondern ist bereits seit mehr als einem Jahrhundert offenkundig und stabil.“ Die Gründe bekräftigt Jacobshagen in seinem weit ausholenden Buch mit Analysen der musikalischen Dramaturgie sowie einer präzisen Familien-, Werk- und Zeitdarstellung. Puccinis Leben reichte weit ins 20. Jahrhundert, auch wenn man ihn eher in der Nähe des fast 50 Jahre älteren Verdi verortet, als an der Schwelle zur Moderne. Ein Irrtum wie Jacobshagen klarstellt. Puccini war für Jacobshagen „ein Perfektionist singulären Ranges. Er schuf eine Reihe von Werken for die Opernbühne, die sich neben ihren offenkundigen dramaturgischen, melodischen, harmonischen und instrumentationstechnischen Qualitäten vor allem durch die äußerste Präzision sämtlicher musikalischer Strukturen und Details bei konsequentem Verzicht auf Randständiges und Ausuferndes, auf Leerlauf und Redundanz auszeichnen. Puccini war ein Meister des Zuspitzens wie des Maßhaltens – Eigenschaften, die sich übrigens nicht nur in seinen Werken, sondern auch in seiner Persönlichkeit zeigen.“ Es lässt sich nicht abstreiten: Puccinis Musik trifft den Zuhörer ins Herz, aber es lohnt sich, diese Musik zu reflektieren, um zu erkennen, wie raffiniert das vermeintlich Seichte, das vermeintlich Konventionelle bei Puccini ist. In seinem „Trittico, einer „retrospektiven Zeitreise von der Gegenwart zurück bis ins hohe Mittelalter“ gewährt Puccini Einblick in seine Arbeitsweise. Mit „Gianni Schicchi“ legte er nach Verdis „Falstaff“ eine meisterhafte Komödie vor und bewies, dass die italienische Opera buffa, die oft totgesagt wurde, noch erstaunliche Lebenskraft hat. Der humorvolle Höhepunkt des „Trittico“ erzählt eine Posse um einen Erbschaftsstreit. Lauretta und Rinuccio wollen heiraten, aber dies geht nur, wenn sie ein Vermögen erbt. Um ihren Vater zu manipulieren, singt sie völlig unvermittelt in diesem Commedia- dell’arte-Durcheinander die herzzerreißende Arie „O mio babbino caro“, in der sie droht, vom Ponte Vecchio zu springen, falls der Vater sich nicht für sie einsetze. Löst man diese Arietta mit ihrer lyrischen Melodie aus ihrem Kontext, liegt der Kitschverdacht nahe, bettet man sie hingegen richtig ein, ist nicht zu übersehen, dass Puccini sich selbst mit Augenzwinkern ironisierte. So arbeitet er, wenn er berühren und bewegen wollte, was ihm das Wichtigste war, wie er einmal in einem Brief bekannte. Nicht nur bei Laurettas Vater wirkt das süße Gift des Wohlklangs, auch bei den Zuhörern. Das Bemerkenswerte ist jedoch, dass, auch wenn man um die Manipulationsabsicht weiß, es trotzdem wirkt. Ja, es macht sogar noch mehr Freude, sehenden Auges dem Sirenengesang auf den Leim zu gehen. Es ist der Gesang eines Trotzdem. „In gewisser Weise“ so betont Jacobshagen, „präsentiert sich das gesamte Werk als eine einzige gewaltige Ensembleszene der fünfzehn am Stück beteiligten Figuren, von denen alle nahezu ununterbrochen auf der Bühne anwesend bleiben, wie René Leibowitz hervorgehoben hat: ‚Gleichwohl erzeugt diese ständige Präsenz der Figuren keinerlei Immobilität oder Statik, denn es ist die Musik, der es in überwältigender Weise gelingt, die Bewegung und Aktion des Dramas zu konstituieren.‘ Hierin unterscheidet sich das Stück fundamental von den üblichen Gepflogenheiten der Opera buffa, für die der rasche Wechsel von Soloszenen, Duetten und größeren Ensembles konstitutiv ist und in denen gewöhnlich nur in den Finalnummern das gesamte Bühnenpersonal vereinigt ist. Dieser ständige szenische Wechsel fehlt in Gianni Schicchi, und selbst Lorettas berühmte Kurzarie ‚O mio babbino caro‘ steht nicht für sich isoliert, sondern erweist sich als Bestandteil der übergeordneten Ensemblestrukturen. Puccini kompensiert die szenische Uniformität vor allem durch extreme Besetzungsunterschiede und äußerste Flexibilität in der Orchesterbehandlung. Seine motivisch-thematische Arbeit beruht überwiegend auf kurzen melodischen Zellen, die einem kontinuierlichen Repetitions- und Variationsprozess unterworfen werden. …Präsentiert sich Puccini in der virtuosen Durchgestaltung dieser motivisch-thematischen Arbeit gleichsam als Neoklassizist, so beindruckt das suggestive Insistieren auf solchen Elementarstrukturen im Kontext der musikalischen Moderne durch ein erhebliches Innovationspotenzial.“

Puccini, so zeigt Jacobshagen, erweist sich auch und gerade „in seiner einzigen komischen Oper als ein Seismograph der musikalischen Moderne.“ Aber die Trotzdem-Haltung ist allen Opern Puccinis eigen: Zum einen, damit das Denken nicht übergangen wird, denn es verhindert nicht, sondern intensiviert die Gefühle durch Bewusstwerdung. Zum anderen, weil Puccini selbst diesen Umweg macht, in den meisten seiner zwölf Opern. Indem bitterste Wirklichkeiten nicht mit bitterer Musik dupliziert werden, sondern im Wohllaut daherkommen, manifestiert sich der Wunsch nach einer Gegenwelt als einem Trotzdem. Ganz anders Kitsch. Er evoziert falsche Gefühle. Damit hat Puccini nichts zu tun. Trotzdem zu lieben (und zu singen), leidenschaftlich und überschwänglich, davon erzählt Puccini mit seiner Musik. Verismus bedeutet in diesem Sinne, die wahre Radikalität des Gefühls erkennen. Puccinis Werke fordern vom Publikum einen Protest gegen eine Wirklichkeit, die die Wahrhaftigkeit verunmöglichen will. Puccini zu lieben bedeutet, sich zu diesem Trotzdem zu bekennen. – Die Oper erlebte mit Puccini einen Paradigmenwechsel, was schon am Beispiel seiner Geschlechterrollen und Operntitel sichtbar wird. Viele weiblichen Bühnengestalten in den Opern Puccinis sind Frauen, die liebend leiden oder leiden lieben. Die sich selbst opfern oder geopfert werden.  Puccini zeigt in seinen Opern acht Frauen-, aber nur zwei Männernamen Bei den beiden Giganten unter den Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts, Giuseppe Verdi und Richard Wagner, dominieren noch Männer im Werktitel. Puccini blieb seinen Idealen zu Musik und Theater treu. Er entfernte sich nie von der chromatischen Vielschichtigkeit am Ende der Romantik. Und doch fand sein Werk das Lob zahlreicher Kollegen: Strawinsky, Ravel und Schönberg – für den Puccinis Werk dasjenige Verdis übertraf – brachten ihre Bewunderung zum Ausdruck. Ein deutscher Journalist schrieb nach der Premiere von „Turandot“: „Puccini hat hier sicherlich die raffinierteste Musik seines Lebenswerkes geschrieben – sie reicht von Strauss zu Strawinsky über Mahler und Schönberg. Er kannte alles, wusste alles und konnte ungeheuer viel, besonders in der „Turandot.“ Puccini wird in der Regel als Vertreter des Endes einer Tradition gesehen, aber er hat den Speer weit in die Zukunft geschleudert. Anspielungen auf seinen Stil lassen sich in Werken von Janáček, Korngold, Orff und Berio hören (letzterer veröffentlichte 2001 seine eigene Ergänzung von Turandot). Unzählige Komponisten von Musiktheater- Musical und Filmmusik, von Rodgers und Hammerstein bis zu John Williams haben sich von seinem Werk hörbar beeinflussen lassen, ebenso der Jazzmusiker Al Jolson oder der Musicalkomponist Andrew Lloyd Webber. ‚Ein guter Musiker muss alles können, aber nicht alles geben‘ hat Puccini einmal treffend formuliert. Er hat sich immer aufs Wesentliche beschränkt. Die technologische Präzision seiner Partituren weist ihn als einen der ersten Repräsentanten der europäischen Moderne im Bereich des Musiktheaters aus.“ Das haben nach vielen Jahren der Ignoranz in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch die Interpreten (Regisseure und Musiker) seines Musiktheaters erkannt.  „Angesichts dieser Gegebenheiten sollte heute eigentlich Niemand mehr leichtfertig den Fehler begehen, Puccini als Komponisten zu unterschätzen. Zwar war es in gewissen High-Brow-Milieus lange Zeit üblich, Puccini mit Missachtung zu begegnen. Kurt Tucholskys Diktum, Puccini sei der ‚Verdi des kleinen Mannes‘ spiegelt besonders die Ansichten jener Kreise wider, die auch in Verdi bloß den reißerischen ‚Leierkastenmann‘ sehen wollten… Noch immer sind zahllose, darunter sehr namhafte Autoritäten aus allen Bereichen des Musik- und Wissenschaftsbetriebs recht anfällig für solche Fehleinschätzungen.“ Jacobshagen ist nichts hinzuzufügen. Er hat eine Summe der Auseinandersetzung mit Puccini von seiner Zeit bis heute ist gezogen. Eindrucksvolles Fotomaterial, ein Werkverzeichnis, eine informative Bibliographie und verschiedene Register machen das Buch zum neuen Standardwerk (Arnold Jacobshagen: Giacomo Puccini und seine Zeit; 408 Seiten mit 31 Abbildungen und 15 Notenbeispielen. Geb./ Große Komponisten und ihre Zeit 27; ISBN 978-3-89007-807-6). Dieter David Scholz

Aus gegebenem Anlass

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Genau neun Jahre ist es her, dass eine reine Puccini-CD mit Jonas Kaufmann auf dem Markt erschien, nun gibt es eine neue mit dem Titel Puccini : Love Affairs, als könnte es   bei Puccini noch um etwas bemerkenswert Anderes als die Liebe gehen. War 2015 die einzige Partnerin im vorwiegend mit Tenorarien bestückten Album  Kristina Opolais,  so begleiten heute gleich sechs Diven den deutschen Tenor, der nur zweimal mit einer Arie vertreten ist. Sang er zuvor „Recondita armonia“ aus Tosca, so nun “E lucevan le stelle“ mit seinen enormen Anforderungen an die Fähigkeit des Sängers, zwischen einem zum Forte führenden Crescendo und einem ins Pianissimo geleitenden Diminuendo zu wechseln, wobei die alten Stärken, eine hochpräsente, baritonal gefärbte tiefe Lage und eine darstellende Stimme sowie auch die Schwächen, ein Piano, das eigentlich keines, sondern eher ein leises Forte ist, zum Schluss der CD noch einmal Revue passieren. Unmittelbar davor zeigte sich beim Bohéme-Rodolfo und seinem „Che gelida manina“  , dass Kaufmann dieser Partie bereits entwachsen ist, dass er zwar um das für die Rolle Notwendige weiß, ohne es auszuführen, mit schwerer gewordener Stimme zu schwärmerisch beim Mitteilen von Informationen, zu sehr bemüht ist, in einer Phrase extreme Gefühlsregungen gleichzeitig unterzubringen, Gegensätze auszureizen.

Es beginnt mit dem den ersten Akt von Bohéme beschließenden „O soave fanciulla“, in dem der Tenor eine starke, dunkle Mittellage hören lässt, aus der die Stimme nicht bruchlos in eine flacher klingende Höhe klettert, begleitet von dem Sopran Pretty Yendes, der an dolcezza, wie sie einer Mimi gebührt, kaum zu überbieten ist.   Ein wesentlich dramatischeres Kaliber setzt Anna Netrebko für das Duett im zweiten Akt von Manon Lescaut ein, das auch auf der alten Puccini-CD zu hören war, das aber bei den jetzigen Stimmen weit besser aufgehoben ist, die angemessen dunkel, schwer und eine bittere Erfahrung hörbar machend sind. Das reiche Timbre des Soprans passt gut zum stählernen „ Non m’ami più“, zwei Hochdramatische ringen akustisch miteinander, können einander aber auch schmeichelnd anhimmeln im „È fascino d’amor“, und nur wenn es nach oben wie in „Nel occhio tuo profondo“ geht, wird es eng.

Heller, leichter, weicher, aber durchaus eine gestandene Tosca ist im Duett des ersten Akts Sonya Yoncheva, verführerisch im Ausmalen der nächtlichen Freuden,  während der Tenor reich an vokalen Facetten ist, um Belustigung, Ungeduld oder Schwärmerei auszudrücken, letzteres besonders im „Qual’occhio“.  Wie in der Manon erweist es sich als glückliche Entscheidung, längere Szenen vokal aufzuführen, die es dem Hörer ermöglichen, sich wirklich ein akustisches Bild zu malen. Dazu gehört auch der vernehmbar liebevolle Spott, mit dem der Sopran“ l’arte di farti amare“ argumentiert.

