Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Mageres Federvieh luxuriös serviert

 

Charles Gounod kennt man vor allem als Komponist großer Literaturopern wie Fausto der Roméo et Juliette. Kaum bekannt ist, dass er auch einige komische Opern geschrieben hat. Eine ist jetzt auf dem  Label Opera Rara erschienen: La Colombe (Die Taube).  Diese Oper ist im Gesamtwerk des Operngiganten etwa so wichtig wie ein Garnierungsradieschen auf einem großen Braten. Eigentlich absolut zu vernachlässigen, ohne musikhistorischen Wert, ohne großartige neue Erkenntnisse, was Gounods musikdramatisches Genie angeht. Aber ein amüsantes Luxushäppchen zwischen den beiden Hauptwerken Faust und Romeo und Julia.

Für den Nicht-Akademiker gibt’s durchaus Gründe, das Werk zur Kenntnis zu nehmen. Es ist erstaunlich einfach zu besetzen und bietet gute musikalische Unterhaltung. Es braucht nur ein kleines Orchester und lediglich vier Sänger, einen Chor gibt es nicht, ausgestattet ist es mit aparten melodiösen Nummern – wenn dies auch kein epochaler Wurf ist, so doch gutgestrickte französische Opernmusik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Verhangene Musik für ein sehr lustiges Stück: Das Schönste an La Colombe ist die absurde Handlung. Ein junger, armer Adliger nennt eine wunderbar dressierte Taube sein eigen. Aus der Ferne betet er eine reiche junge Frau an, die ihm immer wieder die kalte Schulter zeigt. Doch eines Tages kündigt sie ihren Besuch an – und in der Verzweiflung, ihr kein gutes Gericht vorsetzen zu können, bittet er sein (weibliches) Faktotum, die Supertaube zu schlachten. Und dann gibt es zwei Pointen – die eine ist, dass die schöne Sylvie eigentlich gekommen ist, um die Taube zu kaufen, und nun erfährt, dass der junge Mann aus Liebe zu ihr sein geliebtes Tier hat braten lassen, die treue Köchin aber bekennt, dass sie das nicht übers Herz gebracht und den beiden einen alten Papagei serviert hat.

Leider ist die Musik weit weniger lustig. Das verblüfft, denn gedacht war das Stück als Spaß für ein Kurtheater. Entstanden ist es 1860 für Baden-Baden, es ist also die große Zeit der Offenbach-Operette, damals leisteten sich einige reiche deutsche Kurorte gern kleine lustige Opern- oder Operetten-Premieren, die von berühmten internationalen Komponisten geschrieben wurden. Etwa zeitgleich kreierte auch Offenbach solche Stücke für Bad Ems. Und da enttäuscht der Ton des Werks von Gounod dann doch etwas: Die lustige überkandidelte Handlung und die meist larmoyante, verhangene Musiksprache wollen nicht recht zueinander passen. Immer wenn Gounod seine Helden mit Liebesschmerz und Sehnsucht konfrontiert, ist er großartig, aber in den quirlig getexteten Ensembles kommt er für mich nicht vom Boden hoch, da hätte ein Offenbach, ja sogar ein Adam mehr draus gemacht.

Nebenwerk glänzend gesungen und gespielt: Seit vielen Jahren bringt das britische Label Opera Rara in bunter Folge Lässliches und Kostbares auf den Markt. Man kann vielleicht nicht immer vorher wissen, welche Werke zünden und welche nicht. Fest steht: Nach Volltreffern wie Donizettis Les Martyrs und Offenbachs Fantasio war das hier ein eher zweitklassiger Output, auch wenn man staunend anmerken muss, dass mit teuren Edelstahl-Kanonen auf einen musikalischen Spatzen geschossen wurde (oder auf eine Taube, um bei der Story zu bleiben). Wer musikalisch Besseres aus der Schatzkammer der Opéra comique ausblendet, kann mit der Umsetzung mehr als zufrieden sein. Das kleine Gelegenheitswerk wurde aufs schönste und lyrischste herausgeputzt, vor allem durch das hinreißend besetzte Sopran-Tenor-Paar Erin Morley und Javier Camarena. Mit Mark Elder am Pult hat man einen Dirigenten gewonnen, der sich wirklich hervorragend ins französische Idiom eingelebt hat, er setzt seinen glanzvollen Weg fort, den er unter anderem mit Offenbachs Fantasio letztes Jahr eingeschlagen hat, das Werk klingt auch diesmal erfreulich unbritisch.
Einziges Ärgernis: Das 79 Minuten lange Stück wurde unnötiger Weise auf zwei CDs herausgebracht, obwohl es gut auf eine gepasst hätte. Das kostet entsprechend. Man muss also schon wirklich für diese Musikgattung brennen, um satte 40.- Euro dafür zu bezahlen. Dieser Preis liegt an der Grenze zur Unverschämtheit; ich hoffe, dass der Markt hier noch ein bisschen nachreguliert (Charles Gounod: La Colombe; Opéra comique in 2 Akten, mit Erin Morley, Javier Camarena, Michelle Losier, Laurent Naouri; Hallé-Orchester, Mark Elder, 2 CD Opera Rara. ORC53). Matthias Käther

Wo die Liebe herrscht

 

Der griechische Poet Anakreon, ein Anhänger von Anmut und Genuß und damit passend zum royalen französischem Barock, schien es dem betagten Rameau (1683-1764) angetan zu haben: Er erschuf zwei  einaktige Ballettopern namens Anacréon, allerdings mit unterschiedlicher Handlung und Musik; die erste 1754 auf ein Libretto von Louis de Cahusac, die zweite 1757 zu dem Pierre-Joseph-Justin Bernards, die als Beginn der bekannteren Ballettoper Les Surprises de l Amour fungierte. Bei der hier vorliegenden Aufnahme handelt es sich um eine Ersteinspielung des ersten, von Dirigent Jonathan Williams aus Archiven rekonstruierten Anacréon von 1754, die durch die Zusammenarbeit der Musikfakultät der Universität in Oxford mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment ermöglicht wurde und bei Bärenreiter erschien.

anacreon signum classics rameauDrei Sänger werden für das knapp fünfzigminütige Werk benötigt, bei dem es um die Liebesgeschichte von Chloé und Batile geht, zwei Schülern Anacreons, die sich lieben, aber missverständlicherweise vermuten, dass Anakreon sich selber mit Chloé verbinden möchte. Doch der Lyriker  – der gute und wohltätige Herrscher in seinem Reich der Liebe, royale Assoziationen sind erlaubt – verbindet beide im glücklichen Ende. Besonders für die Rolle der Chloé komponierte Rameau bemerkenswerte Arien mit vielsagenden Titeln, „Tendre Amour!“, „Mille fleur parfument les airs“, „Quand l’Amour enflamme nos cœurs“ und „L’Amour, riant et sans bandeau“, die von Sopran Anna Dennis mit bemerkenswert schöner, offener Stimme gesungen werden und das sängerische Herz der Oper sind, Tenor Agustin Prunell-Friend als Batile und Bass-Bariton Matthew Brook als Anacréon sowie die Sänger des Choir Of The Enlightenment ergänzen sie auf ebenfalls hohem Niveau. Rameaus Musik zum Erstlings-Anacréon klingt auch nach Rameau, Überraschungen gibt es hier keine – ein charmantes kleines Bühnenwerk, das sich im Verlauf steigert und vor allem durch die orchestral schönen Tanzszenen an Fahrt gewinnt und durch die Festmusik zu Ehren Bacchus gut gelaunt endet. Librettist Cahusac verglich die Opéra-Ballets mit einer Abfolge schöner Bilder mit galanten Festen und mythologischen Gestalten des französischen Malers Jean-Antoine Watteau – ein Vergleich, den man beim Zuhören nachvollziehen kann. Dirigent Jonathan Williams und das renommierte Orchestra Of The Age Of Enlightenment werten dieses kurze Bühnenwerk durch ihr engagiertes und transparentes Spiel auf und bleiben dabei vor allem in den Arien unaufdringlich. Wo man erwarten könnte, daß bspw. die Chloé begleitende Flöte in den Vordergrund oder gar in einen Dialog mit ihr tritt, belässt sie Williams etwas zu unauffällig im Hintergrund. So hat man den Eindruck, daß ein wenig mehr Prägnanz und Elan möglich gewesen wäre. (Rameau – Anacréon, 1 CD, SIGCD402),  Marcus Budwitius

Das Rameau-Jahr 2014 anlässlich des 250. Todestags des Komponisten zeigt auch dieses Jahr noch einige Folgen durch die im vergangenen Jahr aufgezeichneten Live-Aufnahmen. Rameaus Bühnenschaffen umfasst verschiedene Kategorien: die Tragédies lyriques (Hippolyte et Aricie, Castor et Pollux, Dardanus, Zorastre und Les Boréades), Opéras-ballets (z.B. Les Indes galantes), Comédies lyriques (z.B. Platée) und die Pastorales héroïques, deren erstes Werk der selten zu hörende und bisher anscheinend nur einmalig, aber nicht vollständig (von Gustav Leonhardt mit La Petite Bande vor ca. vierzig Jahren) eingespielte Zaïs ist, der hier nun erstmalig als Gesamtaufnahme verfügbar ist. Diese heroische Pastorale  erlebte am 29. Februar 1748 in der Pariser Académie Royale de Musique ihre Uraufführung und war sehr erfolgreich: über 100 Aufführungen in zwei Jahrzehnten wurden verzeichnet. Über einen Prolog und vier Akte wird die Liebe in ungewöhnlicher Kombination auf den Prüfstand gestellt: Menschen, mythologische Naturgeister und Götter treten auf, im Prolog geht es um nichts weniger als die irdische Schöpfung und die Beseelung durch die Liebesgöttin Amor. Zaïs, der unsterbliche Fürst der Luftgeister, und die irdische Zélide lieben sich. Zélide weiß allerdings nichts von der Herkunft ihres Geliebten und betrachtet ihn als gewöhnlichen Schäfer. Amor befiehlt, diese Liebe auf die Probe zu stellen. Im himmlischen Reich der Luftgeister wird Zélide Prüfungen unterzogen, vier Statuen – Sinnbilder unterschiedlicher Liebhaber – werden beispielsweise zum Leben erweckt und beginnen vor Zélide zu tanzen. Doch Zélide besteht diese und alle anderen Anfechtungen, Zaïs entsagt seiner Unsterblichkeit für sie und der Geisterkönig Oromazès hat ein Einsehen und vereint beide als ewiges Paar. In der phantastischen Handlung versteckt sind Anleihen freimaurerischer Symbole und Gedanken (in Zoroastre (1749) und Les Boréades/1763 sollten sie noch deutlicher werden), wie das lesenswerte Beiheft in französischer und englischer Sprache erläutert. Von Rameaus Zaïs zu Mozarts Zauberflöte scheint sich ein Bedeutungsbogen zu spannen.

Interessant ist bereits die Ouvertüre. Joseph Haydn beschreibt in seiner Einleitung zum Oratorium Die Schöpfung (1798) das Chaos vor Gottes Ordnung, Rameaus Zaïs beginnt ebenfalls programmatisch und zu seiner Zeit visionär (Dirigent Christophe Rousset sah darin Ähnlichkeiten zu einem späteren Heroiker mit pastoralen Neigungen – Beethoven): Mysteriös-kosmisch wird das Chaos entwirrt, die Elemente geschieden. 1748 wollte man die kühne und für damalige Ohren gewöhnungsbedürftige Ouvertüre ersetzen, doch Rameau bestand auf sie. Was folgt ist eine nicht nur aufgrund des Seltenheitswerts empfehlenswerte Aufnahme für Rameau-Fans, die live (aber ohne erkennbare Einschränkungen beim Anhören) bei Vorführungen im November 2014 in der Opéra Royal du Château de Versailles entstand und vokal und instrumental bemerkenswerte Szenen enthält. Les Talens Lyriques unter der Leitung von Christophe Rousset haben bisher mit Opern von Lully reüssiert und zeigen nun auch ihre Affinität zu Rameau – ob Phrasierung oder Tempi, ob in Begleitung der Sänger oder in den instrumentalen Gavotten, Menuetten, Sarabanden, Ballettstücken, etc., stets ergibt sich ein spielfreudiger und abwechslungsreicher Höreindruck, bei dem die eher undramatische Pastorale héroïque kaum Längen aufweist. Sängerisch erlebt man eine durchgängig sehr gute, harmonische Zusammenstellung schöner Stimmen, vor allem das zentrale Liebespaar, das emotionale Höhen und Tiefen erlebt und diese dem Zuhörer vermitteln muss, überzeugt. Der junge deutsche Tenor Julian Prégardien (Sohn von Christoph Prégardien) singt Zaïs mit heller, lyrischer Stimme, die wie stets in jeder Hinsicht tadellose Sandrine Piau stellt Zélidie dar – beide sind in exzellenter Form zu hören. Ergänzt werden Piau und Prégardien durch die beiden Bassisten Aimery Lefèvre als Oramazès und Benoît Arnould, der als Cindor seinen Freund Zaïs warnt, berät und Zélidie prüft sowie die beiden Soprane Amel Brahim-Djelloul (Grande Prêtresse de l’Amour / Une Sylphide) und Hasnaa Bennani (L’Amour) und Tenor Zachary Wilder (Un Sylphe). Der Chœur de Chambre de Namur profiliert sich als klangschönes Ensemble. 155 Minuten Musik – wer Rameau schätzt, dem wird diese Aufnahme Freude bereiten. (3 CD,  Aparte (harmonia mundi), AP109). Marcus Budwitius

Francoise Pollet

 

Eine meiner ganz großen Sängerlieben gehört zweifellos Francoise Pollet, die ich vielfach und mit größter Bewunderung live gehört habe. In Erinnerung bleiben mir ihre wunderbare Valentine in den Huguenots in Montpellier neben Leech unter Diederich, wovon es auch die Live-CD bei Erato gibt – wie ihre Solo-CD ebendort eines der ganz bedeutenden Dokumente französischen Operngesangs. Ich sah sie in den Troyens in New York, und ihre Didon auf der Decca-Aufnahme unter Dutoit gehört zu den immortellen Verkörperungen der Partie neben Marisa Ferrer, Régine Crespin und Josephine Veasey. Ihre Mitwirkung in Reyers Sigurd in Marseille war für mich ebenso ein Erlebnis wie ihre Madame Lidoine oder Ariane. Ihre Stimme ist ein echter Falcon. Dunkel, etwas kehlig im Timbre und von unerhörter Leuchtkraft in den oberen Bereichen, dabei von bemerkenswerter Wortdeutlichkeit. Nur wenige wissen, dass Francoise Pollet  ihre ganz frühen Auftritte im Staatstheater Lübeck als Marschallin oder Fremde Fürstin hatte. Daher auch ihr ganz exzellentes Deutsch. Über viele Jahre bin ich ihr nachgereist, habe mehrfach ihre Nuits d´été im Konzert erlebt und sie in manchen Rollen, auch italienischen wie Leonora/Trovatore, gehört – was für eine Stimme, was für eine wirklich bedeutende Künstlerin, was für eine bedeutende Frau.

Francoise Pollet/ OBA/ Pollet

Francoise Pollet/ OBA/ Pollet

Heute unterrichtet Francoise Pollet, und es ist uns eine große Freude, ein Interview mit dem Chefredakteur Philippe Banel vom französischen Opern-Website-Tutti-Magazine übernehmen zu können, das uns der Autor freundlicher Weise überlassen hat (Ingrid Englitsch war wie stets für die Übersetzung aus dem Französischen zur Stelle; Credits nachstehend). Darin geht es zwar in erster Linie um ihre Lehrtätigkeit am Konservatorium von Lyon, aber sie hält auch mit ihrer sehr dezidierten Meinung zum Gesang, zu Sängerkarrieren heute und vielen anderen Erscheinungen des modernen Gesangslebens nicht zurück. Was für eine bemerkenswerte, unverwechselbare Frau. Vive la Grande Pollet! G. H.

 

Francoise Pollet in New York 1994 vor ihrem Poster an der Met/ Pollet

Francoise Pollet in New York 1994 vor ihrem Konzert-Poster an der Met/ Pollet

Sie sind seit 2002 Gesangsprofessorin am Conservatoire National Supérieur Musique et Danse von Lyon. Wie sind Sie zum Unterrichten gekommen? Ich habe sehr früh zu unterrichten begonnen, was mir erlaubt hat, diesen Wunsch, mein Wissen zu teilen, der schon immer in mir war, zu befriedigen. Der erste, der mich dazu initiiert hat, ist der Schweizer Tenor Ernest Haeffliger. Eine französische Sängerin hat sich ihm vorgestellt, um in die Hochschule München einzutreten, wo er lehrte, und er hat sie mir anvertraut, dass ich mit ihr arbeitete… So befand ich mich vor der Schwierigkeit, das Mittel zu finden, mein Wissen weiterzugeben. Welche Worte waren geeignet, um mich verständlich zu machen? Diese Sängerin hatte übrigens eine ganz andere Stimme als ich. Ich war damals noch lyrischer Sopran…

Als ich wenig später mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks arbeitete, traf ich auf Musikstudenten, die Gesangslehrer suchten. Die Praxis war Teil ihrer Studien und sie mussten verpflichtend Chorstunden nachweisen,  ob talentiert oder nicht. Diese Studenten mussten also ein Minimum an Technik erwerben, und ich habe sie unterrichtet. Aber meine Anfänge als Pädagogin, gestehe ich Ihnen, waren nicht besonders.

 

Fracoise Pollet als Strauss´Marschallin in Genua/ Pollet

Francoise Pollet als Strauss´Marschallin in Genua/ Pollet

Sie galten als ein Sopran spinto, aber zu der Zeit waren Sie noch lyrischer Sopran… So ist es. Ich habe für den Bayerischen Rundfunk mit Arien der Liù und der Pamina vorgesungen. Damals befolgte ich den Rat eines Agenten, der mir gesagt hatte: „Ihre Stimme entspricht nicht Ihrem Aussehen. Kommen Sie wieder, wenn Sie das singen, wonach Sie aussehen!“ Ich war jung und hatte einer so harten Bemerkung nichts entgegenzusetzen.  Wobei er ja nicht Unrecht hatte.  Die Tätigkeit von sechs Stunden Gesang pro Tag beim Chor ließ meine Stimme langsam immer schwerer werden, und ich wurde vom lyrischen Sopran zum Spinto-Sopran bzw. zum jugendlich-daramatischen Sopran, wie es so schön heißt. Mit Hilfe des Unterrichts, den ich nahm, hat sich dann alles natürlich entwickelt. Es ist nicht sinnvoll, mit Gewalt eine tessitura haben zu wollen, die nicht die eigene ist. Ich wiederhole es immer meinen Schülern: Es geht nicht um das Wollen, sondern um das Können!

 

Haben Sie nach Ihrer Tätigkeit bei den Chören des Bayerischen Rundfunks weiter unterrichtet? Ich war drei Jahre in Lübeck engagiert, danach kehrte ich nach Paris zurück. Meine Karriere entwickelte sich rasch, so dass ich keine Zeit mehr zum Unterrichten fand, obwohl mich das Bedürfnis dazu nie verlassen hat. Ich hatte einfach keine Zeit dafür. Die Einladung von Jean-Louis Petit, dem Direktor des Konservatoriums in Avray, die Klasse von Micheline Granger 1995 zu übernehmen, hat es mir dann erlaubt, mich wieder dem Unterrichten zuzuwenden, während ich noch bis 2006 weitersang.

Francoise Pollet als Glucks Alceste an der Opéra Bastille in Paris/ Pollet

Francoise Pollet als Glucks Alceste an der Opéra Bastille in Paris/ Pollet

Durch eine Anzeige in Télérama erfuhr  ich, dass das Conservatoire National Supérieur von Lyon einen Gesangsprofessor suchte. Im Dezember 2000 wurde ich zu einem Gespräch eingeladen und auch dazu, zwei Studenten von unterschiedlicher Stimmlage und unterschiedlichem Niveau zwei Kurse von 20 Minuten zu geben. Henry Fourès, der Direktor, rief mich noch am selben Abend an, um mir die gute Nachricht mitzuuteilen. Ich gestehe, dass ich ein wenig überrascht war. Ich wusste, dass es für diese Stelle zahlreiche Kandidaten gab und einige von ihnen auch renommiert waren, was ich ihm sagte. Er antwortete mir: „Sie waren brillant, wussten Sie das nicht?“ Wie soll man so etwas wissen? Ich war nie selbstzufrieden, und ich wusste nicht, dass ich „brillant“ war, Ich hatte in den Kursen und im Gespräch nur ausgedrückt, was ich glaubte sagen müssen, und ich habe es im richtigen Moment gesagt. Ich wurde also Anfang 2001 Professorin in Lyon.

Anfangs bin ich wöchentlich zwischen Avray und Lyon hin- und hergefahren. Das hat zwei Jahre gedauert. Dann begriff ich, dass  nicht nur praktisch mein ganzes Gehalt für die Reisen und das Hotel draufging, sondern dass auch die Müdigkeit durch den ständigen Ortswechsel enorm war. Ich unterrichtet montags und dienstags in Lyon und donnerstags und freitags in Avray… Ich übersiedelte also 2003 nach Lyon.

Folgen Unterrichtende eigentlich den Spuren ihrer eigenen Lehrer? Als ich zu unterrichten begann, sicher. Aber nach und nach bildet man sich im Laufe der beruflichen und persönlichen Erfahrungen eine eigene Identität, und schließlich war ich sicher, eine Unterrichtsart entwickelt zu haben, die dem ähnelt, was ich dank einer 30-jährigen Karriere geworden bin. Ich gestehe das Glück zu haben, am CNSMDL gute Leute unterrichten zu können, von denen einige sicher Karriere machen: Solisten, Choristen oder Gesangsprofessoren, fast alle sind im Gesangsbereich professionell tätig.

