Wo die Liebe herrscht

 

Der griechische Poet Anakreon, ein Anhänger von Anmut und Genuß und damit passend zum royalen französischem Barock, schien es dem betagten Rameau (1683-1764) angetan zu haben: Er erschuf zwei  einaktige Ballettopern namens Anacréon, allerdings mit unterschiedlicher Handlung und Musik; die erste 1754 auf ein Libretto von Louis de Cahusac, die zweite 1757 zu dem Pierre-Joseph-Justin Bernards, die als Beginn der bekannteren Ballettoper Les Surprises de l Amour fungierte. Bei der hier vorliegenden Aufnahme handelt es sich um eine Ersteinspielung des ersten, von Dirigent Jonathan Williams aus Archiven rekonstruierten Anacréon von 1754, die durch die Zusammenarbeit der Musikfakultät der Universität in Oxford mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment ermöglicht wurde und bei Bärenreiter erschien.

anacreon signum classics rameauDrei Sänger werden für das knapp fünfzigminütige Werk benötigt, bei dem es um die Liebesgeschichte von Chloé und Batile geht, zwei Schülern Anacreons, die sich lieben, aber missverständlicherweise vermuten, dass Anakreon sich selber mit Chloé verbinden möchte. Doch der Lyriker  – der gute und wohltätige Herrscher in seinem Reich der Liebe, royale Assoziationen sind erlaubt – verbindet beide im glücklichen Ende. Besonders für die Rolle der Chloé komponierte Rameau bemerkenswerte Arien mit vielsagenden Titeln, „Tendre Amour!“, „Mille fleur parfument les airs“, „Quand l’Amour enflamme nos cœurs“ und „L’Amour, riant et sans bandeau“, die von Sopran Anna Dennis mit bemerkenswert schöner, offener Stimme gesungen werden und das sängerische Herz der Oper sind, Tenor Agustin Prunell-Friend als Batile und Bass-Bariton Matthew Brook als Anacréon sowie die Sänger des Choir Of The Enlightenment ergänzen sie auf ebenfalls hohem Niveau. Rameaus Musik zum Erstlings-Anacréon klingt auch nach Rameau, Überraschungen gibt es hier keine – ein charmantes kleines Bühnenwerk, das sich im Verlauf steigert und vor allem durch die orchestral schönen Tanzszenen an Fahrt gewinnt und durch die Festmusik zu Ehren Bacchus gut gelaunt endet. Librettist Cahusac verglich die Opéra-Ballets mit einer Abfolge schöner Bilder mit galanten Festen und mythologischen Gestalten des französischen Malers Jean-Antoine Watteau – ein Vergleich, den man beim Zuhören nachvollziehen kann. Dirigent Jonathan Williams und das renommierte Orchestra Of The Age Of Enlightenment werten dieses kurze Bühnenwerk durch ihr engagiertes und transparentes Spiel auf und bleiben dabei vor allem in den Arien unaufdringlich. Wo man erwarten könnte, daß bspw. die Chloé begleitende Flöte in den Vordergrund oder gar in einen Dialog mit ihr tritt, belässt sie Williams etwas zu unauffällig im Hintergrund. So hat man den Eindruck, daß ein wenig mehr Prägnanz und Elan möglich gewesen wäre. (Rameau – Anacréon, 1 CD, SIGCD402),  Marcus Budwitius