Aus dem ersten Akt der Fanciulla stammt das Duett, in dem auch noch die Walzermelodie  nachhallt, Malin Byström ist eine akustisch klare, helle, in der Höhe etwas schrille Minnie, er ein wie weichgespült klingender, sanfter, sehr kommunikativer Dick, der zu einem zärtlich-zarten „Quelle che tacete“ fähig ist, allerdings auch gern innerhalb einer Phrase die Extreme auslotet. Dem Luigi in Il Tabarro verleiht Kaufmann seinen unverwechselbaren Charakter im hochdramatischen Ausbruch, sie ist Asmik Grigorian mit geschmeidigem Sopran voller Sehnsucht. Das letzte Duett ist das aus dem ersten Akt der Butterfly, die Maria Agresta mit rundem, warmem Sopran schönster Pianissimi singt, er lässt alle Gedanken an „la sposa americana“ vergessen mit geradezu orgiastischem Aufblühen der Tenorstimme, selten hörte man den Schluss des ersten Akts derart üppig.

Das Orchestra del Teatro Comunale di Bologna unter Asher Fischer erweist sich als routinierter Begleiter der Creme de la Creme des Soprangesangs in Verein mit dem Ausnahmetenor in guter stimmlicher Verfassung (Sony 19802896702). Ingrid Wanja     

Gemischte Eindrücke

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Gerühmt für seine Interpretationen von Partien des französischen Repertoires (Massenets Werther und Des Grieux, Gounods Roméo und Offenbachs Hoffmann) wird der Tenor Benjamin Bernheim gegernwärtig hoch gehandelt. Jetzt hat er für sein drittes Album bei seiner Stammfirma Deutsche Grammophon französische Mélodies und Chansons ausgewählt, die unter dem Titel „Douce France“ erschienen sind (486 6155). Dieser ist der gleichnamigen Komposition von Charles Trenet entnommen, welche gemeinsam mit Joseph Kosmas „Les feuilles mortes“ und Jacques Brels „Quand on n´a que l´amour“ für einen populären Ausklang der Anthologie sorgt. Der Sänger schlägt damit auch eine Brücke zwischen dem klassischen Lied und dem zeitgemäßen Chanson.

Einige dieser Nummern hatte Bernheim schon in das Programm seines Salzburger Liederabends von 2023 integriert, so Henri Duparcs „L´invitation au voyage“, „Phidylé“ und „La vie antérieure“ oder Ernest Chaussons „Poème de l´amour et de la mer“.

Als Auftakt der CD erklingt Hector Berlioz´ bekannter Zyklus „Les nuits d´été“, der zumeist von Frauenstimmen interpretiert wird. Legendär sind die Einspielungen  von Régine Crespin, Victoria de los Angeles und Janet Baker. John Eliot Gardiner (wie auch vorher der BGerlioz-Pionier Colin Davis) hatte in seiner Aufnahme 1989 die Lieder verschiedenen Sängerinnen und Sängern zugeteilt, darunter dem Tenor Howard Crook und dem Bassisten Gilles Cachemaille. Bernheim aber ist nun alleiniger Interpret des kompletten Zyklus. Bei seiner Einspielung hat er sich für dessen ursprüngliche Fassung mit Klavier entschieden und in der Pianistin Carrie-Ann Matheson eine einfühlsame Partnerin gefunden. Zunächst ist die exemplarische Diktion des Franzosen hervorzuheben. Auch der kompetente Gebrauch der voix mixte ist ein Trumpf des Sängers. Irritierend aber sind der zuweilen aufgeraute, spröde Klang des Tenors und die forcierten hohen Töne. Man vermisst oft den Schmelz und die Süße – noch vor kurzem seine Markenzeichen. Und bei einer Platte mit dem Begriff „douce“ im Titel erwartet man schließlich Anmut und Charme. Der Beginn mit „Vilanelle“ klingt plärrend, um nicht zu sagen penetrant. Ein günstigerer Eindruck ergibt sich bei getragenen Stücken, so beim folgenden „Le spectre de la rose“, das träumerisch und mit feinen Zwischentönen ausgebreitet wird. Auch „Sur les lagunes“ und „Absence“ gefallen in der entrückten Stimmung und schwebenden Linie. Doch auch hier gibt es Momente, wo exponierte Töne im mezzoforte und forte ertrotzt wirken. Zauberisch  kommt „Au cimetière“ daher, während das letzte Stück, „L´île inconnue“, wieder verhärtet und uncharmant tönt.

Es folgt der Chausson-Zyklus („La fleur des eaux“ und „La mort de l´amour“) mit gleichfalls diversen  Eindrücken – auch dem der stimmlichen Überforderung.

Die Mélodies von Duparc schließen sich an und bieten mit „L´invitation au voyage“ deren bekannteste Komposition. Man kennt sie in feinsinnigerer Deutung. „Extase“ und „Phidylé“ haben dagegen delikate Nuancen, während das finale „La vie antérieure“ in seinem forcierten Duktus wieder irritiert.

Erstaunlich, dass Kosmas „Les feuilles mortes“ als erstes der drei populären Chansons am Ende einer der gelungensten Titel ist. Ähnlich angenehm tönt die Stimme in Trenets „Douce France“, womit die Platte versöhnlich ausklingen könnte, käme danach nicht noch das missglückte „Quand on n´a que l´amour“ von Jacques Brel. Bernd Hoppe

Carolina Ucellis „Anna di Resburgo“

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Eine Opernkomponistin 1835 in Italien? Aber ja! Carolina Ucelli! Die Suche nach Carolina Uccelli begann mit einem Druckfehler. Will Crutchfield – Maestro, Musikwissenschaftler, Musikkritiker, Gelehrter – durchforstete die Listen der Opern und Komponisten in Band IV von Francesco Florimos monumentalem Werk, das alle in Neapel in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts produzierten Opern katalogisiert, als er auf einen interessanten Eintrag für eine „Carolina Miceli“ und eine Oper namens Anna di Resburgo stieß, die laut Florimo 1835 am Teatro San Carlo nach einem Libretto von Gaetano Rossi aufgeführt wurde. Eine Oper von einer Frau? Im Italien der 1830er Jahre? Aufgeführt an einem großen Opernhaus? Für einen Belcanto-Liebhaber und Musikhistoriker in der Tat verlockend, aber nachfolgende Recherchen ergaben nichts über „Miceli“, bis Crutchfield einen korrigierten Eintrag in Giovanni Salviolis viel späterer „Bibliography of the Italian Dramatic Theatre…“ fand, in dem vermerkt war, dass der Komponist nicht Miceli, sondern Uccelli hieß und dass das Theater der Uraufführung nicht das San Carlo Neapel war, sondern das gemeinsam verwaltete Teatro del Fondo.

Die Komponistin Carolina Ucelli/Teatro Nuovo

Bei der Suche nach der Partitur wurde das Manuskript eines Kopisten in der Bibliothek des Konservatoriums von Neapel gefunden (wo Donizetti-Zeitgenonosse und Biograph Florimo eineinhalb Jahrhunderte zuvor Archivar gewesen war). Crutchfield nannte es „Hühnerkratzer“, aber auch Beweise für „eine geborene Opernkomponistin“, und es begann die lange Aufgabe, die handschriftliche Partitur für eine Aufführung dieser völlig unbekannten Oper einer völlig unbekannten Komponistin nutzbar zu machen, die sich in die Höhen der Opernproduktion in der Stadt gewagt hatte, die die Karrieren von Rossini, Donizetti, Bellini und so vielen anderen begründet hatte. (…)

Die Musik ist bemerkenswert, unnachahmlich melodisch und der dramatischen Situation angemessen. Die musikalischen Formen sind die, die man in einer Belcanto-Oper von 1835 erwarten würde – Arien, Romanzen, Cabalettas und Ensembles, die sich zu großen Höhepunkten steigern. Es ist eine erstaunliche Leistung für einen fast unerfahrenen Komponisten von etwa 23 oder 24 Jahren. Besonders erwähnenswert im ersten Akt ist das Trio der Anerkennung für Anna, Edemondo und Olfredo, „Io ti adoro, o ciel clemente“ mit seinem schönen Mittelteil und dem schönen Finale des Aktes. Der zweite Akt, dessen Libretto von Uccelli überarbeitet und verstärkt wurde, enthält jedoch die wahren Perlen. Man beachte die äußerst ungewöhnliche Auftrittsarie für Olfredo, „Nel Consiglio già raccolti“. Das Tottola-Libretto der Geschichte für G.S. Mayr hatte die Figur des Olfredo in einen Buffo-Bass verwandelt, der auf Neapolitanisch sang, aber als Rossi die Geschichte aufgriff, war Olfredo eine ernste Figur. Uccelli behielt die Tradition der komischen Plauderarie des Buffo bei, verwandelte sie jedoch in eine atemlose Schilderung der Beratungen des Rates, die zu Edemondos Todesurteil führten – ein einzigartiges Beispiel für ein ernstes Plauderlied in der italienischen Oper.

Fanny Tacchinardi-Persiani sang die Titelrolle in der Uraufführung der „Anna di Resburgo“, hier als Donizettis Lucia di Lammermoor/BNF Gallica

Oder man nimmt Norcestos zwei wunderbare Szenen im zweiten Akt – das Duett mit Anna, als sie versucht, ihn mit seinen schuldbewussten Ausflüchten davon zu überzeugen, den Mord zu gestehen, und seine Arie auf dem Friedhof, ebenfalls von Schuldgefühlen geplagt („Io ritrovo in ogni oggetto“) – beides echte psychologische Porträts eines nicht ganz so üblen Schurken, der weit entfernt ist vom romantischen Bösewicht aus Pappe (z. B. Enrico in Lucia). Oder nehmen Sie das gesamte Finale des zweiten Aktes, das sich auf dem Trauermarsch aufbaut, der Edemondos Marsch zum Friedhof zur Hinrichtung begleitet. Der von Uccelli mit einer Prise Dissonanz komponierte Marsch entwickelt sich zu einem kraftvollen Höhepunkt, der erst durch das rettende Ende und ein glückliches Duett für das treue Paar („Tra soavi ritorte di amore“) zu einer fröhlichen Melodie belebt wird.

Anna di Resburgo war 189 Jahre nach ihrer Geburt am 20. Juli im Alexander Kasser Theatre auf dem Campus der Montclair State University in Montclair, New Jersey, endlich wieder zu hören; dann folgte  eine weitere Aufführung ins Rose Theater am Columbus Circle in New York. Die halbszenische Produktion stammt vom Teatro Nuovo (TN), der Belcanto-Schmiede von Will Crutchfield (es sangen Chelsea Lehnea /Anna, Santiago Ballerini /Edemondo, Ricardo José Rivera/Noresto, Lucas Levy/Olfredo, Elise Albian/Etelia,/ Orchester und Chor/Derrick Goff des Tetro Nuovo, Leitung Elisa Citterio (Violine) und Lucy Tucker Yates (Cembalo); Inszenierung Marco Nisticò; Ausstattung  Adam Thompson/ Devon Allen/.Jason Flamos).  Charles Jernigan

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Dazu Will Crutchfielod selbst: Wer war Carolina Uccelli?  Biografische Informationen über Carolina Uccelli sind spärlich, und einige der Informationen, die man finden kann – sie wurden ohne neue Nachforschungen von einem längst vergangenen Wörterbuch zum anderen weitergereicht – sind nicht korrekt. Die obige Zeitleiste fasst den derzeitigen (noch vorläufigen) Stand unseres Wissens über sie zusammen.

Was dieses Wissen heute so interessant macht, ist die außergewöhnlichste Phase ihres kurzen Lebens: Für eine kurze Zeit in ihren Zwanzigern strebte sie danach, mit den Konventionen zu brechen, indem sie eine öffentliche Karriere als Theaterkomponistin anstrebte. Das war für Aristokraten stark verpönt und für Frauen schlicht unerhört.

Ucellis „Anna di Resburgo“ vom Teatro Nuovo New York/Szene/Teatro Nuovo

Die junge Carolina war musikalisch frühreif und erwarb sich bereits im Teenageralter einen Ruf für ihre Klavierimprovisationen, ihren Gesang und ihre Kammer-Kompositionen. Wahrscheinlich komponierte sie Anna di Resburgo in den Jahren 1833-1835, und das Werk wurde in der Herbstsaison 1835 am Teatro del Fondo in Neapel viermal aufgeführt, mit einer weiteren Aufführung (möglicherweise Anfang 1836) am gemeinsam geführten Teatro San Carlo in derselben Stadt. Die Hauptsänger gehörten zur ersten Riege der Stars: die Sopranistin Fanny Tacchinardi-Persiani (die ursprüngliche Lucia di Lammermoor), der Tenor Napoleone Moriani (für den Donizetti und Verdi neues Material in Lucrezia Borgia und Attila einfügten) und der Bariton Giorgio Ronconi (der ursprüngliche Nabucco).

Das von Uccelli gewählte Libretto wurde erstmals 1819 von dem jungen Giacomo Meyerbeer und in den 1820er Jahren von mindestens zwei weiteren Komponisten vertont. Uccelli schrieb es grundlegend um, änderte den Namen der Heldin (ursprünglich Emma) und brachte das Drama auf den neuesten Stand für das hochromantische Zeitalter von Bellini und Donizetti. Die von ihr geschaffene Partitur rechtfertigt das hohe Lob, das Komponisten wie Rossini und Mayr ihren früheren Werken entgegengebracht hatten. Sie hat eine Frische der Erfindung, eine Klarheit der Charakterisierung und eine Sicherheit des theatralischen Tempos, die zweifellos Zuspruch gefunden hätte, wenn sie von einem Komponisten auf dem normalen Karriereweg produziert worden wäre.