Françoise Pollet interprète Reiza dans Oberon à Montpellier 1988. © Vincent Pereira/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet interprète Rezia dans Oberon à Montpellier 1988. © Vincent Pereira/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Die Meisterkurse, die ich im Opernstudio der Opéra National du Rhin von Straßburg ungefähr zehn Jahre lang gegeben habe, haben mir erlaubt, Beziehungen zu jungen Sängern zu knüpfen, die von Zeit zu Zeit zu mir kommen, um mich um Rat zu fragen. Andere Interpreten, die weiter fortgeschritten sind, suchen mich auf, um mit mir zu arbeiten, wenn sie auf der Reise nach Lyon kommen. Das ist zum Beispiel bei dem Bariton Jean-Sébastien Bou und der Mezzosopranistin Ève Maud Hubeaux der Fall. Die Beziehungen, die ich mit so guten Sängern unterhalte, geben mir sehr viel.

 

Man weiß ja, wie ein Gesangslehrerr seine Schüler beeinflussen kann. Glauben Sie, dass, umgekehrt, ein Unterrichtender durch seine Schüler beeinflusst werden kann? Ich bin sicher, dass die Erfahrungen, die jeder Lehrer  mit seinen Schülern macht, dazu beitragen, aus dem Pädagogen das zu machen, was er ist.  Unter den Sängern, die ich unterrichtet habe, haben mich einige stets durch ihr Timbre und ihre Sensibilität berührt. Wenn ich sie wiedersehe, fühle ich immer noch dasselbe. Es kommt vor, dass die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler weniger gut verläuft, aber diese Schüler beeinflussen mich dennoch. Es ist mir – selten – passiert, eine Klasse von Studenten zu haben, deren Niveau ich für einen Eintritt in ein CNS für ungenügend hielt. Ich liebe es nicht, zu versagen.

Eine so genannte „höhere“ Institution sollte das Vorzimmer des beruflichen Lebens sein, und die aufgenommenen Studenten sollten das Recht haben, zu glauben, dass sie das Potential für eine Karriere haben. Leider ist das aber nicht immer der Fall. Es ist mir schon passiert, dass ich meine Meinung über einen Studenten geändert habe. Doch mein Instinkt hat mich selten getäuscht.

 

Françoise Pollet (Amelia) et Alain Fondary (Simon Boccanegra) dans Simon Boccanegra de Verdi à Avignon en 1992/ Pollet/ tutti-magazine.fr

Françoise Pollet (Amelia) et Alain Fondary (Simon Boccanegra) dans Simon Boccanegra de Verdi à Avignon en 1992/ Pollet/ tutti-magazine.fr

 Was halten Sie von den Gesangswettbewerben? Wie auch immer die Jury zusammengesetzt ist, die Jury lässt sich hoffnunglos bluffen. Sänger, die sich präsentieren und und mit ihrem ganzen Körper vom Kopf bis zur Sohle singen, können weniger gut bewertet werden, wenn ihr Gesang ohne Ziererei und Affektiertheit wirkt. Andererseits kann ein Sänger, der seinen Körper nicht beherrscht und nicht das besitzt, was ich „ihn im Gleichgewicht halten“, auch große Zustimmung erreichen. Doch was kann ein solcher Sänger auf der Bühne geben, und was sind für ihn selbst die Konsequenzen für sein Instrument?

Ich erinnere mich an eine Episode, als ich Cassandre in den Troyens an der Met in New York sang. Meine Zweitbesetzung durfte laut Vertrag eine Vorstellung singen. Ich musste ihr also meinen Platz überlassen und befand mich für alle Fälle in den Kulissen. Als ich sah, was sie auf der Bühne anstellte, welches Erstaunen! Bei jeder hohen Note, die sie nicht herausbekam, verwandeltete sich diese in einen Schrei, den sie in die Kulissen tat, mit dem Rücken zum Publikum. Am Ende der Vorstellung bekam sie Ovationen vom Publikum! Sie können sich fragen, was zählt…

Das ist ein Thema, das ich oft bei meinen Studenten anspreche, wobei ich versuche, ihnen den Respekt vor dem Komponisten und dem Dichter zu übermitteln. Ich sage ihnen auch scherzhaft, dass sie für die hohen Töne bezahlt werden. Wenn ein Sänger eine hohe Note vier Takte lang aushält, die einen Takt lang geschrieben ist, erregt das Begeisterung im Saal. Es ist mir passiert, dass ich der auch Versuchung erlag und eine Art Vergnügen bei dem starken Applaus empfand. Ein Vergnügen, das aber mit Scham verbunden ist, weil man die Partitur nicht respektiert  hat. Ich glaube aber auch, dass es wichtig ist, Kompromisse einzugehen. Aber wenn ich an Haefliger oder Fischer-Dieskau denke, sie hätten um nichts auf der Welt so gehandelt. Sie wären „anständig“ geblieben. Das ist wahrscheinlich ein Phänomen der dieser Sängergeneration.

 

Françoise Pollet (Cassandre) et Thomas Hampson (Chorèbe) dans Les Troyens dirigés par James Levine par en 1993/ Pollet/ tutti-magazine.fr

Françoise Pollet (Cassandre) et Thomas Hampson (Chorèbe) dans Les Troyens dirigés par James Levine par en 1993/ Pollet/ tutti-magazine.fr

Ihr Interesse am Text erklärt wahrscheinlich Ihre Leidenschaft für das Lied… Sicher. Ich erinnere mich an eine Kritik von Sergio Segalini, ich glaube, es war nach dem Trovatore im Capitole von Toulouse. Er meinte, dass ich nicht viel von diesem Repertoire verstehe, weil ich dem Text zu viel Bedeutung beimaß, den man nicht so sehr beachten müsse. Das ist wahrscheinlich bestreitbar, aber ich konnte nicht anders. Auch das ist eine Sache des Kompromisses. Wer wird einem schönen Legato, einer guten Stimmführung, starken und leisen Tönen, die nicht geschrieben sind, es vorziehen, zu verstehen, was Leonora in „Tacea la notte placida“ sagt.

 

Ist es dasselbe, eine Frau oder einen Mann zu unterrichten? Ich könnte Ihnen mit einem Scherz antworten: Es gibt nur eine Technik, nämlich die gute! Dennoch hat mir mein erster Kontratenor- Schüler etliche Fragen aufgeworfen… Das war in Montpellier, wo ich während meiner Zeit in Lyon einen Meisterkurs gab. Unter meinen Schüler gab es einen Kontratenor. Zuerst habe ich mich gefragt, was ich ihm sagen könnte, und bald habe ich begriffen, dass ich nur einen Sänger wie die anderen vor mir hatte und dass die Technik des Gesangs, des Atems und der Stütze auch für ihn galten. Für ihn wie für die anderen habe ich versucht, nicht zu viel zu tun, die richtige Energie zu finden.

 

Françoise Pollet (Donna Anna) et Raul Alvarez (Don Ottavio) dans Don Giovanni au Teatro Colon de Buenos Aires en 1994. © Arnaldo Colombaroli/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (Donna Anna) et Raul Alvarez (Don Ottavio) dans Don Giovanni au Teatro Colon de Buenos Aires en 1994. © Arnaldo Colombaroli/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Wenn Sie mit jemandem an einer Rolle oder einer Arie arbeiten, die Sie selbst gesungen haben, kommen Erinnerungen oder Reflexe auf? Das ist ja lustig, denn erst gestern habe ich mit jemand die Arie derZerbinetta gearbeitet. Die Erinnerungen, die mir kamen, waren nicht meine, sondern die von Sopranen, die diese Rolle neben mir gesungen haben. Ich erinnere mich an alle diese Partnerinnen, von Sumi Jo bis Dilbèr (Yunus)  und an die Art, wie sie die Schwierigkeiten der Partie bewältigten. Ich denke auch, dass die Erinnerungen an die Bühne eine Seite sind, die man rasch umblättern muss, sonst wird die wehmütige Erinnerung allgegenwärtig. Erinnerungen sind Erinnerungen, nicht mehr. Ich bin zu etwas anderem übergegangen, auch wenn mir einige Schüler mir manchmal sagen, dass ich beeindruckend sei. Meine starke Persönlichkeit verdanke ich wahrscheinlich den Jahren, in denen ich die großen Heroinen gesungen habe. Sie haben Spuren hinterlassen…

Ich habe Probleme, zu verstehen, was an mir „gebieterisch“ ist, aber offenbar kommen manche meiner Studenten nach vier Jahren Unterricht immer noch mit Herzklopfen in meine Stunden. Ich empfinde mich selbst aber nicht mehr als eine Bühnendarstellerin, sondern nur als Pädagogin., die darauf bedacht ist, die  Verwundbarkeit meiner Schüler nicht zu verletzen, eben Gesangslehrerin zu sein, die fordert, die viel Einsatz von seinen Studenten verlangt. Diese Forderung, denke ich, verliert sich in unserer schnelllebigen Zeit…

Françoise Pollet (Alice Ford) et Dan Musetescu (Falstaff) dans Falstaff de Verdi à Lübeck en 1986/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (Alice Ford) et Dan Musetescu (Falstaff) dans Falstaff de Verdi à Lübeck en 1986/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Ich erinnere mich an die Bemerkungen eines großen Sängers, dass  die Karrieren heute nicht mehr das sind, was sie waren, seitdem man das Flugzeug hat und nicht mit dem Schiff den Ozean überquerte. Die Zeitumstellungen bringen Schäden mit sich. Die zu raschen Karrieren heute: Man muss jung sein, schön und möglichst eine Modelfigur haben. Doch warum darf die Bühne nicht dem Leben und seinen  unterschiedlichen äußeren Gestalten gleichen? Die Opern-Vorstellungen, die TV-Übertragungen  lassen mich viele Fragen über die Besetzungen, das technische Niveau gewisser Interpreten, die Vorbereitung anderer stellen…
Tatsächlich habe ich nicht mehr sehr viel Lust, ins Konzert oder in die Oper zu gehen. Ich gehe lieber in die Generalproben, um einen Schüler oder Sänger  zu hören. Glauben Sie aber nicht, dass ich überheblich bin. Denn der Grund, der mich von Opernbesuchen zurückhält, ist, dass das Niveau so gesunken ist. Etliche Sänger erwecken auf der Bühne den Eindruck, dass ihre Technik noch nicht ausgereift ist. Wie oft habe ich mir gesagt, dass dieser oder jener Sänger es an Wahrheit, Tiefe, Reife…fehlen lässt. Dennoch sieht es nicht so düster aus, denn die großen Künstler und Interpreten sind nicht verschwunden. Es geht aufwärts. Die Ablösung ist da!

 

 

Françoise Pollet dans le rôle de Brunehilde à l'Opéra de Marseille en 1995/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet dans le rôle de Brunehilde à l’Opéra de Marseille en 1995/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Wie erklären Sie es sich, dass es heute üblich ist, zu junge Sänger für Rollen zu engagieren, die ihre Stimmen zu früh verbrauchen? Einerseits weiß ich es, weil das mein Beruf ist, aber ich bin nicht sicher, dass die Operndirektoren sich der Risiken bewusst sind. Andererseits, wenn sie es wissen, ist es ihnen egal. Was die Sänger betrifft, wenn sie wissen, welche Risiken sie eingehen, gehen sie das Risiko bewusst ein. Erst neulich habe ich mit Fassungslosigkeit festgestellt, dass Operationen des Kehlkopfbereichs nicht selten sind. Kortison reicht offenbar nicht mehr aus! Denn etliche dieser Probleme hängen direkt mit einer schlechten Arbeitsweise zusammen. Man muss den Unterschied machen zwischen einer Zyste, einem Polypen und einem Knötchen. Eine Zyste ist meist genetisch bedingt. Wie ein kleines Sandkörnchen in der Auster schließlich eine Perle wird, trägt man eine winzige Zyste mit sich, die schließlich größer wird. Sie entwickelt sich nicht speziell auf den Stimmbändern, sondern kann sich irgendwo im Körper entwickeln. Ein Polyp entsteht aus einer stimmlichen Müdigkeit, die man nicht beachtet. Dieses kleine Bläschen füllt sich mit Flüssigkeit. Die Operation ist einfach: Man entfernt es, es bleibt ein oberflächlicher chirurgischer Akt. Das Knötchen schließlich kommt von einer schlechten Technik, die immer wieder denselben Platz betrifft. Ein Sänger, der zum Beispiel schlechte Attacken wiederholt, misshandelt sein Organ und kann durch die Wiederholungen einen Knoten bekommen. Es versteht sich von selbst, dass man die Konsequenzen aus einem solchen Alarmsignal ziehen muss. Ich würde sogar sagen, dass, egal welche Operation angewendet wird, die Rekonvaleszens-Zeit unbedingt zum Nachdenken genutzt werden soll. Drei Monate Pause sind nötig. Die erste Woche ist absolutes Schweigen verordnet. Dann beginnt man langsam wieder mit dem alltäglichen Sprechen, dann in kleinen Dosen der Gesang.

Françoise Pollet (Ariane) face à Gabriel Bacquier (Barbe-Bleue) dans Ariane et Barbe-Bleue de Paul Dukas au Théâtre du Châtelet en 1991. © Marie-Noëlle Robert/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (Ariane) face à Gabriel Bacquier (Barbe-Bleue) dans „Ariane et Barbe-Bleue“ de Paul Dukas au Théâtre du Châtelet en 1991. © Marie-Noëlle Robert/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Angesichts all dessen, werden Sie verstehen, was ich ständig meinen Schülern sage: der Körper zuerst! Man singt nicht mit seinen Stimmbändern, sondern mit seinem Körper. Den ganzen Körper einzubringen, wenn man singt, erlaubt es, technische Probleme zu vermeiden. Ich hätte dreimal die Marschallin im Rosenkavalier singen können, ohne stimmliche Probleme festzustellen. Doch meine Beine, meine Waden, meine Schenkel, mein Rücken hätten es nicht ertragen. Das bildet das Gerüst, das alles trägt. Natürlich muss man diese notwendige Struktur außerhalb des Gesangs zu üben. Deshalb lege ich Wert darauf, dass meine Studenten auch Kurse mit körperlichem Training absolvieren. Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass die Hälfte der Studenten das nicht tut?

 

Sie waren am Beginn Ihrer Karriere drei Jahre am Staatstheater Lübeck in Deutschlanden. Ist das eine Erfahrung, zu der Sie jungen Sängern raten?  Das ist sogar eine unumgängliche Erfahrung! Dank dieses Ensembles habe ich meinen Beruf gelernt. In Lübeck war ich geborgen, geliebt und unterstützt. Heute sollte ein junger Sänger nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz gehen, um in einem Ensemble zu arbeiten. Ich verstehe nicht, warum Strukturen wie Saint-Étienne, Angers, Tours und viele andere nicht als Ensembletheater funktionieren. In Lübeck waren wir nicht mehr als 14 Sänger mit Jahresvertrag, die nicht weniger ala 5 oder 6 Opernproduktionen, eine Operette und ein Musical herausbrachten. Eine Gruppe von Sängern für 2 Jahre zu bezahlen und ein Repertoire zu konstituieren kostet zweifellos weniger als Produktionen herauszubringen, bei denen man Sänger von Fall zu Fall für nur drei Vorstellungen zu engagieren. Das wäre eine Möglichkeit, ihre Zahl zu erhöhen, ohne Hotelkosten usw..

MI0000965415Als ich in Lübeck ankam, ließ  ich nach 6 Jahren den Chor vom Bayerischen Rundfunk hinter mir, was einem Aufstieg auf der Karriereleiter entsprach. Ich  verdiente dort 4200.- DM pro Monat. Ich verließ diese Position, um all die  interessanten Rollen in Lübeck zu singen.  Vom ersten Jahr an die Marschallin, die Fremde Fürstin in Rusalka, die Mutter in Hänsel und Gretel, Giulietta in Hoffmanns Erzählungen und die Santuzza! Aber dafür, dass ich diese Rollen singen konnte, fiel mein Gehalt auf 3100.- DM pro Monat, das heißt um 1000 DM weniger als wenn ich Choristin geblieben wäre. Dieses Gehalt in Lübeck enthielt natürlich nicht die Kosten für Wohnung und Leben, und auch nicht die Gesangskurse. Dafür hatte ich Coachingstunden, und das Erlernen der Rollen spielte sich gemeinsam mit den Partnern ab. Fünf Personen kümmerten sich um uns, an deren Spitze die Studienleiterin stand. Ich erinnere mich, dass die Proben zum Rosenkavalier am 1.  August begannen, also hatte ich die Rolle der Marschallin in München lernen und mit jemandem arbeiten müssen. Der Zufall kommt einem manchmal zugute. Das war beim Chorchef der Fall, der Coach von Kim Borg für den Ochs in Glyndebourne gewesen war! Man muss sich an den speziellen Stil von Strauss gewöhnen, an diese Art von Konversation, wo das Wort perfekt mit dem der Partner zusammengehen muss. Es ist viel leichter, eine Mozart-Oper zu lernen als eine Strauss-Oper. Die zweite Strausspartie war dann für mich viel leichter zu lernen…

Françoise Pollet (la cantatrice) et Dale Duesing (le Comte) dans Reigen de Philippe Boesmans à La Monnaie de Bruxelles en 1993/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (la cantatrice) et Dale Duesing (le Comte) dans „Reigen“ de Philippe Boesmans à La Monnaie de Bruxelles en 1993/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Sowie ich in Lübeck ankam, warteten drei Tage Arbeit mit dem Klavier auf mich, denn die Verantwortliche wollte sich vergewissern, dass ich die Rolle konnte. Danach begannen die Bühnenproben. Wir waren gerade beim 2. Akt, als man mich schon für Rusalka mit einem Co-Repetitor eingeteilt hatte, denn ich musste die Fremde Fürstin nur eine Woche nach meiner ersten Marschallin singen. Außerdem musste ich diese Rolle ohne Bühnenprobe übernehmen, weil es eine Reprise war. Bezüglich Hänsel und Gretel begannen die Proben drei Wochen nach dem Rosenkavalier. Diese Aufeinanderfolgen bewirken, dass Sie sozusagen nicht allein arbeiten müssen oder sehr wenig. Sie haben ständig etwas zu singen oder zu proben. Das scheint natürlich hart, aber ich kann Ihnen versichern, dass das ein wunderbares Mittel ist Partien zu lernen. (…)

 

Juin 2015, dernier cours au CNSMDL. Françoise Pollet est entourée de ses élèves et de quelques "anciens", dont le ténor Rémy Mathieu et le baryton Mathieu Gardon/ Tutti-magazin.fr/ Pollet

Juin 2015, dernier cours au CNSMDL. Françoise Pollet est entourée de ses élèves et de quelques „anciens“, dont le ténor Rémy Mathieu et le baryton Mathieu Gardon/ Tutti-magazin.fr/ Pollet

Sie geben oft Meisterkurse. Was ist Ihr Ziel, wenn Sie Sänger für kurze Zeit unterrichten? Ich werde Ihnen so ehrlich wie möglich antworten: die Hoffnung, dass von diesen wenigen Tagen etwas bleibt! Oft werde ich sehr desillusioniert, wenn ich feststelle, dass nichts bleibt. Wenige Tage Arbeit  sind selten ausreichend. Außerdem können diese Studenten nicht genügend konzentriert sein, oft innerlich nicht bereit sein, das anzunehmen, was ich ihnen sage. Als ich im Rahmen der Académie Internationale de Musique Maurice Ravel, arbeitete, dauerte der Meisterkurs 15 Tage und ich dachte, das würde genügen. Ich stellte mit Schrecken fest, dass alles, worauf ich bestand, vor allem die französische Prosodie, verschwunden war. Ich wiederholte immer wieder meinen Studenten, dass man das „r“ locker rollen muss, denn es guttural auszusprechen ist das sicherste Mittel, dass der Ton nach hinten rutscht. Die „r“ sind eine Sache, das stumme „e“ ist eine andere, wenn man französisch singt, und man soll es vor allem nicht zu stark betonen. Die Silbe vor dem stummen „e“ ist verlängert. Das beste Beispiel ist die Art zu sagen  „je t’aime“. Man singt „je t’aièème“ und nicht „je t’aimeee„. (…)

 

Von einem Sänger zu verlangen, seine Gewohnheiten zu ändern, ist wahrscheinlich keine Sache, die leicht akzeptiert wird... Man muss bereit sein, sich zu entwickeln. Wie es der ungarische Pianist und Pädagoge György Sebök in der Dokumentation „Eine Musiklektion“ so perfekt sagt. Man muss, wenn man sich auf einen anderen Sessel setzen will und bereits sitzt, aufstehen und den Sessel wechseln. Man kann nicht gleichzeitig in zwei Sesseln sitzen! Also  muss man, wenn man sich entwickeln will, eine alte Auffassung hinter sich lassen. Denn genau dasselbe gilt für den Sänger und seine Stimme. Ich habe im Moment eine Schülerin, die nicht atmen kann, und es ist klar, dass man in einem solchen Fall sehr rasch auf psychologische Probleme stößt, die den Sänger in seiner Entwicklung blockieren. Manchmal gibt es glücklicherweise auch sehr anspornende Zeichen. Ich habe kürzlich mit dem jungen Tenor Rémy Mathieu gearbeitet, der am CNSMDL mein Schüler gewesen war. Ich habe bemerkt, dass sich in Bezug auf den Beruf des Opernsängers viel in seinem Körper geändert hat. Ich sehe darin ein Zeichen einer positiven Entwicklung. Aber ich stelle auch mit einer gewissen Angst fest, dass manche Sänger glauben, auf ihren eigenen Problemen „surfen“ zu können und vorwärts zu kommen, ohne sich Fragen zu stellen, während doch der Schlüssel der Entwicklung in der Konfrontation mit den eigenen inneren Dämonen liegt. (…)

 

pollet cd eratoSie wollen sich auch im Coaching von professionellen Sängern spezialisieren. Wie gehen Sie diese Tätigkeit an? Viele Faktoren können einen Sänger dazu veranlassen, mit mir arbeiten zu wollen. Ein professioneller Sänger kann bemerken, dass ein kleines Problem nicht gelöst ist und dass man es lösen muss. Ich würde diesen Sänger gern in seiner Vorgangsweise unterstützen. Im Übrigen ist es häufig, dass der Sänger nicht in der Lage ist, selbst die Art seines Problem zu erkennen. ich beobachte ihn, wenn er singt, um zu erkennen, wo sein Problem leigt, und um die Vorgangsweise zu bestimmen. Eine andere Art der Arbeit ist das Rollenstudium, denn eine neue Rolle stellt dem Sänger viele Fragen. Ich komme auf die französische Prosodie zurück, die so vielen Interpreten nicht klar ist. Das ist eine Arbeitsrichtung, die mich begeistert, und ich bin stets bereit, die Erfahrungen, die ich gemacht habe, weiterzugeben, indem ich meinen Kollegen helfe, die richtige Aussprache zu finden, die auch der Stimme erlaubt, sich am besten auszudrücken.

