Vorsicht vor Untermietern!

 

„It happend about eighty years ago, in a dingy house in the Marylebone Road, London, that had seen better day“, heißt es in der Anweisung zu The Lodger.  Durch die Musik von Phyllis Tate fühlen wir uns mitten drin im schäbigen London des späten 19. Jahrhunderts, im Mief eines heruntergewohnten Gästehauses mit seinen schrägen Bewohnern, im ewigen Nebel. Und um die Ecken schleicht Jack the Ripper. Phyllis Tate, die britische Komponistin (1911-87), die mir bislang unbekannt war, hat im Auftrag der Royal Academy of Music da1064 raus eine 1960 uraufgeführte Oper gemacht. Die Grundlage bildet der 1913 erschienene Roman The Lodger (Der Untermieter) von Marie Adelaide Belloc Lowndes, der auch die Vorlage zum gleichnamigen Thriller aus dem Jahr 1927 lieferte (später noch zweimal als Gaslight verfilmt), den Alfred Hitchcock rückblickend als „ersten echten Hitchcockfilm“ bezeichnete.

Die Komponistin Phyllis Tate/ Wiki

Die Komponistin Phyllis Tate/ Wiki

Im Mittelpunkt des Zweiakters steht Emma Bunting, die langsam realisiert, dass der stille, hilfsbereite Untermieter, der sie und ihren Mann finanziell absichert, ein Mörder ist. Der namenlose Untermieter ist offenbar ein psychisch gestörter Mensch, dessen sexuelle und religiöse Besessenheit sich in seiner Verwendung von Sätzen aus der Offenbarung des Johannes zeigt. Es endet damit, dass Emma und ihr Mann sowie ihre Tochter Daisy und der junge Detective Joe aus der Bibel lesen, die der Mieter zurückgelassen hat, „Es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, am größten aber ist die Liebe.“  Dazwischen: Suspense, wie Altmeister Hitchcock sagen würde. The Lodger war Tates einziger Beitrag für die Opernbühne, was nicht weiter erstaunt, nicht etwa, weil die Oper so unausstehlich wäre, sondern weil der geschickte Einsatz des kleinen Orchesters, die Farben und Effekte, die sie damit erzielt, die Verwendung von kleinen Einsprengseln, darunter einem Klarinettensolo, von viktorianischer music-hall-Atmosphäre und Walzern und Polkas, eine kammermusikalische Zierlichkeit besitzt, die wenig bühnentauglich ist. Tate behandelt die Gesangstexte mit Geschmack, ein bisschen im Stil Menottis (The medium) und Brittens, lockert die Rezitative durch geschlossene, gefällige Nummern auf. Bestes Handwerk. Die Reaktionen auf die Uraufführung waren wohlwollend, der bedeutende Harold Rosenthal, Herausgeber des Magazins opera, übertrieb sicherlich, als er schwärmte, „Other than Peter Grimes, this is probably the most successful first Opera by a native composer since the war“.

Die 1964 von der BBC in einer revidierten Form gesendete Oper (Lyrita REAM.2119 mit originalsprachigem Libretto und engl. Beiheft) erlebte im Jahr darauf beim St. Pancras Festival ihre erste professionelle Aufführung. Später ist es völlig ruhig um die Oper geworden. Die BBC-Aufnahme verwendet einen Erzähler (Anthony Jacobs), was den Eindruck eines altmodischen Hörspiels zusätzlich steigert. Mit Charles Groves waltet eine Autorität seines Amtes und kümmert sich während der zwei Stunden um die BBC Northern Singers und das BBC Northern Orchestra, Johanna Peters (die man von den humorvollen Opera-Rara-Aufnahmen kennt und die heute auf dem Board der Firma sitzt) als beunruhigte Emma, Owen Brannigan als ihr Gatte, Marion Studholme als Daisy sowie Joseph Ward mit seinem hohen Bariton als verführerisch klingender Untermieter und dem großen Alexander Young mit seinem feinen Mozart- Rossini-Tenor als Detective Joe bilden das schmale, durch vokale Zuträger abgerundete Ensemble. Rolf Fath