Ucellis „Anna di Resburgo“ vom Teatro Nuovo New York/Szene/Teatro Nuovo

Obwohl das Werk in Neapel kein Flop war, wurde es von der Uraufführung einer anderen „schottischen“ Oper, Lucia di Lammermoor, durch dasselbe Ensemble in derselben Spielzeit gründlich in den Schatten gestellt. Die Hürden für die Akzeptanz einer Oper einer weiblichen Komponistin waren bereits hoch, wie wir aus der umfangreichen Korrespondenz zwischen Uccelli und dem Impresario Alessandro Lanari wissen, und nach Anna scheint sie sich von ihren theatralischen Ambitionen zurückgezogen zu haben. Nach Anna scheint sie sich von ihren Theaterambitionen zurückgezogen zu haben. Sie kehrte zu den gesellschaftlichen Kreisen ihrer aristokratischen Erziehung zurück, gab neben einigen öffentlichen Konzerten viele Privatkonzerte und komponierte kleinere Werke. Dazu gehörten eine Kantate zum Gedenken an Maria Malibran und vokale Kammermusik in italienischer und französischer Sprache, die hauptsächlich in Paris veröffentlicht wurden.

Ab Mitte der 1840er Jahre trat in ihren Programmen häufig ihre Tochter Emma, eine Sopranistin, auf. Sie wirkten mit großem Erfolg in London, Amsterdam, Mailand und München. Im Jahr 1852 traten sie bei einem der berühmten Pariser Salonkonzerte auf, die von Rossini veranstaltet wurden, der Jahrzehnte zuvor Uccellis Bemühungen um einen Platz an der Spitze der Opernwelt unterstützt hatte. Wir können nur vermuten, was sie produziert hätte, wenn dieser Wunsch in Erfüllung gegangen wäre. Anna di Resburgo lässt ahnen, dass wir eine geborene Opernkomponistin mit großem Potenzial verpasst haben.

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Napoleone Moriani sang die Tenorpartie der Uraufführung von „Anna di Resburgo“/Teatro Nuovo

Die Musik: Sowohl Rossini als auch Giovanni Simone Mayr (Donizettis Lehrer und Autor von Medea in Corinto, das in der ersten Spielzeit des Teatro Nuovo aufgeführt wurde) schrieben Briefe, in denen sie ihre Eindrücke von Uccelli als Opernkomponistin schilderten. Rossini kommentierte ihre erste Oper, Saul, deren Uraufführung er in Florenz besuchte. Mayr las die Partitur eines projektierten Eufemio di Messina, der nie produziert wurde. Es ist keine Partitur dieser Opern gefunden worden; einige Teile von Eufemio könnten in die spätere Anna di Resburgo eingeflossen sein (wir wissen, dass dies bei der Ouvertüre der Fall ist).

Uccelli legte großen Wert auf diese Briefe; es war ihr wichtig, als Frau, die einen Platz am Tisch der Männer suchte, zeigen zu können, dass einige der wichtigsten Männer, die bereits dort waren, sie für würdig hielten, aufgenommen zu werden. Beide leitenden Komponisten lobten Uccellis Fähigkeit, für die Instrumente des Orchesters zu schreiben. Mayr bewunderte ihren Kontrapunkt, „besonders die Basslinien“, und riet ihr, die Rezitative nicht auf die Streicherbegleitung zu beschränken, sondern der modernen Neuerung zu folgen, auch Bläser darin zu integrieren. Die Partitur von Anna zeigt, dass sie diesen Rat befolgte.

Rossini erklärte Saul für „geeignet, einen glücklichen Erfolg zu erzielen“, und bescheinigte der Debütantin „Ideenreichtum“ sowie „Ausdruckskraft und Eleganz in Deklamation und Melodie“. Er riet ihr, nicht so eifrig nach Aufführungen zu streben, dass sie riskieren würde, sie mit minderwertigen Sängern zu geben, sondern nach erstklassigen Künstlern Ausschau zu halten, „denn auch die beste Musik ist verloren, wenn sie dieser Hilfe beraubt wird.“ Dieser Empfehlung konnte Uccelli glücklicherweise auch folgen, wie die Starbesetzung der Anna-Premiere beweist.

Il Teatro del Fondo (a sinistra), dal 1870 Teatro Mercadante (a destra). L’edificio fu sottoposto a diversi interventi di restauro nel corso degli anni. /INA

Ihre Gesangskenntnisse und ihr Geschick im Schreiben von Vokalwerken scheinen ihr diese Aufgabe leicht gemacht zu haben; die Sänger waren begierig, Uccellis Musik aufzuführen. Sie hatte bereits mit Adelaide Maldotti und Lorenzo Bonfigli zusammengearbeitet, die Unterstützung von Maria Malibran und Gilbert-Louis Duprez in Anspruch genommen und eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Carolina Ungher begonnen. Lange nachdem Uccelli ihre Hoffnungen auf eine öffentliche Theaterkarriere aufgegeben hatte, traten in ihren Salonkonzerten weiterhin Künstler von ähnlichem Format auf. Sie schrieb (und begleitete) unter anderem für Sofia Cruvelli, Giambattista Rubini, Giulia Grisi und Antonio Tamburini. Jeder dieser Namen spricht Bände für Studenten der Opernwelt, in die die Komponistin eintreten wollte.

Die Partitur selbst: Uccellis Status als einsame Frau in der rauen Welt der männlichen Belcanto-Komponisten ist ein offensichtlicher Magnet für Aufmerksamkeit. Um so weit zu kommen, wie sie es tat, muss sie bemerkenswert gewesen sein. Das ist ein guter Grund, sich mit der von ihr komponierten Oper zu beschäftigen, aber kein ausreichender, um sie im 21. Jahrhundert zu reproduzieren. Dafür muss die Oper selbst Überzeugung und Befürwortung erwecken. Was finden wir also in dieser einzigen erhaltenen Partitur?

Zu „Anna di Resburgo“: Resburgo ist das schottische Roxburgh, wo auch Donizetttis „Lucia di Lammermoor“ angesiedelt ist/INA

Zuallererst, wie sowohl Rossini als auch Mayr bemerkten: Sicherheit. Sie versteht, wie das Orchester funktioniert, versteht den Aufbau von Musikstücken und deren Verteilung auf eine Geschichte; versteht in hohem Maße, wie man für Opernstimmen schreibt. So weit so gut, aber da ist noch mehr.

An mehreren Stellen sehen wir unkonventionelle Entscheidungen, die von der Bereitschaft und Fähigkeit zum Experimentieren zeugen. Mit einer Sängerin, die Erfahrung mit „Buffo“-Rollen und deren Sprücheklopfern hat, hat sie für die ganz und gar nicht komische Rolle des Olfredo eine brillante Rarität geschaffen: eine rasante Silbenarie, die nicht „buffo“ ist, sondern todernst, wenn der Vater atemlos die Geschichte des Prozesses erzählt. Sie ist eine der Perlen der Partitur. Ein weiteres ist der langsame Satz der Konfrontation zwischen Anna und Norcesto, in dem die beiden Kontrahenten innehalten, um sich getrennt voneinander ihre Angst vor der Pattsituation zu gestehen, die sie erreicht haben. Die Orchestrierung kombiniert hier Streicherbegleitung mit einem höchst ungewöhnlichen Paar von Soloinstrumenten, Flöte und Pauke. Das eine vielleicht für den Hoffnungsschimmer in Annas Herz, das andere für das Pochen der Schuld in Norcestos.

Auch das Schlussallegro („Cabaletta“) dieses Duetts ist kühn: Sopran und Bariton singen ihre obligatorische gemeinsame Reprise nicht unisono, nicht harmonisch, sondern im Kanon, mit verzahnten Einstiegen im Abstand von einem Takt. Dies ist ein Trick der „gelehrten Komponisten“, den schon Berlioz gern angewandt hat, aber ich kenne kein anderes Beispiel, in dem dies in einer italienischen Cabaletta versucht wurde. Es ist alles andere als einfach, die von der Cabaletta-Form geforderte musikalische Direktheit mit der technischen Herausforderung des kanonischen Schreibens zu verbinden. Uccelli gelingt dies mit beeindruckender Leichtigkeit und Brio.

Von Roxburgh Castle ist nur noch ein historischer Steinhaufen übriggeblieben/INA

Norcestos Schuldgefühle hingegen sind in seiner Musik irgendwie hörbar, noch bevor wir eine Andeutung davon im Text erhalten. Auf den ersten Blick singt er eine Arie voller Fröhlichkeit, in der er sich als wohlwollender Herr präsentiert, der sich am Glück seiner Untertanen erfreut – doch auf halbem Weg scheint er in einer unerwarteten Molltonart stecken zu bleiben und braucht eine beharrliche Wiederholung von Text und Musik, um aus ihr auszubrechen. Als Norcesto am Ende der Oper schließlich von seinem Gewissen übermannt wird, stellt er sich vor, wie der Geist des Ermordeten sich erhebt, um nach Gerechtigkeit zu rufen – nicht mit der erwarteten Stimme von Blut und Donner, sondern mit dem klagenden Flüstern einer unbegleiteten Flöte.

Momente wie diese sind in der gesamten Partitur zu finden. Im „großen Finale“ in der Mitte jeder Belcanto-Oper, wo die Handlung die Krise erreicht, die in der zweiten Hälfte gelöst wird, war es üblich, einen zentralen Überraschungsmoment zu haben, der alle in lyrische Reflexion versetzt, das „largo concertato“. (Das Sextett aus Lucia und die Szene von Bartolos Verblüffung in Der Barbier von Sevilla sind klassische Beispiele). In Uccellis Oper gibt es zwei Kandidaten für diesen Moment: Norcestos Schock, als er im Gesicht des vermeintlichen Waisenkindes Elvino die Züge des verbannten Edemondo sieht, und Annas Ausbruch, als sie ihre Verkleidung ablegt und offenbart, dass sie die Mutter von Elvino ist. Anstatt zwischen ihnen zu wählen, kennzeichnet Uccelli jedes mit einem eigenen kurzen, kompakten „Largo“ – was ein zusätzliches Allegro dazwischen ermöglicht und so ihr Finale zu einer noch symphonischeren Abfolge von ineinandergreifenden Sätzen ausbaut.

All dies sind für mich Anzeichen für einen geborenen Theaterkomponisten. Finden wir auch Zeichen der Jugend und der Unerfahrenheit? Natürlich – genau wie in den frühesten Opern von Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi. Es gibt nur wenige Komponisten, die bei ihren ersten Bühnenwerken nicht noch „auf der Suche“ sind. Als Musikkritiker würde ich sagen, dass Uccelli bestimmte „pikante“ harmonische Verläufe ein wenig zu sehr mag, die sie zwar gerne und gut verwendet, aber zu oft und zu eng beieinander. Und manchmal, wenn sie die Musik in eine neue Tonart gelenkt hat, ist sie etwas pedantisch, wenn es darum geht, in die alte Tonart zurückzukehren. Ich bin mir sicher, dass sie in ein paar Jahren geschickter darin geworden wäre.

Will Crutchfield conducting at Teatro Nuovo’s predecessor, the Bel Canto program at the Caramoor Festival (Photo by Gabe Palacio)

Aber als langjähriger Interpret italienischer Opern finde ich etwas Wichtigeres: Das Stück singt, und es spielt. Damit meine ich: Uccelli hat die Gabe, stimmliche Gesten und Phrasen zu finden, die die Dramatik des Augenblicks verkörpern, und sie setzt diese Momente überzeugend und in gutem Verhältnis zu der Geschichte, die sie inspiriert hat. Wir erleben die Gefahr und den Mut der Eltern mit; wir spüren die Gewissensbisse des Gegners, der versucht, seine Ambivalenz zu überwinden; wir werden von den einzelnen Ereignissen mitgerissen, während sie sich entfalten; nichts lässt uns zu lange warten oder überstürzt die Handlung. Sie weiß, wie man die Spannung einer Szene aufbaut und wie man sie in einem Höhepunkt entlädt.

Diese Qualitäten sind für einen Opernkomponisten sehr wertvoll. Es gibt einige großartige Komponisten (Haydn und Schubert zum Beispiel), die sie nie ganz gefunden haben. Und es gibt einige Italiener, die zu Uccellis Zeiten viel erreicht haben (Mercadante und Pacini zum Beispiel), ohne die Natürlichkeit der Erfindung zu haben, die sie von Anfang an zu besitzen scheint. Ich würde Anna di Resburgo nicht als Meisterwerk bezeichnen, aber sie hat aufregende Abschnitte, die mich leicht glauben lassen, dass ihre vierte oder fünfte Oper eine solche hätte sein können. Und noch etwas: Obwohl sie sich in den bekannten Formen und Stilen der Epoche bewegt, klingt ihre Musik nicht wie die der oben genannten Komponisten. Sie klingt wie sie selbst. Das ist mehr als genug Grund, ihre Stimme nach zwei Jahrhunderten der Vergessenheit wieder zu hören und eine mitreißende Oper, die keiner anderen gleicht, im Bel Canto-Kanon zu begrüßen. Will Crutchfield

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Zu „Anna di Resburgo“: Bothwell Castle, das historische Schloss für Ucelli und Donizetti, hier auf einer zeitgenössischen Darstellung/INA

Handlung: Die Handlung der Oper wird von zwei Vätern beherrscht, die bereits vor Beginn der Oper gestorben sind. Roggero und Duncalmo waren benachbarte Herren und waren Freunde und Waffengefährten gewesen. Doch der letztere, der die Ländereien des ersteren begehrte, ermordete seinen Kameraden heimlich und schob die Schuld auf Roggeros eigenen Sohn Edemondo.

Der von Schuldgefühlen geplagte Patriarch gestand die Tat auf dem Sterbebett seinem eigenen Sohn und Erben Norcesto. Doch Norcesto, der sich für das Verbrechen seines Vaters schämt, hat beschlossen, das Geständnis zu verheimlichen.