 

 

Und nun auch einmal ein Foto unserer tapferen und stets arbeitswilligen Übersetzerin Ingrid Englitsch aus Wien - Danke!

Und nun auch einmal ein Foto unserer tapferen und stets arbeitswilligen Übersetzerin Ingrid Englitsch aus Wien – Danke!

Ihr Vertrag in Lyon läuft demnächst aus – was wird nun? Mein eigenes Leben, so stelle ich fest, besteht aus vielen Leben. Ich war zuerst Musiklehrerin an Gymnasien, parallel zu meinen Studien am CRR von Versailles, wo ich einen einstimmigen ersten Preis und die Glückwünsche der Jury erhielt. Dann bin ich nach Deutschland gegangen, wo ich wieder meine Studien aufnahm, die ich durch kleine Jobs finanzierte. Nach dem „Staatsexamen für Solo-Gesang“ wurde ich zuerst Choristin. Dann gab ich diese Sicherheit auf, um in das Ensemble von Lübeck zu gehen, bevor ich nach Frankreich zurückkam als freie Sängerin. All das habe ich aufgegeben, als meine Tochter 13 Jahre alt wurde. Die Ereignisse des Lebens brachten es mit sich, dass ich ruhiger werden wollte, für sie und für mich. Nach dem Konservatorium bin ich nun bereit, wieder in ein neues Leben zu treten, das sechste, ebenfalls im Unterricht und im Austausch. Ich hoffe, es wird reich an Begegnungen sein…

 

Das Interview fanden wir in dem französischen website-Magazine Tutti-Magazine.fr , dessen Chefredakteur Philippe Banel uns den Text und die Fotos von Frau Pollet dankenswerter Weise überließ. Mehr zu Francoise Pollet hier:  francoisepollet.com. Und natürlich geht der große Dank wieder an Ingrid Englitsch in Wien, die in Rekordzeit den langen Text für uns übersetzte. Merci Madame! G. H.

Übernahmen

 

In memoriam Maureen Forrester ist eine CD überschrieben, die mit Mahlers Des Knaben Wunderhorn und den Rückert–Liedern an die 2010 verstorbene kanadische Altistin erinnert (Praga Classics PRD 250 313). Ein Blick in das in operalounge.de besprochene Naxos-Buch bestätigt, dass es sich bei den von Felix Prohaska 1963 dirigierten Wunderhorn-Liedern mit Heinz Rehfuss und dem Vienna Festival Orchestra um die Vanguard-Aufnahme handelt; die RückertLieder nahm Ferenc Fricsay 1956 mit dem RIAS-Symphonie-Orchester für die Deutsche Grammophon auf. Beide Aufnahmen sind bekannt (was leider mit keinem Wort in der Beilage erwähnt wird, und live sind sie – wie fälschlich auf der Rückseite angegeben – auch nicht). Das schmälert den Rang der geschickten Kopplung nicht, da es sich um exemplarische Mahler-Deutungen handelt, denen die Zeit nichts anhaben konnte, denn – wieder Naxos – „Forrester possessed a sumptuous contralto voice which she used with great musicianship“. Das stimmt. In den von Prohaska und dem Wiener Orchester mit Volkliedton und Melancholie intonierten Wunderhorn-Liedern kommt der klangvoll edle und pastose Alt, mit dessen leisen und hohen Tönen die Forrester magische Wirkungen erzielt, vor allem in „Wo die schönen“ Trompeten blasen, vorzüglich zur Geltung, betörend die erhabene sonore Fülle im „Urlicht“. Der Schweizer Bassbariton Heinz Rehfuss singt eindringlich, doch die charaktervolle Stimme nimmt sich neben der Stimmpracht der Forrester noch hagerer als gemeinhin aus. Die Schönheit von Foresters Alt lässt in den Rückert-Liedern den Atem stocken. Die damals 26jährige Sängerin, die im Jahr vor der Aufnahme erstmals in Europa aufgetreten war und deren große Karriere noch bevorstand, überrumpelt in den von Fricsay klangmagisch gestalteten Liedern durch eine Klangfülle, die sich wie eine Kuppel über diese Lieder senkt, sowie eine erlesene Gestaltungskraft und Gesangskultur, die in „Um Mitternacht“ beschwörende Intensität annehmen.   R. F.

 

Ähnlich „ausgeliehen“ und genauso schlecht dokumentiert ist auch die Live-„Hommage an Rafael Kubelik“ bei Praga mit einem Klagenden Lied Mahlers vom Bayerischen Rundfunk 1979 in der Erstfassung von 1899 mit Julia Hamari, Rose Wagemann (nicht Wagermann – bezeichnend für die schlampige Dokumentation des Booklets) und David Rendall, der Altrhapsodie von Brahms (BR 1962) mit Grace Hoffmann würdig und pastos als Mezzosolo sowie – wirklich idiotisch! – den gestückelten Gurreliedern Schönbergs in der bekannten Aufnahme der DG (Mitschnitt vom BR 1965 und natürlich noch immer komplett erhältlich) mit wenig Inge Borkh, dafür Herta Töpper mit dem Lied der Waldtaube und dem etwas kratzigen Herbert Schachtschneider – immer noch eine der besten Aufnahmen des selten eingespielten werkes, hier aber knapp 30 Minuten verstümmelt. Wer macht denn sowas? Schon bei der obigen CD mit den Dokumenten von Maureen Forresters ärgerte man sich über die schlechte Dokumentation der Quellen der Übernahme. Gegen Restverwertung ist ja nichts zu sagen, aber schreiben muss man doch, wo man´s her hat und wo es schon einmal erschienen ist. Die Firma Praga sitzt in Paris, da hätte ein bisschen Recherche nichts gescadet.

kubelik mahler brahms pragaWie auch immer – es ist schön, die Live-Aufnahme des Klagendes Liedes aus München unter Kubelik zu haben, er hatte für Mahler eine besondere Hand, und diese Erstfassung, ist auch nicht oft dokumentiert worden – die Solisten sind kongenial, und besonders der schöne, helle Tenor David Rendalls freut das Ohr.  Grace Hoffmann war eine bedeutende, heute sehr unterschätzte Mezzosopranistin mit einer Karriere weitgehend in Deutschland. Sie war ebenso tüchtig wie vielseitig und besticht durch Identifikation und Wärme der Stimme. Brahms unter Kubeliks Hand hat eben auch diese Wärme, die indivduelle Sprache, die spontane Kommunikation. Alles in allem schöne Mementi. Aber der Schönberg, so gestückelt? Absurd (Praga PRD 350118, angeblich Digital Reminiscences, und warum steht groß „Wien“ über Kubeliks Namen, wenn die Aufnahmen alle vom BR München stammen? Naja.). G. H.

Hochglanzausgabe

 

 

An was erinnert das? An die originale Karl May-Ausgabe? Man kann kaum drauf schauen, so sehr blenden die glitzernden Ornamente dieser Ausgabe, Aquamarin auf Schilf? Das lässt sich nicht beschreiben. Auf jeden Fall ist es zu viel. Aber es soll natürlich auch nach etwas aussehen, wenn man sich einen von Palazzetto Bru Zane herausgegebenen Band der Collection Prix de Rome ins Regal stellt. Kostbar, im Buchformat, 2 CDs, 122 Seiten, französisch und englisch. Es gibt nur 2500 Exemplare davon. Darin enthalten sind mehrere Aufsätze, darunter einen über den Prix de Rome de Musique usw., Gesangstexte, genaue Besetzung, einzig die Qualität der Fotos ist nicht so, wie man sie sich bei solch einer Prachtausgabe wünschen könnte, dazu zwei CDs, die in den Sommermonaten 2014 und 2015 in Brüssel eingespielt wurden. Vol. 5 nennt sich schlicht Paul Dukas. Genauer gesagt handelt es sich um Kanten und Chornummern und Kleinstwerke, in deren Mittelpunkt Werke stehen, die Dukas zwischen 1886 und 1889 für den Prix de Rome komponierte: Pensée de morts auf einen Text von Lamartine, La fête de myrtes nach Toubin, L’Hymne au soleil nach Delavigne und die beiden halbstündigen Kantaten für drei Solostimmen und Orchester Velléda nach Beissier und Séméle nach Adenis.

dukas prix de rome edicionesDie Geschichte der Druidenpriesterin Velléda hatte kürzlich auch Francois-Xavier Roth eingespielt. Eingehüllt in einen klassizistischen Faltenwurf erleben wir den typischen Dukas, sensibel und behutsam in seiner Textbehandlung, berückend in den Modulationen, voll melodischer und instrumentaler Süße (Violine) und orchestraler Delikatesse, farbig, doch nicht überreich. Hervé Niquet, der Flemish Radio Choir und die Brussels Philharmonic musizieren so hingebungsvoll, dass keine der mit 47 und 55 Minuten Spielzeit nicht übervollen CD zu lang erscheinen will. Unter den Solisten ragen in Séméle Kate Aldrich als Didon gleiche Junon hervor sowie in Velléda der kernig markante Andrew Foster-Williams als Ségenax.

Tassis Christoyannis, den Jupiter, treffen wir wieder auf der mit Unterstützung von Palazzetto Bru Zane entstandenen Gesamtaufnahme der Lieder von Édouard Lalo (harmonia mundi 2 CD AP 110). Im Januar und März dieses Jahres hatte sich der griechische Bariton in einem Theaterchen in Bourges der rund 30 Lieder Lalos angenommen, deren kürzestes nur eine Minute dauert, während Le Novice mehr als 14 Minuten währt. Die meisten der über einen Zeitraum von vierzig Jahren entstandenen Lieder sind kurze, einfache und einschmeichelnde Piècen von hohem Stimmungsgehalt, Strophenlieder mit ausdrucksvollen Rezitativen, manche weiten sich zu theatralischen Szenen, bleiben aber immer geschmackvoll elegante Salonunterhaltung. In dem Zyklus Six Romances populaires de Pierre-Jean de Béranger behandelte Lalo soziale Brennpunkte der Zeit, spätere Lieder sind teils humoristische, teils stimmungsvolle Impressionen, wie die Verweise auf Venedig in Le zueca und La Fenaison. Lalo verfällt nie in Extreme, wird nie zu leidenschaftlich, nie zu heftig, was Chistoyannis mit reduzierter Attacke und einem zu schlichter Einfarbigkeit neigendem Bariton gut einfängt.  R. F.

 

Smetanas „Dalibor“

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Smetanas heroische Oper Dalibor gehört für mich zu den wenigen Schätzen für die einsame Insel – seit ich Nicolai Gedda und Teresa Kubiak unter Eve Queler (New York 1977, inzwischen auch auf Gala) darin gehört habe, muss ich mir jedesmal die Augen wischen, so sehr ergreift mich das Liebesduett der beiden im zweiten Akt, Miladas wunderbares Solo ebenfalls dort und seine zu Herzen gehende Freiheits-Arie im dritten. Gedda – immer am besten als gebrochener Held (wie in seinen Meyerbeer- und Berlioz-Partien) – war hier unerreicht, pathoserfüllt und eben jener ideale Zwischenfachtenor von Jugendlichkeit, Heroik und Liebender. Ich kenne nichts Besseres von ihm.

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Es gibt für westliche Ohren kaum überzeugende Dalibor-Aufnahmen, zudem sind die meisten offiziellen von der Supraphon aus der Tschechoslowakei betagt. Während sich die Tenöre meistens gut schlagen (Prybl, Blachut und andere) bleiben die Damen oft stimmlich scharf und weiß in der Höhe und bestätigen Vorurteile gegen tschechische Soprane (Podvalova, Hrncirova, Abramova, Kniplova/brrrrrrrr u. a.), einzig die Subrtova  (Krombholz) und die Depoltova (Smetacek) stimmten mich milde, weil bei gedeckter Höhe liebenswürdig im Klang. Selbst die Janku, erfolgreich in italienischen Partien, bleibt hier unfreundlich, auch die Mikova in Edinburgh oder die Veberova zuletzt in Pilsen. Aus Cagliari erreicht uns ein Live-Mitschnitt mit der nicht wirklich sympatischen Milada der Urbanova und dem strammen Dalibor von Popov auf Dynamic – schon sehr spannend dirigiert von Yoram David, aber nicht wirklich idiomatisch und irgendwie global. 1995 war die letzte Aufnahme der Supraphon mit wiederum Urbanova (und da bleibe ich bei meinem Urteil, sie baute doch was den Klang betrifft schnell ab und ist mir zu heroisch-scharf) und einm sehr annehmbaren Marian als Dalibor unter Kosler, aber für meinen Geschmack ohne diese Magie der neuen Aufnahme.

Nicolai Gedda singt den Dalibor bei Eve Queler/OBA

Unbefriedigend ist der Dalibor aus München unter dem hinreißenden Kubelik (Myto), denn Konya schluchzt sich durch die Partie, und die Weathers bleibt viel zu klein in der Stimme. Aus Wien gibt es eine RCA-Live-Aufnahme mit der Rysanek, die da wie immer ihr eigenes Ding veranstaltet, und Spiess, der stemmt und den Dalibor mit dem Radamès verwechselt. Aber bei beiden hat man Deutschsprachiges vor sich, was dem Verständnis dient. Tschechisch ist ja im Ausland kaum verbreitet. Eine BBC-Aufnahme (Gala) lässt uns die eher trocken-fulminante denn stimmschöne Tinsley hören, die daraus einen englischen Turandot-Auftritt macht und nicht sonderlich sympatisch herüberkommt – alle (und es gibt noch weitere Live-Mitschnitte) haben was, aber wenige das oben Gewünschte und Erlebte.

Aber es gibt Abhilfe! Endlich. Bei Onyx ist (bei schlampiger Ausgabe) der Mittschnitt eines BBC-Konzertes aus der Londoner Barbican Hall vom Sommer 2015 erschienen, und der lässt keine Wünsche offen (selbst wenn mir Gedda & Kubiak im Ohr bleiben). Denn unter Jiří Bělohlávek erlebt  man eine der überwältigendsten Opernaufnahmen der letzten Jahre – und dafür stehe ich! Was er mit dem BBC Symphony Orchestra dem dem BBC-Chor hier hören lässt ist eine Glanzleistung an Klang, an Interpretation und an Feuer. Dalibor (1868 Prag, Libretto von Josef Wenzig in der tschechischen Übertragung von Ervin Spindler) steht stilistisch/inhaltlich zwischen Beethoven und Wagner (und Dvorák natürlich)

Die wunderbare polnische Sopranistin Teresa Kubiak singt eine erfüllte Milada bei Eve Queler/ poland.us

und kann machtvolle Chöre ebenso aufbieten wie zarteste Liebesduette, ergreifende Soloszenen und -Arien und eben jenen pathosreichen, vaterländisch-tschechischen  Klang, den wir mit Smetanas Moldau assoziieren, wo bei prachtvollen Holzbläsern und wunderbar-weichen Streicherfiguren ein Panorama der tschechischen/mährischen Befindlichkeit vor uns ausgebreitet wird.

Dalibor ist Smetanas einzige tragische Oper, die überquillt von Gefühlen, von Hass und Verzweiflung, von grenzenloser Liebe und elementarem Freiheitsdrang, von Nationalstolz und Selbstbewusstsein. Dies alles lässt uns Bělohlávek in genialer Weise erleben, lässt uns daran teilnehmen, lässt uns eintauchen in eine heroisch-romantische Welt der Klänge. Orchester wie Chor hat man selten so homogen und eben so „befindlich“ gehört. Und da es ein Livemitschnitt ist, springt der Funke vom enthusiasmierten Publikum auch auf uns über – eine große, bedeutende Erfahrung.

Richard Samek/ operaplus.cz

Richard Samek/ operaplus.cz

Gesungen wird ganz prachtvoll. In der Titelpartie hört man den jungen Richard Samek voller Heldentum, voller feuriger Jugendlichkeit, aber eben auch empfindsam, Gedda-nah und ihm in manchen Wendungen sehr ähnlich. Ein gebrochener, jugendlicher Held mit Empfindsamkeit, ein Lohengrin in Böhmen & Mähren vielleicht, denn die musikalischen Assoziationen stellen sich durchaus  ein, 18 Jahre nach  Wagners Oper. Dana Buresovas Stimme war mir in den ersten Minuten ein wenig zu hell, und vielleicht ist die Partie der Milada ein Quentchen zu groß für sie, aber sie steigert sich ungemein, erfüllt mit leuchtendem, festem und höhengedecktem Sopran die Rolle der widerwillig Liebenden mit Leuchtkraft – eine tschechische Leonore großen Zuschnitts und großer Interpretation. König Vlasdislav ist mit Ivan Kusnjer bestens besetzt: eine feste, sonore und gutsitzende Baritonstimme, auch er ein eher schlanker Held und ein ganzer Mann. Als Freundin und Vertraute Jitka macht Alzbeta Polackova absolut beste Figur, mit schön-timbrierter, fester und vor allem auch höhenstarker Sopranstimme in dieser wichtigen Nebenrolle. Arles Voracek, Svatopluk Sem und Jan Stava holen viel aus ihren kleineren Partien heraus und runden dieses nationalsprachige Ensemble ab. Was für ein Gesamterlebnis!

Leider wird dieser Eindruck rein faktisch durch die popelige Ausgabe bei Onyx getrübt. Neben einem viersprachigen Einführungstext findet man die Besetzung in Kleinstschrift (weiß auf grün) nach einigem Suchen auf der Cover-Rückseite, Angaben zu den Sängern werden mit dem Hinweis bedient: Schauen Sie auf unserer website nach! Dort findet man unter vielem Klicken einen Hinweis auf das genannte Konzert in der Londoner Barbican Hall. Und ein weiterer Hinweis gilt dem eben nicht abgedruckten Libretto („1951 Supraphon“), das man auch auf der Onyx-website suchen muss. Besser ist es, gleich nach dem Konzert vom 2. Mai 2015  im Netz zu suchen und von den überwältigenden Kritiken bestätigt zu werden: Bei der BBC und anderen websites kann man das alles nachlesen (2CD Onyx 4158). Geerd Heinsen

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Abschluss von Jacobs’ Mozart-Zyklus

 

Seine Einspielung der großen Mozart-Opern für harmonia mundi setzt René Jacobs – nach der da-Ponte-Trilogie, den opere serie Idomeneo und Tito, der frühen Finta giardineria und der späten Zauberflöte – nun mit dem Singspiel Die Entführung aus dem Serail fort und sorgt damit  für einen gewichtigen Schlusspunkt in der Reihe seiner Mozart-Aufnahmen. Wie erwartet, gelingt dem Dirigenten auch bei diesem so oft eingespielten Werk (die Anzahl der Gesamtaufnahmen dürfte zwischen 50 und 100 liegen) eine ganz ungewöhnliche, unkonventionelle Deutung. Dies bezieht sich vor allem auf den Einsatz des gesprochenen Dialogs, der hier fast ungekürzt zu hören ist und sogar während der Musiknummern eingesetzt wird. Fließend gehen Musik und Sprache ineinander über, was an manche Opernhörspiele des Rundfunks in den 1950er/60er Jahren mit ihrer lebendigen Geräuschkulisse erinnert. Auf der anderen Seite lässt Jacobs vom Hammerklavier (Andreas Küppers) in den Dialog Musikfetzen aus anderen Kompositionen Mozarts einfließen – so einige Takte aus der c-Moll-Fantasie KV 475 in einer Szene Bassa/Konstanze. Das Instrument ist durchweg präsent und untermalt beinahe alle Gesangsnummern, mit den erregt tremolierenden Akkorden aber auch das riskante Unterfangen des nächtlichen Fluchtversuchs.

