Seine Einspielung der großen Mozart-Opern für harmonia mundi setzt René Jacobs – nach der da-Ponte-Trilogie, den opere serie Idomeneo und Tito, der frühen Finta giardineria und der späten Zauberflöte – nun mit dem Singspiel Die Entführung aus dem Serail fort und sorgt damit für einen gewichtigen Schlusspunkt in der Reihe seiner Mozart-Aufnahmen. Wie erwartet, gelingt dem Dirigenten auch bei diesem so oft eingespielten Werk (die Anzahl der Gesamtaufnahmen dürfte zwischen 50 und 100 liegen) eine ganz ungewöhnliche, unkonventionelle Deutung. Dies bezieht sich vor allem auf den Einsatz des gesprochenen Dialogs, der hier fast ungekürzt zu hören ist und sogar während der Musiknummern eingesetzt wird. Fließend gehen Musik und Sprache ineinander über, was an manche Opernhörspiele des Rundfunks in den 1950er/60er Jahren mit ihrer lebendigen Geräuschkulisse erinnert. Auf der anderen Seite lässt Jacobs vom Hammerklavier (Andreas Küppers) in den Dialog Musikfetzen aus anderen Kompositionen Mozarts einfließen – so einige Takte aus der c-Moll-Fantasie KV 475 in einer Szene Bassa/Konstanze. Das Instrument ist durchweg präsent und untermalt beinahe alle Gesangsnummern, mit den erregt tremolierenden Akkorden aber auch das riskante Unterfangen des nächtlichen Fluchtversuchs.
Das Ensemble singt fast durchweg auf hohem Niveau. Alle Interpreten finden in ihren Arien zu individuellen Akzenten und reichen Verzierungsvarianten. Mit Robin Johanssen ist die zentrale weibliche Partie des Stückes stimmig besetzt. (Auch nimmt der Sammler überrascht und erfreut zur Kenntnis, in einer Jacobs-Aufnahme einmal nicht Sunhae Im zu begegnen.) Die heikle Auftrittsarie, „Ach, ich liebte“, meistert sie bravourös und lässt keinerlei Probleme mit den vertrackten Koloraturen erkennen. Das ist keine Primadonnenstimme, aber eine jugendliche und zutiefst menschliche. Das Rezitativ „Welcher Wechsel“ gestaltet sie mit bebender innerer Erregung, die Arie „Traurigkeit“ mit innigem Ausdruck und reichem Ton. Die vom Orchester heftig eingeleitete „Martern“-Arie (wo noch Sprachfetzen von ihr und vom Bassa zu hören sind) gelingt ihr gleichfalls sehr ansprechend, sieht man von der etwas flachen Tiefe ab. Kultiviert, lyrisch-schlank und mit großer Empfindsamkeit singt Maximilian Schmitt den Belmonte. Das noch um ein Vielfaches erweiterte Zierwerk in der Arie „Wenn der Freude“ bewältigt er mit leichter Emission und in keinem Moment strapaziertem Ton. Auch die gefürchteten Koloraturen der „Baumeister“-Arie gelingen imponierend. Für den Pedrillo ist Julian Prégardien geradezu eine Luxusbesetzung, denn er singt die Partie mit reicher lyrischer Substanz und vermeidet jeden buffonesk-neckischen Anstrich. Das „Frisch zum Kampfe“ ertönt entschlossen und mit kämpferischem Mut, die nächtliche Serenade wird nicht gesäuselt, sondern mit schöner Substanz formuliert. Das Da capo deutet in seinem drängenden Tempo die Eile des Unternehmens an. Auch Mari Eriksmoen verleiht der Blonde einen reizenden Tonfall mit ihrem kecken, silbrigen Sopran. Nur die Extremnoten der ersten Arie klingen etwas gequietscht, „Welche Wonne“ singt sie keck und beherzt. Köstlich ist ihre übermütige Überlegenheit in den Szenen mit Osmin. Dimitry Ivashchenko überrascht in dieser Partie mit fast akzentfreiem Gesang, der Bass selbst ist nicht von erster Qualität. Da fehlt die satte Fülle, da stört manch verfärbter Ton. „O, wie will ich triumphieren“ erklingt zwar mit höhnischem Spott, doch mangelt es an Gefährlichkeit, die er erst im finalen Vaudeville erreicht. In der Sprechrolle des Bassa irritiert der langjährige Salzburger Jedermann, Cornelius Obonya, mit recht verschwommener Sprache von heiserem Klang und deutlich verhaltenen Ausbrüchen. Interessant ist der bewusst eingesetzte fremde Akzent. Bassas erster Auftritt wird noch vor dem üblichen Chor der Janitscharen mit einem Türkischen Marsch von Michael Haydn eingeleitet. Jacobs betont überhaupt das türkische Lokalkolorit der Musik, lässt deren orientalische Elemente mit oft martialischer Gewalt hereinbrechen, die Becken, Triangel, Trommeln und Schellen rasseln. Die Akademie für Alte Musik Berlin spielt mit explosiver Verve und musikantischer Lust. Der Dirigent reizt schon in der Ouvertüre die Kontraste zwischen wuchtigem forte und verhaltenem piano beinahe extrem aus. Wild und aggressiv ertönen die Janitscharen-Motive. Im Kontrast dazu werden die menschlichen Konflikte der Geschichte mit schmerzlicher Lyrik von stärkster Intensität ausgebreitet. Die orchestrale Qualität gehört zweifellos zu den Meriten dieser Aufnahme (3 CD harmonia mundi, HMC 902214-15). Bernd Hoppe