Edemondo ist ins Exil geflohen und hat seine Frau Anna und ihren kleinen Sohn Elvino zurückgelassen. Anna ist untergetaucht und lässt das Kind als unbekanntes Waisenkind bei dem Gutsbesitzer Olfredo aufwachsen, während sie sich als Bäuerin („Egilda“) verkleidet, um in seiner Nähe zu sein. All dies wird im Vorwort des veröffentlichten Librettos erklärt und im Laufe der Oper nach und nach in Dialogen enthüllt.

Erster Akt: Der Vorhang hebt sich in der Morgendämmerung von Olfredos Festtag. Seine Tochter Etelia dankt für die reiche Natur und begrüßt dann ihren Vater und die Gemeinschaft der Bauern und Hirten, die später gemeinsam feiern werden. Herannahende Trompeten kündigen die Ankunft von Norcesto, dem Herrn von Lanerck, an. Ein Herold verliest ein neues Edikt: Fremde dürfen in Lanerck nicht beherbergt werden, ohne dass ihre Identität bestätigt wurde, bis der flüchtige Verbrecher Edemondo gefunden und für den Mord an seinem Vater vor Gericht gestellt wurde. Unter vier Augen zeigt Norcesto sein Unbehagen, während Olfredo und Etelia ihren Verdacht äußern.

Der Bass der Uraufführung: Giorgio  Ronconi/Stahlstich von_Joseph Kriehuber(1840)/Archivio Storico Ricordi_

Während die beiden letzteren die Situation besprechen, ertönt der Klang einer Harfe. Die Harfenspielerin ist in der Grafschaft als „Egilda“ bekannt, aber Etelia vermutet, dass sie eine verkleidete Adelige ist. Wie wir nach ihrem Solo erfahren, weiß Olfredo insgeheim, dass sie Anna ist, die Frau des flüchtigen Edemondo. Er hat vermutet, dass sie die Mutter von Elvino ist, dem vermeintlichen Waisenkind, das er in Schutz genommen hat, und er verspricht Anna dasselbe.

Nun trifft Edemondo ein, der sein Exil unter Einsatz seines Lebens bricht, weil er die Trennung von seiner Frau und seinem Sohn, die er seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen hat, nicht ertragen kann. Er ist wettergegerbt und abgemagert. Olfredo begegnet ihm, erkennt ihn aber erst, als Anna ihn anspricht. Olfredo glaubt ihm seine Unschuldsbeteuerung am Tod seines Vaters. So ist das Paar wieder vereint und auf Olfredo angewiesen, um sich vor dem Usurpator Norcesto zu schützen.

Die Schlussszene des ersten Aktes ist das Fest zu Olfredos Ehren, zu dem sich unerwartet Norcesto gesellt, dem zu Ehren gesungen wird. Anna und Edemondo sind anwesend, aber versteckt. Zu ihrem Entsetzen erkennt Norcesto im Gesicht des kleinen Elvino die Züge des Vaters und befiehlt, das Kind wegzutragen. Anna, verzweifelt, gibt sich zu erkennen, aber Olfredo hält Edemondo davon ab, dies zu tun. Als der Vorhang fällt, wird das Kind in Norcestos Schloss in Gewahrsam genommen.

Zweiter Akt: Der zweite Akt beginnt im Schloss, wo Olfredo und Etelia nach Elvino suchen. Wie sie bald erfahren, ist auch Anna aus demselben Grund gekommen. Ein wütender Mob ist ihr gefolgt, um von Anna zu verlangen, dass sie den Aufenthaltsort ihres flüchtigen Mannes verrät. Sollte sie sich weigern, drohen sie damit, sie und Elvino für sein Verbrechen verantwortlich zu machen. Edemondo, der sich in der Menge versteckt und die Gefahr für seine Frau sieht, gibt sich nun seinerseits zu erkennen. Er erklärt sich bereit, dem Tod ins Auge zu sehen, auch wenn er ungerechtfertigt ist, und bittet um die Sicherheit seiner Familie. Er wird zu einer Anhörung vor dem Ältestenrat abgeführt.

Anna hat jedoch Norcestos Anzeichen eines schlechten Gewissens wahrgenommen und stellt ihn zur Rede. Sie verlangt von ihm zu schwören, dass er nicht der wahre Mörder von Roggero ist, da sie davon ausgeht, dass ein Adliger nicht offen eine Lüge schwört. Aber sie weiß nicht, dass sein unangenehmes Geheimnis das Verbrechen seines Vaters betrifft, nicht sein eigenes. Nach einigem Zögern schwört er, was sie verlangt, und Anna ist verblüfft.

Bühnenbildentwurf zu „Lucia di Lammermoor“ von Tancredi Liverani/Archivio Storico Ricordi

Außerhalb der Ratskammer wartet Etelia auf das Urteil. Ihr Vater eilt herbei, nachdem er die Beratungen miterlebt hat, und berichtet ihr davon. Das Ergebnis: Edemondo ist zur Hinrichtung neben dem Grab seines ermordeten Vaters verurteilt worden.

Die letzte Szene spielt sich auf dem Friedhof ab, wo sowohl Roggero als auch sein wahrer Mörder Duncalmo begraben liegen. Norcesto ist der erste, der dort ankommt, und seine Gewissensbisse gipfeln darin, dass er glaubt, den Geist des Ermordeten zu sehen, der sich erhebt, um Rache zu fordern. Als er den Marsch der Henker und des Volkes hört, versteckt er sich hinter dem Grab seines eigenen Vaters.

Edemondo tröstet Anna und bereitet sich auf sein Schicksal vor, als Norcesto plötzlich hervortritt und seinen Betrug und den Wunsch seines Vaters vom Sterbebett aus zugibt, Wiedergutmachung zu leisten. Die Bevölkerung bittet Edemondo um Verzeihung für ihre ungerechte Wut.

Edemondo und Anna, die nun wieder in Sicherheit sind und ihren angestammten Besitz zurückerhalten haben, jubeln in einem letzten Duett. Will Crutchfield

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Der kurze Artikel von Charles Jernigan ist die Einleitung zu seiner Rezension der Aufführung in New Jersey 2024 (s. Die besondere Oper); der von Will Crutchfield stammt aus dem Programmheft des Teatro Nuovo zur nämlichen Vorstellung und wurde uns – in unserer Übersetzung/DeepL – liebenswürdiger Weise überlassen. Natürlich hoffen Belcanto-Fans auf eine CD-Aufnahme der Oper. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper finden Sie  hier  Red. Geerd Heinsen

Aggressivität und Melancholie

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Natürlich steht Joana Mallwitz beim CD-Debüt für die Deutsche Grammophon vor „ihrem“ Konzerthausorchester Berlin. Der Titel „The Kurt Weill Album“ (487 5670) steht für den Mut der Dirigentin bei der Programmauswahl, hat sie doch Weills nicht eben populäre Sinfonien Nr. 1 und 2 mit dem bekannten Ballett „Die sieben Todsünden“ kombiniert und damit nicht unbedingt einen Verkaufserfolg garantiert. Nach dem Hören der CD wird wohl mancher Musikfreund seine anfängliche Skepsis ablegen und das nächst  gelegene Musikgeschäft aufsuchen, um die CD zu erwerben. Denn Mallwitz bringt den Tonfall der Musik zu optimaler Wirkung – ihre Aggressivität wie ihre Melancholie.

Die Symphonie No. 1, betitelt die „Berliner Symphonie“, ist ein Frühwerk von 1921, wurde erst 1958 uraufgeführt, was dafür spricht, dass man dem Werk damals jegliche Bedeutung absprach. Die viersätzige Komposition beginnt mit einem Grave. Breit und wuchtig. Mallwitz realisiert diese Vorgabe imponierend, ohne den lyrischen Inseln des Satzes weniger Aufmerksamkeit zu schenken.   Auch den Charakter des 2. Satzes, Allegro vivace, Wild, heftig, trifft sie genau, suggeriert einen nervösen Großstadtlärm. Der 3. Satz, Andante religioso, kontrastiert als träumerisches Intermezzo, der 4., Larghetto. Ruhig, ohne Leidenschaft, beginnt mit einem pochenden Motiv, das sich zu einer hymnisch-breiten Klangfläche entwickelt Mit dem bestens aufgelegten Orchester gelingt der Dirigentin eine exemplarische Wiedergabe, die sich würdig einreiht in die wenigen existierenden Einspielungen (H. K. Gruber/Anthony Beaumont/Marin Alsop/Roland Bader).

Die Symphony No. 2 entstand 1934, ist dreisätzig und trägt die Bezeichnung „Fantaisie Symphonique“. Sie klingt viel Weill-typischer als die 1. und weist Gemeinsamkeiten mit den Sieben Todsünden auf. Motorische Hektik vernimmt man im 1. Satz, Sostenuto – Allegro molto, gewichtige ernste Klänge im folgenden Largo und am Ende im Allegro vivace eine ausgelassene Tanzszene. In Bruno Walter, der die Uraufführung in Amsterdam leitete, fand das Werk einen starken Fürsprecher. Joana Mallwitz folgt dem großen Vorgänger mit totalem Einsatz.

Zwischen den beiden sinfonischen Werken ist das Ballett platziert, welches 1933 in Paris zur Premiere kam.   Hier dominiert Katharine Mehrling als Anna I und II, sekundiert von den Tenören Michael Porter und Simone Bode sowie dem Bariton Michael Nagl und dem Bassbariton Oliver Zwarg in den Partien der Familie. In Sachen Brecht/Weill ist Mehrling eine erprobte Sängerin. Man hört bei ihr nicht den pathosreichen Diven-Ton einer Milva oder den gemeißelten Sound von Gisela May, freilich auch nicht deren geschärfte Diktion. Ihre Interpretation klingt weicher, dadurch weniger eindringlich und packend – mehr in der Nähe des französischen Chansons. Daneben gibt es auch plärrende oder an stimmliche Grenzen stoßende Momente (wie am Schluss der dritten Sünde: „Zorn“, der fünften: „Unzucht“ und siebten: „Neid“). Dennoch gelingen Mehrling bemerkenswerte Details in Tonfall und Färbung, vor allem in den kurzen Einwürfen von Anna II. Und mit dem Epilog, „Darauf kehrten wir zurück nach Louisiana“, knüpft sie an den von ihr den atmosphärisch  geformten Prolog, „Meiner Schwester und ich stammen aus  Louisiana“, an. Bernd Hoppe

Anita Cerquetti

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Die italienische Sopranistin Anita Cerquetti (1931-2014) war ein
Phänomen. Ihre Opernkarriere begann 1951 in Spoleto – und das bereits
als Aida (!) -, führte sie in die großen Opernhäuser der Welt und endete
schon wieder 1960 in Holland. Nach nur neun Spielzeiten zog sich die
damals erst 29-jährige Sängerin von der Bühne ins Privatleben zurück. Die
Gründe hierfür sind bis heute nicht ganz geklärt, in einem Interview gab die
Sängerin an, sie hätte sich dem Stress und dem Termindruck des
modernen Opernlebens nicht mehr aussetzen wollen.
Es gibt lediglich zwei kommerzielle Plattenaufnahmen von ihr, die beide
1957 bei Decca erschienen sind. Eine Studiokarriere blieb der Primadonna
allerdings verwehrt: Die Plattenfirmen besetzten die großen Sopranpartien
seinerzeit leider entweder mit Maria Callas oder Renata Tebaldi. Doch
dank zahlreicher erhaltener Liveaufnahmen wurde sie stattdessen zur
„Queen der Piraten“, deren halb- bis illegalen Mitschnitte unter Stimm- und
Opernliebhabern früh als Aufnahmejahr: 1954-1957; 1960 besondere Kostbarkeiten auf dem Schwarzmarkt kursierten.

Die Gründe hierfür sind nachvollziehbar: Weil hier eine Stimme in
allerüppigster Weiblichkeit pure Sinnlichkeit verströmt. Weil diese Stimme
eine der schönsten ist, welche die Oper je gehört hat; nie aggressiv,
scharf, schrill, dafür rund, weich, lyrisch, empathisch. Diese Stimme war
geradezu wie gemacht für die romantischen Heldinnen Giuseppe Verdis –
für die weich schwingenden, melancholisch umflorten Melodiebögen der
Ernani- wie Vespri Siciliani-Elvira, der Maskenball-Amelia, der Don Carlo-
Elisabetta, der Forza del destino-Leonore, ja sogar für die gewaltigen
Oktavsprünge der herrischen Nabucco-Abigaille. Anlässlich des 10.
Todestags erscheint die vorliegende Box, die die unvergessene Anita
Cerquetti als führende Verdi-Interpretin ihrer Zeit würdigt (Pan/Note 1 PC10464/ 14 CDs). Note 1

Vermächtnis

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Vor achtzig Jahren wurde Sir Michael Tippetts Oratorium Andrew Davis dirigiert Tippetts A Child of Our Time im Londoner Adelphi Theatre unter Leitung des deutschen Emigranten Walter Goehr uraufgeführt. Zu den vier Solisten gehörten die Sopranistin Joan Cross und der Tenor Peter Pears, der sich zusammen mit Benjamin Britten maßgeblich für eine Aufführung des Freundes eingesetzt hatte. Brittens Gegenstück folgte übrigens erst 1962. Es scheint eine „zusammengestückelte und recht amateurhafte Angelegenheit“ gewesen zu sein, wie Marvyn Cooke im Beiheft der Chandos–Aufnahme vermerkt (Chandos CHSA 5341, inzwischen im Naxos Vertrieb), die das Werk, von dem nur wenige Einspielungen vorliegen, 80 Jahre nach diesem Ereignis mit Andrew Davis, dem „anderen Davis“ als den ihn schon der Komponist bezeichnete, und dem BBC Symphony Orchestra jetzt vorlegt. Colin Davis hat das Werk u.a. 1975 in London ebenfalls mit dem BBC Symphony Orchestra aufgenommen, Tippett (1905-98) nahm es wenige Jahre vor seinem Tod 1991 in Birmingham auf. Der kürzlich verstorbene Andrew Davis ist bei einer seiner vermutlich letzten Aufnahmen ein eloquenter Anwalt Tippetts und kann sich vor allem auf die geradezu fesselnde Imagination des BBC Symphony Chorus verlassen.