Das Ensemble singt fast durchweg auf hohem Niveau. Alle Interpreten finden in ihren Arien zu individuellen Akzenten und reichen Verzierungsvarianten. Mit Robin Johanssen ist die zentrale weibliche Partie des Stückes stimmig besetzt. (Auch nimmt der Sammler überrascht und erfreut zur Kenntnis, in einer Jacobs-Aufnahme einmal nicht Sunhae Im zu begegnen.) Die heikle Auftrittsarie, „Ach, ich liebte“, meistert sie bravourös und lässt keinerlei Probleme mit den vertrackten Koloraturen erkennen. Das ist keine Primadonnenstimme, aber eine jugendliche und zutiefst menschliche. Das Rezitativ „Welcher Wechsel“ gestaltet  sie mit bebender innerer Erregung, die Arie „Traurigkeit“ mit innigem Ausdruck und reichem Ton. Die vom Orchester heftig eingeleitete „Martern“-Arie (wo noch Sprachfetzen von ihr und vom Bassa zu hören sind) gelingt ihr gleichfalls sehr ansprechend, sieht man von der etwas flachen Tiefe ab. Kultiviert, lyrisch-schlank und mit großer Empfindsamkeit singt Maximilian Schmitt den Belmonte. Das noch um ein Vielfaches erweiterte Zierwerk in der Arie „Wenn der Freude“ bewältigt er mit leichter Emission und in keinem Moment strapaziertem Ton. Auch die gefürchteten Koloraturen der „Baumeister“-Arie gelingen imponierend. Für den Pedrillo ist Julian Prégardien geradezu eine Luxusbesetzung, denn er singt die Partie mit reicher lyrischer Substanz und vermeidet jeden buffonesk-neckischen Anstrich. Das „Frisch zum Kampfe“ ertönt entschlossen und mit kämpferischem Mut, die nächtliche Serenade wird nicht gesäuselt, sondern mit schöner Substanz formuliert. Das Da capo deutet in seinem drängenden Tempo die Eile des Unternehmens an. Auch Mari Eriksmoen verleiht der Blonde einen reizenden Tonfall mit ihrem kecken, silbrigen Sopran. Nur die Extremnoten der ersten Arie klingen etwas gequietscht, „Welche Wonne“ singt sie keck und beherzt. Köstlich ist ihre übermütige Überlegenheit in den Szenen mit Osmin. Dimitry Ivashchenko überrascht in dieser Partie mit fast akzentfreiem Gesang, der Bass selbst ist nicht von erster Qualität. Da fehlt die satte Fülle, da stört manch verfärbter Ton. „O, wie will ich triumphieren“ erklingt zwar mit höhnischem Spott, doch mangelt es an Gefährlichkeit, die er erst im finalen Vaudeville erreicht. In der Sprechrolle des Bassa irritiert der langjährige Salzburger Jedermann, Cornelius Obonya, mit recht verschwommener Sprache von heiserem Klang und deutlich verhaltenen Ausbrüchen. Interessant ist der bewusst eingesetzte fremde Akzent. Bassas erster Auftritt wird noch vor dem üblichen Chor der Janitscharen mit einem Türkischen Marsch von Michael Haydn eingeleitet. Jacobs betont überhaupt das türkische Lokalkolorit der Musik, lässt deren orientalische Elemente mit oft martialischer Gewalt hereinbrechen, die Becken, Triangel, Trommeln und Schellen rasseln. Die Akademie für Alte Musik Berlin spielt mit explosiver Verve und musikantischer Lust. Der Dirigent reizt schon in der Ouvertüre die Kontraste zwischen wuchtigem forte und verhaltenem piano beinahe extrem aus. Wild und aggressiv ertönen die Janitscharen-Motive. Im Kontrast dazu werden die menschlichen Konflikte der Geschichte mit schmerzlicher Lyrik von stärkster Intensität ausgebreitet. Die orchestrale Qualität gehört zweifellos zu den Meriten dieser Aufnahme (3 CD harmonia mundi, HMC 902214-15). Bernd Hoppe

Kunst und Oberfläche

 

Die Komische Oper Berlin – zusammen mit den Forschern Bettina Brandl-Risi und Clemens Risi – hat ein außerordentlich vielseitiges und kontroverses Buch über Operette zusammengestellt, dessen Titel schon provoziert: Kunst und Oberfläche: Operette zwischen Bravour und Banalität. Das Buch mit seinen 21 Essays zum Thema ist beim Henschel Verlag erschienen. Um den Appetit zur Lektüre und Beschäftigung mit dieser spannenenden Materie anzuregen, folgt nachstehend die Einleitung von Bettina Brandl-Risi, Clemens Risi und Rainer Simon mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des Henschel Verlages. Dank auch an Kevin Clarke vom Operetta Research Center, auf dessen website wir diesen anregenden Text erstmals fanden. G. H..

henschel brandl-risi kunst der oberflächeDie Operette genoss und genießt auch heute noch in der Musiktheaterpraxis einen mitunter zweifelhaften Ruf – zu leicht, zu albern, zu kitschig und vor allem zu oberflächlich. Flankiert wird diese Haltung von einer Opern- und Theaterforschung, die dieses Genre bis ins 21. Jahrhundert hinein eher stiefmütterlich behandelt. Seit einigen Jahren kann jedoch eine Veränderung in dieser Wahrnehmung, eine regelrechte Renaissance der Operette beobachtet werden – nicht zuletzt an der Komischen Oper Berlin unter der Intendanz von Barrie Kosky.

Dort wurde der oftmals verkannten Gattung zu Beginn des Jahres 2015 ein gemeinsam mit der University of Chicago, der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der internationalen Fachzeitschrift The Opera Quarterly (Oxford University Press) veranstaltetes, dreitägiges Symposium mit Musik-, Theater-, Kulturwissenschaftlern, Philosophen und Künstlern aus Europa und den USA gewidmet. Dieser Band fasst die Ergebnisse der Tagung unter dem vieldeutigen Titel Kunst der Oberfläche – Operette zwischen Bravour und Banalität und unter Beibehaltung des mitunter mündlichen Gestus der Beiträge zusammen. Ziel ist hierbei einerseits, die abschätzigen Zuschreibungen, die sich unter der negativ konnotierten Begriffsverwandten „Oberflächlichkeit“ zusammenfassen lassen, in näheren Augenschein zu nehmen. Andererseits ist gerade nach den produktiven Möglichkeiten an der Oberfläche zu fragen. Denn sind es nicht diverse Oberflächenäußerungen, die uns mitunter die tiefsten Einblicke in historische, gesellschaftliche und ästhetische Zusammenhänge geben?

Operette par excellence: Fritzi Massary/ Wiki

Operette par excellence: Fritzi Massary/ Wiki

Und führt nicht das Funkeln und Glitzern der sinnlichen Oberflächen – ob einer Stimme, eines Raumes oder eines Körpers – zu ganz eigenen ästhetischen Erlebnissen, die es näher zu betrachten lohnt? Und sollte daher die vorschnelle Einordnung als „bloße Unterhaltungskunst“ nicht überdacht und auf den Prüfstand gestellt werden? Dass sich die Vorbehalte auch in der Wissenschaft gegenüber der Operette in den letzten Jahren glücklicherweise fundamental gewandelt haben, dafür hat auch und vor allem die Riege der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gesorgt, die im vorliegenden Band vertreten sind.

Das Symposium verfolgte eine doppelte Zielrichtung: Zum einen wurde die historische Dimension der bislang eher biographisch und werkorientiert denn kulturwissenschaftlich aufgearbeiteten Blütezeit des musikalischen Unterhaltungstheaters in Deutschland neu zur Diskussion gestellt. Es wurden also zum einen historische Bohrungen insbesondere zur Szene der 1920er- und 1930er-Jahre (mit Rückblicken auf den Beginn des 20. Jahrhunderts) vorgenommen, die kulturpolitische Funktionen und Funktionalisierungen und deren philosophische Reflexion, die Verhandlung gesellschaftlicher Debatten ebenso wie theaterästhetische, medienästhetische, darstellungstheoretische und technikgeschichtliche Implikationen der Aufführungspraxis von Operetten herauspräpariert haben. Und zum anderen richtete sich der Fokus auf die Gegenwart der Aufführungspraxis, also das neu erwachte Interesse für die Operette der 1920er- und 1930er-Jahre. Was bedeutet diese Renaissance heute? Gibt es ein erneutes Interesse für eine kulturelle Praxis jenseits von „E“ und „U“ und wieso?

Operette mit Schmalz: "Rosen in Tirol"/ Youtube

Operette mit Schmalz: „Rosen in Tirol“/ Youtube

Angeknüpft werden konnte dabei an die für die Operettenforschung maßgeblichen Studien in biographischer Perspektive,[1] in musik- und theaterwissenschaftlicher Perspektive, [2] in literaturwissenschaftlicher Perspektive [3] sowie in im weitesten Sinne kulturhistorischer und diskursanalytischer Perspektive (zu topographischen Fragen, zu Frauen- und Genderrollen, zur politischen Dimension) [4]. Das Anliegen des Symposiums ging aber gerade dezidiert über diese bereits etablierten Forschungspositionen hinaus, indem nach den Gründen für die erneute Beschäftigung mit der (Revue-)Operette der Zwischenkriegszeit gefragt und insbesondere die Diskussion über die aktuellen Inszenierungs- und Aufführungsstrategien der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der (Revue-)Operette geführt wurde.

Nach einem einführenden Text zur Konjunktur der Oberfläche im Gegenwartstheater wird diesen Fragen in vier jeweils thematisch unterschiedlich ausgerichteten Sektionen nachgegangen.

Operette mit Mädels, Berlin 1929/ youtube

Operette mit Mädels, Berlin 1929/ youtube

In der ersten Sektion Hochkultur und Entertainment: Operette zwischen E und U wird mit einer grundsätzlichen Befragung der kulturkritischen Debatten um „E“ und „U“ aus der Perspektive der Philosophie/Musikästhetik, der Theaterhistoriographie und der Praxis ein theoretischer Horizont für die Diskussion um die Renaissance der (Revue-)Operette der 1920er- und 1930er-Jahre bereitgestellt. Kritisch beleuchtet werden hierbei ebenso die historischen Diskurse des „Ernsten“ und des „Leichten“/„Unterhaltenden“ wie die Frage, welchen Status diese Debatten der Moderne für die kulturellen Praktiken der Gegenwart haben, in denen einerseits postmoderne Ästhetiken noch spürbar sind, andererseits programmatische Ästhetiken der Politisierung eingefordert werden. Zur Sprache kommen insbesondere historische Positionen zu „E“ und „U“ (Adorno, Kracauer). Offen bleibt die Frage der Standortbestimmung von (Musik-)Theater im Zeichen der Globalisierung, etwa im Sinne der „McTheatre-Debatte“[5], die der Konfektionierung einer Marktlogiken folgenden Theaterorganisation das Wort redet, im Gegensatz zu den zahlreichen Diversifizierungsmöglichkeiten in einem (zutiefst lokal verankerten) Kunstsubventionssystem wie in Deutschland.

Operette auf dem See: Der Zigeunerbaron" in Mörbisch 2011/ youtube

Operette auf dem See: Der Zigeunerbaron“ in Mörbisch 2011/ youtube

In der zweiten Sektion Stars und Diven: Genregrenzen und der Charme der Überforderung werden Operetten als Agenten von medien- und genre-sprengenden künstlerischen Praktiken und der Hybridisierung der Künste (zwischen Oper – Schauspiel – Film – Revue) befragt. Lässt sich bereits das Genre Operette selbst als Zitatkunst (der Darsteller und Handlungen/Dramaturgien) verstehen, so fungieren die Operettenstars und -diven als Hybride zwischen Aufführung und Mediatisierung [6] ebenso wie zwischen den unterschiedlichen Künsten. Den spezifischen Charakteristika der Stars und Diven der Operette und den besonderen Herausforderungen an sie wird besondere Aufmerksamkeit zuteil. Verschiebt sich das Konzept der Diva im Falle dieser Operetten? Im Operngesang geschulte Stimmen treffen mit Stimmen von Schauspielerinnen und Schauspielern und solchen aus dem Bereich des Jazz und des Chanson zusammen. Unerwartete Übernahmen von Kompetenzen aus anderen Gewerken bestimmen die Aufführungspraktiken damals wie heute: Sängerinnen müssen sich bewegen wie Revuetänzerinnen, Schauspielersingend neben Sängern bestehen können. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Besetzung von aus anderen Zusammenhängen berühmten Stars (Gustaf Gründgens, Hans Albers, Käthe Dorsch, Richard Tauber; heute z. B. Dagmar Manzel, Katharine Mehrling, Max Hopp, Christoph Marti) sowie der Frage der Historizität des Stars, inwiefern also jeder dieser Stars immer auch als Zitat seiner eigenen Geschichte auftritt. Zeigt sich in diesem „Charme der Überforderung“ jenseits von Genregrenzen, dieser Reibung der Kompetenzen, deren je eigene Virtuosität hohes Attraktionspotential birgt, eine Nähe zu jenen Ästhetiken der auf die virtuose Spitze getriebenen Imperfektion, die in aktuellen künstlerischen Konzepten im Gegenwartstheater [7] virulent sind? Erweist sich gerade das Hybride der Operetten als Attraktionsmoment für gegenwärtige Theaterschaffende, die das Diskontinuierliche des Materials zu betonen scheinen und ein Genießen der Oberflächenphänomene jenseits von Handlung und Psychologie ermöglichen? Dem Ruf nach der Überschreitung von Genregrenzen und nach performativen Hybridformen, die die experimentelle zeitgenössische Musiktheaterpraxis immer wieder fordert, wird in deren scheinbarem Gegenpol, der Operette, seit jeher gefolgt.

Operette mit Hula: "Die Blume von Hawai" 1933/ youtube

Operette mit Hula: „Die Blume von Hawai“ 1933/ youtube

Die dritte Sektion Operette als gesellschaftlicher / kultureller / technologischer Seismograph widmet sich der Frage, inwiefern sich Operetten als Seismographen ihrer Zeit begreifen lassen. Zur Diskussion steht hier die Verflechtung theatraler Praktiken mit neuen Medien und Technologien des Audiovisuellen (Operette und Tonfilm), der Telekommunikation und akustischen Medien wie Telefon und Radio (als Übertragungsmedien) sowie der Ausprägung spezifischer „auditiver Kulturen“ des frühen 20. Jahrhunderts. Der Ort der historischen Operetten innerhalb einer Kultur der Metropole mit ihren spezifischen Erfahrungen von Modernität wird dabei ebenso befragt wie ihre Funktion als Vehikel und Symptom der Internationalisierung und Globalisierung (das „Transatlantische“).

Inwiefern können Operetten als Austragungsort von Debatten über Gender-Fragen, deren Ambivalenzen und auch die Rolle von Sexualität verstanden werden? Oder lässt sich die kulturelle Funktionvon Operette in dieser Zeit eher als Nostalgie-Figur der Selbstreflexionin der Kultur der Weimarer Republik fassen? Unweigerlich geraten mit der Diskussion der Operetten der 1920er- und 1930er-Jahre politische und kulturpolitische Krisenmomente in den Blick. Was geschieht mit diesem Genre und seinen Machern zwischen nationalsozialistischerVereinnahmung, Konformität, Verbot, Vernichtung und Exil? Die durch das Aufkommen des Nationalsozialismus gebrochene Geschichte der Operette und die damit einhergehende Vereinnahmung und Domestizierung des vormals wilden Genres kann so sichtbar werden, also die Folgen jenes dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte, das mit Maßnahmender NS-Kulturpolitik wie Aufführungsverboten begann und in der Verfolgung und Vernichtung der vielen jüdischen Künstlerinnen und Künstler endete, die die Operetten der 1920er- und 1930er-Jahre produziert und aufgeführt hatten. Es geht um die Frage von Mechanismen der Hegemonialisierung und Verdrängung im Repertoire, die bis in unsere Gegenwart wirken.

Master of Operetta: Max Reinhardt/ wiki

Master of Operetta: Max Reinhardt/ wiki

In der vierten und letzten Sektion Operette heute steht die Frage zur Diskussion, wie die Musiktheaterpraxis heute mit diesen Operetten umgeht. Welche Haltungen werden zu den textlichen, musikalischen, formalen und den im weitesten Sinne diskursiven Vorlagen (zum Beispiel der latenten oder expliziten Ironie) eingenommen? Lässt sich so etwas wie Nostalgie diagnostizieren nach einer Zeit, die ihrerseits (in den 1920er-Jahren) selbst eine nostalgische war? Wird hier ein Aushandlungsfeld einer in bestimmten Aspekten vergleichbaren gesellschaftlichen Situation aufgesucht, die von (ökonomischer) Krise, Globalisierung, einer Vergewisserung über Fragen von Moderne/Modernität, Hybridisierung und der Debatte über Gender-Fragen bestimmt ist?

Sowohl der Gegenstand als auch der Veranstaltungsort des Symposiums gaben Anlass, die eingangs formulierten Fragen aus verschiedenen Perspektiven und in ganz unterschiedlichen Formaten zu beleuchten.

Master of Operetta 2: Ernst Lubitsch/ Wiki

Master of Operetta 2: Ernst Lubitsch/ Wiki

Dieser Vielfalt der Formate entsprechend, finden sich in diesem Band neben ausführlicheren Abhandlungen auch kürzere Statements, bei denen wir daran interessiert waren, den mündlichen und diskussionsorientierten Duktus auch in der Buchform beizubehalten. Insbesondere war uns daran gelegen, auch den künstlerischen Beiträgen innerhalb des Symposiums einen Ort in der Publikation einzuräumen, da uns von Beginn an wichtig war, unseren schillernden Gegenstand nicht nur wissenschaftlich-theoretisch, sondern ebenso künstlerisch-praktisch zu beleuchten. Entsprechend eines Verständnisses von Kunst und Wissenschaft, das ersterer auch Forschungsqualitäten und letzterer auch performatives Potential beimisst, das nicht nur die Dichotomie zwischen Oberfläche und Tiefe, sondern auch diejenige zwischen Theorie und Praxis produktiv hinterfragt, fanden

während des Symposiums künstlerische Interventionen statt, welche sich mit den verschiedenen Themenbereichen kreativ auseinandersetzten: Die Musicaldarstellerin Katharine Mehrling zeigte eine durchaus unterhaltsame Seite an Adornos ernsthaften Ausführungen über die Operette auf – in einem Vortrag, der übertrieben seriöse bis hin zu parodistischen Elementen, dadaistisch anmutende Wortverdrehungen, Gesangseinlagen und -improvisationen vereinigte. Gemeinsam mit Christoph Marti von den Geschwistern Pfister berichtete sie in einem halbfiktiven Gespräch von den Sonnen- und Schattenseiten des Lebens als Star, wobei die beiden Diven, in Kostüm und Maske und in Begleitung zweier Schoßhündchen, stets zwischen ihrer jeweiligen Operettenrolle und der Privatperson, zwischen Daisy Darlington (aus Ball im Savoy) und Katharine Mehrling einerseits, zwischen Clivia Gray (aus Clivia) und Christoph Marti andererseits changierten.

Die Operette Möriken-Wildegg hat seit rund 90 Jahren Tradition. Alle zwei Jahre gibt es eine Aufführung, dieses Jahr «Die Herzogin von Chicago» von Emmerich Kalman. Über 200 Personen sind an der Produktion beteiligt, darunter ein Laienchor, ein Profi-Orchester und Baletttänzerinnen/ srf.ch

Die Operette Möriken-Wildegg hat seit rund 90 Jahren Tradition. Alle zwei Jahre gibt es eine Aufführung, dieses Jahr «Die Herzogin von Chicago» von Emmerich Kalman. Über 200 Personen sind an der Produktion beteiligt, darunter ein Laienchor, ein Profi-Orchester und Baletttänzerinnen/ srf.ch

Gemeinsam mit der Performance-Gruppe Interrobang und dem Publikum wurde am letzten Symposiumstag in Form einer interaktiven Feldforschung nach Antworten auf die Frage gesucht, wie die Operette der Zukunft aussehen könne. Einige Bild- und Textspuren sowohl dieser Liveveranstaltungen als auch der zahlreichen Diskussionen, deren performative Qualitäten sich nur sehr begrenzt in einem Buch darstellen lassen, finden sich an der ein oder anderen Stelle dieses Bandes wieder. Maßgeblichen Anteil an der Konzeption und Durchführung des Symposiums hatten Johanna Wall und Pavel B. Jiracek, in deren Händen die dramaturgische Betreuung der künstlerischen Interventionen von Interrobang und von Katharine Mehrling lag und deren ebenso elegante wie eloquente Moderation einen Nachhall in den am Ende jeder Sektion abgedruckten Zitaten aus den Diskussionen finden.