Das Rameau-Jahr 2014 anlässlich des 250. Todestags des Komponisten zeigt auch dieses Jahr noch einige Folgen durch die im vergangenen Jahr aufgezeichneten Live-Aufnahmen. Rameaus Bühnenschaffen umfasst verschiedene Kategorien: die Tragédies lyriques (Hippolyte et Aricie, Castor et Pollux, Dardanus, Zorastre und Les Boréades), Opéras-ballets (z.B. Les Indes galantes), Comédies lyriques (z.B. Platée) und die Pastorales héroïques, deren erstes Werk der selten zu hörende und bisher anscheinend nur einmalig, aber nicht vollständig (von Gustav Leonhardt mit La Petite Bande vor ca. vierzig Jahren) eingespielte Zaïs ist, der hier nun erstmalig als Gesamtaufnahme verfügbar ist. Diese heroische Pastorale  erlebte am 29. Februar 1748 in der Pariser Académie Royale de Musique ihre Uraufführung und war sehr erfolgreich: über 100 Aufführungen in zwei Jahrzehnten wurden verzeichnet. Über einen Prolog und vier Akte wird die Liebe in ungewöhnlicher Kombination auf den Prüfstand gestellt: Menschen, mythologische Naturgeister und Götter treten auf, im Prolog geht es um nichts weniger als die irdische Schöpfung und die Beseelung durch die Liebesgöttin Amor. Zaïs, der unsterbliche Fürst der Luftgeister, und die irdische Zélide lieben sich. Zélide weiß allerdings nichts von der Herkunft ihres Geliebten und betrachtet ihn als gewöhnlichen Schäfer. Amor befiehlt, diese Liebe auf die Probe zu stellen. Im himmlischen Reich der Luftgeister wird Zélide Prüfungen unterzogen, vier Statuen – Sinnbilder unterschiedlicher Liebhaber – werden beispielsweise zum Leben erweckt und beginnen vor Zélide zu tanzen. Doch Zélide besteht diese und alle anderen Anfechtungen, Zaïs entsagt seiner Unsterblichkeit für sie und der Geisterkönig Oromazès hat ein Einsehen und vereint beide als ewiges Paar. In der phantastischen Handlung versteckt sind Anleihen freimaurerischer Symbole und Gedanken (in Zoroastre (1749) und Les Boréades/1763 sollten sie noch deutlicher werden), wie das lesenswerte Beiheft in französischer und englischer Sprache erläutert. Von Rameaus Zaïs zu Mozarts Zauberflöte scheint sich ein Bedeutungsbogen zu spannen.

Interessant ist bereits die Ouvertüre. Joseph Haydn beschreibt in seiner Einleitung zum Oratorium Die Schöpfung (1798) das Chaos vor Gottes Ordnung, Rameaus Zaïs beginnt ebenfalls programmatisch und zu seiner Zeit visionär (Dirigent Christophe Rousset sah darin Ähnlichkeiten zu einem späteren Heroiker mit pastoralen Neigungen – Beethoven): Mysteriös-kosmisch wird das Chaos entwirrt, die Elemente geschieden. 1748 wollte man die kühne und für damalige Ohren gewöhnungsbedürftige Ouvertüre ersetzen, doch Rameau bestand auf sie. Was folgt ist eine nicht nur aufgrund des Seltenheitswerts empfehlenswerte Aufnahme für Rameau-Fans, die live (aber ohne erkennbare Einschränkungen beim Anhören) bei Vorführungen im November 2014 in der Opéra Royal du Château de Versailles entstand und vokal und instrumental bemerkenswerte Szenen enthält. Les Talens Lyriques unter der Leitung von Christophe Rousset haben bisher mit Opern von Lully reüssiert und zeigen nun auch ihre Affinität zu Rameau – ob Phrasierung oder Tempi, ob in Begleitung der Sänger oder in den instrumentalen Gavotten, Menuetten, Sarabanden, Ballettstücken, etc., stets ergibt sich ein spielfreudiger und abwechslungsreicher Höreindruck, bei dem die eher undramatische Pastorale héroïque kaum Längen aufweist. Sängerisch erlebt man eine durchgängig sehr gute, harmonische Zusammenstellung schöner Stimmen, vor allem das zentrale Liebespaar, das emotionale Höhen und Tiefen erlebt und diese dem Zuhörer vermitteln muss, überzeugt. Der junge deutsche Tenor Julian Prégardien (Sohn von Christoph Prégardien) singt Zaïs mit heller, lyrischer Stimme, die wie stets in jeder Hinsicht tadellose Sandrine Piau stellt Zélidie dar – beide sind in exzellenter Form zu hören. Ergänzt werden Piau und Prégardien durch die beiden Bassisten Aimery Lefèvre als Oramazès und Benoît Arnould, der als Cindor seinen Freund Zaïs warnt, berät und Zélidie prüft sowie die beiden Soprane Amel Brahim-Djelloul (Grande Prêtresse de l’Amour / Une Sylphide) und Hasnaa Bennani (L’Amour) und Tenor Zachary Wilder (Un Sylphe). Der Chœur de Chambre de Namur profiliert sich als klangschönes Ensemble. 155 Minuten Musik – wer Rameau schätzt, dem wird diese Aufnahme Freude bereiten. (3 CD,  Aparte (harmonia mundi), AP109). Marcus Budwitius