A Child of Our Time. Oratorio for Soli, Chorus and Orchestra with Text and Music by Michael Tippett mahnt zu Humanismus, Toleranz und Gerechtigkeit, Ideale für die der überzeugte Kriegsdienstverweigerer Tippett auch ins Gefängnis ging. A Child of Our Time ist ein schweres Stück. Als ich es vor Jahrzehnten zum ersten Mal hört, hat es mich allerdings mehr beeindruckt. Tippett hat ungemein viel in dieses gerade mal einstündige Werk gepackt, angefangen vom Titel, der Ödön von Horvaths 1938 erschienenem Roman entnommen ist, über die im Mittelteil angedeutete Geschichte des 17jährigen Herschel Grynszpan, der im November 1938 in Paris den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath erschossen hat, was die bereits geplanten Novemberpogrome rechtfertigen sollte und für Tippett Anlass für die Komposition war – Herschel Grynszpans Vater konnte übrigens 1952 und 1962 bedeutende Aufführungen in Haifa und Tel Aviv erleben – über das Vorbild der Oratorien Bachs und Händels bis zu der Jungschen Psychologie oder seinen Archetypen, die sich im vorangestellten Motto manifestiert (…the darkness declares the glory of light/ Die Dunkelheit kündet von der Herrlichkeit des Lichts) und den fünf traditionellen Spirituals. Den Text hat Tippett, wie später bei all seinen Opern, selbst geschrieben.

Dirigent Andrew Davis ist spürbar bestens vertraut mit dem Werk, steuert behutsam zwischen den dramatischen Blöcken und betrachtenden Sequenzen und hat den Chor sicher im Griff, ohne dass er dem Werk ein spezifisches Gesicht oder innere Kohärenz verleiht. Von den Solisten ist  Sarah Connolly, die bei den Aufnahmen im Mai vorigen Jahres kurz vor ihrem 60 Geburtstag stand, nicht immer sehr tonschön, aber eindringlich und anrührend. Anrührend ist auch der schmale, nasale Ton des Tenors Joshua Stewart. Der Bassbariton Ashley Riches singt mit Autorität, der wolkig verhangene unstete Ton von Pumeza Matshikize macht weniger Freude. Rolf Fath

Perfekte Unterhaltung

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Beim roten Samtvorhang von Covent Garden fällt als erstes auf, dass er nicht mehr die Buchstaben E und R der verstorbenen Königin Elizabeth trägt, beim Cover der Blu ray für Donizettis L’Elisir d’Amore aus dem britischen Opernhaus, dass nicht Nemorino oder Adina das Cover zieren, sondern der Dulcamara. Dieser wird aber, und das erklärt alles, von keinem Geringeren als von dem Waliser Bryn Terfel gesungen und in noch bemerkenswerterer Weise dargestellt.

Laurent Pelly ging mit dem immer wieder durch seinen Melodienreichtum entzückenden Stück sehr sorgsam um, sein Nachfolger darin, Paul Higgins, hat die Produktion sorgsam wiederaufbereitet und lässt sich in dem Bühnenbild von Chantal Thomas ein munteres Landleben entfalten. Das spielt sich in einem eher kargen Landstrich Italiens ab, ohne südländische Üppigkeit, eher in der Emilia mit vielen Strohballen, auf denen man sich nach harter Arbeit ausruhen kann, auf denen sich Adina ein kleines Bücherregal aufgestellt hat und in das eine Landmaschine hereinragt, die eher an die Nachkriegsfilme des Neorealismus denken lässt als an Donizettis Zeit. Auch der zweite Akt mit der ärmlichen Taverne und dem Hochspannungsmast und die Kostüme weisen in die späten Vierziger des vergangenen Jahrhunderts. Ein Kunstwerk für sich ist das Plakat, mit dem Dulcamara für seine zweifelhaften Produkte wirbt.

Natürlich ist Bryn Terfel, längst ein Wotan und vieles andere Schwere, dem Dulcamara seit langem entwachsen, es fehlt ihm für den Belcanto die Leichtigkeit der Emission, er könnte eher aus den Pagliacci entsprungen sein, über Verzierungen wird gern hinweg gehuscht, aber dafür dem darstellerischen Affen ordentlich Zucker gegeben, insbesondere beim Rollenspiel als Senatore Tredenti und im listigen Beiseitesingen.

Ein rundliches Landei von Nemorino ist Liparit Avetisyan, trotzdem behände und beweglich, ein gewandter Darsteller und mit einer strahlenden Höhe begabt. Lediglich für „Una furtiva lacrima“ wünschte man sich noch mehr lyrisches Potential. Schlank, dunkel und schmuck ist der Belcore von Boris Pinkhasovich optisch wie vokal, der  besonders im Duett mit Nemorino sowohl geschmeidig wie markant erscheint.  Zauberhaft anzusehen ist die Adina von Nadine Sierra, hochpräsent, charmant und beweglich in Gestalt und Stimme. Sicher bewältigt sie die Intervallsprünge, sehr gefühlvoll erklingt „Prendi…“ und beim „Resta…“ baut sie raffinierte Verzierungen ein.

Am Schluss kann man sich nicht nur darüber freuen, eine szenisch perfekte, vokal zufriedenstellende Aufführung genossen zu haben, sondern auch noch über doppeltes Liebesglück, da sich Belcore mit Gianetta getröstet, diese sich schnell Belcore geschnappt hat. Chor und Orchester des Royal Opera House unter Sesto Quatrini sorgen dafür, dass das Vergnügen ein ungetrübtes ist (Opus arte 8073230). Ingrid Wanja  

Unmögliches (fast) möglich gemacht

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Dass die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, war zumindest bis zur Erfindung von Fotographie und Film nachvollziehbar, dass einer Sängerin, eben Caroline Unger, die von 1803 bis 1877 lebte, als von einer Tonaufzeichnung noch nicht die Rede sein konnte, ein Buch von 575 Seiten bei Königshausen & Neumann gewidmet werden kann, scheint unvorstellbar, ist aber von der Musikologin Eva Nesselrath erfolgreich in die Tat umgesetzt worden. Es geht in ihrem Werk allerdings nicht nur, wie der Untertitel verrät,  um die Stimme, sondern auch um die Karriere und die Kompositionen von Caroline Unger, und es hätte durchaus auch noch die Gesangspädagogin in die Aufzählung ihrer Meriten aufgenommen werden können.

Zunächst befällt den Leser (vielleicht) ein Schreck, wenn er erfährt, dass erst die Genderforschung (und das Internet) das Buch ermöglichten, ihm auch (selten!) ein Gendersternchen zugemutet werden muss, aber dann liest er sich mit wachsendem Vergnügen in ein Buch ein, dass zugleich hoch wissenschaftlichen Ansprüchen nicht zuletzt durch einen umfangreichen kritischen Apparat gerecht wird, sondern zugleich auch höchst flüssig und unterhaltsam geschrieben worden ist. Von der Wichtigkeit der portraitierten Person ist er auch spätestens von der Seite an überzeugt, auf der davon berichtet wird, dass Gaetano Donizetti mehrere Opern auf ihre Stimme zugeschnitten komponierte und sie als aus dem deutschen Sprachraum stammende Sängerin von den Italienern auf eine Stufe mit einer Giuditta Pasta gestellt wurde.

Es geht zunächst um den Forschungsstand im 20. und 21. und dann zurückblickend im 19. Jahrhundert, und bereits hier wird, wie dann auch noch einmal in der abschließenden Würdigung einige hundert Seiten später darum, dass selbst eine so berühmte Frau wie die Unger oder, in Italien, Ungher, erwähnenswert vor allem deswegen erschien, weil sie in eine lockere oder innigere Beziehung zu einem berühmten Mann trat, so als sie als die Altistin bei der Uraufführung von Beethovens 9. Sinfonie dem Komponisten, indem sie ihn zum jubelnden Publikum umdrehte, seinen Riesenerfolg verdeutlichte, oder indem sie Nikolaus Lenau für einige Zeit vom völligen Versumpfen abhielt.

Das Buch geht eine glückliche Verbindung zwischen soziologischen Betrachtungen über den Standort der Primadonna nach dem Abtreten der Kastraten als Stars der Opernbühne  und dem persönlichen Schicksal der Unger ein, macht den Leser damit bekannt, dass eine Sängerin mit dem Eintritt in eine Ehe normalerweise ihren Beruf aufgeben musste, dass sie zwischen angebeteter Göttin und verachtenswerter Hure ihren Platz finden musste, und weist ihn auf die hauptsächlichen Quellen, Briefe, Kritiken, Huldigungstexte und das verwendete Notenmaterial, hin. Der Erschließung des Wesens der Stimme dient insbesondere das Notenmaterial, so das der Donizetti-Opern, das ihrer eignen Kompositionen und das der musikalischen Widmungen einzelner Komponisten oder sonstiger Verehrer. Dabei istzu berücksichtigen, dass mit zunehmendem Ruhm auch eine zunehmende Verschleierung und Mystifizierung stattfand und nicht zuletzt, dass immer die intensive Darstellung, weniger die Stimme des Ruhmes der Zeitgenossen teilhaftig wurde.

Caroline Unger/Kostümbild für ihre Elvira im Don Giovanni“ in Paris/BNF Gallica

Nach den einleitenden Betrachtungen zeichnet Nesselrath die einzelnen Karriereschritte der Unger nach, vom Alt zum Sopran und damit von der seconda donna zur Primadonna, von der Wiener Konzertsängerin zum Opernstar in Neapel und danach in allen großen italienischen Häusern, von der von Beethoven vorgesehenen Melusine in einer nie vollendeten Oper zu Tourneen nach Paris, London und auch Deutschland, wo man nicht müde wird, zwar den italienischen Gesangsstil zu bewundern, aber auch die deutsche Tiefe, derer man sich rühmt, hervorzuheben. Natürlich gibt es eine Unmenge von Zitaten in allen möglichen Sprachen, und mancher Leser wird dankbar sein, dass alle Texte im Anhang ins Deutsche übersetzt werden. Bemerkenswert ist auch der überschwängliche Stil, in dem  sich Kritiker in Italien wie in Deutschland äußern, geradezu sich in eine hochpoetische Sprache hineinsteigern, um die Qualitäten der Künstlerin angemessen zu würdigen. Man erfährt also nicht nur viel über Caroline Unger, über das Musikleben ihrer Zeit, sondern auch der Soziologe oder der Sprachwissenschaftler kann aus diesen reichen Quellen Wissen schöpfen.

Die Entwicklung der Stimme kann der Leser aus der Wahl der Rollen erschließen, die Donizetti für die Sängerin komponierte.  Es beginnt auch mit Hosenrollen für den Alt, ehe sich die dunkel bleibende Stimme mit erkämpfter Höhe zu der einer Tragédieuse entwickelt, deren Tonumfang, Tessitura, dramatisches Vermögen aus den vielen Notenbeispielen abzulesen sind. Nachvollziehbar wird auch, dass sie stets dem romantischen Belcanto verpflichtet blieb, Verdi zum Beispiel ablehnte. Die Kunst von Caroline Unger spiegelt sich auch in den Widmungen u.a. von Heine, Hensel, Meyerbeer, der sie für die Hugenotten wollte, Pauline Viardot oder Johann Strauss mit seinen Rosenblättern wider.

„Karoline (!) Unger“ um 1870/Foto Leopold Bude Graz/Wiener Theatermuseum

Bei so vielen mitteilenswerten Tatsachen kann auch ab und zu ein Irrtum auftauchen, wie ein angeblicher Carlo im Trovatore oder die Verwechslung von Udine mit Undine.

Mit 38 Jahren verlässt Caroline Unger die Opernbühne, heiratet nach langem Zögern einen fünfzehn Jahre jüngeren Mann, versammelt in Florenz in ihrem Salon die kulturelle Elite Europas um sich und bildet zahlreiche Sängerinnen und einen Tenor aus, der ausgerechnet mit Verdi berühmt wird.

In ihren Liedern wird der Einfluss Schuberts, dessen Werk sie studiert, hörbar, sie dienten vielleicht der Gesangslehrerin als Unterrichtsmaterial.  Ob ihre Ausstrahlung als Sängerin und als begehrenswerte Frau andere Künstler inspirierte, so Dumas zu einem Roman, kann auch die Verfasserin nicht klären, so wenig wie, welcher Art das Verhältnis zu Liszt war. Auf jeden Fall wird der Leser mit der Meinung der Autorin, dass ihre „Karriere von Polarität geprägt“ war, zustimmen können. 