Abschließend möchten wir uns bei der Augstein Stiftung, der Peter Dornier Stiftung und der Zeitschrift The Opera Quarterly (Oxford University Press) für die finanzielle Unterstützung des Symposiums, das die Grundlage dieses Bandes bildete, bedanken. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses geht unser Dank an den Universitätsbund Erlangen-Nürnberg sowie an das Präsidium der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zudem möchten wir Cordula Reski-Henningfeldt und Andra-Maria Jebelean für die redaktionelle Mithilfe Dank sagen.Bettina Brandl-Risi, Ulrich Lenz, Clemens Risi, Rainer Simon/ Berlin und Erlangen, Juni 2015

Kunst und Oberfläche – Operette zwischen Bravour und Banalität von Bettina Brandl-Risi, Ulrich Lenz, Clemens Risi, Rainer Simon, 224 Seiten, Henschel Verlag, ISBN-13: 9783894877804

 

Dazu Anmerkungen: [1] Vgl. z. B. Kevin Clarke, „Im Himmel spielt auch schon die Jazzband“. Emmerich Kálmán und die transatlantische Operette 1928–32, Hamburg 2007; Stefan Frey, Franz Lehár oder das schlechte Gewissen der leichten Musik, Tübingen 1995; ders., „Unter Tränen lachen“. Emmerich Kálmán. Eine Operettenbiographie, Berlin 2003; Ute Jarchow, Analysen zur Berliner Operette. Die Operetten Walter Kollos (1878–1940) im Kontext der Entwicklung der Berliner Operette, München 2013. [2] Vgl. u. a. Marion Linhardt, Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858–1918), Tübingen 2006; Clarke, „Im Himmel spielt auch schon die Jazzband“, a. a. O. [3] Vgl. z. B. Ethel Matala de Mazza, „O-la-la“. Auftritte einer Diva, in: Bettina Brandl-Risi/Gabriele Brandstetter/Stefanie Dieckmann (Hrsg.), Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, Berlin 2012, S. 217–239; dies., Wo kein Wunder geschieht. Goetheliebe und anderes Leid in der lyrischen Operette Franz Lehárs, in: Daniel Eschkötter/Bettine Menke/Armin Schäfer (Hrsg.), Das Melodram – ein Medienbastard, Berlin 2013, S. 98–114; Heike Quissek, Das deutschsprachige Operettenlibretto – Figuren, Stoffe, Dramaturgie, Stuttgart 2012. [4] Vgl. u. a. Tobias Becker, Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880–1930, Oldenburg 2014; Tobias Becker/Len Platt/David Linton (Hrsg.), Popular Musical Theatre in London and Berlin 1890 to 1939, Cambridge 2014; Kevin Clarke, Glitter And Be Gay. Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer, Hamburg 2007; Moritz Csáky, Kultur als Kommunikationsraum – am Beispiel Zentraleuropas, in: Zeitschrift für Mitteleuropäische Germanistik 1 (2011), S. 3–24; Albrecht Dümling (Hrsg.), Das verdächtige Saxophon. „Entartete Musik“ im NS-Staat, Neuss 2007; Marion Linhardt, Inszenierung der Frau – Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900, Tutzing 1997; Daniel Morat, Die Sinfonie der Großstadt. Berlin und New York, in: Gerhard Paul/Ralph Schock (Hrsg.), Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, Bonn 2013, S. 156–161; Wolfgang Schaller (Hrsg.), Operette unterm Hakenkreuz. Zwischen hoffähiger Kunst und „Entartung“. Beiträge einer Tagung der Staatsoperette Dresden, Berlin 2007. [5] Vgl. Dan Rebellato, Theatre & Globalization, Basingstoke 2009. [6] Vgl. Elisabeth Bronfen/Barbara Straumann, Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002; Werner Faulstich/Helmut Korte (Hrsg.), Der Star. Geschichte, Rezeption, Bedeutung, München 1997. [7] Vgl. Bettina Brandl-Risi, „Ich bin nicht bei mir, ich bin außer mir“. Die Virtuosen und die Imperfekten bei René Pollesch, in: Jens Roselt/Christel Weiler (Hrsg.), Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld 2011, S. 137–156.

 

Foto oben: The merry Widow, Ernst Lubitsch 1934 MGM, Ausschnitt/ artsemerson.org

Grosses Kino

Nicht nur eine Oper in der Oper gibt es in Rufus Wainwrights Erstlingswerk Prima Donna, die Entstehungsgeschichte der CD selbst könnte schon Stoff für ein Musikstück liefern. Ursprünglich als Auftragswerk für die Met geplant, wurde es dort wegen des Bestehens des zweisprachig in Kanada aufgewachsenen Komponisten auf der französischen Sprache nie aufgeführt, sondern weit weniger spektakulär im Jahre 2009 in Manchester, danach noch in Toronto und Melbourne, die CD kam erst nach einem aufreibenden Spendenauftreiben bei der Deutschen Grammophon heraus. Der Komponist, vor der Uraufführung seiner zunächst als Einakter, dann um einen weiteren Akt erweiterten Oper als Singer, Songwriter und Mitwirkender an Filmmusik bekannt, schildert in bewegten Worten, wie verschiedene Ereignisse, so das Sehen des Interviews Lord Harewoods mit Maria Callas und die Krebsdiagnose der Mutter, das Entstehen der Oper beeinflussten, dass offensichtlich angezweifelt wurde, er habe die Instrumentierung selbst vollbracht und dass die Kritiken sehr unterschiedlich ausfielen.

Das Thema entspricht in etwa dem des Hollywood-Films Sunset Boulevard, handelt von einer alternden Diva, die ihr Comeback plant, nachdem ihr sechs Jahre zuvor bei einem schwierigen Duett beim hohen Ton die Stimme wegbrach. Nun fühlt sie sich bereit, sich wieder an die Partie der Aliénor von Aquitanien zu wagen, unterstützt von einem treu erscheinenden, aber sich als berechnend erweisenden Butler und einem Dienstmädchen. Ein Journalist soll mit einem Interview das Wiedererscheinen der Prima Donna auf der Opernbühne vorbereiten, verführt sie aber dazu, das Duett zu singen, wobei das gleiche Malheur geschieht wie vor sechs Jahren. Auch ein Traum oder eine Wahnvorstellung, in dem der Journalist ihr Tenorpartner in eben diesem Duett ist, bringt sie nicht davon ab, auf ihr Comeback zu verzichten. Der Butler verlässt sie, der Journalist, der sie geküsst hatte, erscheint mit seiner Verlobten, um sich ein Autogramm geben zu lassen. Die Diva bleibt allein zurück und betrachtet vom Fenster aus das Feuerwerk am Abend des französischen Nationalfeiertags 14. Juli.

Auf einem Foto im Booklet zeigt sich der Komponist als Verdi verkleidet, während sein Partner als Puccini auftritt. Dessen Musik, mehr noch die Massenets, scheint das Idiom Wainwrights beeinflusst zu haben, das im Zentrum des Werks stehende Duett aus der fiktiven Oper Alinéor  (á la Citizen Kane) erinnert stark an Berlioz´ „Nuit d’ivresse“, die Harmonik ist effektvoll, auch wenn das oft eigentlich nicht zur Handlung passen mag, ein musikalisch irrlichterndes Flimmern und Flirren durchzieht das gesamte Werk, das abgesehen von manchen Extremhöhen, die aber handlungsbedingt sind, sehr singbar ist. Der Vorwurf der Gefälligkeit dürfte nicht ausbleiben, nichts Bahnbrechendes, aber durchaus Brauchbares und dankbare Rollen, wenn auch an Kitsch und Klischee  gemahnend, kann der Hörer erwarten.

Die Partie der Madame Régine Saint Laurent wird von Janis Kelly gesungen, deren sonstiges Repertoire zwischen Despina und Marschallin angesiedelt ist. Der Sopran ist recht dunkel getönt, kann einen hysterischen Anstrich annehmen wie auch den Ausdruck des Entrückten. Marie, der mitfühlende Dienstbote, lässt im sehr hellem, unerweckt klingendem Sopran von Kathryn Guthrie nicht das Schicksal der von Mann und Kindern stark beanspruchten Frau aus dem Volk erkennen, er klingt oft gläsern klirrend und hat Probleme mit der Extremhöhe. Einen herben, hellen, etwas trockenen Tenor, der auch ätherisch klingen kann, hat Antonio Figueroa für den Journalisten André Letourneur, der Bariton Richard Morrison singt mit zunächst dumpfer, später im Schwelgen in Erinnerungen angenehm sonorer Stimme. Es gibt zwei stumme Rollen mit der Braut des Journalisten und einem weiteren Diener. Jayce Ogren leitet das BBC Symphony Orchestra und lässt es in üppigen Tönen schwelgen (DG 479 5340). Ingrid Wanja

Primadonna del Melodramma

 

Sie ist 90 Jahre geworden – unglaublich. Und sieht keinen Tag älter als maximal sechzig aus, unglaublich – was für eine schöne und immer noch betörende Frau. Operngeschichte und Superstar in einer Legende vereint. Herzlichen Gückwunsch!!!

Im zweiten Schub der „Most wanted recitals“ der Decca findet der Sammler und Stimmenliebhaber eine CD mit Virginia Zeani mit dem unverfänglichen Titel: Operatic Recital, umseitig dann entdeckt man mit Freude angeschnitten die Puccini Arias, die eine unter Altmeister Gavazzeni aus Florenz in Mono 1956 und erstmals als CD, die (ehemals auf Belart/Polygram) wiederveröffentlichte andere unter dem feurigen Patané in Stereo aus Rom 1958. Che gioa, ruft man aus – die wunderbare Virginia Zeani in exzellentem Sound (bei popeliger Ausstattung) und in ihrem Kernrepertoire, allen Opernliebhabern unbedingt zu empfehlen! In unsere Zeit der verwaschenen Globalisierung leuchtet diese ungewöhnliche und hochindividuelle Stimme zu uns herüber.

zeani decca coverObwohl  in Bukarest/ Rumanien am 21.  Oktober  1925 geboren, wurde  Virginia  Zeani  stets  in  erster  Linie  für  eine  italienische Sängerin gehandelt, schon weil sie – abgesehen von der italienischen Schulung der Stimme – bereits seit 1948 in ltalien wohnte. Sie hatte zudem eine italienische Mutter. Sie hatte wie die meisten rumänischen Sänger eine solide Ausbildung in Geschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft  erhalten und hatte während  ihrer Jugend  in ihrem Heimatland bereits Gesang  bei der ehemals berühmten russischen Koloratursopranistin Lydia Lipowska genommen. Als sie als junge Frau in Mailand, damals die Gesangs-Metropole, eintraf, begann sie ihren Unterricht bei dem unvergleichlichen Star-Tenor der 30er und 40er, Aureliano  Pertile. Er war es auch, der seine Elevin überredete, eine erste Vorstellung einer Traviata in Bologna zu übernehmen, die in letzter Minute durch den Ausfall des vorgesehenen Soprans bedroht war (die berühmten Zufälle!, die Parallele zur Callas drängt sich auf). Die Zeani übernahm also innerhalb kürzester Zeit diese Partie und hatte ihren ersten soliden Erfolg, so sehr, dass sie die Rolle bald in anderen Häusern, z. B. Turin, sang. Die Violetta wurde zu einer Erkennungspartie, einem Markenzeichen ihrer langen Karriere. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon optisch als sehr schöne Frau für diese Rolle besonders geeignet, besaß sie doch bereits damals ihre warme, sehr persönlich timbrierte und ungemein flexible, glottisreiche und tiefendunkle Stimme, deren langen Atem, lange Bögen und ungeheure lntensität sie mit einer überaus attraktiven Buhnenerscheinung und natürlichem, engagiertem Spiel verband.

Virginia Zeani: als Cleopatra an der Scala/T

Virginia Zeani: als Cleopatra an der Scala/T

Die italienische Opernwelt war für sie offen: das Teatro Massimo in Palermo (stets ein Testfall für Erfolg), San Carlo in Neapel, die Arena di Verona, das Teatro Costanzi in Rom und natürlich Mailands traditionsreiche Scala, an der sie 1956 ihr Debüt als Händels Cleopatra gab. lhr Repertoire umfasste nun die üblichen Koloraturrollen, aber sie fügte dem bereits jetzt die interessanteren, schwereren hinzu: Thais, Margherita/Boito, Butterfly, Manon, Elsa (!) und die weibliche Hauptrolle in Mascagnis Piccolo Marat (Mariella). 1957 hatte sie die Ehre, in einem illustren Kreis (u. a. mit Leyla Gencer und Margherita Carosio) in der Uraufführung von Poulencs Dialogues des Carmelites an der Scala mitzuwirken, und auch die Rossini- und Donizetti-Rollen, für die sie spater so berühmt war, kündigten sich mit Maria di Rohan und Otello an.

Virginia Zeani: als Zelmira/T

Virginia Zeani: als Zelmira/T

Sie beschränkte ihre Auftritte nicht auf ltalien: London (am Stoll­ Theatre mit Sängern wie  Bergonzi, Raimondi, Mascherini  u. a. in Rollen wie Lucia di Lammermoor oder Violetta), Wien, Paris, Lissabon, dann in  Spanien, der Schweiz, Griechenland. Selbst Südafrika und Ägypten waren ihr nicht zu weit. In den USA hörte man sie vergleichsweise selten. Abgesehen von zwei Vorstellungen als Violetta an der Met (1966) und einem Auftritt als Elena in Vespri siciliani beim Newport Festival am 23. August 1967 im Gastspiel der Met sang sie weder hier noch an anderen wichtigen Häusern der USA: Möglicherweise wegen des damaligen überwaltigenden Erfolges der Moffo als Violetta waren ihr diese Möglichkeiten versperrt.

Virginia Zeani: als Tatjana/T

Virginia Zeani: als Tatjana/T

Die Reaktionen auf die Traviata der Zeani in Amerika waren eher unauffällig. Wie stets war es die Carnegie Hall in New York, die sich um die weniger Prestigereichen kümmerte. Als Cleopatra gab sie eine umjubelte Konzertvorstellung. Ihr eigentliches  Amerika-Debüt fand 1958 in Philadelphia in derselben Rolle (neben Siepi, Nikolaidi und Flagello) statt.  Der große amerikanische Kritiker Max de Schauensee lobte damals ihre außergewohnlich flexible, warme Stimme,  deren individuelle Farben, traumwandlerische Sicherheit und enormen Umfang neben der einmaligen Koloratursicherheit. Alles fand sich zu einem stimmlichen wie inhaltlichen Ausdruck zusammen, wie man es bis dahin selten gehört hatte (und seitdem kaum, wenn überhaupt,  wieder erlebt hat!). Das Einmalige an der Zeani-Stimme, so schien es de Schauensee wie auch vielen anderen, waren vor allem ihr Engagement und ihre absolute lntonationssicherheit des Tons, den sie stets von der Mitte her attackierte – in klassischer Manier und bei idealem Fokus.

Virginia Zeani: mit Ehemann und Kollegen Nicola Rossi Lemeni/T

Virginia Zeani: mit Ehemann und Kollegen Nicola Rossi Lemeni/T

Aus einer wirklichen amerikanischen Karriere wurde also nichts. Sie ging zurück nach ltalien, wo sie Nicola Rossi Lemeni, den berühmten Bass der Nachkriegszeit, heiratete. Wieder folgten Traviata in Florenz, Butterfly im Fenice; ihre Stimme wurde – wie die Kritik mit Freude anmerkte – dramatischer, üppiger, bei kleinen Einbußen der exponierten Höhe – der übliche Preis für die dramatischeren, charaktervolleren Partien, die ihr nun immer häufiger angeboten wurden. Magda in Il Console von Menotti 1972 wurde zu einem enormen Erfolg für sie, die sich zunehmend auf die großen Verismo-Rollen spezialisierte: Fedora, Adriana, Tosca und auch  Margherita/Mefistofele.

Es sind diese Rollen, mit denen sie bis in die späten Sechziger noch ihre großen persönlichen Erfolge haben konnte, wenngleich sie in kluger Selbsteinschätzung (und sicher auch beraten von Rossi Lemeni)  begonnen hatte, eine zweite Karriere als Lehrerin, zusammen mit ihrem 1991 verstorbenen Mann oder auch in Meisterkursen allein, zu erarbeiten, als feste und als Gast-Professorin in den USA, Europa und Neuseeland. Heute lebt sie in Bloomington (Indiana) und in Florida.

Virginia Zeani: Erfolgspartie Lucia di lammermoor/T

Virginia Zeani: Erfolgspartie Lucia di Lammermoor/T

Wie bereits erwähnt, zeichnet sich die Stimme der Zeani in erster Linie durch ihr exzeptionelles Timbre aus, das  unterschiedliche und sehr persönliche Reaktionen hervorruft. Sie hat durchaus nicht eine „bequeme“, nur schöne Sopranstimme, sondern eine höchst individuelle, dramatische (oft auch im besten Sinne melodramatische), deren ungeheure Leistungsfähigkeit und Beteiligung ihre Rollendarstellungen zu außergewöhnlichen Erfahrungen macht, die den Hörer nie kalt lassen. Das warme Timbre, die eigenwilligen Glottis-Einlagen und unverhohlen theatralischen Effekte erinnern an die ältere Kollegin Olivero, mit der sie das Engagement und die Bedingungslosigkeit des Einsatzes gemeinsam  hat. Auch die Callas blieb auf die Zeani nicht ohne Einfluss, was deren Rollen betraf. Elvira, Zelmira, Maria di Rohan, Amina, Alzira, Rossinis Desdemona gingen unzweifelhaft auf das von Maria Callas geweckte lnteresse an unbekannteren Belcanto-Opern zurück. Sie selbst hat übrigens einmal gesagt, dass Maria Callas wohl die bedeutendste Sängerin jener Zeit gewesen sei, was für einen gesunde Selbsteinschätzung spricht.

Virginia Zeani: als Margherita/Boto in Rom/T

Virginia Zeani: als Margherita/Boito in Rom/T

Die offizielle Schallplattenindustrie ist an ihr, wie an vielen Sängern ihrer Zeit, stiefmütterlich vorübergegangen. An Studio-Aufnahmen gibt es ein Arien-Recital mit der Auswahl ihrer Erfolgspartien (Lucia, Violetta, Mimì) unter Gavazzeni bei London – nun erstmals (!!!) als CD erschienen, sowie ein (dto.!!!) Puccini-Recital unter Patané (ebenfalls bei Decca in der neuen Serie der „Most wanted“) sowie ein Verdi/Puccini-Recital unter Brediceanu (auf der heimischen Electrecord). Bei Philips gab´s ein Verdi/ Rossini-LP-Album (Otello-Auszüge mit ihrem Mann, Garaventa und Zedda) sowie zwei Traviata-Einspielungen: eine Gesamtaufnahme in gekürzter Form unter Annovazi (LP/ ML) und komplett mit Herlea/ Buzea unter Bobescu (ehemals Electrocord, nun Carlton u.a./CD). Ein Querschnitt derselben Aufnahme erschien bei Europa/Billiglabel (oder Joker/ltalien dto).

Dass die Zeani auch Frühe Musik singen konnte, zeigen nicht nur ihre Giulio Cesare-Ausschnitte (live), sondern auch eine köstlich-humorvolle Aufnahme der Serva padrona mit ihrem Ehemann Nicola Rossi Lemeni (ehemals bei Saga/LP, inzwischen wie viele ihrer anderen Aufnahmen als Billig-CD auf manchen Labels  im Warenhaus). Eine Tosca aus Bukarest/Electrocord im Studio gibt´s wieder verramscht bei Carlton u. a.

Virginia Zeani: Publicity shot als Violetta/Ferrandina

Virginia Zeani: Publicity shot als Violetta/Ferrandina

Wie stets in diesen Fällen der Großen, Unterrepräsentierten, geschah es auch hier, dass die private lndustrie ihr die Ehre einer späten Hommage angetan hat. Die inzwischen verblichene Firma Replica hatte in hervorragendem Stereo ihren RAl-Otello von Rossini als Mitschnitt der berühmten Radio-Produktion von 1960 herausgegeben (CD bei GOP und Opera d´Oro), bevor sie damit 1962 in Rom und 1963 in New York und Berlin (am Theater des Westens, auch davon gibt’s einen technisch schwierigen Mitschnitt) ihre großen Erfolge hatte; von der New Yorker Vorstellung gibt es ebenfalls einen – technisch nicht sehr guten – Stereomitschnitt bei MRF/LP. Weiterer Rossini kommt von dem Mitschnitt ihrer berühmten Zelmira (1965 Neapel/LP/MRF 93, auf CD bei GOP und anderen/Opera d´Oro). Weitere Gesamtaufnahmen mit der Zeani, die sie maßstabsetzend in den jeweiligen Partien finden, haben Sammler schon lange. Die Carmelites gibt es als Premierenmitschnitt, Verdis Otello aus Rom 1962 mit McCracken und unter Serafin (LR), Alzira ebenfalls aus Rom 1967, die Tosca live (mit Domingo 1975 in Barcelona, LR – die Brüder Ferrandina aus New York betrieben die Firma Legendary Recordings und waren die wichtigsten Promoter für Aufnahmen der Zeani, die mit ihnen befreundet war). Mercadantes Elisa e Claudio als LP-Memento gab es komplett auf CD bei Melodram, Mefistofele liegt als spärlicher LP-Querschnitt von LR vor, die Adriana von 1974 aus Catania gibt es in großen Teilen ebenso wie die wunderbare Fedora (mit Domingo) von 1968 auf LR, auch ihre Manon Lescaut aus Barcelona 1978. De Banfields Oper Alissa gab es mit der Zeani bei Melodram/CD. Il Piccolo Marat von Mascagni aus Livorno bei Foné wurde bereits erwähnt,  einen weiteren von 1962 aus San Remo gab´s dto. live bei Fonit Cetra. Außergewohnlich ist sicher auch ihre Antonida in Glinkas Una vita per lo Zar unter Simonetto 1954 bei der RAI Milano (auf CD ehemals bei GOP). Gala hat eine Live-Traviata aus Neapel mit Savarese und Raimondi 1956 unter Questa. Die interessantere ,,inoffizielle“ erschien als ausgiebiger Querschnitt bei LR als Übertragung zweier Vorstellungen in London 1960 und 1966 (mit William McAlpine). RCA/Eurodisc hatte mal die Manon Lescaut aus Rom mit Richard Tucker unter Thomas Schippers im Programm, live. Bongiovanni veröffentlichte auch ihre Puritani aus Triest mit Mario Filippeschi unter Molinari-Pradelli.