Umfangreich ist der Anhang mit einer tabellarischen Übersicht der Opernproduktionen, der Übersicht über die Lieder, dem Literaturverzeichnis, der Zeitungsartikel, des Archivmaterials, der Internet-Quellen, der Libretti und Notenausgaben, der Notenbeispiele im Sopranschlüssel, der Huldigungsgedichte und eines Fotos vom Elterngrab. Es bleibt der unerfüllbare Wunsch, die Stimme von Caroline Unger zu vernehmen (Königshausen & Neumann 2024, 575 Seiten; ISBN 978 3 8260 8746 2.) Ingrid Wanja          

Zum 200. Geburtstag

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Bestechend elegant in der Optik und überzeugend im akustischen Eindruck ist die von Supraphon zum 200. Geburtstag des Komponisten auf den Markt gebrachte Ausgabe sämtlicher Opern Bedřich Smetanas, angefangen von den Braniboři v Čechách (Die Brandenburger in Tschechien) und endend mit der nur wenige Tracks umfassenden Viola, deren Librettto sich auf Shakespeares Was ihr wollt stützt. Jeder Oper ist eine zart beigefarbene Kassette gewidmet mit der Silhouette des Bühnenbilds  als Cover, mit einem eigenen Booklet, dem man die Besetzung, die Trackliste, die Entstehungsgeschichte des  jeweiligen Werks und eine Inhaltsangabe entnehmen kann, alles auf Tschechisch und auf Englisch.

Auf eine digitale Verfügbarkeit des jeweiligen Librettos, ebenfalls in beiden Sprachen, wird verwiesen, und der Namenszug des Komponisten sowie das Uraufführungsplakat sind ebenfalls zu bewundern. Fotos zeigen die wichtigsten Sänger der durchweg in den in den Sechzigern oder Achtzigern vorwiegend im Prager Nationaltheater aufgeführten Opern, die Tonaufnahmen entstanden in eben dieser Zeit im Studio und wurden in jüngster Zeit remastered. Nicht aus Prag und lediglich als  Studioaufnahme existiert Hubička (Der Kuss), in Brünn aufgenommen.  Alle Opern wurden natürlich in der Originalsprache gesungen, was einen besonderen Wert ausmacht, die Sänger sind bis auf wenige Ausnahmen,  so Gabriela Beňačkova als Marie in Die verkaufte Braut und Libuše, die zur Wiedereröffnung des Prager Nationaltheaters aufgeführt wurde, und Peter Dvorsky als Hans in Die verkaufte Braut national sicherlich sehr, international weniger bekannte Sänger. Allerdings könnte es sich bei der als Jitka im Dalibor aufgeführten Hana Svobotá Jankǔ um die als Gioconda oder Turandot auf allen großen Bühnen geschätzte Sängerin handeln.   

Smetana drückte seine Heimatliebe, die sicherlich auch durch das Nichtvorhandenseins eines souveränen Staats für die Tschechen genährt wurde, nicht nur in den populären sinfonischen Dichtungen Mein Vaterland oder Die Moldau aus, sondern auch in seinen Opern, insbesondere in Braniboři v Čechách, Libuše und Dalibor, die auf teils sagenhafte historische Ereignisse zurückgreifen. So geht es in seinem Erstlingswerk um die nach dem Tod Ottokars II., von Franz Grillparzer in dessen Drama König Ottokars Glück und Ende besonders gewürdigt, erfolgte Besetzung (heute) tschechischen, ehemals Böhmischen Gebiets durch die Brandenburger und die Befreiung von dieser, die in der Oper zudem die von drei böhmischen Schwestern bedeutet, deren eine einen Tschechen liebt, aber einen Deutschen heiraten soll. Am Ende sind Mädchen wie Tschechen insgesamt frei, und alle können in einen Jubelchor einstimmen, nachdem es bereits in dem einschließlich Ballett nach dem Muster einer Grand Opéra gestrickten Werk viele patriotische Chöre à la patria oppressa gegeben hat. Die Oper wurde übrigens unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gleich an zwei der drei Opernhäuser Prags gegeben, nach 1948 war man vorsichtig, weil die Eingangsworte sich gegen eine Fremdherrschaft richteten, die nach dem erneuten Prager Fenstersturz, dem des Außenministers Masaryk, und damit die Sowjets hätten herausfordern können.   

Emmy Destin Sang die Marenka in der Uraufführung/ Foto Bärenbreiter

Das Orchester des Prager Nationaltheaters unter Jan Hus (!) Tichŷ lotet die Farbigkeit und das Pathos der Partitur mit hörbarer Wonne aus.  Ganz am Schluss der Besetzungsliste taucht ein Kmet, was so viel wie Alter Mann heißt, auf, der aber eine Schlüsselrolle im Freiheitskampf einnimmt und der von Eduard Haken mit hoch autoritärem Bass eindrucksvoll sonor gesungen wird. Den Vater im Dreimäderlhaus und zugleich Bürgermeister von Prag singt Karel Kalaš mit schlankerer tiefer Stimme, Zdenȇk Otava zeigt seinen fiesen Charakter als Jan Tausendmark mit teils verzerrten Tönen seines an sich nicht hässlichen Baritons. Das gilt auch für den Sänger des Varneman, Antonin Votava, Anführer der Brandenburger, dessen Tenor rollengerecht nicht auf Schöngesang ausgerichtet ist.  Der glücklichere der beiden Liebhaber der umschwärmten Ludiše ist Ivo Židek, dessen Tenor heldentenorale Kraft wie lyrische Innigkeit demonstrieren darf. Etwas fippsiger ist der von Bohumir Vich für den Jira, der in einer hübschen Arie aber auch Liebhaberqualitäten zeigen darf. Lyrisch mädchenhaft, was nach dem Betrachten des Fotos der Sängerin erstaunen lässt, klingt der Sopran von Milada Šubrtová, allerdings zeigt er auch die für slawische Stimmen oft typischen Schärfen in der Höhe.

Auch die Schwester Vičenka darf eine Arie singen und tut dies mit dem herb-frischem Sopran von Miloslava Fidlerová . Allen Sängern gemeinsam ist die vorzügliche Textverständlichkeit, die man auch bei ostdeutschen Bühnen zu schätzen wusste, die aber natürlich wenig nützt, wenn man des Tschechischen nicht mächtig ist.   

Offensichtlich auf keiner szenischen Aufführung basierend, sondern eine reine, sich über zwei Monate des Jahres 1981 hinziehende Studioaufnahme ist die der Verkauften Braut in Starbesetzung mit Gabriela Beňačková und Peter (nicht Petr), aber Dvorsky, die auch nicht von einem Opernorchester der Stadt Prag, sondern von der Česká filharmonie unter Zdenȇk Košler und dem Pražskŷ  filharmonicky sbor begleitet werden. Die Szenenphotos, die auch hier nicht fehlen, stammen vom Tschechischen Fernsehen.

Die verkaufte Braut ist mit Abstand Smetanas populärste Oper, deren „Komm mein Söhnchen, auf ein Wort“ oder „Endlich allein“ Wunschkonzertqualitäten haben. In der Originalsprache hört sich das alles noch frischer, noch tiefer berührend und gar nicht mehr abgedroschen banal an. Noch mitreißender ist der Furiant, noch flotter die Ouvertüre, in der es auch einmal gewollt derb zugeht, der Ausdruck der Gefühle klingt noch überzeugender, die naive Fröhlichkeit der Chöre noch strahlender. La Beňačková  ist eine blond klingede Mařenka mit zartem Klang für die Rezitative, verletzbar, mädchenhaft, mit viel Wärme im Duett mit dem Vašek von Miroslav Kopp, der einen für diese Partie außergewöhnlich ansehbaren oder vielmehr anhörbaren Tenor besitzt.

Zum Mitweinen schön getaltet die Tschechin die Arie der sich verlassen Glaubenden und kann durchaus bestehen neben anderen wunderbaren Bräuten wie Lucia Popp oder Pilar Lorengar. Ein herbes Strahlen, eine Nähe zum Hörer herstellende Direktheit zeichnet den Jenik von Peter Dvorsky aus, dessen Stimme hier im Unterschied zu seinen italienischen Partien dem Idiom des Ursprungslandes gerecht wird. Eine frische Soubrettenstimme besitzt Jana Jonášová für die Esmeralda, Richard Novák ist nicht nur derb polternd, sondern ausgesprochen schattierungsreich in seinen Versprechungen und bettet viel Komik in seinen Gesang ein.  Was in Aufführungen in deutscher Sprache sich dem netten Singspiel näherte, wird in dieser originalsprachlichen Aufnahme zum facettenreichen Drama, auch wenn die Ludmila von Marie Veselá nur eine Zwitscherstimme hat.  Dafür ist der akustische Tumult umso chaotischer, wenn es am Schluss heißt: Der Bär ist los.

Es folgten Dalibor, Libuše, Zwei Witwen, Der Kuss, Das Geheimnis und Die Teufelswand, wobei  Hubička, Der Kuss, vom Orchester und Chor der Oper von Brünn unter František Vajnar als Studioaufnahme gestaltet wurde.

Smetana mit seinen Freunden, Gemälde von František Dvořák, 1865/ Wikipedia

In seinen letzten zehn Lebensjahren, von 1874 bis 1884, arbeitete der Komponist mit vielen Unterbrechungen, zwischendurch wurde Tajemstvī, Das Geheimnis, uraufgeführt, an einem nicht tschechischen Sujet, an Shakespeares Was ihr wollt, das den Arbeitstitel Viola trägt. Davon gibt es die ersten Szenen, in denen bei einem Schiffsunglück das Zwillingspaar Sebastian und Viola voneinander getrennt wird, der Herzog Orsino auftritt, und das nur mit Klavierbegleitung, denn die Orchestrierung hat bereits geendet. Das Fragment wurde 1924 und 1944 aufgeführt, jeweils zu runden Jahrestagen. Bemerkenswert ist die Besetzung des Zwillingspaares mit einem Mezzosopran und einem Sopran, wobei die beiden Stimmen, Marie Veselá für die Viola mit hellem Sopran und Drahomira Drobková für den Sebastian mit dunklem Mezzosopran, beinahe so weit voneinander unterscheidbar sind, als handle es sich um Sopran und Tenor. Dieser gehört allerdings dem Orsino von Miroslav Švejda, der zwischen Charakter- und lyrischem Tenor schwankt. Zdenȇk Košler macht das neuerliche Liebeswerk mit dem Orchester des Prager Nationaltheaters möglich und vollendet so ein begrüßenswertes, eine würdige Ehrung des Komponisten darstellendes Unternehmen (17 CDs Supraphon 2024/ Foto oben: Bärenreiter). Ingrid Wanja

Griechisches Oratorium

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Auf seiner zweiten Missionsreise, die ihn durch weite Teile des heutigen Griechenlands führte, kam der Apostel Paulus im Jahr 51 nach Athen. Um an dieses Ereignis vor 1900 Jahren zu erinnern, formierte sich im Januar 1950 in Athen ein Komitee zur Beauftragung einer Komposition. Nicht weniger als ein Oratorium sollte es ein, das von Leben und Wirken des Apostels erzählt, das Tradition und Moderne, östliche und westliche Modelle verbindet und das nach Griechenlands traumatischen Kriegs- und Nachkriegsjahren einheimische wie ausländische Besucher anzuziehen vermochte. Die Wahl fiel auf Petros Petridis (1892-1977), der innerhalb von drei Monaten den Text verfasste und in weiteren drei Monaten die Komposition fertigstellte, die am 29. Juni 1951 im Odeon des Herodes Atticus unter seiner Leitung erstmals aufgeführt wurde.

Dirigent und Pionier der griechischen Musik, Byron Fidetzis/Lyra

Der in der Türkei geborene Petridis studierte in Konstantinopel und ab 1911 in Paris zunächst Jura, dann Klavier und Komposition bei Albert Wolff und Albert Roussel und lebte ab 1919 abwechselnd in Athen und Paris als Komponist, Dirigent und Kritiker für griechische und englisch-amerikanische Publikationen. Der gelegentlich als erstes griechisches Oratorium bezeichnete Aglos Pavlos oder Saint Paul, dem ähnliche weltliche wie geistliche Werke von Mantzaros, Lialios, Levidis, Lavragas, Poniridis oder Nezeritis vorausgegangen waren, ist nun in einer bereits 2004 in Sofia entstandenen Aufnahme zu erleben. Byron Fidetzis dirigiert das Bulgarische National Radio Symphony Orchestra, das auf der zweiten CD auch mit einer rund 20 Jahre zuvor entstandenen Aufnahme der erste Sinfonie G-moll Hellenic und den Kleft Dances von Petridis zu erleben ist. Fidetzis, der innerhalb der Griechenland-Initiative von Naxos auch Werke von Kalomiris, Kalafati und das Requiem von Petridis dirigierte (und auf dem inzwischen verschwundenen Label Lyra eine ganze Reihe von griechischen Opern vorlegte und sich über viele Jahre um die Klassische Musik seines Heimatlandes kümmerte, wie oft hier bei operalounge.de angemerkt), besorgte verdienstvollerweise auch die Editionen der Werke (2 CD Naxos 8.574356-57).

Das rund zweistündige Oratorium schildert von der Steinigung des Stephanus und dem Damaskus-Erlebnis des Paulus über Prozessionen und Erlebnisse in Korinth, Ephesus und Jerusalem die Geschichte des Apostels bis zu seiner Enthauptung in Rom nach Texten aus dem Neuen Testament und verbindenden Erzählungen, die der Komponist selbst verfasste und einem Erzähler überträgt. Der Erzähler, in diesem Fall der Bariton Dimitris Tiliakos, der 1997 am Prinzregententheater als Graf Almaviva sein Debüt gegeben hatte und den man zuletzt in Essen als Simon Boccanegra oder in Zürich als Don Pasquale hören konnte, gestaltet die Erzählergestalt mit fabelhafter Lebendigkeit, sein charaktervoll biegsamer und dunkler Bariton hält das lange, zweistündige Werk zusammen. 14 große Choräle, vom Bulgarischen National Radio Chorus mit gewaltigem Impetus gestaltet, gliedern die beiden Akte, in dem acht weitere Solisten jeweils mehrere Figuren übernehmen, darunter als vermutlich bekanntester Name der Bassist Christophoros Stamboglis. Das „Byzantinische Oratorium“, so der Untertitel, überrascht durch eine geradezu farbige, vielgliedrige Erzählweise, die einen großen Bilderbogen im Stil von Hollywoods damals aufkommenden Visualisierungen der Antike entrollt. Als Beispiel sei die Reise nach Damaskus genannt, eine wild und opernhaft zerklüftete, sehr leidenschaftliche Szene mit Chor, Erzähler, dem Jünger Ananias sowie der Stimme von Jesus, dem der leichte Tenor Yannis Christopoulos seine Stimme leiht. Es gibt viele von solchen szenisch illuminierten und von Fidetzis mit einer gewissen Grandeur dirigierten Abschnitte, doch auch steife Momente, in denen die Arien, Duette, Terzett und Quartett und die Verbindung eines byzantinischen Stils mit Bachschen Modellen auf der Stelle tritt.

Interessant sind als Ergänzung die Ende der 1920er Jahre entstandene und 1933 von Dimitris Mitropoulos uraufgeführte erste „hellenische“ Sinfonie zu hören sowie die rhythmisch obsessiven Kleft Dances von 1922, das erste Werk für großes Orchester von Petridis. Rolf Fath

Zum ersten Mal auf Video

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Die letzte von sieben Opern ist Francesco Cileas Gloria, dessen L’Arlesiana immerhin den Dauerbrenner und damit die allseits beliebte Zugabe des Lamento di Federico und dessen Adriana Lecouvreur eine Bombenrolle für eine Magda Olivero oder Raina Kabaivanska bereit hält. Ein herberes Schicksal ist seiner Gloria beschieden gewesen, die 1907 in Mailand uraufgeführt, aber bereits nach wenigen Vorstellungen wieder abgesetzt wurde, die er gründlich über- und umarbeitete und die 1932 in neuer Fassung in Neapel wieder aufgeführt wurde. 1938 gab es eine bejubelte Vorstellung in Rom mit Maria Caniglia und Beniamino Gigli in den Hauptrollen und in Anwesenheit von Benito Mussolini, was dem Werk nach 1945 nicht gerade dienlich war. Ein letzter verzweifelter Versuch, seiner Oper Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war Cileas Bitte an Maria Callas, die er für die ideale Interpretin der Gloria hielt, sich um eine Aufführung zu bemühen. Sie zeigte keinerlei Interesse daran. Immerhin führte man Gloria 1997 in der historischen Freiluftkulisse der Geschlechtertürme von San Gimignano  mit Fiorenza Cedolins und Alberto Cupido auf und befand sich damit nur wenige Kilometer vom Handlungsort, der ebenfalls toskanischen Stadt Siena, entfernt. KIKKO hatte diese Aufführung auf zwei CDs verewigt, die man auch bei you tube hören kann.

Nicht oft genug betonen, ja loben kann man das Bestreben des Opernhauses von Cagliari, in jeder Spielzeit mindestens ein unbekanntes Werk aufzuführen, so aus dem italienischen Repertoire Marinuccis Palla de‘ mozzi, Refices Cecilia, außerdem Gomez‘ Lo Schiavo, aber auch in ihren Herkunftsländern mit Missachtung gestrafte Opern wie Webers Euryanthe oder Tschaikowkis Pantöffelchen. Selbst die sardischen Vorfahren, die Erbauer der Nuraghe, wurden bereits gewürdigt.

Es geht um eine Romeo-und-Julia-Geschichte, um die Feindschaft zwischen den Guelfen, den Anhängern der Braunschweiger Welfen, und den Ghibellinen, die auf der Seite der Staufer standen, also um die Nachwehen eines unbedachten Akts Leos III., der Weihnachten 800 in Rom den überraschten fränkischen König Karl zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt und damit den späteren deutschen Königen die Verantwortung für Italien auferlegt hatte. Dass Italien wie Deutschland erst im 19. Jahrhundert zur Einheit fand, war die Spätfolge dieses unbedachten Tuns.

In Siena, das auf der Seite der Guelfen steht, feiert man die Einweihung eines neuen Brunnens durch die Tochter des Priors Aquilante gemeinsam mit den eigentlich vertriebenen Anhängern der Ghibellinen, die jedoch bei Anbruch der Dunkelheit die Stadt wieder verlassen müssen. Unter ihnen ist Lionetto, Sohn des Anführers der Ghibellinen, der sich in Gloria verliebt und auch von ihr wohlwollend beachtet wird. Als nach Einbruch der Dunkelheit der Tabubruch bemerkt wird, Guelfen und Ghibellinen aneinander geraten, entführt Lionetto Gloria. Im zweiten Akt finden wir Gloria in Gefangenschaft Lionettos, der sie um ihre Hand bittet. Sie stimmt zu, auch um den Frieden zwischen den beiden Parteien wieder herzustellen. Ihr Bruder Bardo fordert sie jedoch auf, den Bräutigam mit einem Schwert, das er ihr überlässt, zu töten. Sie weigert sich, stimmt jedoch zu, ihm Gift zu verabreichen. Als Lionetto berichtet, zum Frieden bereit zu sein, ist sie auch dazu nicht mehr in der Lage, sondern will selbst das Gift trinken, was wiederum Lionetto verhindert. Der dritte Akt führt den Zuschauer in  die Hauskapelle der Bardi, in der die Trauung von Gloria und Lionetto stattfindet. Die Umarmung der beiden Schwager nützt Bardo dazu, LIonetto einen tödlichen Messerstich beizubringen. Danach will er mit Gloria fliehen, die es jedoch vorzieht, mit ihrem Gatten zu sterben.

Wer von Gloria eine Musik voller dolcezza, Eleganz, Geschmeidigkeit und Duftigkeit wie aus Adriana bekannt, erwartet, der wird arg enttäuscht, denn inzwischen hatte der Komponist eine Entwicklung hin zum eher Deklamatorischen vollzogen, Einflüsse von Wagner, dem französischen Impressionismus, manchmal fühlt man sich an Rimski-Korsakov erinnert, sind vernehmbar. Auch wer ein Kolossalgemälde mittelalterlicher Glaubens- und Geschlechterkämpfe erwartet, wird von der Intimität des Stoffes überrascht sein. So hat der Chor zwar einiges zu singen, verhält sich aber optisch eher wie der eines Oratoriums, so wie auch die Protagonisten teilweise nebeneinander aufgereiht vor diesem stehen und dies durchaus zum Charakter des Werks zu passen scheint. Regisseur Antonio Albanese verzichtet auch auf Videoprojektionen, bevorzugt eine quasi holzschnittartige Optik, und auch mit Farben wird sparsam umgegangen, Grau, Beige und Schwarz herrschen vor (Bühne Leila Fteita), und nur das Hochzeitskleid Glorias ist in glühendem Rot gehalten, könnte durchaus auf der Freitreppe von Cannes Aufsehen erregen (Carola Fenocchio).

Den Sängern ist also alle Aufmerksamkeit sicher, und sie sind sie wert. Die mit ihrem Familiennamen erst einmal in die Irre führende Anastasia Bartoli ist nicht die Tochter eines berühmten Mezzosoprans, sondern die von Cecilia Gasdia, einst ein stilsicherer lyrischer Koloratursopran und inzwischen seit vielen Jahren erfolgreiche Intendantin der Festspiele von Verona. Anastasia trägt den Familiennamen ihres Vaters, eines Fiorentiner Zahnarztes, und auch was ihr Repertoire angeht, wandelt sie nicht auf den Spuren der Mutter, sondern eher auf denen eines soprano drammatico e d’agilità, hat bereits Lady Macbeth gesungen, Lucrezia in Due Foscari und strebt die Abigaille an. Der Sopran besticht durch Klarheit, Reinheit, auch eine gewisse Herbheit, sicher in der Höhe, durchaus auch stählern und von der Interpretation dienender Schärfe. Die Optik der schönen, schlanken Sängerin lässt nichts zu wünschen übrig. Eines tenore eroico bedarf die Partie des Lionetto, zu dem sich Carlo Ventre mittlerweile entwickelt hat, dessen Stimme dunkler geworden ist und der über einen bemerkenswerten Squillo verfügt. Etwas unglücklich ist die Optik zumindest im ersten Akt, wenn er wie ein in Paketband eingewickeltes Möbelstück wirkt. Bleichgesichtig verfolgt Franco Vassallo seine üblen Rachepläne und setzt dafür einen in allen Registern präsenten Bariton stupender Höhe ein. Weit ausholen mit autoritär klingendem Bass kann Ramaz Chikviladze als Aquilante, sanft und mild ist Elena Schirru als Senese, sonor Alessandro Abis als Vescovo. Francesco Cilluffo am Dirigentenpult dirigiert das bläserlastige Orchester sängerfreundlich und führt es, so im Vorspiel zum dritten Akt, zu einem Klang voll raffinierter Harmonien. Szenisch zeigt sich die Produktion allzu statisch, als dass sie dazu beitragen könnte, dem Stück trotz vorhandener Qualitäten die Bühne dauerhaft zu erobern (Dynamic 58004). Ingrid Wanja

Weltkriegs-Musik

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Das Echo der Zeit nennt sich ein 465 Seiten umfassendes Buch von Jeremy Eichler mit dem Untertitel Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege. In diese Zeitspanne fügen sich zumindest Teile des Lebens von vier ausgewählten Komponisten, nämlich Richard Strauss, Arnold Schönberg, Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch und vier Orte, die für ihr  Schaffen bedeutsam waren, nämlich Garmisch-Partenkirchen, Los Angeles, Coventry und Babyn Jar, dazu vier Werke, die vom Zweiten Weltkrieg geprägt wurden, Metamorphosen, Ein Überlebender aus Warschau, War Requiem und die 7. (Leningrader) und die 13. Sinfonie Schostakowitschs.

Es beginnt und endet jedoch mit der jüdischen Familie Mendelssohn-Bartholdy, insbesondere mit Moses und Felix, dessen vierzig Jahre nach seinem Tod errichtetes, von den Nazis geschleiftes und nach dem Krieg wiedererrichtetes Denkmal der Autor mehrmals aufgesucht hat und dessen Betrachtung ihn zu dem Fazit bringt, dass allein die Musik, nicht das Denkmal in der Lage sei, die „Sensibilität zu schaffen“, die verhindern könne, dass sich die Gräueltaten des 20.Jahrhunderts wiederholen.

Quasi als ein Gleichnis sieht er die aus der Grimmschen Märchensammlung stammende Geschichte vom Juden im Dorn an, in der der das eigentliche Opfer einer Untat schließlich gehenkt wird.

Ganz zu Beginn jedoch stellt der Verfasser einen verträumt an dem später als Goethe-Eiche verehrten Baum lehnenden Dichterfürsten einen KZ-Häftling gegenüber, der aus dem nach einem Luftangriff auf das KZ Buchenwald halb verkohlten Baumstumpf eine Totenmaske schnitzt. Hier und immer wieder wird deutlich, wie sehr dem Autor der hohe Anspruch und das große Ansehen der deutschen Kultur, insbesondere der Musik im Kontrast zu den unbeschreiblichen Gräueltaten von Angehörigen des Volks, das sie hervorbrachte, zu schaffen macht.

Der Autor ist ein amerikanischer Jude mit wohl deutschen Wurzeln, und so ist es verständlich, dass sein Buch sich mehr (Strauss) oder weniger mit dem Verhältnis der vier Komponisten zum Judentum oder zu einzelnen Juden beschäftigt. So wird, was Richard Strauss betrifft, das zu Stefan Zweig betrachtet, aber auch das Einspringen für den entlassenen Bruno Walter, wobei vergessen wird, dass das entsprechende Orchester Strauss darum bat und dieser dem Orchester seine Gage überließ. Hin und wieder schleichen sich in die umfassenden und von Leidenschaft für das Sujet geprägten Ausführungen auch Fehler ein, so die Annahme, dass Strauss seine beiden Enkelsöhne davor bewahrte, die Armbinde mit dem Judenstern, zu deren Tragen auch „Mischlinge ersten Grades“ verurteilt gewesen wären,  umbinden zu müssen. Da wird eine Armbinde mit dem anzuheftenden Judenstern verwechselt, den übrigens Menschen mit nur einem jüdischen Elternteil nicht trugen. Insgesamt aber ist der Leser von der Wissensfülle des Buches überwältigt, von der unüberlesbaren tiefen Liebe Eichlers für die Musik gerührt. Diese allerdings hindert ihn nicht daran, Verhaltensweisen während der Naziherrschaft vom Standpunkt dessen, der wusste, wie alles endete und was wirklich geschah, wesentlich schärfer zu beurteilen als zum Beispiel das Verhalten eines Schostakowitsch in der Diktatur Sowjetunion. Das wundert etwas, wenn er selbst mitteilt, dass die jüdische Schwiegertochter Strauss‘ nach dem Kriege versicherte, man habe erst nach Kriegsende von den Gräueln der KZs erfahren. Stellenweise hat man den Eindruck, der Autor leide selbst an einem Hin-und Hergerissensein zwischen der Bewunderung der Straussschen Musik und dem Abscheu gegenüber dessen Verhalten im Dritten Reich. Selbst bei der Betrachtung von Gedenktafeln für gefallene Garmischer, die deren Familien veranlassten, drängt sich ihm die Vorstellung auf, der eine oder andere hätte ein Täter sein können.