Virginia Zeani: Treffen mit berühmten rumänischen Kolleginnen (Mariana Niicolesco links und Eugenia Moldeveanu/rechts)/OBA

Virginia Zeani: Schwatz mit berühmten rumänischen Kolleginnen (Mariana Nicolesco links und Eugenia Moldoveanu/rechts)/OBA

Neben unendlich vielen Einzelaufnahmen bei verschiedenen LP-Firmen, die nicht wirklich ausreichend auf CDs erschienen sind, gibt es in zwischen Volume 1 – 4 an Live-Zusammenstellungen bei Bongiovanni. Schließlich ist bei Bongiovanni ihre Gilda unter Sanzogno von 1955 RAI Mailand auf CD erschienen. Hier wie in ihren Verismo-Aufnahmen (wenn man Puccini mit dazu rechnen darf) betört der Klang der Zeani-Stimme und beeindruckt ihr Engagement, das rücksichtslos über mögliche stimmliche Bedenken sich sein Durchschlags-Vermögen bis zum Ende der Karriere bewahrt hat. So auf einem späten Recital, das sie zusammen mit Franco Corelli Anfang 80 in New York gegeben hat (LR-LP), und dem man entnimmt, dass die Stimme im Grunde genommen nichts von ihren charakteristischen Eigenheiten verloren hatte.

Virginia Zeani: Rumänien 2011

Virginia Zeani: Rumänien 2011/Net

Die oben erwähnten Tondokumente stellen nur eine subjektive Auswahl dar und sind im Einzelnen begehrte Sammlerstücke geworden, weil die Umschnitte von den Live-LPs auf CD nur zögerlich erfolgten und das Copyright-Gesetz nun einer weiteren Verbreitung Sperren setzt.Von Virginia Zeani gibt es weitaus mehr Aufnahmen  unter Sammlern, so Alfanos Resurrezione mit Limarilli, Neapel 1975, sogar eine Senta von 1970 und vieles, vieles mehr, und es ist zu hoffen, dass sich engagierte Firmen weiterhin um diese heute nur noch den aficionados bekannte bedeutende Singschauspielerin des letzten Jahrhunderts  bemühen.

Deshalb ist die Erst-/Wieder-Veröffentlichung ihrer beiden Decca-LPs auf einer CD im Rahmen des unschätzbaren „Most wanted“-Projektes der Decca so lobenswert. Technisch sensationell aufgebessert klingt die Stimme der Zeani aus ihrer Bestzeit unvergleichlich und unglaublich packend herüber. Danke Decca!  Ohne die Zeani wäre die Welt der italienischen Oper ärmer gewesen: Sie ist in Wahrheit die Primadonna del melodramma bis heute. Geerd Heinsen

Virginia Zeani: Operatic recital (Donizetti, Bellini, Verdi, Puccini); Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino; Leitung – Gianandrea Gavazzeni; Bonus: Virginia Zeani – Puccini Arias; Orchestra dell´Accademia di Santa Cecilia, Roma; Leitung – Franco Patané; Decca 480 8187

 

(Mit  Dank  an  Karl-Friedrich Trieselmann  für die  ergänzenden Angaben und – soweit nicht anders gekennzeichnet – auch für die Fotos, die seiner umfangreichen und Staunen machenden Zeani-Sammlung entnommen sind/T!)

Und die „offizielle“ website für Virginia Zeani: http://virginiazeani.com/

 

Große Emotionen

 

Die armenische Sopranistin Karine Babajanyan ist eine Sängerin, die mit ihren Rollenporträts tief berührt. Am Samstag, dem 24. Oktober 2015,  debütiert sie in der Premiere von Mefistofele an der Bayerischen Staatsoper München, deshalb nun ein Gespräch für operalounge.de mit Tomothy McNeill.

Karine Babajanyan/ Foto Katalin Karsay

Karine Babajanyan/ Foto Katalin Karsay

Tränen fließen, es werden reihenweise Taschentücher gezückt,  das Publikum bricht in orkanartigen Jubel aus. Wir befinden uns in der Staatsoper Stuttgart im Dezember letzten Jahres. Karine Babajanyan, ehemals langjähriges Ensemblemitglied des Staatstheater Stuttgart, hat gerade einspringenderweise den Abend gerettet und dabei eine Bilderbuch-Butterfly gesungen: Mit dunklem, samtenem Timbre, geschmackvoller Phrasierung, unendlichen stimmlichen Kraftreserven und der Fähigkeit, die Zuschauer mit ihrer Interpretation tief zu berühren, gar zu erschüttern. Die Sopranistin ist für mich eine der ganz wenigen Sängerinnen, die auf so direkte Art und Weise ihr Publikum erreichen, und das nicht nur als Cio-Cio-San, sondern in einem erstaunlich breiten Repertoire. Neben Puccini tritt sie unter anderem in Partien Verdis, Giordanos, Bellinis, Mozarts, Janáceks, Tschaikowski und Halévys auf. An der Bayerischen Staatsoper debütiert sie nun als Elena in Roland Schwabs Neuproduktion von Boitos Mefistofele an der Seite von Joseph Calleja, René Pape, Kristine Opolais und dirigert von Omer Meir Wellber. Im Interview vor der Premiere berichtet die faszinierende Sängerin von der Münchner Produktion, ihrer Paradepartie Madama Butterfly und den Dreharbeiten zum Bond-Blockbuster „Ein Quantum Trost“, in dem sie in einer kurzen Szene als Tosca mitgewirkt hat.

Karine Babajanyan: als Ariadne   an der Deutschen Oper am Rhein 2015/ Foto: Hans Jörg Michel

Karine Babajanyan: als Ariadne an der Deutschen Oper am Rhein 2015/ Foto: Hans Jörg Michel

Sie sind sicher momentan eine der vielseitigen Sopranistinnen. In Ihrem Repertoire findet man sowohl Partien Mozarts, als auch Verdis, Puccinis, Janáceks, Bellinis und Strauss, um nur einige zu nennen. Wie hält man die Stimme nach großen Verdi- und Puccini-Partien noch flexibel für Mozart und Belcanto? Ich habe mir dieses breite Repertoire in mehr als 15 Jahren hart erarbeitet und kann mich sehr glücklich schätzen, dass ich damals als junge Sängerin diese wunderschönen Partien mit Lust und Neugier singen durfte. Allerdings würde diese Leistung nicht ohne Disziplin und einer soliden Gesangstechnik funktionieren. Im großen und ganzen singe ich alle Partien mit der gleichen Technik, es ist wichtig, sich für einzelne Stücke Zeit zu nehmen und sie rechtzeitig einzustudieren.

Karine Babajanyan als Amelia in "Un ballo in maschera", Burgplatz Open Air Braunschweg, Juli 2015 (mit Luca Grassi als Renato)/ Foto: Volker Beinhorn

Karine Babajanyan als Amelia in „Un ballo in maschera“, Burgplatz Open Air Braunschweg, Juli 2015 (mit Luca Grassi als Renato)/ Foto: Volker Beinhorn

Ab dem 24. Oktober stehen Sie als Elena in der Neuproduktion von Mefistofele an der Bayerischen Staatsoper München auf der Bühne. Können Sie uns etwas über die Produktion verraten? Wie sehen Sie die Rolle der Elena? Welche stimmlichen Anforderungen birgt die Partie? Ich bin sehr glücklich, an der Bayerischen Staatsoper zu debütieren. Die Partie der Elena ist das beste, was mir jetzt passieren konnte. In einer ganz kurzen Zeit habe ich die Möglichkeit, fast alle meine Erfahrung, die ich als Sängerin besitze, zu zeigen. Es variiert zwischen lyrischen und dramatischen Passagen. Man hat nicht wie gewöhnlich eine Aufwärmzeit und muss in einer ganz kurzen Zeit sehr präsent sein. Die Partie der Elena fordert viel Konzentration und Sprachkenntnis, denn es wird auch fast deklamiert. Nach der dramatischen Troja-Erzählung muss man bereit sein, sehr schöne Legato-Kunst zu zeigen. Und eine gewisse Leichtigkeit in der Stimme zu präsentieren. Über die Produktion verrate ich am besten nichts, es soll spannend bleiben bis zur Premiere. Das Einzige, was ich verraten kann ist, dass wir uns im IV. Akt nicht im antiken Griechenland befinden.

Wie würden Sie die Entwicklung Ihrer Stimme über die Jahre beschreiben? Mit jeder neuen Partie habe ich persönlich eine Entwicklung meiner Stimme erreicht. Die Stimme wird reifer und erfahrener. Sie hat an Fülle gewonnen. Wie spürt man, ob man bereit für eine neue Partie oder eine Facherweiterung ist? Zunächst einmal ist es wichtig, ob ich mich in dieser Rolle sehe, und ob die Anforderungen der Rolle meiner stimmlichen Lage entsprechen. Anschließend wende ich mich den Menschen zu, die ich schätze und die mir bei dieser Entscheidung helfen. Die Intuition spielt natürlich auch eine wichtige Rolle.

Karine Babajanyan als Rachel/ "La Juive" am Opernhaus Zürich 2011/ Foto: Suzanne Schwiertz

Karine Babajanyan als Rachel/ „La Juive“ am Opernhaus Zürich 2011/ Foto: Suzanne Schwiertz

Welche Rolle hat Mozart in Ihrer Karriere gespielt? Tatsächlich hat Mozart eine sehr wichtige Rolle in meiner Karriere gespielt. Meine allererste Aufgabe als Solistin (damals im Chor) war das Mozart-Requiem, was ich sehr oft gesungen habe. Dann hat meine Solo-Karriere angefangen. In meinem Repertoire sind Mozart-Rollen wie Gräfin, Fiordiligi, Donna Elvira sowie Elettra. Ich wünsche mir auch heute noch Mozart zu singen, denn das bestätigt den guten stimmlichen Zustand einer Sängerin.

Als Ihre Paradepartie gilt die Madama Butterfly, eine Rolle, die alle Reserven einer Sopranistin fordert, vor allem wegen der Länge der Partie. Das könnte eine gute Vorbereitung für die Anforderungen des dramatischen Fachs sein – ist in Richtung Wagner etwas geplant? Welche Wagnerrollen würden Sie interessieren? Ja, die Cio-Cio-San, ist eine Rolle die ich sehr schätze und am meisten gesungen habe. Neben allen gesanglichen Schwierigkeiten und Längen der Partie, freue ich mich immer, wieder diese Rolle zu spielen und die tragische Geschichte der Geisha zu erzählen. Als erste Wagnerpartie wünsche ich mir die Elisabeth.

Welchen Komponisten ziehen Sie als Sängerin vor? Und die Musik welches Komponisten hören Sie am liebsten? Es fällt mir schwer, unter mehreren meiner Lieblingskomponisten jemanden vorzuziehen. Ich höre in meiner Freizeit sowohl klassische Musik als auch Jazz und andere Genres. Ab und zu werde ich sehr nostalgisch und höre armenische Musik. Gibt es bestimmte Traumpartien? Es gibt einige Traumpartien, die ich singen möchte. Diese wären u.a.: Marschallin, Adriana Lecouvreur, Lisa (Pique Dame) und Sieglinde.

Karine Babajanyan und Sebastien Soules bei der "Tosca"-Präsentation der Bregenzer Festspiele, die Schauplatz des James-Bond-Filmes "Ein Quantum Trost" mit Daniel Craig ist/ Trailer youtube

Karine Babajanyan und Sebastien Soules bei der „Tosca“-Präsentation der Bregenzer Festspiele, Schauplatz des James-Bond-Filmes „Ein Quantum Trost“ mit Daniel Craig/ Trailer youtube

Im James Bond Film „Ein Quantum Trost“ sind Sie als Tosca in einer Szene zu sehen, die während einer Aufführung bei den Bregenzer Festspielen spielt. Wie denn die Dreharbeiten berichten? Die Dreharbeiten waren ungewöhnlich, weil wir in der Nacht drehen mussten. Die Vorbereitungen waren ebenfalls interessant. Die Kostümanprobe z.B. in meiner Wohnung in Stuttgart, wo die ganze Mannschaft aus London plötzlich bei mir Zuhause war und mich eingekleidet und dazwischen über Stars wie George Clooney geplaudert hat, war eine interessante Erfahrung. Mein Kostüm hat die berühmte Designerin Vivienne Westwood entworfen. Überhaupt zu erleben, wie eine der berühmtesten Spielfilme entsteht, war ein großartiges Erlebnis!

 

Biografie: Karine Babajanyan schloss ihr Gesangsstudium am Konservatorium von Eriwan mit Auszeichnung ab und perfektionierte ihre Technik in Rom bei Mirella Parutto sowie in Stuttgart bei Dunja Vejzovic. Ihre künstlerische Laufbahn begann die armenische Sopranistin am Nationaltheater von Jerewan, verlegte ihren Karriereschwerpunkt aber schnell nach Deutschland, wo sie erst unter anderem in Berlin, Essen, Hannover, Koblenz und Bielefeld auftrat, bevor sie von 2003 bis 2011 ins Ensemble der Stuttgarter Staatsoper wechselte. Dort erarbeitete sie sich ein breites Rollenspektrum, das Partien wie Contessa in Le nozze di Figaro, Elettra in Idomeneo, Leonora in Il Trovatore, Tatiana in Eugen Onegin, Carmen, Mimi in La Bohème, Tosca und Norma umspannte.

Karine Babajanyan/ Foto Katalin Karsay

Karine Babajanyan/ Foto Katalin Karsay

In einem außergewöhnlich umfangreichen Repertoire trat die Sängerin in Gastverpflichtungen unter anderem an der Berliner Staatsoper (Cosí fan tutte), der Hamburgischen Staatsoper (Madama Butterfly, Ariadne auf Naxos), der Oper Frankfurt (Madama Butterfly), der Semperoper Dresden (La Bohème), dem Opernhaus Zürich (La Juive), dem New National Theatre Tokyo (Madama Butterfly), der Oper von Peking (Un ballo in maschera), der New Israeli Opera Tel Aviv (La Juive und Jenufa), den Bregenzer Festspielen (Tosca, Aida und Andrea Chénier), dem Grand Théâtre Genf (Madama Butterfly), der Finnischen Nationaloper Helsinki (Così fan tutte), der Königlichen Oper Kopenhagen (Così fan tutte), der Ópera de Bellas Artes Mexico City (Eugen Onegin), der Vlaamse Opera Antwerpen (Madama Butterfly, Don Carlos und Don Giovanni), in Warschau (Don Carlo), den Opernhäusern von Basel (Eugen Onegin und Norma) und Bern (Mazeppa) auf. In der Spielzeit 2014/2015 war sie in der Titelpartie von Ariadne auf Naxos in Düsseldorf, in Madama Butterfly in Stuttgart, als Maddalena in Andrea Chénier und Amelia in Un ballo in maschera in Braunschweig, in ihrem Rollendebüt als Alice Ford in Falstaff in Essen und in einem Galakonzert als Carmen mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen zu erleben. 2015/2016 folgt Karine Babajanyans Debüt an der Bayerischen Staatsoper als Elena in einer Neuproduktion von Mefistofele, Ariadne auf Naxos an der Deutschen Oper am Rhein Duisburg, Verdis Requiem in der Stuttgarter Liederhalle und ein Liederabend im Palast der Künste Budapest.Karine Babajanyan hat mit Dirigenten und Regisseuren wie Daniel Oren, Carlo Rizzi, Nicola Luisotti, Robin Ticciati, Lothar Zagrosek, Muhai Tang, Stefan Soltesz, Alexander Joel, Helmut Rilling, Piergiorgio Morandi, Jonathan Nott, Carlo Montanaro und Julian Kovatchev; Peter Konwitschny, Philipp Himmelmann, Graham Vick, Jossi Wieler, Tatjana Gürbaca, Monique Wagemakers, Michael Schulz und Dietrich Hilsdorf gearbeitet. Die „Puccini-Sängerin der absoluten Sonderklasse“ (Das Opernglas) hat an der Seite von Giuseppe Giacomini für EMI eine CD mit Arien und Duetten Giacomo Puccinis aufgenommen (September 2015). Weitere Details zur Künstlerin finden sich auf ihrer website; Foto oben Karine Babajanyan alsTosca bei den Bregenzer Festspielen/ Foto Karl Forster/ K. B.

„Les Mystères d’Isis“ von Wenzel Lachnith

Wenzel Lachnith, Stich von Pazzi/OBA

Wenzel Lachnith, Stich von Pazzi/OBA

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Lachnith? Oder Lachnitt? Nie gehört, und erst ein Blick auf die französische Wikipedia-Seite bringt Erkenntnis, denn Louis Wenceslas/Wenzel Lachnith (1746-1820) war ein böhmischer Komponist, der im ersten Drittel des nachrevolutionären Jahrhunderts in Paris lebte, aber davon mehr später. In das Blickfeld unserer Tage getreten ist er mit seiner sehr unbekümmerten Neuschöpfung der Mozartschen Zauberflöte im November 2013 im Konzert unter Diego Fasolis in der Pariser Salle Pleyel (mit Chantal Santon-Jeffery, Marie Lemormand, Sébastien Droy, Tassis Chrstoyannis und anderen sowie dem Concert spirituel und dem Chors des Flämischen Radios)   Les Mystères d´isis heißt nun das Werk von 1801, das sich der Zauberflöte bemächtigt hat und diese als Vorlage mit vielen anderen Zutaten für einer veritable Grand Opéra verwendet. Und das nun bei Glossa (2 CD Glossa GES 921628-F – eine Besprechung der musikalischen Leistung von Michele C. Ferrari folgt nachstehend am Ende dieser Artikel)..

 

Jean-Léon Lerôme: Napoleon in Ägypten/ Wiki

Jean-Léon Lerôme: Napoleon in Ägypten/ Wiki

Vorab eine vernichtende Kritik von Hector Berlioz nach seinem Besuch der Isis-Mysterien: „Dann, als diese schreckliche Mischung hergestellt war, gab man ihr den Namen Die Mysterien der Isis, Oper; diese Oper wurde in diesem Zustand vorgestellt und veröffentlicht, mit großer Partitur; und der Arrangeur setzte neben den Namen von Mozart seinen Namen eines Kretins, seinen Namen eines Entweihers, seinen Namen Lachnith, den ich für ein würdiges Pendant zu dem von Castil-Blaze halte! So hat sich mit zwanzig Jahren Abstand jeder dieser Bettler mit seinen Lumpen auf dem reichen Mantel eines Königs der Harmonie gewälzt; so wurden, als Affen gekleidet, durch lächerliche Lumpen herabgewürdigt, ein Auge ausgestochen, ein Arm verrenkt, ein Bein gebrochen zwei geniale Menschen dem französischen Publikum vorgestellt! Und die Henker sagten zum Publikum: Das ist Mozart, das ist Weber! Und das Publikum hat es geglaubt. Und es fand sich niemand, der diese Verbrecher nach ihrem Wert behandelt hat und ihnen wenigstens ein heftiges Dementi entgegengeschleudert hat!“ , schreibt ein empörter Hector Berlioz nach dem Besuch der Mystères d´Isis von Wenzel Lachnith – aber immerhin hatte das so gescholtene Werk bis 1827 mehr als 130 Aufführungen, dem Publikum gefiel´s also. Aber Berlioz´ Verriss wirkt sich bis heute aus, wo man geneigt ist, Lachniths Umarbeitung als ein lächerliches Plagiat zu entlassen. Die moderne Erstaufführung im November 2013 in Paris (wieder einmal in Zusammenarbeit mit dem Palazetto Bru Zane und nun bei Glossa erschienen) gibt Gelegenheit zum Umdenken und zur Neueinschätzung.

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Bühnenbild zu "Le Mystères d´Isis"/Gallica

Bühnenbild zu „Le Mystères d’Isis“/Gallica

Opern-„Bearbeitungen“ in gerade jener Zeit sind keine Seltenheit und entsprechen dem Zeitgeschmack, der zu oft Bekanntes gerne aufhübschte. Niedermayer schrieb seinen Robert Bruce sehr frei nach der Rossinischen Donna del Lago (und auch Rossini war ja als Recycler seiner eigenen Werke bekannt), Berlioz machte aus dem Freischütz Webers eine veritable Grand Opéra mit Rezitativen (und Ballett!), und sogar im 20. Jahrhundert versah der Dirigent Arthur Bodansky an der Met nicht nur den Fidelio sondern auch die genannte Zauberflöte mit Rezitativen, um beide Singspiele für ein nicht deutschsprachiges Publikum leichter zu erschließen. Recht hatte er (Bodansky und nicht Berlioz). Denn die Singspielgattung ist etwas zutiefst Deutschsprachiges (in ihrer Verwandschaft mit der dto. Sprechtext-reichen opéra comique), denn der Weg zu einer Akzeptanz in anderen Ländern hängt oft am gesprochenen Text (naja, aber auch bei uns scheitert manche Aufführung/Aufnahme am abenteuerlich vorgetragenen Sprechtext beider Werke, und selbst der Fidelio bei Philips mit der monströsen Jessye-Norman-Besetzung erlebt sein Waterloo eben bei ihr…, nicht umsonst ließ Walter Legge seine Frau den Dialog der Marzelline/Hallstein doubeln…).

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Mlle Maillard war der Haussopran am Théâtre de la Rwepublique/Gallica

Mlle Maillard war der Haussopran am Théâtre de la Republique/culture.gouv.fr

1801 also gab es am Pariser Theater de la République Les Mystères d’Isis.  Der Text von Schikaneder wurde außerordentlich frei adaptiert von Etienne Morel de Chedeville (1751-1814), einem erfolgreichen Theaterdichter. Der Inhalt des Originalwerks (Die Zauberflöte) war trotz seiner scheinbaren Phantasie eindeutig freimaurerisch. Das war ein enormes Problem in Frankreich, wo die Freimaurerbewegung in der Folge der Revolution offen abgelehnt und diskriminiert wurde. Das Handlungsgerüst wurde also eine Art ägyptomanische Feengeschichte, die dennoch dem „Religiösen“ der Isispriester zu viel Platz lässt, wie die Zeitungen beklagten: Die Oper sei zu lang und es gäbe zu viele Zeremonien, zu viele Auftritte von Priestern und Priesterinnen, zu viele unnötige Prozessionen. Der Inhalt der Oper zeigt, dass der neue Librettist dennoch sehr widersprüchlichen Erfordernissen entsprechen konnte: Der Pflichtenkatalog der Institution, ein gewisser Respekt der originalen Handlung gegenüber, die Adaption der französischen Prosodie (wenn auch bisweilen holprig) in einen mehr oder weniger vorher festgelegten musikalischen Rahmen. Die heftigsten Kritiken der  Presse galten dem Text, nun in Rezitativen, die durch ihre Absurdität zum Lachen reizten. Dennoch wurde das Werk ein Hit. Ebenso wie die Musik erklären auch die opulenten Kostüme und die Bühnenbilder (abgestufte und zum Teil magisch-bläuliche Lichteffekte, die Prüfungsszenen atemberaubend) die Faszination der Pariser mit Lachniths Neuschöpfung. „Man sagt überall, dass die Kostüme brillant sind, die Bühnenbilder großartig, die Ballette göttlich“ betont das  Journal des Débats.