Es geht weiter mit Arnold Schönberg, dessen Bestreben es war, der deutschen Musik ihre Weltgeltung zu sichern und der doch fern von Wien oder Berlin im sonnigen Kalifornien sein Leben beschließen musste. Die Entstehungsgeschichte von A Surviver from Warsaw, die Luigi Nono als den dritten Akt der unvollendeten Moses und Aron ansah, die immerhin mit Sherill Milnes, aber ansonsten unzureichenden Kräften gestaltete Uraufführung in den USA, die über die Grundstein nicht hinausgelangende Errichtung eines amerikanischen Holocaust-Denkmals sind Gegenstand der Schönberg gewidmeten Kapitel, in denen auch eine Auseinandersetzung mit Adornos Meinung, man dürfe menschliche Qual nicht in ästhetischen Genuss umwandeln, ihren Platz hat. Mit dem Bericht von der Überführung der Asche Schönbergs von Los Angeles nach Wien endet der erste Teil des Buchs.

Im zweiten Teil geht es um Brittens War Requiem und Schostakowitschs 7. Sinfonie, auch Leningrader genannt, und seine Vertonung von Jewtuschenkos Babyn Jar , um die späte Freundschaft zwischen beiden Komponisten, deren einer von der Diktatur gequält, der andere durch Kriegsdienstverweigerung und Homosexualität stigmatisiert war. Obwohl sich Britten danach gedrängt hatte, Menuhin auf seiner Konzertreise für DPs zu begleiten und unter andrem das Konzentrationslager Bergen Belsen besucht hatte, blieb dieses Erlebnis ohne Folgen für die Gestaltung des War Requiems, was den Verfasser ebenso mit Verwunderung erfüllt wie die Tatsache, dass die Briten sich mit nur einem Gedenkstein für die Toten beider Weltkriege begnügen. Hier und immer wieder ist man über die hoch poetische Sprache des Autors erstaunt, wenn man Sätze liest wie: „Die Jahre zerschmolzen, und die Vergangenheit trieb einfach so dahin, befreit von der Herrschaft der Zeit.“

Der letzte Teil des Buches widmet sich Babyn Jar und der hier stattgefunden habenden Ermordung von 33 000 Juden aus Kiew durch die Nazis, der Verschweigung des Verbrechens durch die Sowjets und dem Gedenken durch Jewtuschenko und Schostakowitsch. Voraus geht jedoch der Beitrag über die 7. Sinfonie und das 2. Klavier-Trio, die Rolle Ilja Ehrenburgs wird erörtert, allerdings nicht sein in Deutschland bekannter Aufruf, die deutschen Frauen betreffend. Auch hier spürt der Verfasser jüdischen Elementen nach, so im Trio, ist enttäuscht über die Unauffindbarkeit der Schlucht, in der die Kiewer Juden starben, und deckt auf, wie die Sowjets sogar noch 1970 versuchten, neben den Nazis die „Zionisten“ für das Verbrechen verantwortlich zu machen.

Am Schluss findet der Leser den Autor am Fuß des Mendelssohn-Denkmals in Leipzig, an dem er noch einmal daran erinnert, wie der Komponist mit der Aufführung von Bachs vergessener Matthäus-Passion die „Grundlage für eine neue Kulturnation“ geschaffen habe, und er verabschiedet sich von dem Buch mit Staunen und Bewunderung für des Verfassers Wissen um und Liebe zur Musik und mit der Einsicht, dass eine gewisse Akzentsetzung mehr als nachvollziehbar ist.

Der reichhaltige Anhang umfasst Danksagung, Bildnachweise, Zitatgenehmigungen, Anmerkungen, Personenregister

Ausdrücklich hervorzuheben ist die einfühlsame Übersetzung ins Deutsche durch Dieter Fuchs (Jeremy Eichler: Das Echo der Zeit- Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege; Klett Cotta 2024; 463 Seiten; ISBN 978 3 608 96586 5). Ingrid Wanja 

Aber was für eine Geschichte!

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Zwei seiner Bühnenwerke hat Walter Braunfels nach seiner Übersiedlung an den Bodensee geschrieben. Hitlers Machtübernahme hatte seine Karriere beendet, er verlor sein Amt als Direktor der Kölner Musikhochschule, öffentliche Betätigung war ihm verboten, seine Musik wurde auf den Index gesetzt. In der inneren Emigration in Überlingen entstanden Werke, die keine Aussicht auf eine Aufführung hatten: 1933-37 die Verkündigung nach Paul Claudels L‘ annonce faite à Marie/ Mariä Verkündigung, 1938-42 Jeanne D’Arc. Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna, zu der Braunfels selbst das Libretto nach den Prozessakten verfasste. Die Verkündigung wurde 1948 in Köln uraufgeführt, gelangte aber erst 2012 in Kaiserslautern neuerlich auf die Bühne, Jeanne D’Arc wurde sogar erst 2001 in Stockholm uraufgeführt und 2008 erstmals szenisch an der Deutschen Oper Berlin gegeben. 2013 dann folgte die von Capriccio veröffentlichte Aufführung bei den Salzburger Festspielen (2 CD C 5515), die, wie bereits die Uraufführung in Stockholm sowie die deutsche Erstaufführung im selben Jahr in München, von Manfred Honeck dirigiert wurde, der zusammen mit Juliane Banse, die stets seine Johanna war, aber 2011 unter Ulf Schirmer auch die Violaine der Verkündigung gesungen hatte (BR Klassik 900311), zu den erfahrensten Jeanne D’Arc-Interpreten gehört.

In seinem ausgezeichneten Text, der bereits bei anderen Braunfels-Veröffentlichungen bei Capriccio aufgefallen war, lässt Jens Laurson, der übrigens von einer zarten Braunfels-Renaissance spricht, den Dirigenten deshalb ausführlich zu Wort kommen: „Es ist eine Schande, dass die von den Nazis verbannten Künstler immer noch in der Versenkung weilen. Man muss sich einmal ausmalen, wie die Künstler sich gefühlt haben müssen- die, die überlebt haben – als sie darauf gehofft hatten, nach 1945 wieder aufgeführt zu werden, nach all diesen Jahren der Finsternis, nur um zu bemerken, dass nach ihnen nicht länger verlangt wurde. Wie sich das für Braunfels angefühlt haben muss, nach all den Jahren der inneren Emigration. Was für eine Katastrophe für ihn. Aber was für eine Geschichte! Wobei Braunfels‘ Musik so gut ist, dass ich sie auch aufführen würde, wenn es diese Geschichte nicht gäbe“.

Braunfels bezeichnet seine Oper als „Handlung in 3 Teilen und einem Vorspiel op. 57“ bezeichnet. Die drei Teile sind mit „Berufung“, „Triumph“ und „Leiden“ überschrieben, wobei der erste und dritte Teil jeweils aus drei Szenen, der mittlere nur aus einer bestehen. Die rahmenden Chöre des Volkes, „Herrre, hilf, Herre, hilf“ und „Ein Wunder, Ein Wunder“, verleihen dem Werk einen oratorischen Duktus, der durch die Vielzahl der Figuren und den Reichtum der Handlung aufgebrochen wird, die Braunfels auf faszinierende Weise vergegenwärtigt. Laurson spricht von einer schwelgerischen post-romantischen „Tonsprache irgendwo zwischen Die tote Stadt und Salome.. mit einem Schuss Bartók“. Dabei mit vielen pfitznerisch zähen Rezitativen sicher kantiger, auch archaischer, wohl auch instrumental farbig und auftrumpfend und im ersten Finale geradezu orchestral virtuos.

Die Hörer sowie das ORF Radio-Symphonieorchester Wien brauchen etwas, um sich einzuhören und einzuspielen, bis sie von Honecks souveräner und kenntnisreicher Leitung mitgerissen werden. Ausgezeichnet der Bachchor, Kinder- und Festspielchor. Neben der bekannten Geschichte von der Vision der Johanna, der Befreiung von Orleans, der Krönung des Thronfolgers, dem Inquisitionsprozess und der Hinrichtung malt Braunfels eine Beziehung Johannas zu Gilles de Rais aus; vielfach wurde in ihm die Urgestalt des Blaubart erkannt, und Braunfels nimmt sich dieser Legende gerne an. Gilles de Rais galt als einer der reichsten Grundherren Frankreichs, stieg zum Marschall von Frankreich auf und wurde im Oktober 1440 in Nantes hingerichtet, nachdem er sich dazu bekannte über Jahre hinweg Hunderte von Kindern bestialisch zu Tode gequält zu haben.

Johan Reuter singt den zweifelnden und suchenden Gilles de Rais mit markantem und forschem Bassbariton, interessanter scheint der Dauphin Karl von Valois, der in seinem großen Monolog „Ein neuer Morgen, und immer noch die gleiche Nacht“ Resignation und Selbstzweifel offenbart, ohne dass Pavol Breslik dies trotz seines hübschen Tenors zu echter Charakterisierung nutzt. Unter den vielen kleineren Partien, darunter Tobias Kehrer als Vater Jacobus, Martin Ganter als Ritter Baudricourt und Michael Laurenz als Richter Cauchon fallen Norbert Ernst mit prallem Charaktertenor als Schäfer Colin, Wiebke Lehmkuhl mit gutem Alt als Baudricourts Frau und der tenoral aufleuchtende Bryan Hymel als Heiliger Michael, zu dessen Bio das Beiheft bemerkt, dass er sich mehr auf das Unterrichten konzentriert und 2022 Teil der Fakultät des Westminster Choir College wurde. Juliane Banse zeigt sich am 1. August 2013 in der Felsenreitschule als gereifte Johanna, der vor allem die Szenen der Gequälten und Leidenden vor Gericht und im Gefängnis liegen.  Rolf Fath

Gemeinschaftswerk

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Durch und durch Familienmensch ist offensichtlich Pene Pati, der nicht nur sein Hochzeitsglück im Internet mit dem Rest der Welt teilt, sondern auch in seine nunmehr zweite CD seine Ehefrau Amina Edris  und seinen Bruder Amitai Pati integriert und somit eine recht bizarre Programmgestaltung garantiert hat.  Duette zwischen zwei Tenören würden nicht viel hergeben, sei es Norma oder Attila, und auch die vom Sänger gewählte kurze Szene zwischen Macduff und Macolm aus Verdis Macbeth ist kaum dazu angetan, die Qualitäten einer Stimme zu offenbaren. Außerdem gibt es, dem Familienzusammenhalt geschuldet,  einen Ausschnitt aus Mercadantes Il Bravo, einen aus Halévys La Juive und einen aus Guirauds Frédégonde, in der auch der zarte Sopran der Gattin in der Partie der Brunhilda, die einst von einem Auch-Wagner-Sopran, Lucienne Bréval, aus der Taufe gehoben wurde, zu vernehmen ist.

Die CD wechselt zwischen allzu Bekanntem wie Nessun dorma und noch nie Eingespieltem wie der Cabaletta nach der Arie des Faust aus Gounods Oper. Letzteres ist hochwillkommen und interessant wie auch die meisten französischen Tracks sich in der lyrischen, weichen und geschmeidigen Tenorstimme gut ausnehmen, während die italienischen Titel weniger gut gelingen, sei es Macduffs Klage um die ermordete Familie, die eher weinerlich als tragisch klingt, oder Rodolfos Che gelida manina, dem es an Poesie und dem Aufblühen in der Höhe  mangelt, während der Sänger als Kalaf versucht, durch ein Übermaß an Agogik zu frappieren, was aber auf Kosten einer einheitlichen Stimmung geht.

Eine  Reihe von Nummern stammt aus Donizetti-Opern in französischer Sprache, so aus La Favorite die Arie des Fernand „Ange si pur“, dem ein empfindsam gesungenes Rezitativ vorangeht und die die eigentliche Domäne des Tenors dokumentiert. Auch Dom Sébastiens „Seul sur la terre“ gehört zu den mit Geschmack, guter Diktion und schöner Stimmentfaltung vorgetragenen Stücken. Vielleicht wäre die Lucie interessanter gewesen als die italienische Lucia, aus der die Arie des Edgardo im letzten Akt zwar ein bewegtes Rezitativ, aber eine eintönig wirkende Arie aufweist.

Die Domäne des Tenors dürfte weiterhin das französische Fach bleiben, wo in Fausts Arie ein gut tragendes Piano, eine farbige mezza voce, ein empfindsamer Vortrag erfreuen, allerdings ein verhangener Spitzenton irritiert und in der Cabaletta die Stimme nicht in allen Lagen gleich gut anspricht. Massenets Des Grieux wehrt sich mit schöner vokaler Empfindsamkeit gegen die Verführungskünste Manons, Werthers Klage ist von zunächst zarter,  Art, aber das Timbre passt sehr gut zur Partie,  die einer so schnellen Folge von Kontrasten, wie sie sich zunehmend häufen, eigentlich nicht bedarf. Auch der Berlioz-Faust mit seiner Anrufung der Natur dürfte bald zum Kernrepertoire des Tenors von der Südseeinsel Samoa gehören wie der Éléazar, und für die kurze Bekanntschaft mit Ernest Guirauds Frédégonde ist man auf jeden Fall dankbar, auch wenn die Begegnung mit ihr eine einmalige sein dürfte.

Garant für eine angemessene Begleitung ist wie bei der ersten CD das Orchestre de l’Opéra National de Bordeaux unter Emmanuel Villaume (Warner Classics 5064197897702). Ingrid Wanja