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Dennoch – mit den Mystères startete so eine Art Mozart-Manie in Frankreich, während dessen Rezeption vorher eher dünn gewesen war: Bestenfalls gab es mal Einzelarien in Soloprogrammen der Salons, selbst die Arie der Königin der Nacht wurde in Italienisch gesungen. Und Deutsch als Opernsprache galtn damals – wie das meiste Deutsche – als plump, provinziell und abstoßend. Man mochte die Deutschen nicht, aus gutem historischem Grund. Erst 1829 gab es die erste deutschsprachige Aufführung der Zauberflöte durch eine deutsche Truppe am Théâtre des Italiens, aber erneut in einer zusammengemischten Version. Erst Lachniths Bemühungen um eine profunde Umarbeitung der Zauberflöte präsentierten das Werk eben nicht-deutsch, im scheinbar neuen Gewand der Grand Opéra in vier Akten mit verändertem Orchester und modifizierter, i. e. märchenhafter Handlung, deren Ansiedlung in Ägypten eine durch Napoleons Feldzug durch das Land am Nil neue Basis erhielt und diese ausnutzte. Ägypten wurde ebenso zur Mode wie Mozart (Foto oben: Jean-Lous Jerôme – Napoleon in Ägypten/napoleon historical society).

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Der Startenor Francois Lys/Uni Frankfurt

Der Startenor Francois Lys/Uni Frankfurt

Wenzel Lachnith stammte aus Böhmen und arbeitete 1801 und dann wieder von 1806 bis 1816 als Repetiteur an der Pariser Oper. Er war während der Revolution emigriert und kehrte nun zurück, war bei Philidor ausgebildet worden und hatte mit Kalkbrenner und den neuen „Wilden“ der Frühklassik paktiert (es ist ja erstaunlich, wie viel an künstlerischen und politischen Strömungen in diese wenigen Jahre nach der Französischen Revolution hineingepackt ist.) Er schrieb auch Instrumentalmusik: Symphonien, Konzerte, Streichquintette und Klaviersonaten. Für modernen Ohren ging Lachnith sehr frei bei der „feindlichen Übernahme“ der Zauberflöte vor: Er strich munter in der Originalpartitur herum und fügte Ausschnitte aus Don Giovanni, La Clemenza di Tito oder Le Nozze di Figaro ein. Sogar Anleihen an Haydns Symphonien finden sich (Haydn hatte nicht als Deutscher gegolten und war allgemein anerkannt in Paris, im Gegensatz zu Mozart) und diverse Anleihen bei anderen Kollegen – all das nun transponiert, arrangiert (aus einer Arie kann durchaus ein Terzett werden!), neu orchestriert, eingefasst in einen Wust von riskanten  Übergängen, mit Hilfe von Collagen und noch abenteuerlicheren Schnitten. Zwei Takte von Mozart (mehr oder weniger verändert, denn vor einer Neuorchestrierung schreckt Lachnith nicht zurück) können einer völlig neuen Passage vorangehen, um dann wieder mit einem anderen Ausschnitt von Mozart weiterzumachen… Was das Ballett betrifft, besteht es laut den Kommentaren von 1801 aus einer Mischung von Pleyel, Haydn  und Sacchini.

Das Innere des Théâtre de la République/Gallica

Das Innere des Théâtre de la République/cinema.theaipolis

 Die musikalische Unversehrtheit der Personen wird auch nicht respektiert, ganz im Gegenteil: Monostatos zum Beispiel ist nun aufgeteilt zwischen einer Pseudo-Papagena (Mona, die nichts mehr von der Originalfigur hat) und dem Wächter.  Pamina wird die erste Arie der Königin der Nacht zugeteilt (die hier nur bis zum hohen D geht). Was Bochoris-Papageno betrifft, so besteht er aus Anteilen von Figaro, Don Giovanni und Sesto! Myrrène/Königin der Nacht ist auf Anteile von Vitellia und Donna Anna beschränkt. Ismenor (Tamino) behält seine Originalpartie hauptsächlich nur am Beginn des Werks. Als einziger bleibt Sarastro von diesen erschreckenden Manipulationen einigermaßen verschont. Dennoch – das Ganze ist durchaus ein eigenständiges Werk, und Berlioz´vernichtende Worte vom Beginn treffen nicht wirklich den Kern der Sache, denn nur wenn man die Genesis des Werkes und die zeit-geschmacklichen Umstände berücksichtigt wird man den Mysterien der Isis gerecht. Im Zeitalter der napoleonischen Ära gab es keine Kinos, keine soaps und TV-Serien – schnelle Unterhaltung hatte man auf den Bühnen der Theater, für die Unterschicht ebenso wie für die „bessere“ Gesellschaft. Les Mystères d’Isis sind einem B-Movie mit Joan Crawford in den Dreißigern vergleichbar, den TV-Vorabend-Machwerken unserer Zeit ebenso. Und sagt viel über das Unterhaltungsbedürfnis des damaligen Publikums aus (das auch andere wie Rossini oder Niedermayer wohlfeil bedienten, da ist Lachnith in guter Gesellschaft). Und ein Kuriosum am Rande: Wie populär diese neue Mozart-Mode war, zeigt eine Parodie im Théâtre du Marais: Les Mystères d’Issy, (Die Mysterien von Issy – einem Vorort von Paris!)….. G. H.

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Diego Fasolis/ ilblogdimusica.wordpress.com

Diego Fasolis/ ilblogdimusica.wordpress.com

Die unter dem Label Glossa erschienene Aufnahme bestätigt den guten Eindruck, den man aufgrund des Radio-Mitschnittes gewann. Der Tessiner Diego Fasolis rettete die beiden Pariser Aufführungen nach Erkrankung von Hervé Niquet buchstäblich in letzter Minute, aber das merkt man kaum. Trotz der widrigen Umstände ist der Erfolg dieser Produktion aber vor allem sein Verdienst. Er dirigiert keine französischsprachige Zauberflöte, sondern eine echte französische Oper, die aus Musikstücken der Zauberflöte zusammengesetzt wurde. Sein Dirigat zeichnet sich durch légèreté und rhythmische Rafinesse aus. Fasolis ist ein wunderbarer Begleiter, der seine Sänger auf Händen trägt. Unter ihnen weiß der junge Baß Jean Teitgen am besten zu gefallen. Sein Zarastro hält die Bühne mit Autorität und Eleganz. Von diesem Sänger ist noch einiges zu erwarten. Das Liebespaar erreicht nicht ganz dieses Niveau: immerhin singt Chantal Santon-Jeffery die Pamina zuverlässig und schlägt sich wacker mit der auf Pamina von Lachnith übertragenen Arie „Der Höllen Rache“. Sébastien Droy (Isménor, d.h. Tamino) setzt einen etwas engen Tenor mit gewöhnungsbedürftigem näselndem Timbre ein. Die anderen Künstler können überzeugen, ohne sich besonders hervorzutun: Marie Lenormand (Mona/Papagena), Renata Pokupic (Myrrène/Königin der Nacht), die drei Damen Camille Poul, Jennifer Borghi, die mit ihrem Alt sehr präsent agiert (von ihr ist in Kürze endlich ein eigenes Récital mit französischen Arien von Gluck bis Hérold zu erwarten, Ricercar) und Elodie Méchain sowie Matthias Vidal (Erster Priester) und Marc Labonnette (Zweiter Priester und Wächter). Ein Fall für sich stellt Bochoris/Papageno dar: der erfahrene Tassis Christoyannis muß hier mit einem Text kämpfen, der ihn rhyhtmisch in Schwierigkeiten bringt. Die Schuld liegt aber weniger bei ihm als beim Übersetzer Etienne Morel de Chédeville, der sonst im Übrigen exzellent gearbeitet hat. Der volkstümliche Ton, den Mozart maßgeschneidert für Schikaneder ersann, stand aber hörbar dem französischen Bearbeiter im Wege. Der Flemish Radio Chor und das Concert spirituel sind exzellent. Einziger Wermutstropfen in dieser Produktion ist das dilettantische Editing, welches die beiden Aufführungen ungleichmässig vermischt hat (unterschiedlicher Pegel der Tracks; Fehler in der Zusammenführung wie auf CD 1, track 19 und 20). Trost spendet der einführende Text von Etienne Jardin und Alexandre Dratwicki, der für sich alleine die Anschaffung rechtfertigt. Die Mystères d’Isis sind das ideale Geschenk für alle Liebhaber der Wiener Klassik, die irrtümlicherweise glauben, schon alles zu besitzen. Aber potentielle Schenker seien gewarnt: diese Mozart-Hommage aus dem napoleonischen Paris kann befremdend wirken, etwa wenn Papageno und Papagena die Champagner-Arie aus Don Giovanni zum besten geben. Wenn Sie einem Beschenkten das Weihnachstfest nicht vermiesen wollen, prüfen Sie zuerst, ob er/sie über genügende musikalische Toleranz verfügt, um dieses witzige und wunderbar schwungvoll musizierte Remake zu genießen. Michele C. Ferrari

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Wie populär die Oper war zeigen diese Variationen für Harfe über Themen daraus/Wiki

Wie populär die Oper war, zeigen diese Variationen für Harfe über Themen daraus/Wiki

Zum Inhalt: die Handlung spielt in Memphis. Ouvertüre der Zauberflöte1. Akt: Die Priester von Memphis beten in ihrem Tempel Isis und Osiris an. Sarastro bereitet sich vor, seinen Platz dem Prinzen Ismenor zu überlassen, aber dieser muss Prüfungen bestehen, um seine Tugend zu beweisen. Terzett der Priesterinnen. Ismenor, der sich dem Tempel nähert, wird von einer Flammenwolke zurückgestoßen, die aus den Tiefen des Tempels kommt. Drei Frauen des Gefolges von Myrrène, die aus deren Palast kommen, der gegenüber dem Tempel der Isis steht, bieten ihm Hilfe an, Ismenor kommt wieder zu Sinnen und glaubt, dass ihm seine Verlobte Pamina geholfen hat, deren Bild er um den Hals trägt. Auftritt von Bochoris, einem ägyptischen Hirten. Er beklagt den Tod seines Herren Ismenor, der Sarastro erlaubt hat, Pamina zu entführen ebenso wie Mona, die Dienerin, die er liebt. Die beiden Männer erkennnen einander wieder  und beschließen, ihre Kräfte zu vereinen, um ihre Geliebten aus dem Tempel, in dem sie gefangen sind, zu befreien. Myrènne, Paminas Mutter, kommt mit ihrem Gefolge aus ihrem Palast. Sie schlägt Ismenor vor, Pamina zu befreien und Nachfolger ihres verstorbenen Gatten als König von Memphis zu werden, dessen Platz sich Sarastro widerrechtlich angeeignet hat. Sie gibt Bochoris ein Zauberglockenspiel, um ihn davon zu überzeugen, Ismenor zu begleiten. Die beiden Männer dringen ohne Hindernis in den ersten Hof ein.

2. Akt„Die Szene ändert sich und zeigt eine breite Allee mit Sphinxen, die von den Behausungen des Volks zum Tempel und zu den Plätzen, die den Priestern vorbehalten sind, führt“. Mona und Pamina sind im Begriff zu Myrènne zu flüchten, als sie Bochoris treffen. Beruhigt besingen sie alle drei die Freuden der Liebe. Pamina erfährt von Bochoris, dass Ismenor sie sucht. Die drei Priesterinnen gehen Ismenor voran, der versucht in den Tempel einzudringen; er ist von Sarastro selbst dazu ermutigt worden. Pamina und Bochoris, die von Sklaven gefangen genommen wurden, entfliehen mit Hilfe des Zauberglockenspiels. Auftritt von Sarastro. Pamina bittet ihn um ihre Freiheit, aber der Wächter tritt mit Ismenor auf. Die Rolle des Monostatos ist zwischen dem Wächter und Bochoris aufgeteilt! Sarastro wird Pamina die Freiheit geben, wenn das Paar sich der Macht der Isis unterwirft.

 3. Akt Myrrène (die als Einzige in den Tempel eindringen kann) und Mona suchen Pamina. Die Königin beklagt sich über die Veränderung von Ismenor, der Pamina lieber von Sarastro erhält als von ihr. Sie beschließt sich zu rächen. Sarastro und die Isispriester bereiten die Prüfungen für Ismenor. Ismenor und Bochoris werden in das Innere des Tempels geführt.

Entwurf für Bochoris/Gallica

Lachnith: Entwurf für Bochoris/Gallica

4. Akt In einem unteren Gewölbe des Tempels. Bochoris zittert noch wegen seiner Prüfungen und muntert sich singend auf. Mona, als alte Frau verkleidet, gesteht ihm ihre Liebe, um ihn zu prüfen:  Bochoris weist sie ab, fürchtet aber die Rache der Alten an Mona. Durch sein unglückliches Schicksal verzweifelt, will Bochoris Selbstmord begehen. Mona hindert ihn daran und eröffnet ihm ihren vorherigen Schwindel. Versöhnung. Ismenor besteht die Wasser-, Feuer- und Luftprüfung. Myrenne und ihr Gefolge dringen in den Tempel ein, aber sie wird schließlich besiegt. Sie akzeptiert schließlich die Heirat zwischen Ismenor und ihrer Tochter. Freude. Schlussballett. Geerd Heinsen

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Dazu auch die Wikipedia-Seite für Lachnith, weitere Eintragungen für die Ägypten-Rezeption der Napoleon-Zeit usw. im Netz. Und schließlich wäre nichts zustande gekommen ohne die wieder einmal liebenswürdige Übersetzungshilfe von Ingrid Englitsch in Wien, die wie so oft ebenso klaglos wie rasch die Verständnisvorlage lieferte. Danke! G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

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Vorsicht vor Untermietern!

 

„It happend about eighty years ago, in a dingy house in the Marylebone Road, London, that had seen better day“, heißt es in der Anweisung zu The Lodger.  Durch die Musik von Phyllis Tate fühlen wir uns mitten drin im schäbigen London des späten 19. Jahrhunderts, im Mief eines heruntergewohnten Gästehauses mit seinen schrägen Bewohnern, im ewigen Nebel. Und um die Ecken schleicht Jack the Ripper. Phyllis Tate, die britische Komponistin (1911-87), die mir bislang unbekannt war, hat im Auftrag der Royal Academy of Music da1064 raus eine 1960 uraufgeführte Oper gemacht. Die Grundlage bildet der 1913 erschienene Roman The Lodger (Der Untermieter) von Marie Adelaide Belloc Lowndes, der auch die Vorlage zum gleichnamigen Thriller aus dem Jahr 1927 lieferte (später noch zweimal als Gaslight verfilmt), den Alfred Hitchcock rückblickend als „ersten echten Hitchcockfilm“ bezeichnete.

Die Komponistin Phyllis Tate/ Wiki

Die Komponistin Phyllis Tate/ Wiki

Im Mittelpunkt des Zweiakters steht Emma Bunting, die langsam realisiert, dass der stille, hilfsbereite Untermieter, der sie und ihren Mann finanziell absichert, ein Mörder ist. Der namenlose Untermieter ist offenbar ein psychisch gestörter Mensch, dessen sexuelle und religiöse Besessenheit sich in seiner Verwendung von Sätzen aus der Offenbarung des Johannes zeigt. Es endet damit, dass Emma und ihr Mann sowie ihre Tochter Daisy und der junge Detective Joe aus der Bibel lesen, die der Mieter zurückgelassen hat, „Es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, am größten aber ist die Liebe.“  Dazwischen: Suspense, wie Altmeister Hitchcock sagen würde. The Lodger war Tates einziger Beitrag für die Opernbühne, was nicht weiter erstaunt, nicht etwa, weil die Oper so unausstehlich wäre, sondern weil der geschickte Einsatz des kleinen Orchesters, die Farben und Effekte, die sie damit erzielt, die Verwendung von kleinen Einsprengseln, darunter einem Klarinettensolo, von viktorianischer music-hall-Atmosphäre und Walzern und Polkas, eine kammermusikalische Zierlichkeit besitzt, die wenig bühnentauglich ist. Tate behandelt die Gesangstexte mit Geschmack, ein bisschen im Stil Menottis (The medium) und Brittens, lockert die Rezitative durch geschlossene, gefällige Nummern auf. Bestes Handwerk. Die Reaktionen auf die Uraufführung waren wohlwollend, der bedeutende Harold Rosenthal, Herausgeber des Magazins opera, übertrieb sicherlich, als er schwärmte, „Other than Peter Grimes, this is probably the most successful first Opera by a native composer since the war“.

Die 1964 von der BBC in einer revidierten Form gesendete Oper (Lyrita REAM.2119 mit originalsprachigem Libretto und engl. Beiheft) erlebte im Jahr darauf beim St. Pancras Festival ihre erste professionelle Aufführung. Später ist es völlig ruhig um die Oper geworden. Die BBC-Aufnahme verwendet einen Erzähler (Anthony Jacobs), was den Eindruck eines altmodischen Hörspiels zusätzlich steigert. Mit Charles Groves waltet eine Autorität seines Amtes und kümmert sich während der zwei Stunden um die BBC Northern Singers und das BBC Northern Orchestra, Johanna Peters (die man von den humorvollen Opera-Rara-Aufnahmen kennt und die heute auf dem Board der Firma sitzt) als beunruhigte Emma, Owen Brannigan als ihr Gatte, Marion Studholme als Daisy sowie Joseph Ward mit seinem hohen Bariton als verführerisch klingender Untermieter und dem großen Alexander Young mit seinem feinen Mozart- Rossini-Tenor als Detective Joe bilden das schmale, durch vokale Zuträger abgerundete Ensemble. Rolf Fath

Feuerwerk

 

Bei einer neuen CD von Max Emanuel Cencic darf man immer etwas Besonderes erwarten – sei es hinsichtlich der Programmwahl oder der Interpretation. Auch die jetzt bei Decca veröffentlichte Anthologie von Arien neapolitanischer Komponisten ist ein Ereignis und unter die besten Aufnahmen des Countertenors einzuordnen (478 8422). Er singt Kompositionen von Porpora, Leo, Vinci, Alessandro Scarlatti und Pergolesi; von den elf eingespielten Arien sind nicht weniger als neun Premieren im Katalog.

Das Programm beginnt fuminant mit der Arie des Ulisse, „Quel vasto, quel fiero“, aus Porporas Polifemo, die in ihrer heroischen Bravour symptomatisch ist für den Stil der neapolitanischen opera seria. Der Solist brilliert hier mühelos mit auftrumpfenden Koloraturgirlanden und bewegt sich damit ganz auf den Spuren des legendären Kastraten Senesino, der einst den Ulisse gesungen und dabei nicht minder berühmte Partner wie Farinelli und Francesca Cuzzoni zur Seite hatte. Das Ensemble Il Pomo d’Oro unter Leitung von Maxim Emelyanychev begleitet mit heroischer Verve, wenn gefordert auch mit einfühlsamem lyrischem Gestus und ist dem Solisten bei dieser Einspielung ein inspirierender Partner. Von Porpora folgt später noch die Arie des Titelhelden, „Qual turbine che scende“, aus Germanico in Germania – auch diese gespickt mit Koloraturen, die in diesem Fall einen furiosen Wutausbruch schildern sollen. Hier war der erste Interpret Domenico Annibali, der ebenfalls eine Weltkarriere machte. Cencic betört mit einer perfekt ausgeglichenen und gerundeten Stimme sowie stupendem Zierwerk.

Sogar mit drei Stücken vertreten ist Porporas Zeitgenosse Leonardo Leo, der Metastasios Libretto Demetrio nicht weniger als viermal vertonte. Cencic singt aus der Version von 1735 die Arie des Demetrio „Dal suo gentil sembiante“, ein getragenes, kantables Stück, in welchem der Counter seine sanft kosende Stimme wunderbar ausschwingen lässt und für einen willkommenen Ruhepunkt zwischen den heldischen Nummern sorgt. Zwei Fassungen des Demetrio enthielten die Arie „Non fidi al mar“ , doch ist diese auch in dem 1740 in Mailand uraufgeführten Scipione nelle Spagne enthalten. Hier singt sie Indibile – und Cencic macht sie mit auftrumpfendem Aplomb und virtuoser Attacke zu einem Höhepunkt der Auswahl. Aus Siface erklingt die Arie des Titelhelden „No, non vedete mai“, welche der berühmte Altkastrat Giovanni Carestine kreierte, der besonders in getragenen, empfindsamen Arien große Wirkung zu erzielen wusste. Auch diese hier ist von solchem Charakter – elegisch, innig und tröstlich. Cencic demonstriert mit solchen Stücken nicht nur die Schönheit seiner Stimme, sondern sorgt geschickt für willkommene Abwechslung im Programm.

Max Emanuel Cencic/ Foto Hoffmann/ Decca

Max Emanuel Cencic/ Foto Hoffmann/ Decca

Durch die jüngsten szenischen Aufführungen von Artaserse und Catone in Utica wurde der Komponist Leonardo Vinci der Vergessenheit entrissen. Cencic singt aus Eraclea die Arie des Decio „In questa mia tempesta“ – eine dreiteilige Sturmarie mit fulminantem Koloraturwirbel, die vom Orchester mir erregtem Duktus aufregend eingeleitet wird. Der Sänger kann hier seine virtuose Kunstfertigkeit mit Koloraturläufen und getippten staccati imponierend zeigen.

Die Spitzenposition im Programm behauptet Alessandro Scarlatti mit nicht weniger als vier Arien – und jede stammt aus einem anderen Werk. Da gibt es kontrastreiche Stimmungen mit Arontes introvertiert-entrücktem „Miei pensieri“ aus Il prigioniero fortunato, Cambises energischem „Tutto appoggio“ aus Il Cambise, Policares zärtlichem „Care pupille belle“ aus Il Tigrane und Puppienos innigem  „Vago mio sole“ aus Massimo Puppieno. Gerade die Beispiele aus der Feder dieses Komponisten beweisen überzeugend die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten des Sängers, sein reiches Farbspektrum und die große Fülle an vokalem Raffinement.

Den Reigen der Vokalkomponisten komplettiert Giovanni Battista Pergolesi mit seiner Oper L’Olimpiade, aus der die Arie des Alcandro, „L’infelice in questo stato“, zu hören ist – ein sanft wiegendes Stück mit reizvollem Melos und sehnsuchtsvollem Ausdruck.

Zum Abschluss wird das Programm ergänzt durch ein unbekanntes Instrumentalstück, Domenico Aulettas Cembalokonzert in D-Dur, in welchem der Dirigent auch solistisch brillieren kann.Bernd Hoppe

 

Foto oben: Max Emanuel Cencic/ Foto Hoffmann/ Decca

Nicola Monti

Die Callas-Wiederveröffentlichungen bei Warner Classics (dazu der Artikel in operalounge.de) werfen erneut nicht nur ein Licht auf die Diva, sondern eben auch auf einige ihrer Kollegen, mit denen sie zumeist im illustren Scala-Ensemble jener Jahre in den frühen Aufnahmen zu hören ist. Einer der bezauberndsten lyrischen Tenöre ist der heute fast unbekannte Nicola Monti, der trotz seiner Vergessenheit doch auf einigen offiziellen und vielen Live-Aufnahmen zu hören ist und den man vor allem als süßstimmigen Elvino neben der Callas-Sonnambula in Erinnerung hat. Der Berliner Autor und Journalist Ekkehard Pluta schreibt gerade an einem Kompendium über die Tenöre der Callas-Ära als Erben Tito Schipas, aus dem wir nachstehend den Artikel über Nicola Monti mit Dank übernehmen. G. H.

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Nicola Monti: "La Sonnambula"/Piccagliani/OBA

Nicola Monti: „La Sonnambula“/Piccagliani/OBA

Ah Colombina, il tenero fido Arlecchin è a te vicin!” singt Beppe als Arlecchino hinter der Szene, um die Geliebte ans Fenster zu locken – Spiel im Spiel der Pagliacci in Leoncavallos gleichnamiger Oper. Die Rolle des Beppe ist nicht mehr als eine Edelwurzen, aber sie wird wegen dieses kurzen Ständchens auf der Bühne und im Schallplatten-Studio immer mit einem erstklassigen Vertreter des leichten lyrischen Tenorfachs besetzt. In der Produktion der EMI von 1954 war es Nicola Monti, Mitglied der Mailänder Scala. Allerdings hat er diese Partie dort nicht gesungen, eben so wenig die angeschmachtete Colombina Maria Callas, die eine Besetzungs-Kreation des Produzenten Walter Legge war, auch wenn die Veröffentlichung das Emblem des legendären Operntempels auf dem Cover trägt.

In den anderthalb Minuten dieses Ständchens ist schon ein wesentlicher Zug von der Eigenart des Tenors Nicola Monti zu erkennen, der zu dieser Zeit im Fach des tenore di grazia einer der begabtesten Anwärter auf die Nachfolge des immer noch präsenten Übervaters Tito Schipa war. Er verstand es, mit der Stimme zu schmeicheln, sein Gesang vermittelte immer den Eindruck von Zärtlichkeit. Und Ständchen waren seine Spezialität, ob in Form einer frühmorgendlichen „Aubade“ wie in den Almaviva-Partien von Rossini („Ecco ridente il cielo“ und „Se il mio nome“) und Paisiello („Saper bramate) oder als nächtliche „Serenade“ wie in Ernestos Com’è gentil“ (Don Pasquale).

Nicola Monti/OBA

Nicola Monti/OBA

Am 21. November 1920 in Mailand geboren, begann Monti schon in jungen Jahren mit dem Gesangsstudium und trat 1941 bei einem Konzert in Florenz erstmals öffentlich auf. Noch im selben Jahr soll er in Cagliari den Herzog in Rigoletto gesungen haben. Doch dann gab es, nicht zuletzt durch den Krieg bedingt, eine lange Pause. Nachdem er eine Zeitlang in einer Apotheke gearbeitet hatte, wagte sich der Tenor erst 1949 wieder aufs Podium. Bei einem Konzertauftritt im Castello Sforzesco in Mailand wurde der Dirigent Franco Capuana auf ihn aufmerksam und vermittelte ihn an die Opernschule der Mailänder Scala. Nach anderthalbjährigem Aufbaustudium ergab sich für Monti die Chance, in Neapel für den erkrankten Cesare Valletti als Elvino in La Sonnambula einzuspringen, Margherita Carosio sang die Amina. Dieser Auftritt gilt als sein eigentliches Operndebut. Nur ein paar Wochen später stand er an der Scala als Nemorino in L’elisir d’amore auf der Bühne, wo er bald Fuß fassen konnte, zunächst aber noch etwas im Schatten von Valletti stand.  Die Annalen des Hauses weisen in den folgenden Jahren seine Mitwirkung in den Produktionen von L’osteria portoghese (Cherubini), La Cenerentola, Don Giovanni, Barbiere di Siviglia, Il matrimonio segreto, und I quattro rusteghi aus.

Nicola Monti/ "La Sonnambula" mit Maria Callas/Piccagliani/youtube

Nicola Monti/ „La Sonnambula“ mit Maria Callas/Piccagliani/youtube

Bald war er auch an anderen italienischen Theatern und bei in- und ausländischen Festivals gefragt. 1952 sang er beim Maggio Musicale in Florenz Rossinis Grafen Ory und beim Wexford Festival den Nemorino. Noch im selben Jahr wirkte er in zwei Gesamtaufnahmen der EMI mit. Beim Festival in Aix-en-Provence war er 1954 Don Ottavio, beim Holland Festival 1957 Ernesto. Dieses Jahr brachte auch seinen eigentlichen internationalen Durchbruch, als er als Elvino erstmals an der Seite von Maria Callas auf der Bühne stand, denn diese Produktion wurde anschließend auch bei Gastspielen in Köln und Edinburgh präsentiert und unter Studio-Bedingungen bei der EMI aufgenommen. Nach diesen Erfolgen standen dem Sänger auch die großen Bühnen der Vereinigten Staaten offen, mit Ausnahme allerdings der Metropolitan Opera. In Chicago war er in La Cenerentola zu erleben, in La Sonnambula stand er in San Francisco Anna Moffo, in New Orleans Gianna d’Angelo gegenüber.

Nicola Monti: Afro Poli, Elvina Ramella, Nicola Monti, Cristiano Dalamangas in "Don Pasquale", Wexford 1953/Wexford Opera Arcive mit freundlicher Genehmigung

Nicola Monti: Afro Poli, Elvina Ramella, Nicola Monti, Cristiano Dalamangas in „Don Pasquale“,
Wexford 1953/Wexford Opera Arcive mit freundlicher Genehmigung

Montis Bühnen-Repertoire war überschaubar und sehr spezialisiert, blieb auf die Oper des Settecento und den romantischen Belcanto beschränkt; nur eine Handvoll Partien hat er immer wieder gesungen – Don Ottavio, Almaviva, Ramiro, Nemorino, Ernesto und Elvino. Grenzüberschreitungen zu den lyrischen Partien Verdis und Puccinis gab es nicht, auch die von anderen Vertretern seines Stimmfachs gepflegte französische Oper (insbesondere „Werther“) blieb außen vor. Erst mit Mascagnis „L’amico Fritz“ betrat er 1962 in Wexford neues Terrain.

Nicola Monti/ "Il Barbiere di Siviglia" mit Rolando Panerai, RAI-Film 1951/youtube

Nicola Monti/ „Il Barbiere di Siviglia“ mit Rolando Panerai, RAI-Film 1951/youtube

Während seiner relativ kurzen Karriere galt Monti als das Musterbeispiel eines tenore di grazia. Seine Stimme besitzt eine natürliche Süße (ohne „Zuckerzusatz“), klingt zugleich aber sehr viril, ist expansionsfähig und strahlkräftig in der Höhe, dabei gut geerdet, d.h. tragfähig auch in der tieferen Mittellage. Er war also kein „tenorino“, wie er in der Kritik gelegentlich kenntnislos eingestuft wurde. An seinen Tondokumenten bestechen vor allem die Eleganz des Vortrags, die saubere Linienführung und die Fähigkeit zu farblichen Abschattierungen. Er wusste um die Wirkungen der voix mixte und der messa di voce, kannte die dynamischen Abstufungen zwischen pp und mf, was bei vielen seiner Nachfolger keine Selbstverständlichkeit mehr war.

Nicola Monti/ "Il Barbiere di Siviglia", RAI-Film 1951/youtube

Nicola Monti/ „Il Barbiere di Siviglia“, RAI-Film 1951/youtube

Ein Virtuose war er wohl weniger, wurde als solcher auch nicht gefordert. Koloraturen und Verzierungen führt er zwar zuverlässig aus, aber ihnen galt nicht das Hauptaugenmerk seines Vortrags. Dazu ist anzumerken, dass das vokale Virtuosentum erst mit den 60er Jahren wieder in Mode kam, maßgeblich gefördert durch die Aktivitäten Richard Bonynges, der den Gesangsstil von Malibran, Rubini & Co. wieder zu beleben versuchte und dabei in seiner Gattin Joan Sutherland das ideale Medium fand. Heute ist es für jeden tenore di grazia Ehrensache, die eingelegte Bravourarie „Cessa di più resistere“ kurz vor dem Finale des Barbiere zu singen, obwohl sie dramaturgisch überflüssig ist und aus dem Stil der Oper und der Rolle fällt. Das war in den 50er Jahren eine noch ziemlich abseitige Idee. Valletti war übrigens der erste, der sie nicht nur im Konzert, sondern auch in einer Gesamtaufnahme der Oper gesungen hat.

Nicola Monti/ "Il Barbiere di Siviglia" mit Rolando Panerai, RAI-Film 1951/youtube

Nicola Monti/ „Il Barbiere di Siviglia“ mit Rolando Panerai, RAI-Film 1951/youtube

Montis diskographische Hinterlassenschaft ist zwar nicht üppig, aber ziemlich repräsentativ. Der Start in die Schallplattenkarriere mit Barbiere und L’elisir bei EMI (als CD neu aufgelegt bei Testament) war gleich sehr eindrucksvoll, wobei die Aufnahme der Donizetti-Oper besondere Aufmerksamkeit verdient.

Als Nemorino startet Monti schon mit dem einleitenden Arioso „Quanto è bella“ eine Schmelz- und Charme-Offensive, der man sich als Hörer nicht entziehen kann. Da singt ein Optimist, ein Sanguiniker, an dessen letztendlichem Sieg keinen Augenblick Zweifel aufkommt. Ob er mit der Adina der sehr reifen und resoluten Margherita Carosio in der Folge sehr viel Freude haben wird, ist fraglich, doch insgesamt trägt seine gute Laune die ganze Vorstellung, die von Gabriele Santini mit Schwung, aber ohne Subtilitäten geleitet wird, und in der Tito Gobbi als Belcore, völlig frei von Selbstzweifel und Selbstironie, mit der Autorität seiner Stimme mächtig auftrumpft und Melchiorre Luise als Dulcamara sich als großer Buffonist der alten Schule erweist.

Nicola Monti/ "Il Barbiere di Siviglia" mit Rolando Panerai, RAI-Film 1951/youtube

Nicola Monti/ „Il Barbiere di Siviglia“ mit Rolando Panerai, RAI-Film 1951/youtube

Bevor der sieben Jahre jüngere Luigi Alva sich auf den großen Bühnen der Welt wie in den Schallplatten-Studios als „Almaviva vom Dienst“ etablieren konnte, hatte Monti diese Position inne, was auch medial dokumentiert ist. Auf die erste Einspielung unter Serafin folgte 1954 eine Fernseh-Produktion der RAI unter Carlo Maria Giulini, das Jahr darauf ein Kinofilm mit Tito Gobbi, in dem er aber nicht selbst auftrat, sondern dem Schauspieler Armando Francioli seine Stimme lieh. 1960 schließlich entstand beim Bayerischen Rundfunk eine Produktion, die von der Deutschen Grammophon übernommen und später auch als CD publiziert wurde.

Nicola Monti/ "Il Barbiere di Siviglia" mit Rolando Panerai, RAI-Film 1951/youtube

Nicola Monti/ „Il Barbiere di Siviglia“ mit Rolando Panerai, RAI-Film 1951/youtube

Auch als Almaviva zeigt Monti Charme und Noblesse; in der Aufnahme von 1952 findet er in der jungen Victoria de los Angeles eine bestrickende Rosina, die ihre Rolle in der originalen Mezzo-Version singt. Doch der vormals brillante Gigli-Partner Gino Bechi zeigt sich in der Titelpartie als grober Singklotz, der wie ein verirrter Amonasro durch Sevillas Gassen tobt, und das äußerst schwerblütige Dirigat von Tullio Serafin läßt keine wirkliche Buffa-Freude aufkommen. Da ist die Münchner Produktion unter Bruno Bartoletti, obwohl man sie nicht zu den Referenzaufnahmen der Oper zählen darf, eher aus einem Guß und macht beim Hören doch einiges Vergnügen. Die sehr leichtstimmige, etwas puppige Rosina von Gianna d’Angelo ist heute vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig, steht aber durchaus in älteren Aufführungstraditionen. Renato Capecchi ist ein ausgebuffter, mit vielen textlich-musikalischen Details aufwartender Figaro, der Rest auf gutem Niveau. Monti, stimmlich nicht in seiner Bestform, überzeugt hier vor allem durch die Leichtigkeit des Vortrags.

Nicola Monti/ "Il Barbiere di Siviglia" mit Rolando Panerai, RAI-Film 1951/youtube

Nicola Monti/ „Il Barbiere di Siviglia“ mit Rolando Panerai, RAI-Film 1951/youtube

In dem erwähnten Fernsehfilm, dessen Soundtrack auf CD erhältlich ist, zeigt sich der Tenor neben dem vor Spiellaune überbordenden Rolando Panerai als Figaro und der delikat singenden, zu Unrecht vergessenen Sopran-Rosina von Antonietta Pastori als gewandter, aber nicht sonderlich profilierter Darsteller, und es wird bei dieser Gelegenheit klar, warum ihm der in dramatisch-komödiantischer Hinsicht zupackendere Alva in dieser Partie letztendlich den Rang ablaufen musste. Monti war – wie Kritiker, die ihn auf der Bühne live erlebt hatten, konstatierten – „a handsome fellow“, dem „a nice stage presence“ attestiert werden konnte, aber er war nicht wirklich ein singender Schauspieler wie Alva.

Nicola Monti/ "I Puritani"/OBA

Nicola Monti/ „I Puritani“/Teatro Verdi Torino/OBA

Konkurrenzlos erscheint er als Almaviva in Paisiellos Barbiere di Siviglia, dessen Aufnahme mit den Virtuosi di Roma unter Renato Fasano (1959) das Prädikat „klassisch“ verdient, da neben Monti mit Graziella Sciutti, Rolando Panerai, Renato Capecchi und Mario Petri sozusagen ein Buffa-„Dream-Team“ auf der Klangbühne agiert. Die gleiche Konstellation (statt Sciutti singt dort allerdings Renata Scotto) führte im selben Jahr auch Rossinis selten gespieltes Frühwerk La cambiale di matrimonio zum Erfolg. Eine häufig gesungene Partie Montis, Ramiro in La Cenerentola, ist in einer soliden Produktion der RAI (1958) festgehalten, die auch als Dokument der jungen Teresa Berganza von Interesse ist.

Die Paraderolle Montis war indes Elvino in La Sonnambula. Hier konnte er die ganze Palette seiner Möglichkeiten zeigen, vom zarten Schmelz der Liebesgesänge bis zur dramatischen Attacke der Eifersuchtsausbrüche. In der Studio-Aufnahme der EMI, die zeitgleich mit den Aufführungen an der Mailänder Scala entstand, beeindruckt vor allem die große Intimität in den Zwiegesängen mit Maria Callas, deren kunstvolle Fragilität ideal mit seinem elegischen Lyrismus korrespondiert. Streckenweise verschmelzen die beiden Stimmen. Dass dies nicht der Aufnahmetechnik geschuldet ist, belegt der bei Testament publizierte Live-Mitschnitt aus Edinburgh.

Nicola Monti: Backstage bei der "Sonnabula" an der Scala mit Eugenia Ratti, Monti, Maria Callas, Antonino Votto und Fiorenza Cossotto/Piccagliani/callaassoluta.tumbl.com

Nicola Monti: Backstage bei der „Sonnambula“ an der Scala mit Eugenia Ratti, Monti, Maria Callas, Antonino Votto und Fiorenza Cossotto/Piccagliani/callaassoluta.tumbl.com

Die fünf Jahre später entstandene Studio-Produktion der Decca mit Joan Sutherland hat, auch aus der historischen Distanz, einen schweren Stand gegen die Vorgängerin, obwohl Richard Bonynge einige Striche aufmacht und mehr Verzierungen zulässt als Antonino Votto. Sutherland wirkt gegenüber der Callas manieriert, als reine Kunstfigur, und diese Künstlichkeit wird durch das unnatürliche Klangbild noch verstärkt. Fernando Corena ist als Conte Rodolfo eine glatte Fehlbesetzung und Monti, hier oft etwas nasal klingend, wirkt in diesem Ambiente ein bisschen isoliert. 1980 hat Dame Sutherland die Sonnambula noch einmal aufgenommen, mit dem damals noch unverbrauchten Luciano Pavarotti als Elvino, der zwar mit seinen stimmlichen Pfunden wuchern kann, an musikalischer Präzision und differenzierter Gestaltung aber deutlich hinter Monti zurücksteht.

515rxhH-WiL._SX300_Vor ein paar Jahren brachte die Deutsche Grammophon Händels Alcina in einer Produktion des WDR von 1959 offiziell auf den Markt, die wegen der Protagonisten Joan Sutherland und Fritz Wunderlich schon lange vorher ein bevorzugtes Objekt der „Piraten“ war. Monti ist hier in der Partie des Oronte zu erleben, die er irrtümlich einstudiert hatte, während er für den Ruggero verpflichtet war; der ist freilich im Original keine Tenorpartie, was den Irrtum erklärlich macht. Der für Oronte vorgesehene Wunderlich war bereit, mit Monti die Rolle zu tauschen und wagte das Husarenstück, die größere Partie kurzfristig zu übernehmen, was seiner Reputation sehr zuträglich war, auch wenn Ruggero nicht ideal auf seiner Stimme lag. Monti gibt als Oronte ein weiteres Beispiel von Gesangskultur und Stilverständnis.

Zwei Mitschnitte italienischer Rundfunkproduktionen ergänzen die Diskographie des Sängers auf interessante Weise. In einem italienisch gesungenen Fidelio unter Vittorio Gui (RAI Rom, 1955), der auch wegen Giuseppe Taddei als Pizarro und Boris Christoff als Rocco ein Sammlerstück ist, gibt Monti einen südländisch-temperamentvollen, fordernden Jaquino. Als Basilio in einer von Peter Maag dirigierten Produktion aus Neapel (1959), in der die „Ballade von der Eselshaut“ nicht fehlt, erscheint er ganz als seriöser Gesangslehrer, weniger als schleimiger Intrigant.

003821124_300Von seinem Don Ottavio existieren leider keine Tondokumente. Seine hohe Mozart-Kompetenz bewies er aber in einer Schallplatten-Produktion des Frühwerks Il re pastore, die 1967 in Neapel unter der Leitung von Denis Vaughn entstand und in der neben Reri Grist, Lucia Popp und Arlene Saunders auch Montis stärkster Konkurrent Luigi Alva als Alessandro mit von der Partie war. Obwohl sich der jetzt 47jährige Sänger als Agenore mit unverminderter Klangschönheit und jugendlicher Strahlkraft präsentiert, hat er danach erstaunlicherweise keine Aufnahmen mehr gemacht, und auch auf den internationalen Spielplänen verliert sich seine Spur. In der Blütezeit der Belcanto-Renaissance, zu der er sein Scherflein beigetragen hatte, war er jedenfalls nicht mehr als Sänger aktiv. Er überlebte sein Karriere-Ende um ein Vierteljahrhundert. Am 1. März 1993 starb er in Fidenza. Seine Nachfolger konnten die Ernte einfahren, allen voran der ihm vom Stimmtypus verwandte Pietro Bottazzo (1934-1999), der nicht weniger als 26 Rossini-Partien im Repertoire hatte. Ekkehard Pluta